Language of document : ECLI:EU:C:2014:2194

Rechtssache C‑19/13

Ministero dell’Interno

gegen

Fastweb SpA

(Vorabentscheidungsersuchen des Consiglio di Stato)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Öffentliche Aufträge – Richtlinie 89/665/EWG – Art. 2d Abs. 4 – Auslegung und Gültigkeit – Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Aufträge – Unwirksamkeit des Vertrags – Ausschluss“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 11. September 2014

Rechtsangleichung – Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge – Richtlinie 89/665 – Auftragsvergabe – Keine vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union – Folge – Aufrechterhaltung der Wirksamkeit des vergebenen Auftrags bei Erfüllung der übrigen Bedingungen – Verstoß gegen das Recht auf effektiven Rechtsschutz und das Diskriminierungsverbot – Fehlen

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47; Richtlinie 2004/18 des Europäischen Parlaments und des Rates; Richtlinie 89/665 des Rates in der durch die Richtlinie 2007/66 geänderten Fassung, Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 3, Art. 2d Abs. 4, Art. 3a und Art. 31 Abs. 1 Buchst. b)

Art. 2d Abs. 4 der Richtlinie 89/665 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge in der durch die Richtlinie 2007/66 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass, wenn ein öffentlicher Auftrag ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union vergeben wird, obwohl dies nach der Richtlinie 2004/18 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge nicht zulässig war, diese Bestimmung es ausschließt, dass der Auftrag für unwirksam erklärt wird, wenn die Voraussetzungen der genannten Bestimmung erfüllt sind, was zu überprüfen Sache des vorlegenden Gericht ist.

Um die in Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 89/665 genannten Ziele, u. a. die Einrichtung von wirksamen Rechtsbehelfen gegen die von den öffentlichen Auftraggebern unter Verstoß gegen das Vergaberecht getroffenen Entscheidungen, zu erreichen, ist es wichtig, dass die für das Nachprüfungsverfahren zuständige Stelle eine wirksame Kontrolle ausübt, wenn sie nachprüft, ob die in Art. 2d Abs. 4 der Richtlinie 89/665 genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Was insbesondere die im zweiten Gedankenstrich von Art. 2d Abs. 4 enthaltene Voraussetzung betrifft, dass im Amtsblatt der Europäischen Union eine Bekanntmachung veröffentlicht sein muss, mit der der öffentliche Auftraggeber seine Absicht bekundet, den Vertrag abzuschließen, muss diese Bekanntmachung eine Begründung enthalten, die klar und unmissverständlich die Gründe erkennen lässt, die den öffentlichen Auftraggeber zu der Auffassung veranlasst haben, den Auftrag ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung vergeben zu können, damit die Beteiligten in voller Sachkenntnis entscheiden können, ob sie es für nützlich erachten, die für das Nachprüfungsverfahren zuständige Stelle anzurufen, und damit diese eine wirksame Kontrolle vornehmen kann.

Außerdem ist die für das Nachprüfungsverfahren zuständige Stelle verpflichtet, zu würdigen, ob der öffentliche Auftraggeber, als er die Entscheidung gefällt hat, einen Auftrag unter Durchführung des Verhandlungsverfahrens ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung zu vergeben, sorgfältig gehandelt hat und ob er der Ansicht sein durfte, dass die in Art. 31 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/18 aufgestellten Voraussetzungen tatsächlich erfüllt waren.

Im Übrigen verstößt Art. 2d Abs. 4 der Richtlinie 89/665 weder gegen die Erfordernisse aus Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union noch gegen das Diskriminierungsverbot. Indem diese Bestimmung die Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union vorsieht, stellt sie nämlich sicher, dass alle potenziell betroffenen Bewerber in der Lage sind, von der Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers, den Auftrag ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung zu vergeben, Kenntnis zu erlangen. Außerdem ist der öffentliche Auftraggeber gemäß dem dritten Gedankenstrich dieser Bestimmung verpflichtet, eine Stillhaltefrist von zehn Tagen einzuhalten. So werden die Beteiligten in die Lage versetzt, die Vergabe eines Auftrags gerichtlich anzufechten, bevor der Vertrag geschlossen wird.

(vgl. Rn. 46-48, 50, 54, 61, 64, 65, Tenor 1)