Language of document : ECLI:EU:C:2011:785

Rechtssache C‑371/10

National Grid Indus BV

gegen

Inspecteur van de Belastingdienst Rijnmond/kantoor Rotterdam

(Vorabentscheidungsersuchen des Gerechtshof Amsterdam)

„Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes einer Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat als den Gründungsmitgliedstaat der Gesellschaft – Niederlassungsfreiheit – Art. 49 AEUV – Besteuerung der nicht realisierten Wertzuwächse beim Vermögen einer Gesellschaft, die eine Sitzverlegung zwischen Mitgliedstaaten vornimmt – Festsetzung des Steuerbetrags zum Zeitpunkt der Sitzverlegung – Sofortige Einziehung der Steuer – Verhältnismäßigkeit“

Leitsätze des Urteils

1.        Freizügigkeit – Niederlassungsfreiheit – Bestimmungen des Vertrags – Geltungsbereich – Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes einer nach nationalem Recht gegründeten Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat

(Art. 49 AEUV und 54 AEUV)

2.        Freizügigkeit – Niederlassungsfreiheit – Beschränkungen – Steuerrecht – Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes einer nach nationalem Recht gegründeten Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat

(Art. 49 AEUV)

3.        Freizügigkeit – Niederlassungsfreiheit – Beschränkungen – Steuerrecht – Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes einer nach nationalem Recht gegründeten Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat

(Art. 49 AEUV)

1.        Eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, ohne dass die Verlegung des Sitzes ihre Eigenschaft als Gesellschaft nach dem Recht des ersten Mitgliedstaats berührt, kann sich auf Art. 49 AEUV berufen, um die Rechtmäßigkeit einer ihr von dem ersten Mitgliedstaat anlässlich dieser Sitzverlegung auferlegten Steuer in Frage zu stellen.

Ein Mitgliedstaat kann zwar sowohl die Anknüpfung bestimmen, die eine Gesellschaft aufweisen muss, um als nach seinem innerstaatlichen Recht gegründet angesehen werden und damit in den Genuss der Niederlassungsfreiheit gelangen zu können, als auch die Anknüpfung, die für den Erhalt dieser Eigenschaft verlangt wird. Ein Mitgliedstaat hat daher die Möglichkeit, einer nach seiner Rechtsordnung gegründeten Gesellschaft Beschränkungen hinsichtlich der Verlegung ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes aus seinem Hoheitsgebiet aufzuerlegen, damit sie die ihr nach dem Recht dieses Staates zuerkannte Rechtspersönlichkeit behalten kann. Diese Befugnis impliziert jedoch keineswegs, dass die Vorschriften des Vertrags über die Niederlassungsfreiheit nicht für das nationale Recht über die Gründung und Auflösung von Gesellschaften gelten.

(vgl. Randnrn. 27, 30, 33, Tenor 1)

2.        Auch wenn die Vertragsbestimmungen über die Niederlassungsfreiheit nach ihrem Wortlaut die Inländerbehandlung im Aufnahmemitgliedstaat sichern sollen, verbieten sie es doch ebenfalls, dass der Herkunftsmitgliedstaat die Niederlassung seiner Staatsangehörigen oder einer nach seinem Recht gegründeten Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat behindert.

Eine nationale Regelung, wonach die Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes einer Gesellschaft nach innerstaatlichem Recht in einen anderen Mitgliedstaat die sofortige Besteuerung der nicht realisierten Wertzuwächse beim verlegten Vermögen nach sich zieht, während solche Wertzuwächse nicht besteuert werden, wenn eine solche Gesellschaft ihren Sitz innerhalb des in Rede stehenden Mitgliedstaats verlegt, und nur dann besteuert werden, wenn und soweit sie sich tatsächlich realisiert haben, schafft eine unterschiedliche Behandlung bei der Besteuerung der Wertzuwächse und ist geeignet, eine Gesellschaft nach innerstaatlichem Recht davon abzuhalten, ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen. Diese unterschiedliche Behandlung stellt eine nach den Bestimmungen des Vertrags über die Niederlassungsfreiheit grundsätzlich verbotene Beschränkung dar.

Die Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes einer Gesellschaft eines Mitgliedstaats in einen anderen Mitgliedstaat kann jedoch nicht bedeuten, dass der Herkunftsmitgliedstaat auf sein Recht zur Besteuerung eines Wertzuwachses, der im Rahmen seiner Steuerhoheit vor dieser Verlegung erzielt wurde, verzichten muss. Eine solche Maßnahme soll nämlich Situationen verhindern, die das Recht des Herkunftsmitgliedstaats auf Ausübung seiner Steuerhoheit für die in seinem Hoheitsgebiet durchgeführten Tätigkeiten gefährden können, und kann daher aus Gründen zur Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten gerechtfertigt sein; sie ist geeignet, diese Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den betreffenden Mitgliedstaaten zu gewährleisten.

(vgl. Randnrn. 35, 37, 41, 46, 48)

3.        Art. 49 AEUV ist dahin auszulegen, dass

–        er einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, wonach der Betrag der Steuer auf die nicht realisierten Wertzuwächse beim Vermögen einer Gesellschaft endgültig – ohne Berücksichtigung möglicherweise später eintretender Wertminderungen oder Wertzuwächse – zu dem Zeitpunkt festgesetzt wird, zu dem die Gesellschaft aufgrund der Verlegung ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes in einen anderen Mitgliedstaat aufhört, in dem ersten Mitgliedstaat steuerpflichtige Gewinne zu erzielen. Es ist in diesem Zusammenhang unerheblich, ob sich die besteuerten nicht realisierten Wertzuwächse auf Kursgewinne beziehen, die im Aufnahmemitgliedstaat angesichts der dort geltenden Steuerregelung nicht zum Ausdruck kommen können;

–        er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die die sofortige Einziehung der Steuer auf die nicht realisierten Wertzuwächse bei den Vermögensgegenständen einer Gesellschaft, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, zum Zeitpunkt dieser Verlegung vorschreibt.

Eine nationale Regelung, die einer Gesellschaft, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, die Wahl lässt zwischen einerseits der sofortigen Zahlung des Steuerbetrags, was zu einem Liquiditätsnachteil führt, die Gesellschaft aber vom späteren Verwaltungsaufwand befreit, und andererseits einer Aufschiebung der Zahlung dieses Steuerbetrags, gegebenenfalls zuzüglich Zinsen entsprechend der geltenden nationalen Regelung, was für die betreffende Gesellschaft notwendigerweise einen Verwaltungsaufwand im Zusammenhang mit der Nachverfolgung des verlegten Vermögens mit sich bringt, würde nämlich eine Maßnahme darstellen, die die Niederlassungsfreiheit weniger stark beeinträchtigt als die sofortige Einziehung der Steuer und dabei die ausgewogene Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten gewährleistet.

(vgl. Randnrn. 64, 73, 86, Tenor 2)