Language of document : ECLI:EU:C:2020:216

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

19. März 2020(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Politik im Bereich Asyl und subsidiärer Schutz – Gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung des internationalen Schutzes – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 46 Abs. 3 – Umfassende Ex-nunc-Prüfung – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Befugnisse und Pflichten des erstinstanzlichen Gerichts – Keine Befugnis zur Abänderung von Entscheidungen der zuständigen Behörden auf dem Gebiet des internationalen Schutzes – Nationale Regelung, die eine Verpflichtung zur Entscheidung innerhalb von 60 Tagen vorsieht“

In der Rechtssache C‑406/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Hauptstädtisches Verwaltungs- und Arbeitsgericht, Ungarn) mit Entscheidung vom 4. Juni 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Juni 2018, in dem Verfahren

PG

gegen

Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot (Berichterstatter), der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Ersten Kammer, der Richter M. Safjan und L. Bay Larsen sowie der Richterin C. Toader,

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. September 2019,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von PG, vertreten durch Sz. M. Sánta, ügyvéd,

–        der ungarischen Regierung, vertreten zunächst durch M. Z. Fehér, G. Tornyai und M. M. Tátrai, dann durch M. Z. Fehér und M. M. Tátrai als Bevollmächtigte,

–        der deutschen Regierung, vertreten zunächst durch T. Henze und R. Kanitz, dann durch T. Kanitz als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande, A. Tokár und J. Tomkin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. Dezember 2019

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60) im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen PG und dem Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal (Amt für Einwanderung und Asyl, Ungarn) (im Folgenden: Amt) über dessen Entscheidung, den Antrag von PG auf internationalen Schutz abzulehnen und seine Abschiebung anzuordnen, verbunden mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Dauer von zwei Jahren.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        In den Erwägungsgründen 18, 50 und 60 der Richtlinie 2013/32 heißt es:

„(18) Es liegt im Interesse sowohl der Mitgliedstaaten als auch der Personen, die internationalen Schutz beantragen, dass über die Anträge auf internationalen Schutz so rasch wie möglich, unbeschadet der Durchführung einer angemessenen und vollständigen Prüfung der Anträge, entschieden wird.

(50) Einem Grundprinzip des Unionsrechts zufolge muss gegen die Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz … ein wirksamer Rechtsbehelf vor einem Gericht gegeben sein.

(60) Diese Richtlinie steht in Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der Charta anerkannt wurden. Diese Richtlinie zielt insbesondere darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde zu gewährleisten und die Anwendung der Art. 1, 4, 18, 19, 21, 23, 24 und 47 der Charta zu fördern; sie muss entsprechend umgesetzt werden.“

4        Mit der Richtlinie 2013/32 werden gemäß ihrem Art. 1 gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes gemäß der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9) eingeführt.

5        Gemäß Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2013/32 bezeichnet der Ausdruck „Asylbehörde“ „jede gerichtsähnliche Behörde beziehungsweise jede Verwaltungsstelle eines Mitgliedstaats, die für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz zuständig und befugt ist, erstinstanzliche Entscheidungen über diese Anträge zu erlassen“.

6        Art. 46 Abs. 1, 3, 4 und 10 dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Antragsteller das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem Gericht haben gegen

a)      eine Entscheidung über ihren Antrag auf internationalen Schutz, einschließlich einer Entscheidung,

i)      einen Antrag als unbegründet in Bezug auf die Flüchtlingseigenschaft und/oder den subsidiären Schutzstatus zu betrachten;

(3)      Zur Einhaltung des Absatzes 1 stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass der wirksame Rechtsbehelf eine umfassende Ex-nunc-Prüfung vorsieht, die sich sowohl auf Tatsachen als auch auf Rechtsfragen erstreckt und bei der gegebenenfalls das Bedürfnis nach internationalem Schutz gemäß der Richtlinie 2011/95/EU zumindest in Rechtsbehelfsverfahren vor einem erstinstanzlichen Gericht beurteilt wird.

(4)      Die Mitgliedstaaten legen angemessene Fristen und sonstige Vorschriften fest, die erforderlich sind, damit der Antragsteller sein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Absatz 1 wahrnehmen kann. …

(10)      Die Mitgliedstaaten können für das Gericht nach Absatz 1 Fristen für die Prüfung der Entscheidung der Asylbehörde vorsehen.“

 Ungarisches Recht

7        § 68 Abs. 2, 3, 5 und 6 des Menedékjogról szóló 2007. évi LXXX. törvény (Gesetz Nr. LXXX von 2007 über das Asylrecht) lautet:

„(2)      Das Gericht trifft seine Entscheidung innerhalb von 60 Tagen nach Eingang des verfahrenseinleitenden Schriftstücks bei Gericht.

(4)      … Das Gericht führt eine umfassende Überprüfung durch, die sich auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts erstreckt.

(5)      Das Gericht darf die Entscheidung der Asylbehörde nicht ändern.

(6)      Die verfahrensbeendende Sachentscheidung des Gerichts ist unanfechtbar.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

8        PG, irakischer Kurde, begab sich am 22. August 2017 ohne Ausweispapiere in eine Transitzone Ungarns und stellte dort einen Antrag auf internationalen Schutz, weil sein Leben in seinem Herkunftsland in Gefahr sei. Die ungarischen Behörden lehnten diesen Antrag am 14. März 2018 ab und erklärten, dass „der Grundsatz der Nichtzurückweisung auf seinen Fall unanwendbar ist“. Gegen ihn wurde eine Rückkehrentscheidung, verbunden mit einem Aufenthaltsverbot für die Dauer von zwei Jahren erlassen.

9        Er erhob beim vorlegenden Gericht Klage gegen die Ablehnung seines Antrags auf internationalen Schutz.

10      Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass ein anderes ungarisches Gericht bereits zwei frühere Entscheidungen des Amtes, eine vom 25. Oktober 2017, die andere vom 18. Januar 2018, aufgehoben hat, mit denen der Antrag auf internationalen Schutz derselben Person abgelehnt worden war. Somit wäre die Entscheidung vom 14. März 2018 die dritte Ablehnung eines Antrags von PG auf internationalen Schutz nach zwei aufeinanderfolgenden Aufhebungsentscheidungen.

11      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass das ungarische Recht es den Gerichten seit dem Jahr 2015 nicht mehr erlaube, Verwaltungsentscheidungen auf dem Gebiet des internationalen Schutzes abzuändern und selbst die eine oder die andere Form des Schutzes zu gewähren. Solche Entscheidungen könnten gegebenenfalls aufgehoben werden, wodurch der Betroffene in die Stellung eines Antragstellers bei der Behörde zurückversetzt werde. Daher könne sich der Kreislauf von der Ablehnung durch die Behörde, gefolgt von einer Aufhebung durch den Richter, beliebig wiederholen. Das vorlegende Gericht stellt sich daher die Frage, ob dies nicht dazu führt, dass die neuen ungarischen Verfahrensmodalitäten mit den Vorschriften der Richtlinie 2013/32 über das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf unvereinbar sind.

12      Im Übrigen ist das vorlegende Gericht mit der in den ungarischen Rechtsvorschriften vorgesehenen Dauer des Gerichtsverfahrens von höchstens 60 Tagen konfrontiert. In bestimmten Rechtssachen, für die das Ausgangsverfahren repräsentativ sein dürfte, reiche eine solche Frist nicht aus, um die erforderlichen Angaben zusammenzutragen, den Sachverhalt zu ermitteln, den Betroffenen anzuhören und damit eine ordnungsgemäß begründete gerichtliche Entscheidung zu erlassen. Es fragt sich daher, ob diese Frist mit dem in der Richtlinie 2013/32 und Art. 47 der Charta vorgesehenen Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vereinbar ist.

13      Unter diesen Umständen hat das Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Hauptstädtisches Verwaltungs- und Arbeitsgericht, Ungarn) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 47 der Charta und Art. 31 der Richtlinie 2013/32 im Licht von Art. 6 und Art. 13 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, unterzeichnet in Rom am 4. November 1950, dahin auszulegen, dass in einem Mitgliedstaat das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf möglicherweise auch gewährleistet ist, wenn seine Gerichte die in Asylverfahren ergangenen Entscheidungen nicht abändern, sondern lediglich aufheben und die Durchführung eines neuen Verfahrens anordnen dürfen?

2.      Sind Art. 47 der Charta und Art. 31 der Richtlinie 2013/32, wiederum im Licht von Art. 6 und Art. 13 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, dahin auszulegen, dass es mit diesen Vorschriften vereinbar ist, wenn die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats für gerichtliche Asylverfahren eine einzige, nicht verlängerbare Gesamtdauer von 60 Tagen festlegen, die unabhängig von allen Umständen des Einzelfalls gilt und weder die Besonderheiten der jeweiligen Rechtssache noch mögliche Beweisschwierigkeiten berücksichtigt?

 Verfahren vor dem Gerichtshof

14      Das vorlegende Gericht hat beantragt, die Rechtssache dem Eilvorabentscheidungsverfahren nach Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu unterwerfen. Am 31. Juli 2018 hat die Erste Kammer nach Anhörung des Generalanwalts beschlossen, diesem Antrag nicht stattzugeben.

 Zu den Vorlagefragen

 Vorbemerkungen

15      Zwar betreffen die Vorlagefragen, so wie sie das vorlegende Gericht formuliert hat, die Auslegung von Art. 31 der Richtlinie 2013/32, der das Verwaltungsverfahren zur Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz betrifft, doch bezieht sich das Vorabentscheidungsersuchen in Wirklichkeit auf die Umsetzung des in Art. 46 dieser Richtlinie vorgesehenen Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf. Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, ist daher die letztgenannte Bestimmung, insbesondere ihr Abs. 3 auszulegen.

 Zur ersten Frage

16      Mit der ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die den Gerichten nur die Befugnis verleiht, Entscheidungen der auf dem Gebiet des internationalen Schutzes zuständigen Behörden aufzuheben, nicht aber sie abzuändern.

17      Wie der Generalanwalt in den Nrn. 21 und 31 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, hat sich der Gerichtshof, nachdem das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen im Register eingetragen worden war, in seinen Urteilen vom 25. Juli 2018, Alheto (C‑585/16, EU:C:2018:584), und vom 29. Juli 2019, Torubarov (C‑556/17, EU:C:2019:626) zu einer derartigen Frage geäußert.

18      So hat er in den Rn. 145 und 146 des Urteils vom 25. Juli 2018, Alheto (C‑585/16, EU:C:2018:584), festgestellt, dass Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 nur die „Prüfung“ des Rechtsbehelfs betrifft und somit nicht die Folgen einer etwaigen Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung. Der Unionsgesetzgeber wollte mithin beim Erlass der Richtlinie 2013/32 keine gemeinsame Vorschrift einführen, wonach die gerichtsähnliche Behörde bzw. Verwaltungsstelle im Sinne von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie nach der Nichtigerklärung ihrer ursprünglichen Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz ihre Zuständigkeit verlieren sollte. Es steht den Mitgliedstaaten daher weiterhin frei, vorzusehen, dass im Anschluss an eine solche Nichtigerklärung die Akte zur erneuten Entscheidung an dieses Organ zurückzusenden ist.

19      In den Rn. 147 und 148 dieses Urteils hat der Gerichtshof ausgeführt, dass Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 jede praktische Wirksamkeit genommen würde, wenn es zulässig wäre, dass die betreffende Behörde nach einem Urteil, in dem das erstinstanzliche Gericht im Einklang mit dieser Bestimmung eine umfassende Ex-nunc-Beurteilung des Bedürfnisses des Antragstellers nach internationalem Schutz gemäß der Richtlinie 2011/95 vorgenommen hat, eine dieser Beurteilung zuwiderlaufende Entscheidung erlassen oder erhebliche Zeit verstreichen lassen könnte, was geeignet wäre, die Gefahr zu erhöhen, dass Umstände eintreten, die eine erneute Beurteilung anhand des aktuellen Standes erfordern. Auch wenn mit der Richtlinie 2013/32 keine gemeinsame Vorschrift in Bezug auf die Zuständigkeit für den Erlass einer neuen Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz nach der Nichtigerklärung der ursprünglichen Entscheidung eingeführt werden soll, ergibt sich somit gleichwohl aus ihrem Ziel, die schnellstmögliche Bearbeitung derartiger Anträge sicherzustellen, aus der Pflicht, die praktische Wirksamkeit ihres Art. 46 Abs. 3 zu gewährleisten, sowie aus dem Art. 47 der Charta zu entnehmenden Erfordernis, die Wirksamkeit des Rechtsbehelfs sicherzustellen, dass jeder durch die Richtlinie gebundene Mitgliedstaat sein nationales Recht so zu gestalten hat, dass im Anschluss an eine Nichtigerklärung der ursprünglichen Entscheidung und im Fall der Rücksendung der Akte an die in Art. 2 Buchst. f der Richtlinie genannte gerichtsähnliche Behörde bzw. Verwaltungsstelle innerhalb kurzer Zeit eine neue Entscheidung erlassen wird, die mit der im Nichtigkeitsurteil enthaltenen Beurteilung im Einklang steht.

20      Wenn daher ein Gericht nach einer umfassenden Prüfung des Bedürfnisses eines Antragstellers nach internationalem Schutz anhand aller einschlägigen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte nach aktuellem Stand die Entscheidung einer Verwaltungsbehörde aufhebt und feststellt, dass dem Antragsteller internationaler Schutz zu gewähren ist, und die Sache dann an die Verwaltungsbehörde zurückverweist, damit diese eine neue Entscheidung erlässt, ist diese Verwaltungsbehörde unter dem Vorbehalt des Eintretens tatsächlicher oder rechtlicher Umstände, die objektiv eine neue, aktualisierte Beurteilung erfordern, verpflichtet, den beantragten internationalen Schutz zuzuerkennen, da sonst Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie den Art. 13 und 18 der Richtlinie 2011/95 jede praktische Wirksamkeit genommen würde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Torubarov, C‑556/17, EU:C:2019:626, Rn. 66).

21      Hinsichtlich der Überprüfung der von der Verwaltungsbehörde im Anschluss an ein solches Urteil erlassenen Entscheidung hat der Gerichtshof hervorgehoben, dass Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 die Mitgliedstaaten zwar nicht verpflichtet, den für die Entscheidung über Klagen nach dieser Bestimmung zuständigen Gerichten eine Abänderungsbefugnis zu übertragen. Diese Gerichte haben jedoch unter Berücksichtigung der besonderen Umstände jedes Einzelfalls zu gewährleisten, dass das in Art. 47 der Charta verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gewahrt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Torubarov, C‑556/17, EU:C:2019:626, Rn. 69 und 70).

22      Der Gerichtshof hat daraus in Bezug auf die im Ausgangsverfahren angewandten Verfahrensvorschriften den Schluss gezogen, dass, wenn einer gerichtlichen Entscheidung, in der das Gericht im Rahmen einer umfassenden Ex-nunc-Prüfung des Bedürfnisses der betroffenen Person nach internationalem Schutz zu dem Ergebnis gelangt ist, dass der betroffenen Person dieser Schutz zuerkannt werden muss, eine spätere Entscheidung der zuständigen Behörde zuwiderläuft, dieses Gericht, wenn das nationale Recht keine Mittel vorsieht, die es ihm ermöglichten, seinem Urteil Geltung zu verschaffen, diese Verwaltungsentscheidung abändern und durch seine eigene Entscheidung ersetzen muss, wobei es die nationale Regelung, die ihm dies untersagt, unangewendet lassen muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Torubarov, C‑556/17, EU:C:2019:626, Rn. 68, 72 und 77).

23      Folglich ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die den Gerichten nur die Befugnis verleiht, Entscheidungen der zuständigen Behörden auf dem Gebiet des internationalen Schutzes aufzuheben, nicht aber sie abzuändern. Im Fall der Zurückverweisung der Sache an die zuständige Verwaltungsbehörde ist jedoch binnen kurzer Frist eine neue Entscheidung zu erlassen, die im Einklang mit der im Aufhebungsurteil enthaltenen Würdigung steht. Wenn darüber hinaus ein nationales Gericht – nach einer umfassenden Ex-nunc-Prüfung aller von einem Antragsteller auf internationalen Schutz vorgebrachten maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände – entschieden hat, dass dem betreffenden Antragsteller nach den in der Richtlinie 2011/95 festgelegten Kriterien ein solcher Schutz aus den Gründen zuzuerkennen ist, auf die er oder sie seinen oder ihren Antrag gestützt hat, die Verwaltungsbehörde jedoch anschließend ohne festzustellen, dass neue Umstände vorliegen, die eine neue Beurteilung des Bedürfnisses des Antragstellers nach internationalem Schutz rechtfertigen, eine gegenteilige Entscheidung trifft, muss dieses Gericht, wenn das nationale Recht keine Mittel vorsieht, die es ihm ermöglichten, seinem Urteil Geltung zu verschaffen, diese Entscheidung, die seinem früheren Urteil nicht entspricht, abändern und sie im Hinblick auf den Antrag auf internationalen Schutz durch seine eigene Entscheidung ersetzen, wobei es die nationalen Rechtsvorschriften, die es an diesem Vorgehen hindern würden, gegebenenfalls unangewendet lassen muss.

 Zur zweiten Frage

24      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die dem Gericht, das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung über die Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz befasst ist, eine Frist von 60 Tagen für die Entscheidung setzt.

25      Es ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2013/32 nicht nur keine harmonisierten Vorschriften zu Entscheidungsfristen vorsieht, sondern die Mitgliedstaaten in Art. 46 Abs. 10 sogar ermächtigt, solche Fristen festzusetzen.

26      Außerdem ist es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs mangels einschlägiger Unionsregeln nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, die verfahrensrechtlichen Modalitäten der Rechtsbehelfe, die zum Schutz der Rechte der Bürger bestimmt sind, festzulegen, vorausgesetzt allerdings, dass sie nicht ungünstiger sind als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte regeln, die dem innerstaatlichen Recht unterliegen (Äquivalenzgrundsatz), und dass sie die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (Urteil vom 15. März 2017, Aquino, C‑3/16, EU:C:2017:209, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27      Zur Beachtung des Äquivalenzgrundsatzes bei einer Frist für die gerichtliche Entscheidung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ist – vorbehaltlich der dem vorlegenden Gericht obliegenden Prüfungen – festzustellen, dass aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht hervorgeht und im Übrigen auch nicht vorgetragen wurde, dass gleichartige Sachverhalte durch innerstaatliche Verfahrensmodalitäten geregelt würden, die günstiger wären als die, die für die Umsetzung der Richtlinie 2013/32 vorgesehen sind und im Ausgangsverfahren angewandt wurden (vgl. entsprechend Urteil vom 7. November 2019, Flausch u. a., C‑280/18, EU:C:2019:928, Rn. 28).

28      Zur Beachtung des Effektivitätsgrundsatzes ist darauf hinzuweisen, dass Art. 46 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 den Personen, die internationalen Schutz beantragen, ein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem Gericht gegen die ihren Antrag betreffenden Entscheidungen zuerkennt. Art. 46 Abs. 3 dieser Richtlinie regelt, wie weit das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf reicht, indem klargestellt wird, dass die durch diese Richtlinie gebundenen Mitgliedstaaten sicherstellen müssen, dass das Gericht, bei dem die Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz angefochten wird, „eine umfassende Ex-nunc-Prüfung [vornimmt], die sich sowohl auf Tatsachen als auch auf Rechtsfragen erstreckt und bei der gegebenenfalls das Bedürfnis nach internationalem Schutz gemäß der Richtlinie [2011/95] beurteilt wird“ (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Torubarov, C‑556/17, EU:C:2019:626, Rn. 51).

29      Nach ständiger Rechtsprechung muss außerdem jede Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus auf einer individuellen Prüfung beruhen (Urteil vom 25. Januar 2018, F, C‑473/16, EU:C:2018:36, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung), deren Ziel es ist, festzustellen, ob unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände des Antragstellers die Voraussetzungen für die Zuerkennung vorliegen (Urteil vom 5. September 2012, Y und Z, C‑71/11 und C‑99/11, EU:C:2012:518, Rn. 68).

30      Außerdem ist, wie der Generalanwalt in den Nrn. 62 und 63 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, darauf hinzuweisen, dass den Klägern im Rahmen des in Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen gerichtlichen Rechtsbehelfs eine Reihe besonderer Verfahrensrechte garantiert werden, nämlich gemäß Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie das Recht auf einen Dolmetscher, die Möglichkeit, u. a. mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen Verbindung aufzunehmen und der Zugang zu bestimmten Informationen, gemäß Art. 20 der Richtlinie die Möglichkeit der unentgeltlichen Rechtsberatung und ‑vertretung, gemäß Art. 22 der Richtlinie Rechte betreffend den Zugang zur Rechtsberatung sowie gemäß Art. 24 und 25 der Richtlinie Rechte betreffend Personen mit besonderen Bedürfnissen und unbegleitete Minderjährige.

31      Der Gerichtshof hat auch darauf hingewiesen, dass es grundsätzlich erforderlich ist, im gerichtlichen Stadium eine Anhörung des Antragstellers vorzusehen, es sei denn, bestimmte kumulative Voraussetzungen sind erfüllt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Juli 2017, Sacko, C‑348/16, EU:C:2017:591, Rn. 37 und 44 bis 48). Es kann sich im Übrigen als zweckmäßig erweisen, weitere Untersuchungsmaßnahmen, insbesondere die in Art. 18 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2013/32 genannte medizinische Untersuchung, anzuordnen.

32      Im vorliegenden Fall weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass sich herausstellen kann, dass das Gericht, das mit einer Klage gegen eine Entscheidung, mit der ein Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt wird, befasst ist, angesichts seiner Arbeitsbelastung und seiner Arbeitsbedingungen oder der besonderen Schwierigkeit einiger Rechtssachen tatsächlich nicht in der Lage ist, innerhalb der ihm gesetzten Frist von 60 Tagen die Beachtung sämtlicher in den Rn. 27 bis 31 des vorliegenden Urteils genannten Regeln in jedem ihm zur Prüfung vorgelegten Fall sicherzustellen.

33      Gleichzeitig ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht diese Frist als „zwingend“ bezeichnet hat.

34      Fehlt eine nationale Vorschrift, die gewährleisten soll, dass die Sache innerhalb einer angemessenen Frist entschieden wird, wie etwa eine Vorschrift, die vorsieht, dass die Sache nach Ablauf der Frist von 60 Tagen an ein anderes Gericht verwiesen wird, verpflichtet der Grundsatz der Effektivität des Unionsrechts das Gericht in einem solchen Fall, die nationale Regelung, nach der diese Frist als zwingend angesehen wird, unangewendet zu lassen.

35      Es ist jedoch noch darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2013/32 in ihrem Art. 46 Abs. 4 auch die Verpflichtung der Mitgliedstaaten vorsieht, angemessene Entscheidungsfristen festzulegen. Diese tragen, wie der Generalanwalt in Nr. 48 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, zu dem im 18. Erwägungsgrund dieser Richtlinie zum Ausdruck gebrachten allgemeinen Ziel der möglichst raschen Bearbeitung von Anträgen auf internationalen Schutz bei.

36      Somit entbindet die Verpflichtung, eine nationale Regelung, die eine mit dem Grundsatz der Effektivität des Unionsrechts unvereinbare Entscheidungsfrist vorsieht, unangewendet zu lassen, den Richter nicht von der Pflicht zu zügiger Bearbeitung, sondern gebietet ihm lediglich, die ihm gesetzte Frist als Richtvorgabe zu betrachten und nach ihrem Ablauf so schnell wie möglich zu entscheiden.

37      Folglich ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die dem Gericht, das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung über die Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz befasst ist, eine Frist von 60 Tagen für seine Entscheidung setzt, sofern dieses Gericht in der Lage ist, innerhalb dieser Frist die Wirksamkeit der materiell-rechtlichen Vorschriften und der dem Antragsteller durch das Unionsrecht gewährten Verfahrensgarantien sicherzustellen. Anderenfalls ist dieses Gericht verpflichtet, die nationale Regelung, mit der die Entscheidungsfrist festgesetzt wird, unangewendet zu lassen und, wenn diese Frist abgelaufen ist, sein Urteil so rasch wie möglich zu erlassen.

 Kosten

38      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes ist im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die den Gerichten nur die Befugnis verleiht, Entscheidungen der zuständigen Behörden auf dem Gebiet des internationalen Schutzes aufzuheben, nicht aber sie abzuändern. Im Fall der Zurückverweisung der Sache an die zuständige Verwaltungsbehörde ist jedoch binnen kurzer Frist eine neue Entscheidung zu erlassen, die im Einklang mit der im Aufhebungsurteil enthaltenen Würdigung steht. Wenn darüber hinaus ein nationales Gericht – nach einer umfassenden Ex-nunc-Prüfung aller von einem Antragsteller auf internationalen Schutz vorgebrachten maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände – entschieden hat, dass dem betreffenden Antragsteller nach den in der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes festgelegten Kriterien ein solcher Schutz aus den Gründen zuzuerkennen ist, auf die er oder sie seinen oder ihren Antrag gestützt hat, die Verwaltungsbehörde jedoch anschließend ohne festzustellen, dass neue Umstände vorliegen, die eine neue Beurteilung des Bedürfnisses des Antragstellers nach internationalem Schutz rechtfertigen, eine gegenteilige Entscheidung trifft, muss dieses Gericht, wenn das nationale Recht keine Mittel vorsieht, die es ihm ermöglichten, seinem Urteil Geltung zu verschaffen, diese Entscheidung, die seinem früheren Urteil nicht entspricht, abändern und sie im Hinblick auf den Antrag auf internationalen Schutz durch seine eigene Entscheidung ersetzen, wobei es die nationalen Rechtsvorschriften, die es an diesem Vorgehen hindern würden, gegebenenfalls unangewendet lassen muss.

2.      Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 ist im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die dem Gericht, das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung über die Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz befasst ist, eine Frist von 60 Tagen für seine Entscheidung setzt, sofern dieses Gericht in der Lage ist, innerhalb dieser Frist die Wirksamkeit der materiell-rechtlichen Vorschriften und der dem Antragsteller durch das Unionsrecht gewährten Verfahrensgarantien sicherzustellen. Anderenfalls ist dieses Gericht verpflichtet, die nationale Regelung, mit der die Entscheidungsfrist festgesetzt wird, unangewendet zu lassen und, wenn diese Frist abgelaufen ist, sein Urteil so rasch wie möglich zu erlassen.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Ungarisch.