Language of document : ECLI:EU:C:2012:570

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

ELEANOR SHARPSTON

vom 13. September 2012(1)

Rechtssache C‑461/11

Ulf Kazimierz Radziejewski

gegen

Kronofogdemyndigheten i Stockholm

(Vorabentscheidungsersuchen des Stockholms tingsrätt [Schweden])

„Freizügigkeit der Arbeitnehmer – Entschuldung – Wohnsitzerfordernis“





1.        Manchmal ist jemand so tief in Schulden verstrickt, dass vernünftigerweise nicht davon auszugehen ist, dass er sich in nächster Zeit davon befreien kann. In Schweden kann ein solcher Schuldner die Entschuldung(2) (skuldsanering) beantragen, in deren Rahmen eine Behörde (die Kronofogdemyndighet, im Folgenden: KFM) ihn ganz oder teilweise aus der Verpflichtung zur Begleichung der Schulden entlässt. Voraussetzung für die Bewilligung der schwedischen Entschuldung ist jedoch, dass der Antragsteller seinen Wohnsitz in Schweden hat. Dieses Erfordernis besteht offenbar, weil i) die Entschuldungsentscheidungen auch Wirkung entfalten sollen, ii) vollständige und korrekte Informationen über die Verhältnisse des Schuldners benötigt werden und iii) Bedenken bestehen, dass die Regelung andernfalls die Anwendung der Unionsrechtsvorschriften über die Eröffnung von Insolvenzverfahren unterlaufen könnte. Im vorliegenden Verfahren möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Wohnsitzerfordernis geeignet ist, einen Arbeitnehmer daran zu hindern oder davon abzuhalten, Schweden zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

2.        Art. 45 AEUV bestimmt:

„(1)      Innerhalb der Union ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet.

(2)      Sie umfasst die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen.

(3)      Sie gibt – vorbehaltlich der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigten Beschränkungen – den Arbeitnehmern das Recht,

a)      sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben;

b)      sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen;

c)      sich in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, um dort nach den für die Arbeitnehmer dieses Staates geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften eine Beschäftigung auszuüben;

d)      nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Bedingungen zu verbleiben, welche die Kommission durch Verordnungen festlegt.

…“

 Insolvenzverfahrenverordnung

3.        Gemäß dem zweiten Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000(3) (im Folgenden: Insolvenzverfahrenverordnung) sind „[f]ür ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarktes … effiziente und wirksame grenzüberschreitende Insolvenzverfahren erforderlich“. Im vierten Erwägungsgrund heißt es, dass „verhindert werden [muss], dass es für die Parteien vorteilhafter ist, Vermögensgegenstände oder Rechtsstreitigkeiten von einem Mitgliedstaat in einen anderen zu verlagern, um auf diese Weise eine verbesserte Rechtsstellung anzustreben (sog. ‚forum shopping‘)“.

4.        Nach ihrem sechsten Erwägungsgrund sollte sich die Insolvenzverfahrenverordnung „auf Vorschriften beschränken, die die Zuständigkeit für die Eröffnung von Insolvenzverfahren und für Entscheidungen regeln, die unmittelbar aufgrund des Insolvenzverfahrens ergehen und in engem Zusammenhang damit stehen“.

5.        Art. 1 Abs. 1 der Insolvenzverfahrenverordnung sieht vor:

„Diese Verordnung gilt für Gesamtverfahren, welche die Insolvenz des Schuldners voraussetzen und den vollständigen oder teilweisen Vermögensbeschlag gegen den Schuldner sowie die Bestellung eines Verwalters zur Folge haben.“

6.        In Art. 2 Buchst. a ist der Begriff „Insolvenzverfahren“ definiert als „die in Artikel 1 Absatz 1 genannten Gesamtverfahren“; weiter heißt es, dass „[d]iese Verfahren … in Anhang A aufgeführt [sind]“(4). In Anhang A sind die Verfahren der einzelnen Mitgliedstaaten genannt, auf die die Verordnung Anwendung findet. Gemäß Art. 45 kann der Rat diese Liste entweder auf Initiative der Mitgliedstaaten oder auf Vorschlag der Kommission ändern.

7.        In Anhang A ist „skuldsanering“ nicht unter „SVERIGE“ (Schweden) aufgeführt.

 Brüssel-I‑Verordnung

8.        Die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates(5) (im Folgenden: Brüssel‑I-Verordnung) über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen „[erstreckt] sich, von einigen genau festgelegten Rechtsgebieten abgesehen, auf den wesentlichen Teil des Zivil- und Handelsrechts“(6).

9.        Art. 1 der Brüssel-I‑Verordnung lautet:

„(1)      Diese Verordnung ist in Zivil- und Handelssachen anzuwenden, ohne dass es auf die Art der Gerichtsbarkeit ankommt. Sie erfasst insbesondere nicht Steuer- und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten.

(2)      Sie ist nicht anzuwenden auf:

b)      Konkurse, Vergleiche und ähnliche Verfahren;

…“

 Nationales Recht

10.      In § 4 des Skuldsaneringslag (2006:548) (Entschuldungsgesetz) sind die Voraussetzungen festgelegt, unter denen natürlichen Personen die vollständige oder teilweise Entschuldung gewährt werden kann. Der Besitz der schwedischen Staatsangehörigkeit gehört nicht zu diesen Voraussetzungen. § 4 lautet:

„Einem Schuldner, der eine natürliche Person ist und seinen Wohnsitz in Schweden hat, kann die Entschuldung bewilligt werden, sofern er

1.      zahlungsunfähig und so hoch verschuldet ist, dass nicht anzunehmen ist, dass er oder sie in einem überschaubaren Zeitraum die Schulden begleichen kann, und

2.      es im Hinblick auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Schuldners recht und billig erscheint, ihm oder ihr die Entschuldung zu bewilligen.

Personen, die in Schweden im Melderegister eingetragen sind, gelten für die Anwendung von Abs. 1 als Inhaber eines Wohnsitzes in Schweden.

Bei der Anwendung von Abs. 1 Nr. 2 ist insbesondere zu berücksichtigen, unter welchen Umständen die Schulden entstanden sind, welche Anstrengungen der Schuldner unternommen hat, um seine Verpflichtungen zu erfüllen, und in welcher Weise er an der Bearbeitung seiner Entschuldung mitwirkt.

Ist der Schuldner ein Gewerbetreibender, darf die Entschuldung nur dann bewilligt werden, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse im Zusammenhang mit der Gewerbetätigkeit einfach zu ermitteln sind.“

11.      Durch Meldung beim Einwohnerregister in Schweden entstehen Rechte und Pflichten des Betroffenen, etwa das Wahlrecht oder die Steuerpflicht.

12.      Nach § 13 des Skuldsaneringslag ist ein Entschuldungsantrag, der den Anforderungen des § 4 nicht genügt, abzulehnen.

13.      Gemäß § 14 des Skuldsaneringslag muss die KFM im erforderlichen Umfang Erkundigungen bei anderen Verwaltungsbehörden über die persönlichen und finanziellen Verhältnisse des Schuldners einholen. Nach § 17 kann der Schuldner gehört werden. In diesem Fall muss er an einem Treffen mit der KFM teilnehmen und die erforderlichen Angaben machen.

14.      In der mündlichen Verhandlung hat die schwedische Regierung bestätigt, dass das Entschuldungsverfahren wie folgt abläuft. Der Schuldner beantragt bei der KFM die Entschuldung und muss alle seine Einnahmen und Ausgaben offenlegen. Auf der Grundlage der verfügbaren Informationen entscheidet die Behörde, ob der Antragsteller grundsätzlich für eine Entschuldung in Frage kommt, und eröffnet gegebenenfalls das Entschuldungsverfahren. Diese Entscheidung wird in Schweden öffentlich bekannt gemacht. Die Gläubiger – gleich welcher Staatsangehörigkeit und gleich welchen Wohnsitzes – werden zur Geltendmachung ihrer Forderungen und gegebenenfalls zur Vorlage von Informationen aufgefordert. Sodann erstellen die KFM und der Schuldner gemeinsam einen Entschuldungsplan (oder einen Ratenzahlungsplan), der allen bekannten Gläubigern übermittelt wird, die sodann dazu Stellung nehmen können. Im Anschluss an dieses Verfahren trifft die Behörde eine abschließende Entscheidung über den Erlass oder die Herabsetzung der Schulden. Diese Entscheidung wird veröffentlicht. Die Entscheidung gilt befristet (z. B. für einen Zeitraum von fünf Jahren). Gegen sie kann Rechtsmittel eingelegt werden. Die KFM kann die Entschuldungsentscheidung von Amts wegen aufheben, namentlich wenn sich die finanziellen Verhältnisse des Schuldners ändern.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

15.      Herr Radziejewski ist schwedischer Staatsbürger. Bis 2001 wohnten und arbeiteten er und seine Ehefrau in Schweden. Im Jahr 1996 wurden sie infolge des Konkurses ihres Betriebs zahlungsunfähig. Die dadurch bedingte Verschuldung trat im Rahmen von in Schweden ausgeübten Tätigkeiten ein. Ihre Gläubiger sind ausschließlich schwedische Unternehmen.

16.      Von 1997 an unterlagen Herr Radziejewski und seine Ehefrau der Lohnpfändung, die von der KFM durchgeführt wurde und in deren Rahmen Raten zur Begleichung der Schulden dadurch bezahlt werden, dass ihr schwedischer Arbeitgeber ihren Lohn (zum Teil) einbehält.

17.      Im Jahr 2001 wurde Herrn Radziejewski eine Anstellung bei einem schwedischen Arbeitgeber in Belgien angeboten. Er und seine Ehefrau zogen daher nach Belgien, wo sie seitdem wohnen. Sie sind nunmehr beide für denselben schwedischen Arbeitgeber tätig. Sie sind derzeit nicht in Schweden gemeldet.

18.      Herr Radziejewski stellte 2011 bei der KFM einen Antrag auf Entschuldung. Die KFM lehnte diesen Antrag am 29. Juni 2011 mit der Begründung ab, dass er nicht in Schweden gemeldet sei und dort keinen Wohnsitz habe. Die KFM prüfte nicht, ob er die übrigen Voraussetzungen für die Bewilligung der Entschuldung erfüllt.

19.      Herr Radziejewski focht die Entscheidung der KFM beim Stockholms tingsrätt (Gericht erster Instanz, Stockholm, im Folgenden: vorlegendes Gericht) an. Er macht u. a. geltend, dass das Wohnsitzerfordernis gegen die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der EU verstoße.

20.      Das vorlegende Gericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist das Wohnsitzerfordernis nach § 4 des Skuldsaneringslag (2006:548) geeignet, einen Arbeitnehmer daran zu hindern oder davon abzuhalten, Schweden zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, und verstößt es daher gegen das in Art. 45 AEUV verankerte Recht der Arbeitnehmer auf Freizügigkeit in der Europäischen Union?

21.      Die KFM, Herr Radziejewski, die schwedische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

22.      Die schwedische Regierung und die Kommission haben in der Verhandlung vom 24. Mai 2012 mündlich vorgetragen.

 Würdigung

 Vorbemerkungen

23.      Das vorlegende Gericht fragt den Gerichtshof, ob das im Ausgangsverfahren streitige Wohnsitzerfordernis geeignet ist, einen Arbeitnehmer daran zu hindern oder davon abzuhalten, Schweden zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, und daher gegen Art. 45 AEUV verstößt. Es ersucht den Gerichtshof nicht um Prüfung möglicher Rechtfertigungsgründe für das Wohnsitzerfordernis. Im Vorabentscheidungsersuchen wird auch nicht der Zweck des Wohnsitzerfordernisses erläutert. Es hat somit den Anschein, als müsse das vorlegende Gericht erst noch Tatsachenfeststellungen hierzu treffen.

24.      Demgegenüber sind die KFM, die schwedische Regierung und die Kommission – wenn auch nur unvollständig und kurz – auf die Frage eingegangen, ob und gegebenenfalls auf welcher Grundlage das Wohnsitzerfordernis gerechtfertigt werden kann.

25.      Aus den in den vorliegenden Schlussanträgen dargelegten Gründen schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefrage zu bejahen. Um dem vorlegenden Gericht die benötigten ergänzenden Hinweise zu geben, werde ich im Weiteren die möglichen Rechtfertigungsgründe für das Wohnsitzerfordernis auf der Grundlage der wenigen Informationen untersuchen, die sich den schriftlichen Erklärungen und der mündlichen Verhandlung entnehmen lassen.

 Verwehrt es Art. 45 AEUV einem Mitgliedstaat, das Recht zur Beantragung der Entschuldung an die Voraussetzung eines Wohnsitzes zu knüpfen?

26.      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, ob Art. 45 AEUV es einem Mitgliedstaat verwehrt, das Recht zur Beantragung der Entschuldung an die Voraussetzung eines Wohnsitzes zu knüpfen. Es fragt insbesondere, ob das Wohnsitzerfordernis eine Beeinträchtigung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer darstellt.

27.      Jeder Arbeitnehmer kann Begünstigter der durch Art. 45 AEUV gewährten Freizügigkeitsrechte sein. Er muss die Möglichkeit haben, sich jederzeit im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen, um sich um angebotene Stellen zu bewerben, sich dort während der Ausübung einer Beschäftigung aufzuhalten und nach Beendigung der Beschäftigung dort zu verbleiben.

28.      Der Gerichtshof hat ausgeführt, dass „die [Vertragsb]estimmungen … über die Freizügigkeit insgesamt den Angehörigen der Mitgliedstaaten die Ausübung von beruflichen Tätigkeiten aller Art im Gebiet der Union erleichtern sollen und Maßnahmen entgegenstehen, die diese Staatsangehörigen benachteiligen könnten, wenn sie eine wirtschaftliche Tätigkeit im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats ausüben wollen“(7). Daher liege eine Beeinträchtigung vor, wenn „[n]ationale Bestimmungen … einen Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, daran hindern oder davon abhalten, sein Herkunftsland zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen“(8).

29.      Im vorliegenden Fall eröffnet das Skuldsaneringslag die Möglichkeit zur Entschuldung von Schuldnern, von denen nicht anzunehmen ist, dass sie ihre Schulden in einem überschaubaren Zeitraum begleichen können, und deren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse es als recht und billig erscheinen lassen, ihnen die Entschuldung zu bewilligen. Wird diese Bewilligung an die Voraussetzung eines Wohnsitzes in Schweden geknüpft, ist denkbar, dass eine Person, die ansonsten für eine Entschuldung in Betracht käme, sich nicht in einen anderen Mitgliedstaat begibt, um dort eine Beschäftigung aufzunehmen. Somit kommt es zu einer Beeinträchtigung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, weil das Wohnsitzerfordernis einen Schuldner davon abhalten könnte, sich zum Zweck der Aufnahme einer Beschäftigung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben. Entsprechend wird ein Schuldner (wie Herr Radziejewski), der aus Schweden in einen anderen Mitgliedstaat gezogen ist, um dort einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, allein deshalb benachteiligt, weil er von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat.

30.      Die KFM macht geltend, dass die Beeinträchtigung der Freizügigkeit auf das Fehlen harmonisierter Bestimmungen über die Anerkennung ihrer Entschuldungsentscheidungen im Ausland zurückzuführen sei. Dieses Vorbringen liegt neben der Sache. Selbstverständlich ist Harmonisierung ein wichtiges und nützliches Instrument zur Verwirklichung des Binnenmarkts. Dennoch müssen die Mitgliedstaaten in den nichtharmonisierten Bereichen ihren Vertragsverpflichtungen nachkommen.

31.      Meines Erachtens ist daher ein Wohnsitzerfordernis wie das hier streitige geeignet, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu beschränken, und daher nach Art. 45 AEUV grundsätzlich verboten.

 Rechtfertigung

 Einführung

32.      Ob eine Maßnahme, die nach den Feststellungen die Freizügigkeit der Arbeitnehmer beschränkt, gerechtfertigt werden kann, hängt davon ab, ob i) mit der Maßnahme ein berechtigter Zweck verfolgt wird, ii) die Anwendung der Maßnahme geeignet ist, die Verwirklichung dieses Zwecks zu gewährleisten, und iii) die Maßnahme nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des Zwecks erforderlich ist(9).

33.      Aus den schriftlichen Erklärungen der schwedischen Regierung und der darin dargestellten Entstehungsgeschichte des Skuldsaneringslag ergibt sich, dass das Wohnsitzerfordernis aus zwei Gründen aufgestellt wurde: Es soll die Wirkungsentfaltung der Entschuldungsentscheidungen garantieren, und es soll sicherstellen, dass eine Entschuldung aufgrund vollständiger und korrekter Informationen über den Schuldner bewilligt wird. In der mündlichen Verhandlung hat die schwedische Regierung einen weiteren Rechtfertigungsgrund angeführt, nämlich die Gewährleistung, dass die schwedische Entschuldungsregelung nicht die Anwendung der Insolvenzverfahrenverordnung auf andere, in Anhang A aufgeführte und in den Geltungsbereich dieser Verordnung fallende Verfahren unterläuft.

34.      Zunächst sei darauf hingewiesen, dass die notwendigen detaillierten Tatsachenfeststellungen Sache des vorlegenden Gerichts sind. Gleichwohl gibt es meiner Meinung nach Anhaltspunkte dafür, dass die Beschränkung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die ein Wohnsitzerfordernis wie das im Ausgangsverfahren streitige mit sich bringt, nicht gerechtfertigt werden kann.

 Garantie der Wirkungsentfaltung einer Entschuldungsentscheidung

35.      Der erstgenannte Zweck des Wohnsitzerfordernisses besteht dem Vorbringen nach darin, die Bewilligung einer Entschuldung in Fällen zu vermeiden, in denen die Entschuldung wahrscheinlich keine Wirkung entfaltet, weil der Schuldner nicht in der Lage ist, die Entscheidung einem Gläubiger entgegenzuhalten.

36.      Das ist meines Erachtens ein berechtigter Zweck.

37.      Bezogen auf einen einzelnen Mitgliedstaat wird ein Schuldner durch eine Entschuldung wie die hier streitige von seinen Verbindlichkeiten (teilweise) befreit. Betreibt ein Gläubiger dennoch die Beitreibung und Begleichung einer von der Entschuldungsentscheidung erfassten Forderung, kann der Schuldner zu Recht einwenden, dass die Forderung nicht mehr bestehe. Unter Umständen wie den vorliegend in Rede stehenden sind die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem eine solche Entschuldung bewilligt wurde, an die Entscheidung der Verwaltungsbehörde über das Erlöschen der Forderung im Rahmen des Zivilrechts gebunden. Vor diesen Gerichten entfaltet die Entscheidung daher volle Wirkung.

38.      Verklagt der Gläubiger den Schuldner hingegen in einem anderen Mitgliedstaat, dessen Gerichte zuständig sind, kann nicht so selbstverständlich davon ausgegangen werden, dass die Entschuldungsentscheidung diese Wirkung hat. Ob und wo ein Gläubiger seinen Schuldner verklagt, hängt davon ab, welche Gerichte zuständig sind und an welchem Ort der Gläubiger ein Interesse an der Klageerhebung hat. Betrifft die Klage eine Zivil- oder Handelssache, hat der Gläubiger nach Art. 2 Abs. 1 der Brüssel‑I-Verordnung die Klage grundsätzlich bei den Gerichten des Mitgliedstaats zu erheben, in dem der Schuldner seinen Wohnsitz hat (ohne dass es auf die Staatsangehörigkeit des Schuldners ankommt). Weitere und ausschließliche Zuständigkeiten können je nach Klageart und ‑gegenstand begründet sein. Nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. a der genannten Verordnung kann z. B. eine Person, die ihren Wohnsitz in einem Mitgliedstaat hat, auch vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats verklagt werden, in dem eine Vertragsverpflichtung zu erfüllen ist(10).

39.      Die Gerichte anderer Mitgliedstaaten sind unionsrechtlich nicht zur Anerkennung und Vollstreckung schwedischer Entschuldungsentscheidungen verpflichtet.

40.      Die Brüssel-I‑Verordnung findet auf Entscheidungen wie die der KFM nach Maßgabe des Skuldsaneringslag keine Anwendung. Die genannte Verordnung soll den „freien Verkehr der Entscheidungen“ in Zivil- und Handelssachen verwirklichen(11). Insbesondere enthält sie in Kapitel III Regelungen für die Anerkennung und Vollstreckung „jede[r] von einem Gericht eines Mitgliedstaats erlassene[n] Entscheidung …, ohne Rücksicht auf ihre Bezeichnung wie Urteil, Beschluss, Zahlungsbefehl oder Vollstreckungsbescheid, einschließlich des Kostenfestsetzungsbeschlusses eines Gerichtsbediensteten“(12).

41.      Die Verordnung gilt zwar grundsätzlich für gerichtliche Klagen auf Beitreibung einer Forderung, nicht jedoch für Entschuldungen wie die hier streitigen. Eine schwedische Entschuldungsentscheidung wird von einer Verwaltungsbehörde erlassen, die dabei – anders als in den Fällen des Art. 62 der Brüssel‑I-Verordnung – nicht als ein „Gericht“ im Sinne der Verordnung handelt(13). Darüber hinaus greift die Entscheidung der KFM in das Verhältnis zwischen einem Schuldner und dessen Gläubigern ein und zwingt Letztere dazu, sich mit einer Reduzierung oder Aufhebung der ihnen zustehenden Forderungen abzufinden. Die Entscheidung ist ein hoheitlicher Verwaltungsakt, der ohne gerichtliches Zutun eine Forderung zivilrechtlich (zum Teil) zum Erlöschen bringt. Daraus folgt schlüssig, dass die Brüssel‑I-Verordnung keine Anwendung findet. Deshalb erübrigt sich die Prüfung der Frage, ob das Entschuldungsverfahren unter Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung fällt.

42.      Auch die Insolvenzverfahrenverordnung ist nicht anwendbar, da in deren Anhang A „skuldsanering“ (Entschuldung) nicht aufgeführt ist. Nach den wenigen verfügbaren Sachverhaltsangaben hat es außerdem – entsprechend den Ausführungen der schwedischen Regierung in der mündlichen Verhandlung – den Anschein, dass das schwedische Entschuldungsverfahren nicht den vollständigen oder teilweisen Vermögensbeschlag gegen den Schuldner mit der Folge bewirkt, dass „der Schuldner die Befugnisse zur Verwaltung seines Vermögens verliert“(14).

43.      Da für die Vollstreckung und Anerkennung einer Entscheidung wie der Entschuldungsentscheidung der KFM im Ausland keine harmonisierten Vorschriften bestehen, räume ich ein, dass eine solche Entschuldung insofern wirkungslos bleiben könnte, als der Schuldner sie nicht denjenigen seiner Gläubiger entgegenhalten kann, die ihn im Ausland auf Begleichung der ihnen zustehenden Forderungen verklagen. Ein Mitgliedstaat kann daher berechtigterweise für die Wirkungsentfaltung solcher Entscheidungen Sorge tragen und Maßnahmen zur Reduzierung oder Beseitigung(15) der Möglichkeit treffen wollen, dass die Entschuldung wirkungslos bleibt.

44.      Sodann hat das vorlegende Gericht zu prüfen, ob das Wohnsitzerfordernis zur Verwirklichung dieses Zwecks geeignet ist(16).

45.      Ein praktisches Beispiel mag veranschaulichen, welche Erwägungen meines Erachtens bei dieser Untersuchung von Bedeutung sind.

46.      Angenommen, ein Gläubiger beantragt in einem Verfahren vor einem belgischen Gericht die Pfändung von Vermögensgegenständen in Belgien zur Durchsetzung einer Forderung, die ihm gegen einen in Belgien lebenden und erwerbstätigen schwedischen Schuldner zusteht. Betrifft der Anspruch eine Zivil- oder Handelssache im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Brüssel‑I-Verordnung, ist diese Verordnung maßgebend dafür, ob die Zuständigkeit des belgischen Gerichts begründet sein kann.

47.      Hätte dieser schwedische Schuldner bei der KFM eine Entschuldung beantragt und erwirkt, könnte er diese Entscheidung dem Anspruch seines Gläubigers nicht entgegenhalten (es sei denn, nach dem Recht Belgiens wären die dortigen Gerichte zu ihrer Anerkennung verpflichtet). In diesem konkreten Fall bliebe die Entschuldungsentscheidung daher wirkungslos.

48.      Hätte der Schuldner hingegen einen Wohnsitz in Schweden, lägen dementsprechend seine Hauptinteressen, einschließlich seiner Vermögensgegenstände, wohl eher in Schweden. Grundsätzlich dürfte es daher wahrscheinlicher sein, dass seine Gläubiger ihn vor den schwedischen Gerichten verklagen, wo die Entschuldungsentscheidung volle Wirkung entfaltet.

49.      Kurz, wenn also der Schuldner in Schweden wohnt, dürfte die Entschuldungsentscheidung im Allgemeinen wohl volle Wirkung entfalten. Wohnt der Schuldner nicht in Schweden, verleiht die Entschuldungsentscheidung zwar auch in diesem Fall in Schweden denselben Schutz, insgesamt könnte der Schuldner jedoch weniger geschützt sein.

50.      Das Wohnsitzerfordernis ist nur dann verhältnismäßig, wenn es nicht über das zur Erreichung des angegebenen Ziels Erforderliche hinausgeht. Diese Prüfung ist Sache des vorlegenden Gerichts, jedoch mögen die folgenden Ausführungen hilfreich sein.

51.      Ohne Rechtsgrundlage für die Anerkennung schwedischer Entschuldungsentscheidungen im Ausland kann Schweden lediglich die Wirkungsentfaltung einer Entschuldungsentscheidung in Schweden garantieren.

52.      Trotzdem können Schuldner mit Wohnsitz in Schweden die Entschuldung beantragen und erwirken, auch wenn die Möglichkeit besteht, dass diese Entscheidung wirkungslos ist, wenn sie von ihren Gläubigern im Ausland verklagt werden (weil sie z. B. dort über Vermögen verfügen). Schuldnern mit Wohnsitz außerhalb Schwedens hingegen ist die Beantragung der Entschuldung verwehrt, obwohl denkbar ist, dass sie in Schweden verklagt werden, wo eine solche Entscheidung Wirkung entfaltet.

53.      Das Wohnsitzerfordernis ist mithin eine absolute Antragsvoraussetzung, die aufgestellt wird, weil die Möglichkeit besteht, dass ein Gläubiger die Bezahlung der Schuld bei den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats zu erlangen sucht und dieser Mitgliedstaat sich dafür entscheidet, der schwedischen Entschuldungsentscheidung keine Wirkungen beizumessen. Das Bestehen dieser Möglichkeit kann es nicht rechtfertigen, von allen Personen, die die Entschuldung beantragen, die Erfüllung eines Wohnsitzerfordernisses zu verlangen.

54.      Insoweit kommt es meiner Meinung nach entscheidend darauf an, in welchem allgemeinen Kontext die behauptete Gefahr entstehen könnte. Die Entschuldung steht nur dann zur Verfügung, wenn ein zahlungsunfähiger Schuldner so hoch verschuldet ist, dass nicht anzunehmen ist, dass er seine Schulden in einem überschaubaren Zeitraum begleichen kann, und er dementsprechend beantragt, teilweise oder vollständig von seinen Schulden befreit zu werden. Es ist schwer vorstellbar, dass alle oder die meisten Schuldner, die eine Entschuldung beantragen, über Vermögen im Ausland verfügen. Soweit noch Vermögensgegenstände vorhanden sind, wird es für den Gläubiger, der diese zur Begleichung seiner Forderung pfänden will, eher von Bedeutung sein, wo sich dieses Vermögen (und nicht so sehr, wo sich der Wohnsitz des Schuldners) befindet.

55.      Angesichts dessen erscheint es unverhältnismäßig, einem Antragsteller die Entschuldung allein deshalb zu versagen, weil er keinen Wohnsitz in Schweden hat, und somit die Möglichkeit außer Acht zu lassen, dass er höchstwahrscheinlich ohnehin vor den schwedischen Gerichten verklagt wird.

56.      Der dem Ausgangsverfahren zugrunde liegende Sachverhalt verdeutlicht diesen Punkt. Herr Radziejewski verfügt offenbar über keine Vermögensgegenstände außerhalb Schwedens, die für seine Gläubiger von Interesse sein könnten. Das Gehalt, das er in Belgien bezieht, unterliegt einem schwedischen Pfändungs- und Überweisungsbeschluss. Alle seine bekannten Schulden entstanden in Schweden. Alle seine bekannten Gläubiger sind Schweden. Es steht nicht fest, dass seine Gläubiger tatsächlich versuchen würden, ihn in Belgien zu verklagen. Seine Verhältnisse zeigen, dass es zur Gewährleistung, dass eine Entschuldung nur dann bewilligt wird, wenn sie Wirkung entfaltet, hinreichen würde, im Einzelfall zu prüfen, ob die Entschuldung wirksamen Schutz in Schweden verleihen würde, und die Entschuldung zu versagen, wenn dargelegt wird (was hier nicht der Fall ist), dass eine Entschuldung in Schweden voraussichtlich wirkungslos bliebe.

57.      Ich füge hinzu, dass aufgrund des Wohnsitzerfordernisses eine komplette Gruppe von Schuldnern allein deshalb ausgeschlossen wird, weil sie zum Zeitpunkt der Beantragung der Entschuldung keinen Wohnsitz in Schweden haben. In der mündlichen Verhandlung hat sich herausgestellt, dass hingegen ein Schuldner, dem die Entschuldung bewilligt wurde, der sich jedoch anschließend ins Ausland begibt und somit die Wohnsitzvoraussetzung nicht mehr erfüllt, nicht zwangsläufig von der Regelung ausgeschlossen wird, sofern er in Schweden gemeldet bleibt. Meines Erachtens lässt sich eine derart willkürliche Anwendung des Wohnsitzerfordernisses nicht mit dem Postulat vereinbaren, dass die Maßnahme zu dem damit erklärtermaßen verfolgten Ziel verhältnismäßig sein muss.

 Erlangung vollständiger und korrekter Informationen über den Schuldner

58.      Nach dem Vorbringen Schwedens wird durch das Wohnsitzerfordernis sichergestellt, dass die KFM Informationen über die persönlichen und finanziellen Verhältnisse des Schuldners finden, sammeln, untersuchen und überprüfen könne. Habe der Schuldner seinen Wohnsitz außerhalb Schwedens, sei es schwierig, die benötigten Angaben aus anderer Quelle als vom Schuldner selbst zu erlangen, und dementsprechend schwierig, diese Informationen zu überprüfen.

59.      Es liegt auf der Hand, dass eine Entschuldungsentscheidung auf eine ordnungsgemäße und eingehende Würdigung der tatsächlichen persönlichen und finanziellen Situation des Schuldners gestützt werden muss. Ich räume ein, dass die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats in der Lage sein muss, Daten zu sammeln, zu untersuchen und erforderliche Informationen zu überprüfen, um eine fundierte Entscheidung darüber treffen zu können, ob der Schuldner für eine Entschuldung in Betracht kommt. Dies steht völlig im Einklang mit dem Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung. Maßnahmen, die zu diesem Zweck getroffen werden, dienen daher einem berechtigten Ziel.

60.      Ich akzeptiere auch, dass sich dieser Überprüfungsvorgang verwaltungstechnisch einfacher gestalten mag, wenn der Schuldner seinen Wohnsitz in Schweden hat, weil es unter Umständen einfacher ist, i) ein Treffen der KFM mit dem Schuldner zu arrangieren und ii) Informationen zu sammeln und zu überprüfen, die etwa in von schwedischen Behörden geführten Datenbanken und Registern vorhanden sind. Befinden sich die relevanten Informationen im Besitz der Behörden eines anderen Mitgliedstaats, hat die KFM nicht ohne Weiteres Zugriff auf diese Daten und muss sie gegebenenfalls bei dem Mitgliedstaat oder dem Schuldner anfordern. Insofern mag das Wohnsitzerfordernis als Maßnahme geeignet erscheinen.

61.      Das vorlegende Gericht wird sodann zu untersuchen haben, ob das Wohnsitzerfordernis nicht über das hinausgeht, was zur Verwirklichung des Zwecks der Erlangung vollständiger und korrekter Informationen über den Schuldner erforderlich ist.

62.      Erstens mag es je nach den tatsächlichen Umständen des Einzelfalls gar nicht notwendig sein, außerhalb Schwedens befindliche Informationen zu finden, darauf zuzugreifen oder sie zu beschaffen.

63.      Zweitens halte ich das Vorbringen der Kommission für bedeutsam, wonach das Wohnsitzerfordernis ein rein formales Kriterium ist und die schwedischen Behörden die finanziellen Verhältnisse eines Antragstellers wie Herr Radziejewski ohne Weiteres anhand seiner Steuererklärungen, der von seinem schwedischen Arbeitgeber abgeführten Lohnsteuer und der von der KFM selbst durchgeführten Lohnpfändung ermitteln könnten. Ich stelle fest, dass die KFM nach §§ 14 und 17 des Skuldsaneringslag verpflichtet ist, in dem erforderlichen Umfang bei anderen Behörden Erkundigungen über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Schuldners einzuholen, und dass sie zur Durchführung eines Treffens mit dem Schuldner befugt ist. Abgesehen von den Informationen, die vom Schuldner übermittelt werden oder von anderen Behörden eingehen, kann die KFM auch Angaben von Gläubigern erhalten.

64.      Hat der Schuldner seinen Wohnsitz im Ausland, so kann es sicherlich vorkommen, dass die KFM Informationen nicht ohne Zustimmung sowohl des Schuldners als auch einer Behörde in einem anderen Mitgliedstaat sammeln bzw. überprüfen kann, oder nicht ohne von einer solchen Behörde vorgelegte Unterlagen. Werden im Einzelfall solche Informationen als notwendig erachtet, leuchtet kaum ein, weshalb die KFM nicht ein entsprechendes Ersuchen stellen oder den Antragsteller selbst zur Beibringung der benötigten Unterlagen auffordern sollte. In dieser Beziehung sieht das Skuldsaneringslag vor, dass die KFM berücksichtigt, inwieweit der Schuldner an dem Verfahren mitgewirkt hat(17). Selbst wenn der Schuldner seinen Wohnsitz außerhalb Schwedens hat, besteht also für ihn ein Anreiz zur Mitwirkung.

65.      Schließlich ist nach dem Wortlaut des Skuldsaneringslag die Durchführung eines persönlichen Treffens zwischen dem Schuldner und der KFM offenbar nicht zwingend, sondern fakultativ. Wenn dem so ist, dürfte ein generelles Wohnsitzerfordernis über das hinausgehen, was erforderlich ist, um die Teilnahme des Schuldners an einem Treffen mit der KFM in einzelnen Fällen sicherzustellen. Sollte ein solches Treffen nur unter bestimmten Umständen erforderlich sein, dürfte es andere, weniger einschneidende Maßnahmen geben, um dem Schuldner die Darstellung seiner Verhältnisse und der KFM die Überprüfung seiner Glaubwürdigkeit zu ermöglichen(18).

 Vermeidung des Unterlaufens der Anwendung der Insolvenzverfahrenverordnung

66.      In der mündlichen Verhandlung hat die schwedische Regierung geltend gemacht, es dürfe nicht zugelassen werden, dass die schwedische Entschuldungsregelung die Anwendung der Insolvenzverfahrenverordnung auf die in Anhang A aufgeführten Verfahren unterlaufe. Die schwedische Regierung stellt sich anscheinend auf den Standpunkt, dass ohne das Wohnsitzerfordernis ein Schuldner die Entschuldung in Schweden anstatt in dem Mitgliedstaat beantragen könnte, in dem er nach Maßgabe der Insolvenzverfahrenverordnung den Antrag stellen müsste(19).

67.      Meines Erachtens kann dem nicht gefolgt werden.

68.      Die Gewährleistung der kohärenten und einheitlichen Anwendung des Unionsrechts ist eindeutig ein berechtigter Zweck. Unter Berücksichtigung der in nur sehr beschränktem Umfang zur Verfügung stehenden Informationen meine ich jedoch, dass das Wohnsitzerfordernis damit nicht zu rechtfertigen ist.

69.      Selbstverständlich muss Schweden die Zuständigkeitsregel des Art. 3 Abs. 1 der Insolvenzverfahrenverordnung beachten, wonach für die Eröffnung des von dieser Verordnung erfassten Insolvenzverfahrens die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig sind, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Die schwedischen Gerichte oder sonstigen Behörden können ein solches Verfahren nicht eröffnen, wenn der Schuldner seine Hauptinteressen nicht in Schweden hat. Umgekehrt bleiben die schwedischen Gerichte (und Verwaltungsbehörden) in vollem Umfang für andere, nicht von der Insolvenzverfahrenverordnung erfasste Verfahren zuständig, ohne die Regelung des Art. 3 Abs. 1 der Verordnung zu unterlaufen. Hier finde ich den Standpunkt der schwedischen Regierung verblüffend. Einerseits erachtet sie das schwedische Entschuldungsverfahren in diesem Zusammenhang als gleichwertig mit den in der Insolvenzverfahrenverordnung aufgeführten Verfahren. Andererseits hebt sie im Rahmen ihres Vorbringens zur Wirkungsentfaltung der Entschuldung hervor, dass das „skuldsanering“-Verfahren weder in Anhang A aufgeführt sei noch den Vermögensbeschlag gegen den Schuldner zur Folge habe(20).

70.      Für mich ist daher kein Zusammenhang zwischen dem Wohnsitzerfordernis und der kohärenten und einheitlichen Anwendung der unionsrechtlichen Vorschriften über Insolvenzverfahren erkennbar.

 Ergebnis

71.      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen bin ich der Meinung, dass der Gerichtshof die vom Stockholms tingsrätt gestellte Frage in folgendem Sinne beantworten sollte:

Art. 45 AEUV ist dahin auszulegen, dass ein Wohnsitzerfordernis wie das im Skuldsaneringslag (2006:548) (Entschuldungsgesetz) vorgesehene als Voraussetzung für die Erwirkung einer Entschuldung eine Beschränkung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer darstellt, weil es geeignet ist, einen Arbeitnehmer daran zu hindern oder davon abzuhalten, Schweden zu verlassen, um eine Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat aufzunehmen.


1 –      Originalsprache: Englisch.


2 – Die Entschuldungsmaßnahmen, die nach der in Rede stehenden Regelung bewilligt werden können, sind in ihren Grundzügen unten in den Nrn. 10 bis 14 näher beschrieben.


3 – Verordnung vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (ABl. L 160, S. 1) in der geänderten Fassung.


4 – Vgl. auch neunter Erwägungsgrund der Insolvenzverfahrenverordnung.


5 – Verordnung vom 22. Dezember 2000 (ABl. 2001, L 12, S. 1) in der geänderten Fassung. Die Brüssel‑I-Verordnung ersetzt hinsichtlich der Regelung der Verhältnisse der Mitgliedstaaten (mit Ausnahme Dänemarks) untereinander das Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32).


6 – Siebter Erwägungsgrund der Brüssel-I‑Verordnung.


7 – Urteil vom 16. März 2010, Olympique Lyonnais (C‑325/08, Slg. 2010, I‑2177, Randnr. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).


8 – Urteil Olympique Lyonnais (oben in Fn. 7 angeführt, Randnr. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).


9 – Urteil Olympique Lyonnais (oben in Fn. 7 angeführt, Randnr. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).


10 – Vgl. auch z. B. die Art. 15 und 16 der Brüssel-I‑Verordnung, die Zuständigkeiten bei Verbrauchersachen (und daher auch bei Verbraucherschulden) vorsehen.


11 – Vgl. sechster Erwägungsgrund der Brüssel-I‑Verordnung.


12 – Art. 32 der Brüssel-I‑Verordnung.


13 – Die KFM wird bei den summarischen Mahnverfahren und Beistandsverfahren als „Gericht“ bezeichnet – vgl. Art. 62 der Brüssel-I‑Verordnung: „Bei den summarischen Verfahren betalningsföreläggande (Mahnverfahren) und handräckning (Beistandsverfahren) in Schweden umfasst der Begriff ‚Gericht‘ auch die schwedische kronofogdemyndighet (Amt für Beitreibung).“


14 – Vgl. Art. 1 Abs. 1 der Insolvenzverfahrenverordnung. Vgl. auch Urteil vom 2. Mai 2006, Eurofood IFSC (C‑341/04, Slg. 2006, I‑3813, Randnrn. 46 und 54).


15 – Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu ermitteln, ob die Beseitigung der Möglichkeit der Wirkungslosigkeit oder aber die Reduzierung der Zahl der Fälle bezweckt wird, in denen eine Entscheidung tatsächlich wirkungslos bleibt.


16 – Die KFM macht geltend, dass das Problem der fehlenden Anerkennung schwedischer Entschuldungsentscheidungen im Ausland durch eine Abschaffung des Wohnsitzerfordernisses nicht gelöst werde. Das mag zwar stimmen, aber selbst wenn dem so wäre, ist damit nicht der Nachweis erbracht, ob und auf welche Weise das Wohnsitzerfordernis dem erstgenannten Zweck dient.


17 – Vgl. § 4 des Skuldsaneringslag.


18 – Einem im Ausland wohnenden mittellosen Schuldner mag es zwar finanziell unmöglich sein, zurück nach Schweden zu reisen, um dort persönlich an einem Treffen teilzunehmen. Es übersteigt aber nicht die technischen Möglichkeiten, in diesem Fall z. B. eine Videokonferenz in der örtlichen schwedischen Botschaft oder einem schwedischen Konsulat zu arrangieren.


19 – Vgl. Art. 3 Abs. 1 der Insolvenzverfahrenverordnung.


20 – Siehe oben, Nr. 42.