Language of document : ECLI:EU:T:2014:816

Rechtssache T‑306/12

Darius Nicolai Spirlea
und

Mihaela Spirlea

gegen

Europäische Kommission

„Zugang zu Dokumenten – Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 – Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich – Von der Kommission im Rahmen eines EU-Pilotverfahrens an Deutschland gerichtete Auskunftsersuchen – Verweigerung des Zugangs – Pflicht zur Vornahme einer konkreten und individuellen Prüfung – Überwiegendes öffentliches Interesse – Teilweiser Zugang – Begründungspflicht“

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 25. September 2014

1.      Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Verweigerung des Zugangs – Pflicht des Organs zur Vornahme einer konkreten und individuellen Prüfung der Dokumente – Möglichkeit, sich auf allgemeine Vermutungen zu stützen, die für bestimmte Kategorien von Dokumenten gelten – Grenzen

(Art. 11 EUV; Art. 15 Abs. 3 AEUV; Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 2)

2.      Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Schutz des Zwecks von Inspektions-, Untersuchungs- und Audittätigkeiten – Geltung für Dokumente, die ein EU-Pilotverfahren betreffen – Allgemeine Vermutung, dass die Ausnahme vom Recht auf Zugang anwendbar ist – Zulässigkeit

(Art. 258 AEUV; Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich)

3.      Vertragsverletzungsklage – Klagerecht der Kommission – Einrichtung des EU-Pilotverfahrens zur Feststellung eventueller Verstöße gegen das Unionsrecht – Zulässigkeit – Notwendigkeit einer ausdrücklichen Rechtsgrundlage – Fehlen

(Art. 258 AEUV)

4.      Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Schutz des Zwecks von Inspektions-, Untersuchungs- und Audittätigkeiten – Berufung auf eine allgemeine Vermutung, dass die Ausnahme auf die beantragten Dokumente anwendbar ist – Widerlegbarkeit

(Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich)

5.      Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Schutz des Zwecks von Inspektions-, Untersuchungs- und Audittätigkeiten – Überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung von Dokumenten – Begriff – Beweislast

(Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 2)

6.      Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung von Dokumenten – Begriff – Verfolgung einer Klage wegen außervertraglicher Haftung – Nichteinbeziehung – Privater Charakter eines solchen Interesses

(Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 2)

7.      Nichtigkeitsklage – Rechtmäßigkeitskontrolle – Kriterien – Berücksichtigung allein der Sach- und Rechtslage, wie sie bei Erlass des streitigen Aktes bestand

(Art. 263 AEUV)

8.      Gerichtliches Verfahren – Klageschrift – Formerfordernisse – Ermittlung des Streitgegenstands – Kurze Darstellung der Klagegründe – Abstrakte Ausführungen – Unzulässigkeit

(Satzung des Gerichtshofs, Art. 21 Abs. 1 und Art. 53 Abs. 1; Verfahrensordnung des Gerichts, Art. 44 § 1 Buchst. c)

9.      Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Begründungspflicht – Umfang

(Art. 296 AEUV; Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4)

10.    Nichtigkeitsklage – Gründe – Klage gegen einen Beschluss eines Organs, mit der der Zugang zu Dokumenten nach der Verordnung Nr. 1049/2001 verweigert wird – Klagegrund, mit dem ein Verstoß gegen die Mitteilung der Kommission über die Beziehungen zum Beschwerdeführer bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht gerügt wird – Ins Leere gehender Klagegrund

(Art. 263 AEUV; Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates; Mitteilung 2002/C 244/03 der Kommission)

1.      Die Unionsorgane dürfen sich in Ausnahmefällen auf allgemeine Vermutungen stützen, die für bestimmte Kategorien von Dokumenten gelten, deren Freigabe nach der Verordnung Nr. 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission beantragt wird. Die Möglichkeit, auf allgemeine, für bestimmte Kategorien von Dokumenten geltende Vermutungen zurückzugreifen, statt jedes Dokument individuell und konkret zu prüfen, bevor der Zugang zu ihm versagt wird, ist nicht unbedenklich. Diese Vermutungen führen nicht nur zu einer Beschränkung des in Art. 11 EUV, Art. 15 AEUV und der Verordnung Nr. 1049/2001 verankerten Grundprinzips der Transparenz, sondern auch zu einer Begrenzung des Zugangs zu den in Rede stehenden Dokumenten in der Praxis. Daher muss die Anwendung derartiger Vermutungen auf stichhaltigen und überzeugenden Gründen beruhen.

Folglich muss sich ein Unionsorgan, wenn es sich auf eine allgemeine Vermutung stützen möchte, in jedem Einzelfall vergewissern, ob die allgemeinen Erwägungen, die normalerweise für einen bestimmten Dokumententyp gelten, tatsächlich auf das betreffende Dokument Anwendung finden, dessen Verbreitung beantragt wird. Insoweit kann das Erfordernis der Nachprüfung, ob die in Rede stehende allgemeine Vermutung tatsächlich anwendbar ist, nicht in dem Sinne ausgelegt werden, dass die Kommission alle im vorliegenden Fall angeforderten Dokumente individuell prüfen müsste. Ein solches Erfordernis nähme der allgemeinen Vermutung ihre praktische Wirksamkeit, die darin besteht, es der Kommission zu ermöglichen, auf einen Zugangsantrag in allgemeiner Weise zu antworten.

(vgl. Rn. 48, 52, 82, 83)

2.      Wenn sich ein Organ, bei dem ein Antrag auf Zugang zu einem Dokument gestellt wird, auf die Ausnahme für Untersuchungstätigkeiten in Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission beruft, kann es sich auf eine allgemeine Vermutung stützen, um den Zugang zu Dokumenten zu verweigern, die ein EU-Pilotverfahren als Vorstufe zur eventuellen förmlichen Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 AEUV betreffen. Denn die Ähnlichkeiten zwischen dem EU-Pilotverfahren und dem Vertragsverletzungsverfahren sprechen für eine solche Anerkennung.

Zum einen ist eine allgemeine Vermutung im Wesentlichen durch die Notwendigkeit bedingt, den ordnungsgemäßen Ablauf des EU-Pilotverfahrens sicherzustellen und zu gewährleisten, dass dessen Ziele nicht beeinträchtigt werden. Im Rahmen eines EU-Pilotverfahrens muss ein Klima des wechselseitigen Vertrauens zwischen der Kommission und dem betroffenen Mitgliedstaat herrschen, das es ihr ermöglicht, einen Verhandlungs- und Kompromissfindungsprozess mit dem Ziel einer gütlichen Einigung in Gang zu setzen, ohne dass es erforderlich ist, ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV einzuleiten, das zu einem möglichen Rechtsstreit vor dem Gerichtshof führen kann.

Zum anderen weisen die EU-Pilotverfahren und das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV, insbesondere dessen Vorverfahren, Ähnlichkeiten auf, die einen für beide Fälle gemeinsamen Ansatz rechtfertigen. Erstens versetzen sowohl das EU-Pilotverfahren als auch das Vertragsverletzungsverfahren in der Phase des Vorverfahrens die Kommission in die Lage, ihre Funktion als Hüterin des AEU-Vertrags bestmöglich wahrzunehmen. Beide Verfahren bezwecken, die Einhaltung des Unionsrechts zu gewährleisten, wobei dem betroffenen Mitgliedstaat die Möglichkeit eingeräumt wird, seine Verteidigungsmittel vorzubringen, und, wenn möglich, ein Gerichtsverfahren vermieden wird. In beiden Fällen hat die Kommission, wenn sie der Ansicht ist, ein Mitgliedstaat sei seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen, zu beurteilen, ob ein Einschreiten gegen diesen Staat zweckmäßig ist. Ferner ist das EU-Pilotverfahren – ebenso wie das Vorverfahren des Vertragsverletzungsverfahrens – zweiseitiger Natur und wird zwischen der Kommission und dem betreffenden Mitgliedstaat geführt. Schließlich entspricht das EU-Pilotverfahren zwar nicht in allen Punkten einem Vertragsverletzungsverfahren, kann aber zu einem solchen Verfahren führen, da die Kommission am Ende des EU-Pilotverfahrens das Vertragsverletzungsverfahren mit einem Aufforderungsschreiben förmlich eröffnen und gegebenenfalls den Gerichtshof anrufen kann, um von ihm die Vertragsverletzung, die sie dem betreffenden Mitgliedstaat vorwirft, feststellen zu lassen.

(vgl. Rn. 56, 57, 59-63)

3.      Das als Vorverfahren ausgestaltete EU-Pilotverfahren ist zwar nicht ausdrücklich im Vertrag vorgesehen, doch bedeutet dies nicht, dass es keine Rechtsgrundlage hat. Denn zum einen ist das EU-Pilotverfahren als Ausfluss der Befugnisse zu sehen, die mit der Verpflichtung der Kommission verbunden sind, über die Einhaltung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten zu wachen. So hat es schon immer einen Mechanismus oder ein Verfahren zum Austausch von Informationen vor der Eröffnung des Vertragsverletzungsverfahrens gegeben, weil dies unverzichtbar ist, um eine erste Prüfung des Sachverhalts vorzunehmen und erste Anhaltspunkte für eine mögliche Verletzung des Unionsrechts zu finden. Zum anderen soll das EU-Pilotverfahren gerade den ersten Informationsaustausch zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten in Bezug auf mögliche Verstöße gegen das Unionsrecht formalisieren. Somit strukturiert das EU-Pilotverfahren, auch wenn es nicht auf Art. 258 AEUV beruht, das herkömmliche Vorgehen der Kommission in Fällen, in denen sie eine Beschwerde erhalten hat oder von sich aus tätig geworden ist.

(vgl. Rn. 66)

4.      Im Zusammenhang mit der Ausnahme vom Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten, die Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission zum Schutz des Zwecks von Inspektions-, Untersuchungs- und Audittätigkeiten vorsieht, bleibt es den Betroffenen auch dann, wenn sich ein Organ auf eine allgemeine Vermutung stützt, um den Zugang zu den angeforderten Dokumenten aufgrund dieser Ausnahme zu verweigern, unbenommen, darzulegen, dass diese Vermutung für ein bestimmtes Dokument, dessen Freigabe beantragt wird, nicht gilt oder ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Freigabe dieser Dokumente im Sinne des letzten Halbsatzes der genannten Vorschrift besteht.

(vgl. Rn. 70, 90)

5.      Bei der Anwendung der Ausnahme vom Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten, die Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission zum Schutz des Zwecks von Inspektions-, Untersuchungs- und Audittätigkeiten vorsieht, liegt zwar die Beweislast bei dem Organ, das sich auf diese Ausnahme beruft, doch ist es im Fall von Art. 4 Abs. 2 letzter Halbsatz der Verordnung Sache derjenigen, die ein überwiegendes öffentliches Interesse im Sinne des letzten Halbsatzes dieser Vorschrift geltend machen, den Nachweis dafür zu erbringen.

Ferner obliegt es demjenigen, der ein überwiegendes öffentliches Interesse im Sinne von Art. 4 Abs. 2 dieser Verordnung geltend macht, konkrete Umstände anzuführen, die die Verbreitung der betreffenden Dokumente rechtfertigen. Insoweit reichen Erwägungen ganz allgemeiner Natur nicht aus, um darzutun, dass ein überwiegendes öffentliches Interesse den Gründen für die Verweigerung des Zugangs zu den in Rede stehenden Dokumenten nach Art. 4 Abs. 2 letzter Halbsatz vorgeht. Im Übrigen muss sich das überwiegende öffentliche Interesse an der Verbreitung eines Dokuments nicht notwendigerweise von den Grundsätzen unterscheiden, auf denen die Verordnung Nr. 1049/2001 aufbaut.

(vgl. Rn. 91-93, 97)

6.      Das Interesse daran, Beweisunterlagen für eine Haftungsklage vor einem nationalen Gericht zu erlangen, kann nicht als „überwiegendes öffentliches Interesse“ im Sinne von Art. 4 Abs. 2 letzter Halbsatz der Verordnung Nr. 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission angesehen werden, sondern ist als privates Interesse einzustufen.

(vgl. Rn. 99)

7.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 100)

8.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 107, 108)

9.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 114-116)

10.    Die Mitteilung 2002/C 244/03 der Kommission über die Beziehungen zum Beschwerdeführer bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht kann keine Rechtsgrundlage für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Entscheidung darstellen, mit der gemäß der Verordnung Nr. 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission der Zugang zu ein EU-Pilotverfahren betreffenden Dokumenten verweigert wird. Denn diese Mitteilung stellt keine Regel für den Zugang zu Dokumenten im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens – oder eines EU-Pilotverfahrens – auf und gewährt den Beschwerdeführern kein dahin gehendes Recht. Sie enthält lediglich den Hinweis, dass bei einem Vertragsverletzungsverfahren der Zugang zu Dokumenten gemäß der Verordnung Nr. 1049/2001 zu erfolgen hat. Unter diesen Umständen kann die Mitteilung keinen Einfluss auf die Beurteilung von Anträgen auf Zugang zu Dokumenten nach der Verordnung Nr. 1049/2001 haben.

(vgl. Rn. 130)