Language of document : ECLI:EU:C:2020:695

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

GERARD HOGAN

vom 10. September 2020(1)

Rechtssache C336/19

Centraal Israëlitisch Consistorie van België u. a.,

Unie Moskeeën Antwerpen VZW,

Islamitisch Offerfeest Antwerpen VZW,

JG,

KH,

Executief van de Moslims van België u. a.,

Coördinatie Comité van Joodse Organisaties van België, Section belge du Congrès juif mondial et Congrès juif européen VZW u. a.,

Beteiligte:

LI,

Vlaamse Regering,

Waalse Regering,

Kosher Poultry BVBA u. a.,

Global Action in the Interest of Animals VZW (GAIA)

(Vorabentscheidungsersuchen des Grondwettelijk Hof [Verfassungsgerichtshof, Belgien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 – Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung – Art. 4 Abs. 1 – Gebot der Tötung von Tieren nur nach Betäubung – Ausnahmeregelung – Art. 4 Abs. 4 – Für religiöse Riten vorgeschriebene spezielle Schlachtmethoden – Art. 26 – Strengere nationale Vorschriften – Einführung eines Verbots der Schlachtung ohne vorherige Betäubung – Schlachtung nach speziellen Methoden, die für religiöse Riten vorgeschrieben sind – Umkehrbare Betäubung ohne Tod des Tieres durch die Betäubung oder Betäubung nach Halsschnitt – Religionsfreiheit – Art. 10 Abs. 1 der Charta“






I.      Einleitung

1.        Dieses Vorabentscheidungsersuchen beruht auf fünf verbundenen Klagen, die am 16. Januar 2018 beim Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof, Belgien) erhoben wurden und auf vollständige bzw. teilweise Nichtigerklärung des Decreet van het Vlaamse Gewest van 7 juli 2017 houdende wijziging van de wet van 14 augustus 1986 betreffende de bescherming en het welzijn der dieren, wat de toegelaten methodes voor het slachten van dieren betreft (Dekret der Flämischen Region vom 7. Juli 2017 zur Änderung des Gesetzes vom 14. August 1986 über den Schutz und das Wohlbefinden der Tiere in Bezug auf die erlaubten Methoden für die Schlachtung von Tieren) (im Folgenden: angefochtenes Dekret) gerichtet sind. Mit diesem Dekret wird im Kern das Schlachten von Tieren nach traditionellen jüdischen und muslimischen Riten verboten und vorgeschrieben, dass die Tiere vor dem Schlachten betäubt werden müssen, um ihr Leiden zu verringern. Es geht vor dem Gerichtshof hauptsächlich um die Frage, ob ein derartiges gänzliches Verbot der Schlachtung ohne Betäubung nicht zuletzt im Hinblick auf die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) enthaltenen Garantien der Religionsfreiheit nach Unionsrecht zulässig ist.

2.        Geklagt haben das Centraal Israëlitisch Consistorie van België (Zentrales Israelitisches Konsistorium von Belgien) u. a., die Unie Moskeeën Antwerpen VZW, die Islamitisch Offerfeest Antwerpen VZW, JG, KH, das Executief van de Moslims van België u. a. sowie die Coördinatie Comité van Joodse Organisaties van België, Section belge du Congrès juif mondial et Congrès juif européen VZW u. a. (im Folgenden: Kläger). Außerdem haben sich mehrere Streithelfer an dem Verfahren beteiligt und zwar LI, die Vlaamse Regering (flämische Regierung), die Waalse Regering (wallonische Regierung), die Kosher Poultry BVBA u. a. sowie die Global Action in the Interest of Animals VZW.

3.        Die fraglichen Bestimmungen des angefochtenen Dekrets sehen vor, dass ein Wirbeltier(2) nur nach vorheriger Betäubung getötet werden darf. Werden die Tiere jedoch nach besonderen, für religiöse Riten vorgeschriebenen Methoden geschlachtet, muss die Betäubung umkehrbar sein, und der Tod des Tieres darf nicht durch die Betäubung verursacht werden. Abweichend von der Verpflichtung zur vorherigen umkehrbaren Betäubung des Tiers kann die Betäubung von Rindern, die nach besonderen, für religiöse Riten vorgeschriebenen Methoden geschlachtet werden, zurzeit unmittelbar nach dem Durchtrennen der Kehle des Tieres erfolgen (Betäubung nach dem Halsschnitt).

4.        Mit dem angefochtenen Dekret wurde also mit Wirkung vom 1. Januar 2019 die Ausnahmeregelung hinsichtlich des Gebots der vorherigen Betäubung von Tieren, die bis dahin nach nationalem Recht für durch religiöse Riten vorgeschriebene Schlachtungen galt, aufgehoben(3). Dies ist es, wogegen die Kläger vorgehen: Sie machen geltend, dass die Aufhebung dieser Ausnahmeregelung einen wesentlichen Bestandteil ihrer religiösen Bräuche und Anschauungen beeinträchtige.

5.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen, das am 18. April 2019 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, betrifft im Wesentlichen die Auslegung von Art. 4 Abs. 4 und Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 des Rates(4) sowie die Gültigkeit dieser letzteren Bestimmung im Hinblick auf Art. 10 Abs. 1 der Charta.

6.        In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1099/2009 unmissverständlich bestimmt, dass „Tiere … nur nach einer Betäubung … getötet [werden]“. Abweichend davon(5) heißt es in Art. 4 Abs. 4 dieser Verordnung, dass für Tiere, die speziellen Schlachtmethoden unterliegen, die durch bestimmte religiöse Riten vorgeschrieben sind, „die Anforderungen gemäß Absatz 1 nicht [gelten], sofern die Schlachtung in einem Schlachthof erfolgt“. Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 sieht jedoch vor, dass die Mitgliedstaaten Vorschriften erlassen können, mit denen ein umfassenderer Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung als in dieser Verordnung vorgesehen sichergestellt werden soll, und zwar u. a. in Bezug auf die Schlachtung von Tieren gemäß Art. 4 Abs. 4 der Verordnung.

7.        Einige Kläger vertraten vor dem vorlegenden Gericht die Ansicht, dass sich die Mitgliedstaaten für die Aufhebung oder Aushöhlung der in Art. 4 Abs. 4 dieser Richtlinie enthaltenen Ausnahmeregelung für rituelle Schlachtungen nicht auf Art. 26 Abs. 2 der Richtlinie Nr. 1099/2009 stützen könnten. Demgegenüber machten die flämische und die wallonische Regierung vor dem vorlegenden Gericht geltend, dass Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 den Mitgliedstaaten ausdrücklich die Befugnis einräume, von Art. 4 Abs. 4 dieser Verordnung abzuweichen.

8.        Das vorlegende Gericht möchte daher im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 – der der Achtung der Religionsfreiheit nach Art. 10 Abs. 1 der Charta dient(6) – und Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 eine nationale Maßnahme erlauben, mit der die Tötung von Wirbeltieren ohne vorherige Betäubung verboten und die Anforderung einer vorherigen nicht zum Tod führenden umkehrbaren Betäubung von Tieren vor der Schlachtung oder einer Betäubung nach dem Halsschnitt im Rahmen spezieller, durch religiöse Riten vorgeschriebener Schlachtungsmethoden festgelegt wird.

9.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen gibt dem Gerichtshof eine einzigartige Gelegenheit zur Überprüfung und Weiterentwicklung seiner Rechtsprechung zur Verordnung Nr. 1099/2009 und zur Vereinbarkeit des Ziels des Schutzes des Tierwohls mit dem Recht des Einzelnen nach Art. 10 Abs. 1 der Charta auf Einhaltung der von seiner Religion vorgeschriebenen Speisevorschriften.

10.      Insoweit hatte der Gerichtshof kürzlich in seinen Urteilen vom 29. Mai 2018, Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen u. a. (C‑426/16, EU:C:2018:335), und vom 26. Februar 2019, Œuvre d’assistance aux bêtes d’abattoirs (C‑497/17, EU:C:2019:137), Gelegenheit, im Zusammenhang mit der Schlachtung von Tieren ohne vorherige Betäubung in Fällen, in denen religiöse Riten die Schlachtungsmethode vorschreiben, die Gültigkeit einiger Bestimmungen der Verordnung Nr. 1099/2009 und ihre Auslegung zu prüfen.

11.      Diese Fälle betrafen insbesondere die Auslegung und Gültigkeit der in Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 geregelten Ausnahme von dem in Art. 4 Abs. 1 dieser Verordnung enthaltenen Verbot.

12.      Der Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 29. Mai 2018, Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen u. a. (C‑426/16, EU:C:2018:335), die Gültigkeit der Anforderung gemäß Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009, dass die rituelle Schlachtung in zugelassenen Schlachthöfen durchgeführt werden muss, geprüft und schließlich bestätigt. Im Urteil vom 26. Februar 2019, Œuvre d’assistance aux bêtes d’abattoirs (C‑497/17, EU:C:2019:137), hat der Gerichtshof entschieden, dass das EU-Bio-Logo nicht auf Erzeugnissen verwendet werden darf, die von Tieren stammen, die nach religiösen Riten geschlachtet wurden, ohne vorher betäubt worden zu sein, obwohl eine solche Schlachtung nach Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 zulässig ist. Aufgrund dieser Entscheidung darf das EU-Bio-Logo nicht verwendet werden, wenn das Erzeugnis nicht unter Beachtung der höchsten Normen, insbesondere im Bereich des Tierschutzes, hergestellt wurde.

13.      Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen hat einen etwas anderen Schwerpunkt, da es erstmals um die Auslegung und Gültigkeit von Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 geht, der die Mitgliedstaaten ausdrücklich ermächtigt, Vorschriften zu erlassen, die darauf abzielen, einen umfassenderen Schutz der Tiere zum Zeitpunkt der Tötung zu gewährleisten, als er in Art. 4 Abs. 4 dieser Verordnung vorgesehen ist.

14.      Im vorliegenden Fall muss der Gerichtshof die delikate Frage prüfen, ob und gegebenenfalls inwieweit ein Mitgliedstaat angesichts besonderer nationaler Empfindlichkeiten in Bezug auf den Tierschutz Maßnahmen ergreifen darf, die die Tiere zum Zeitpunkt der Tötung besser schützen sollen als die in Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 vorgesehenen Maßnahmen, aber angeblich die in Art. 10 Abs. 1 der Charta verankerte Religionsfreiheit einschränken. Insbesondere wird der Gerichtshof die Frage zu prüfen haben, ob die Möglichkeit nach Art. 26 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009, Erzeugnisse von Tieren einzuführen, die nach den besonderen, durch religiöse Riten vorgeschriebenen Schlachtmethoden geschlachtet wurden, ausreichend ist, um die Wahrung des Rechts auf Religionsfreiheit zu gewährleisten.

15.      Vor der Prüfung dieser Fragen sind zunächst die einschlägigen Rechtsvorschriften und Vertragsbestimmungen darzustellen.

II.    Rechtsrahmen

A.      Unionsrecht

1.      Charta und AEUV

16.      Art. 10 („Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit“) der Charta bestimmt:

„(1)      Jede Person hat das Recht auf Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, die Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen.

…“

17.      Art. 21 („Nichtdiskriminierung“) der Charta lautet:

„(1)      Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sind verboten.

…“

18.      In Art. 22 („Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen“) der Charta heißt es:

„Die Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen.“

19.      Art. 52 („Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze“) der Charta bestimmt:

„(1)      Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.

(3)      Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.

…“

20.      Art. 13 AEUV (ehemals Protokoll Nr. 33 zum EG-Vertrag über den Tierschutz und das Wohlergehen der Tiere [1997]) sieht vor:

„Bei der Festlegung und Durchführung der Politik der Union in den Bereichen Landwirtschaft, Fischerei, Verkehr, Binnenmarkt, Forschung, technologische Entwicklung und Raumfahrt tragen die Union und die Mitgliedstaaten den Erfordernissen des Wohlergehens der Tiere als fühlende Wesen in vollem Umfang Rechnung; sie berücksichtigen hierbei die Rechts- und Verwaltungsvorschriften und die Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten insbesondere in Bezug auf religiöse Riten, kulturelle Traditionen und das regionale Erbe.“

2.      Verordnung Nr. 1099/2009

21.      Die Erwägungsgründe 2, 4, 18, 20, 43, 57, 58 und 61 der Verordnung Nr. 1099/2009 lauten:

„(2)      Die Tötung kann selbst unter den besten technischen Bedingungen Schmerzen, Stress, Angst oder andere Formen des Leidens bei den Tieren verursachen. Bestimmte Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Tötung können Stress auslösen, und jedes Betäubungsverfahren hat Nachteile. Die Unternehmer oder jede an der Tötung von Tieren beteiligte Person sollten die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um Schmerzen zu vermeiden und den Stress und das Leiden für die Tiere beim Schlachten und bei der Tötung so gering wie möglich zu halten, wobei sie einschlägige bewährte Verfahren und die gemäß dieser Verordnung erlaubten Methoden beachten. Daher sollten Schmerzen, Stress oder Leiden als vermeidbar gelten, wenn ein Unternehmer oder eine an der Tötung von Tieren beteiligte Person gegen diese Verordnung verstößt oder erlaubte Verfahren einsetzt, sich aber keine Gedanken darüber macht, ob diese dem Stand der Wissenschaft entsprechen, und dadurch fahrlässig oder vorsätzlich Schmerzen, Stress oder Leiden für die Tiere verursacht.

(4)      Der Tierschutz ist ein Gemeinschaftswert, der im Protokoll (Nr. 33) über den Tierschutz und das Wohlergehen der Tiere festgeschrieben wurde, das dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (,Protokoll (Nr. 33)‘) beigefügt ist. Der Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Schlachtung bzw. Tötung ist im Interesse der Allgemeinheit und wirkt sich auf die Einstellung der Verbraucher gegenüber landwirtschaftlichen Erzeugnissen aus. Darüber hinaus trägt die Verbesserung des Schutzes von Tieren zum Zeitpunkt der Schlachtung zu einer besseren Fleischqualität bei und hat indirekt einen positiven Einfluss auf die Sicherheit am Arbeitsplatz im Schlachthof.

(18)      Die Richtlinie 93/119/EG sah im Fall der rituellen Schlachtung in einem Schlachthof eine Ausnahme von der Verpflichtung zur Betäubung vor. Die Gemeinschaftsvorschriften über die rituelle Schlachtung wurden je nach den einzelstaatlichen Bedingungen unterschiedlich umgesetzt, und die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften berücksichtigen Faktoren, die über den Anwendungsbereich dieser Verordnung hinausgehen; daher ist es wichtig, dass die Ausnahme von der Verpflichtung zur Betäubung von Tieren vor der Schlachtung aufrechterhalten wird, wobei den Mitgliedstaaten jedoch ein gewisses Maß an Subsidiarität eingeräumt wird. Folglich wird mit dieser Verordnung die Religionsfreiheit sowie die Freiheit, seine Religion durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen, geachtet, wie dies in Artikel 10 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert ist.

(20)      Viele Tötungsverfahren sind für die Tiere schmerzvoll. Daher ist eine Betäubung erforderlich, mit der vor oder während der Tötung eine Wahrnehmungs- und Empfindungslosigkeit herbeigeführt wird. Die Messung der Wahrnehmungs- und Empfindungslosigkeit ist komplex und muss nach einer wissenschaftlich anerkannten Methodik erfolgen. Die Wahrnehmungs- und Empfindungslosigkeit sollte jedoch mittels Indikatoren überwacht werden, damit sich die praktische Effizienz der Methodik bewerten lässt.

(43)      Bei der Schlachtung ohne Betäubung ist ein präziser Halsschnitt mit einem scharfen Messer erforderlich, damit das Tier nicht so lange leiden muss. Ferner ist bei Tieren, die nach dem Halsschnitt nicht mit mechanischen Mitteln ruhig gestellt werden, zu erwarten, dass sich die Entblutung verlangsamt, wodurch die Tiere unnötigerweise länger leiden müssen. Rinder, Schafe und Ziegen sind die Tierarten, die am häufigsten nach diesem Verfahren geschlachtet werden. Wiederkäuer, die ohne Betäubung geschlachtet werden, sollten daher einzeln und mit mechanischen Mitteln ruhig gestellt werden.

(57)      Die Europäischen Bürger erwarten, dass bei der Schlachtung von Tieren Mindestvorschriften für den Tierschutz eingehalten werden. In bestimmten Bereichen hängt die Einstellung zu Tieren auch von der Wahrnehmung in dem jeweiligen Mitgliedstaat ab, und in einigen Mitgliedstaaten wird die Beibehaltung oder die Annahme umfassenderer Tierschutzvorschriften als die in der Gemeinschaft festgelegten gefordert. Im Interesse der Tiere ist es unter der Voraussetzung, dass das Funktionieren des Binnenmarktes nicht beeinträchtigt wird, angebracht, den Mitgliedstaaten eine gewisse Flexibilität einzuräumen, was die Beibehaltung oder in bestimmten spezifischen Bereichen den Erlass umfassenderer nationaler Vorschriften anbelangt.

Dabei ist sicherzustellen, dass entsprechende nationale Vorschriften von den Mitgliedstaaten nicht in einer Weise genutzt werden, die ein ordnungsgemäßes Funktionieren des Binnenmarkts beeinträchtigen würde.

(61)      Da das Ziel dieser Verordnung, einen einheitlichen Ansatz in Bezug auf die Normen für den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung zu gewährleisten, auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden kann und daher wegen des Umfangs und der Wirkungen dieser Verordnung besser auf Gemeinschaftsebene zu erreichen ist, kann die Gemeinschaft im Einklang mit dem in Artikel 5 des Vertrags niedergelegten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in diesem Artikel festgelegten Verhältnismäßigkeitsprinzip ist es erforderlich und angemessen, zur Erreichung dieses Ziels, Tiere zum Zeitpunkt der Tötung zu schützen, spezifische Bestimmungen über die Tötung von Tieren, die zur Herstellung von Lebensmitteln, Wolle, Häuten, Pelzen oder anderen Erzeugnissen gehalten werden, und Bestimmungen über damit zusammenhängende Tätigkeiten vorzuschreiben. Diese Verordnung geht nicht über das zur Erreichung dieses Ziels erforderliche Maß hinaus.“

22.      Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) der Verordnung Nr. 1099/2009 bestimmt:

„(1)      Diese Verordnung enthält Vorschriften über die Tötung von Tieren, die zur Herstellung von Lebensmitteln, Wolle, Häuten, Pelzen oder anderen Erzeugnissen gezüchtet oder gehalten werden sowie über die Tötung von Tieren zum Zwecke der Bestandsräumung und damit zusammenhängende Tätigkeiten.

…“

23.      Art. 2 („Definitionen“) dieser Verordnung sieht vor:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

b)      ‚damit zusammenhängende Tätigkeiten‘ Tätigkeiten, die zeitlich und örtlich mit der Tötung von Tieren in Zusammenhang stehen, wie etwa ihre Handhabung, Unterbringung, Ruhigstellung, Betäubung und Entblutung;

f)      ‚Betäubung‘ jedes bewusst eingesetzte Verfahren, das ein Tier ohne Schmerzen in eine Wahrnehmungs- und Empfindungslosigkeit versetzt, einschließlich jedes Verfahrens, das zum sofortigen Tod führt;

g)      ‚religiöser Ritus‘ eine Reihe von Handlungen im Zusammenhang mit der Schlachtung von Tieren, die in bestimmten Religionen vorgeschrieben sind;

j)      ‚Schlachtung‘ die Tötung von Tieren zum Zweck des menschlichen Verzehrs;

…“

24.      Art. 3 Abs. 1 der Verordnung bestimmt, dass bei der Tötung und damit zusammenhängenden Tätigkeiten die Tiere von jedem vermeidbarem Schmerz, Stress und Leiden verschont werden.

25.      In Art. 4 („Betäubungsverfahren“) der Verordnung Nr. 1099/2009 heißt es:

„(1)      Tiere werden nur nach einer Betäubung im Einklang mit den Verfahren und den speziellen Anforderungen in Bezug auf die Anwendung dieser Verfahren gemäß Anhang I getötet. Die Wahrnehmungs- und Empfindungslosigkeit muss bis zum Tod des Tieres anhalten.

Im Anschluss an die in Anhang I genannten Verfahren, die nicht zum sofortigen Tod führen (im Folgenden: ‚einfache Betäubung‘), wird so rasch wie möglich ein den Tod herbeiführendes Verfahren, wie z. B. Entblutung, Rückenmarkszerstörung, Tötung durch elektrischen Strom oder längerer Sauerstoffentzug, angewandt.

(4)      Für Tiere, die speziellen Schlachtmethoden unterliegen, die durch bestimmte religiöse Riten vorgeschrieben sind, gelten die Anforderungen gemäß Absatz 1 nicht, sofern die Schlachtung in einem Schlachthof erfolgt.“

26.      Art. 26 („Strengere nationale Vorschriften“) der Verordnung Nr. 1099/2009 bestimmt:

„(1)      Diese Verordnung hindert die Mitgliedstaaten nicht daran, zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung geltende nationale Vorschriften beizubehalten, mit denen ein umfassenderer Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung sichergestellt werden soll.

Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission die entsprechenden nationalen Vorschriften vor dem 1. Januar 2013 mit. Die Kommission unterrichtet die anderen Mitgliedstaaten hiervon.

(2)      Die Mitgliedstaaten können nationale Vorschriften, mit denen ein umfassenderer Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung als in dieser Verordnung vorgesehen sichergestellt werden soll, in folgenden Bereichen erlassen:

c)      die Schlachtung von Tieren gemäß Artikel 4 Absatz 4 und damit zusammenhängende Tätigkeiten.

Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission die entsprechenden nationalen Vorschriften mit. Die Kommission unterrichtet die anderen Mitgliedstaaten hiervon.

(4)      Ein Mitgliedstaat kann jedoch das Inverkehrbringen von Erzeugnissen tierischen Ursprungs, die von in anderen Mitgliedstaaten getöteten Tieren stammen, in seinem Hoheitsgebiet nicht mit der Begründung verbieten oder behindern, dass die betreffenden Tiere nicht nach seinen nationalen Vorschriften, mit denen ein umfassenderer Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung sichergestellt werden soll, getötet wurden.“

B.      Belgisches Recht

27.      Art. 1 des angefochtenen Dekrets lautet:

„Dieses Dekret regelt eine regionale Angelegenheit.“

28.      Art. 2 des Dekrets bestimmt:

„Artikel 3 des Gesetzes vom 14. August 1986 über den Schutz und das Wohlbefinden von Tieren, geändert durch die Gesetze vom 4. Mai 1995, 9. Juli 2004, 11. Mai 2007 und 27. Dezember 2012, wird wie folgt geändert:

1.      Die Nummern 13 und 14 erhalten folgende Fassung:

‚13.      Tötung: jedes bewusst eingesetzte Verfahren, das den Tod eines Tieres herbeiführt;

14.      Schlachtung: die Tötung von Tieren, die für den menschlichen Verzehr bestimmt sind;‘

2.      Es wird eine Nr. 14bis eingefügt, die wie folgt lautet:

,14bis. Betäubung: jedes bewusst eingesetzte Verfahren, das ein Tier ohne Schmerzen in eine Wahrnehmungs- und Empfindungslosigkeit versetzt, einschließlich jedes Verfahrens, das zum sofortigen Tod führt‘.“

29.      Art. 3 des angefochtenen Dekrets sieht vor:

„Artikel 15 desselben Gesetzes erhält folgende Fassung:

,Art. 15. § 1. Ein Wirbeltier darf nur nach vorheriger Betäubung getötet werden. Es darf nur von einer Person getötet werden, die über die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, und zwar nach der für das Tier am wenigsten schmerzhaften, schnellsten und selektivsten Methode.

Abweichend von Absatz 1 kann ein Wirbeltier ohne vorherige Betäubung getötet werden:

1.      im Fall höherer Gewalt;

2.      bei der Jagd oder bei der Fischerei;

3.      im Rahmen der Schädlingsbekämpfung.

§ 2.      Werden Tiere nach besonderen, durch religiöse Riten vorgeschriebenen Methoden geschlachtet, muss die Betäubung umkehrbar sein und darf nicht zum Tod des Tieres führen.‘“

30.      In Art. 4 des angefochtenen Dekrets heißt es:

„Artikel 16 desselben Gesetzes, geändert durch das Gesetz vom 4. Mai 1995, das Königliche Dekret vom 22. Februar 2001 und das Gesetz vom 7. Februar 2014, erhält folgende Fassung:

,Art. 16. § 1.      Die Flämische Regierung bestimmt die Bedingungen für

1.      die Methoden für die Betäubung und Tötung von Tieren entsprechend den Umständen und Tierarten;

2.      den Bau, die Konzeption und die Ausrüstung von Schlachthöfen;

3.      die Gewährleistung der Unabhängigkeit des Tierschutzbeauftragten;

4.      die Sachkunde des Tierschutzbeauftragten, des Schlachthofpersonals und der an der Tötung von Tieren beteiligten Personen, einschließlich des Inhalts und der Organisation von Ausbildungskursen und Prüfungen sowie der Ausstellung, des Entzugs und der Aussetzung der entsprechenden Bescheinigungen.

§ 2.      Die Flämische Regierung kann Betriebe für die Gruppenschlachtung von Tieren für den privaten häuslichen Verbrauch zulassen und die Bedingungen für die Schlachtung von Tieren für den privaten häuslichen Verbrauch außerhalb eines Schlachthofs festlegen.‘“

31.      Art. 5 des angefochtenen Dekrets lautet:

„In dasselbe Gesetz, zuletzt geändert durch das Gesetz vom 7. Februar 2014, wird ein Artikel 45ter eingefügt, der wie folgt lautet:

‚Art. 45ter. Abweichend von Artikel 15 kann die Betäubung bei Rindern, die nach speziellen Methoden geschlachtet werden, die für religiöse Riten vorgeschrieben sind, unmittelbar nach dem Durchschneiden der Kehle erfolgen, bis die Flämische Regierung feststellt, dass eine umkehrbare Betäubung für diese Tierarten in der Praxis anwendbar ist.‘“

32.      Nach Art. 6 des angefochtenen Dekrets tritt dieses am 1. Januar 2019 in Kraft.

III. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorabentscheidungsersuchen

33.      Die Kläger des Ausgangsverfahrens haben beim Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof) mehrere Nichtigkeitsklagen gegen das angefochtene Dekret eingereicht.

34.      Diese Nichtigkeitsklagen begründeten die Kläger im Wesentlichen wie folgt:

Erstens: Verstoß gegen die Verordnung Nr. 1099/2009 in Verbindung mit dem Grundsatz der Gleichheit und Nichtdiskriminierung, weil den jüdischen und den islamischen Gläubigen die in Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 enthaltene Garantie, dass rituelle Schlachtungen nicht von der Bedingung der vorherigen Betäubung abhängig gemacht werden könnten, entzogen werde und das angefochtene Dekret der Kommission entgegen Art. 26 Abs. 2 dieser Verordnung nicht rechtzeitig mitgeteilt worden sei.

Zweitens: Verstoß gegen die Religionsfreiheit, weil es den jüdischen und den islamischen Gläubigen unmöglich gemacht werde, zum einen Tiere entsprechend den Vorschriften ihrer Religion zu schlachten und zum anderen Fleisch zu erwerben, das von Tieren stamme, die entsprechend diesen religiösen Vorschriften geschlachtet worden seien.

Drittens: Verstoß gegen den Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat, weil die Bestimmungen des angefochtenen Dekrets festlegten, auf welche Weise ein religiöser Ritus auszuführen sei.

Viertens: Verstoß gegen das Recht auf Arbeit und auf freie Wahl der Berufstätigkeit, die Unternehmensfreiheit und den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr, weil es den religiösen Schlachtern unmöglich gemacht werde, ihren Beruf auszuüben, weil es den Metzgern und Metzgereien unmöglich gemacht werde, ihren Kunden Fleisch anzubieten, bei dem sie garantieren könnten, dass es von Tieren stamme, die entsprechend den religiösen Vorschriften geschlachtet worden seien, und weil der Wettbewerb zwischen den Schlachthöfen in der Flämischen Region und den Schlachthöfen in der Region Brüssel-Hauptstadt oder in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union, wo die Schlachtung von Tieren ohne Betäubung erlaubt sei, gestört werde.

Fünftens: Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Diskriminierungsverbot, und zwar aus folgenden Gründen:

Die jüdischen und die islamischen Gläubigen würden ohne sachliche Rechtfertigung gleich behandelt wie Personen, die keinen spezifischen, durch eine Religion vorgeschriebenen Lebensmittelvorschriften unterlägen.

Die Personen, die Tiere bei der Jagd oder der Fischerei oder bei der Schädlingsbekämpfung töteten, und die Personen, die Tiere nach besonderen, von einem religiösen Ritus vorgeschriebenen Schlachtmethoden töteten, würden ohne sachliche Rechtfertigung unterschiedlich behandelt.

Die jüdischen Gläubigen einerseits sowie die islamischen Gläubigen andererseits würden ohne sachliche Rechtfertigung gleichbehandelt.

35.      Die flämische und die wallonische Regierung sind hingegen der Auffassung, dass Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 den Mitgliedstaaten ausdrücklich die Befugnis einräume, von Art. 4 Abs. 4 dieser Verordnung abzuweichen(7).

36.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die in Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 vorgesehene Ausnahme von der grundsätzlichen Pflicht zur Betäubung des Tieres vor der Schlachtung auf dem in Art. 10 Abs. 1 der Charta garantierten Grundsatz der Religionsfreiheit beruhe.

37.      Die Mitgliedstaaten könnten gleichwohl von dieser Ausnahme abweichen. Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 erlaube es ihnen nämlich, zur Förderung des Tierschutzes von der in Art. 4 Abs. 4 dieser Verordnung vorgesehenen Regelung abzuweichen. Insoweit seien keine Grenzen festgelegt, innerhalb deren sich die Mitgliedstaaten halten müssten(8).

38.      Folglich stelle sich die Frage, ob Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 dahin auszulegen sei, dass die Mitgliedstaaten nationale Vorschriften wie die im angefochtenen Dekret enthaltenen erlassen könnten, und ob er bei einer solchen Auslegung mit der in Art. 10 Abs. 1 der Charta garantierten Religionsfreiheit vereinbar sei.

39.      Darüber hinaus sehe die Verordnung Nr. 1099/2009 eine an Bedingungen geknüpfte Ausnahme von der Pflicht der vorherigen Betäubung lediglich bei der Tötung von Tieren nach rituellen Schlachtmethoden vor, während die Tötung von Tieren bei der Jagd, der Fischerei und bei kulturellen oder Sportveranstaltungen nach Art. 1 Abs. 3 Buchst. a Ziff. 2 der Verordnung Nr. 1099/2009 von dieser Pflicht vollständig ausgenommen sei. Insoweit sei fraglich, ob die Verordnung Nr. 1099/2009 zu einer ungerechtfertigten Diskriminierung führe, indem sie den Mitgliedstaaten erlaube, die Ausnahmeregelung im Fall der durch religiöse Riten vorgeschriebenen Schlachtung einzuschränken, während die Tötung von Tieren ohne Betäubung bei der Jagd, bei der Fischerei und bei kulturellen oder Sportveranstaltungen erlaubt sei.

40.      Unter diesen Umständen hat der Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten erlaubt ist, in Abweichung von der in Art. 4 Abs. 4 dieser Verordnung geregelten Ausnahme und zum Zweck der Verbesserung des Wohlergehens der Tiere Vorschriften zu erlassen, wie sie in dem angefochtenen Dekret vorgesehen sind, die zum einen ein Verbot der Schlachtung von Tieren ohne Betäubung vorsehen, das auch für die im Rahmen eines religiösen Ritus vorgenommene Schlachtung gilt, und zum anderen ein alternatives Betäubungsverfahren für die im Rahmen eines religiösen Ritus vorgenommene Schlachtung einführen, das so gestaltet ist, dass die Betäubung umkehrbar sein muss und den Tod des Tieres nicht herbeiführen darf?

2.      Falls die erste Vorlagefrage zu bejahen ist: Verletzt Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der vorgenannten Verordnung im Fall der Auslegung im Sinne der ersten Vorlagefrage Art. 10 Abs. 1 der Charta?

3.      Falls die erste Vorlagefrage zu bejahen ist: Verletzt Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c in Verbindung mit Art. 4 Abs. 4 der vorgenannten Verordnung im Fall der Auslegung im Sinne der ersten Vorlagefrage die Art. 20, 21 und 22 der Charta, weil für Tiere, die speziellen Schlachtmethoden unterliegen, die durch bestimmte religiöse Riten vorgeschrieben sind, lediglich eine an Bedingungen geknüpfte Ausnahme von der Pflicht zur Betäubung des Tieres vorgesehen ist (Art. 4 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 26 Abs. 2), während für die Tötung von Tieren bei der Jagd, der Fischerei, bei kulturellen oder Sportveranstaltungen aus den in den Erwägungsgründen der Verordnung angegebenen Gründen Regelungen vorgesehen sind, nach denen diese Tätigkeiten nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung fallen bzw. nicht der Pflicht zur Betäubung des Tieres bei der Tötung unterliegen (Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 2 und Abs. 3)?

IV.    Verfahren vor dem Gerichtshof

41.      Schriftliche Erklärungen zu den Vorlagefragen des Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof) haben eingereicht: das Centraal Israëlitisch Consistorie van België u. a., das Executief van de Moslims van België u. a., die Coördinatie Comité van Joodse Organisaties van België, Section belge du Congrès juif mondial et Congrès juif européen VZW, LI, die flämische Regierung, die wallonische Regierung, die Global Action in the Interest of Animals VZW (GAIA), die dänische, die finnische und die schwedische Regierung, der Rat der Europäischen Union und die Europäische Kommission.

42.      Das Centraal Israëlitisch Consistorie van België u. a., die Unie Moskeeën Antwerpen VZW, das Executief van de Moslims van België u. a., die Coördinatie Comité van Joodse Organisaties van België, Section belge du Congrès juif mondial et Congrès juif européen VZW, LI, die flämische Regierung, die wallonische Regierung, die Global Action in the Interest of Animals VZW (GAIA), die dänische und die finnische Regierung, der Rat und die Kommission haben in der mündlichen Verhandlung vom 8. Juli 2020 mündliche Erklärungen abgegeben. Der Bevollmächtigten der finnischen Regierung wurde gestattet, ihre mündlichen Ausführungen per Videokonferenz zu machen.

V.      Würdigung

43.      In seinem Vorabentscheidungsersuchen hat der Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof) dem Gerichtshof drei Fragen vorgelegt. Wie vom Gerichtshof gewünscht, werden sich diese Schlussanträge auf die erste und zweite Vorlagefrage konzentrieren.

44.      Mit seiner ersten Frage ersucht das vorlegende Gericht um Auslegung von Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009. Insbesondere soll geklärt werden, welchen Anwendungsbereich diese Bestimmung hat und ob sie es den Mitgliedstaaten gestattet, abweichend von Art. 4 Abs. 4 der Verordnung zur Förderung des Tierschutzes Vorschriften zu erlassen, wie sie im angefochtenen Dekret enthalten sind. Je nachdem, wie Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 auszulegen ist, möchte das vorlegende Gericht mit seiner zweiten Frage wissen, ob diese unionsrechtliche Bestimmung gegen Art. 10 Abs. 1 der Charta verstößt.

45.      Angesichts des inneren Zusammenhangs zwischen den ersten beiden Fragen halte ich es für angebracht, sie zusammen zu beantworten.

A.      Vorbemerkungen

46.      Dem Vorabentscheidungsersuchen zufolge wurde das angefochtene Dekret der Kommission gemäß Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1099/2009 am 29. November 2017 mitgeteilt(9). In den beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen ist geltend gemacht worden, dass diese Mitteilung verspätet(10) und das angefochtene Dekret daher ungültig sei. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass der Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof) in seinem Vorabentscheidungsersuchen ausdrücklich auf die betreffende Mitteilung Bezug genommen hat. Er hat jedoch insoweit keinen Zweifel an der Gültigkeit des angefochtenen Dekrets geäußert. Im Übrigen bezieht sich keine der Vorlagefragen speziell auf diesen Punkt oder auf die Auslegung von Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1099/2009. Daher bin ich der Ansicht, dass diese Frage nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist, zumal auch die Parteien zu diesem Thema nicht wirklich vorgetragen haben.

47.      Vor dem Gerichtshof hat es auch einige Ausführungen dazu gegeben, ob die vorherige, umkehrbare Betäubung, die nicht zum Tod eines Tieres führt, oder die Betäubung von Wirbeltieren nach dem Halsschnitt den speziellen Schlachtmethoden entspricht, die durch religiöse Riten nach islamischem und jüdischem Glauben vorgeschrieben sind. Insoweit gibt es offenbar unterschiedliche Auffassungen innerhalb beider Glaubensrichtungen(11). Wie ich in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache C‑243/19, A./Veselibas Ministrija(12), ausgeführt habe, gehört es nicht zu den Aufgaben eines weltlichen Gerichts, über Angelegenheiten der religiösen Orthodoxie zu entscheiden. Es genügt zu sagen, dass es eine bedeutende Zahl von Anhängern sowohl des islamischen als auch des jüdischen Glaubens gibt, für die die Schlachtung von Tieren ohne eine derartige Betäubung ein wesentlicher Bestandteil eines notwendigen religiösen Ritus darstellt. Nach meiner Auffassung ist auf dieser Grundlage zu verfahren(13).

48.      Der Gerichtshof hat jedenfalls in Rn. 51 des Urteils vom 29. Mai 2018, Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen u. a. (C‑426/16, EU:C:2018:335), klar erklärt, dass die Existenz etwaiger theologischer Divergenzen in dieser Frage als solche nicht die Einstufung der Praxis ritueller Schlachtungen, wie sie vom vorlegenden Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen beschrieben wird, als „religiöser Ritus“ in Frage zu stellen vermag(14).

49.      Das vorlegende Gericht erläutert zwar im Einzelnen, dass das angefochtene Dekret nach ausführlichen Beratungen mit Vertretern verschiedener religiöser Gruppen und nach großen Bemühungen, die der flämische Gesetzgeber über einen längeren Zeitraum (seit 2006) unternommen habe, um die Ziele eines verbesserten Tierschutzes mit der Wahrung des Geistes der rituellen Schlachtung in Einklang zu bringen, erlassen worden sei(15). Es weist jedoch in seinem Vorabentscheidungsersuchen darauf hin, dass das angefochtene Dekret ein Verbot der rituellen Schlachtung ohne Betäubung vorsehe, die zuvor nach nationalem Recht und aufgrund der in Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 enthaltenen Ausnahmeregelung zulässig gewesen sei(16).

B.      Art. 4 Abs. 1 und 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 und die bisherige Rechtsprechung zu diesen Bestimmungen

50.      Die Verordnung Nr. 1099/2009 enthält u. a. Vorschriften über die Tötung von Tieren, die zur Herstellung von Lebensmitteln gezüchtet oder gehalten werden. Wie aus dem Titel der Verordnung und aus ihrem Art. 3 Abs. 1 ersichtlich, besteht das Hauptziel der Verordnung darin, die Tiere zu schützen und sie von jedem vermeidbarem Schmerz, Stress oder Leiden während der Tötung und damit zusammenhängenden Tätigkeiten zu verschonen.

51.      Art. 4 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 bestimmt unmissverständlich, dass Tiere „nur nach einer Betäubung getötet [werden]“.

52.      Meiner Ansicht nach ist Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1099/2009 der Eckpfeiler dieser Verordnung und konkreter Ausdruck der eindeutigen Verpflichtung sowohl der Union als auch der Mitgliedstaaten gemäß dem ersten Teil von Art. 13 AEUV, den Erfordernissen des Wohlergehens der Tiere als fühlende Wesen in vollem Umfang Rechnung zu tragen. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof in Rn. 47 des Urteils vom 26. Februar 2019, Œuvre d’assistance aux bêtes d’abattoirs (C‑497/17, EU:C:2019:137), festgestellt, dass wissenschaftliche Studien gezeigt haben, dass die Betäubung vor der Tötung die Technik darstellt, die das Tierwohl zum Zeitpunkt der Schlachtung am wenigsten beeinträchtigt.

53.      Trotz des strikten Wortlauts des Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1099/2009 bestimmt Art. 4 Abs. 4 dieser Verordnung jedoch, dass in Abweichung von dieser Regel für Tiere, die speziellen Schlachtmethoden unterliegen, die durch bestimmte religiöse Riten vorgeschrieben sind, „die Anforderungen gemäß Absatz 1 nicht [gelten], sofern die Schlachtung in einem Schlachthof erfolgt“(17). Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 trägt daher der Notwendigkeit Rechnung, das Recht von Angehörigen bestimmter religiöser Glaubensrichtungen zu gewährleisten, wesentliche religiöse Riten zu bewahren und Fleisch von Tieren zu verzehren, die auf diese religiös vorgeschriebene Weise geschlachtet wurden.

54.      Die Gültigkeit des Rechts gemäß Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 zur rituellen Schlachtung in einem Schlachthof im Hinblick auf Art. 10 Abs. 1 der Charta wurde vom Gerichtshof in seinem Urteil vom 29. Mai 2018, Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen u. a. (C‑426/16, EU:C:2018:335), geprüft. In den Rn. 43 bis 45 dieses Urteils hat der Gerichtshof daran erinnert, dass das in Art. 10 Abs. 1 der Charta verankerte Recht auf Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit nach der Rechtsprechung u. a. die Freiheit umfasst, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen. Zudem legt die Charta dem in ihr genannten Begriff „Religion“ eine weite Bedeutung bei, die sowohl das forum internum, d. h. den Umstand, Überzeugungen zu haben, als auch das forum externum, d. h. die Bekundung des religiösen Glaubens in der Öffentlichkeit, umfassen kann. Der Gerichtshof hat daher festgestellt, dass die durch religiöse Riten vorgeschriebenen speziellen Schlachtmethoden im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 als Teil der Bekundung des religiösen Glaubens in den Anwendungsbereich von Art. 10 Abs. 1 der Charta fallen(18).

55.      Der Gerichtshof hat ausgeführt, dass die von Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 zugelassene Ausnahme, die an die Bedingung geknüpft ist, dass die Schlachtung in einem Schlachthof(19) erfolgt, kein Verbot der Praxis ritueller Schlachtungen in der Union aufstellt, sondern im Gegenteil das Bestreben des Unionsgesetzgebers konkretisiert, die Schlachtung von Tieren ohne vorherige Betäubung zu erlauben, um zu gewährleisten, dass die Religionsfreiheit effektiv gewahrt wird(20).

56.      Die Ausnahme des Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 von der Regel des Art. 4 Abs. 1 dieser Verordnung lässt daher die Praxis der rituellen Schlachtung, in deren Rahmen das Tier ohne vorherige Betäubung getötet werden kann, nur ausnahmsweise zu, um die Beachtung der Religionsfreiheit sicherzustellen, da diese Form der Schlachtung nicht geeignet ist, Schmerzen, Stress oder Leiden des Tieres genauso wirksam zu mildern wie eine Schlachtung, der eine Betäubung vorausgeht, die gemäß Art. 2 Buchst. f der Verordnung in Verbindung mit ihrem 20. Erwägungsgrund erforderlich ist, um beim Tier eine Wahrnehmungs- und Empfindungslosigkeit herbeizuführen, mit der sein Leiden erheblich verringert werden kann(21).

57.      Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 spiegelt somit den Wunsch des Unionsgesetzgebers wider, die Religionsfreiheit und das Recht, seine Religion oder Weltanschauung durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen, zu achten, wie dies in Art. 10 der Charta verankert ist, und zwar trotz des vermeidbaren Leidens, das Tieren im Zusammenhang mit der rituellen Schlachtung ohne vorherige Betäubung zugefügt wird(22). Diese Bestimmung ist meiner Ansicht nach Ausdruck des Einsatzes der Union für eine tolerante, pluralistische Gesellschaft, in der es unterschiedliche und bisweilen gegensätzliche Ansichten und Überzeugungen gibt, die miteinander in Einklang gebracht werden müssen.

58.      Aus den Rn. 56 ff. des Urteils vom 29. Mai 2018, Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen u. a. (C‑426/16, EU:C:2018:335), ergibt sich jedoch eindeutig, dass bezüglich der freien Vornahme von Schlachtungen ohne vorherige Betäubung zu religiösen Zwecken technische Bedingungen und Anforderungen, die das Leiden der Tiere zum Zeitpunkt der Tötung so gering wie möglich halten und die Gesundheit aller Fleischkonsumenten gewährleisten sollen und die allgemein und unterschiedslos gelten, festgelegt werden können, um solche Schlachtungen zu organisieren und entsprechende Vorgaben zu machen. Daher hat der Gerichtshof, wie bereits erwähnt, im Urteil vom 29. Mai 2018, Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen u. a. (C‑426/16, EU:C:2018:335), in Rn. 68 die Auffassung vertreten, dass das Erfordernis, dass eine solche Schlachtung in einem Schlachthof stattfindet(23), das Recht auf freie Religionsausübung nicht einschränkt(24).

59.      Darüber hinaus hat der Gerichtshof im Urteil vom 26. Februar 2019, Œuvre d’assistance aux bêtes d’abattoirs (C‑497/17, EU:C:2019:137, Rn. 48 bis 50), im Wesentlichen festgestellt, dass der Tierschutz zwar bis zu einem gewissen Grad beeinträchtigt werden kann, um die Ausübung ritueller Schlachtungen zuzulassen, dass die in Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 vorgesehene Ausnahmeregelung aber nicht über das hinausgeht, was unbedingt erforderlich ist, um die Achtung der Religionsfreiheit sicherzustellen. Der Inhalt der in Rede stehenden religiösen Überzeugungen erstreckt sich auf den Verzehr von Fleisch von Tieren, die nach religiösen Riten geschlachtet wurden.

60.      Aus diesem Urteil ergibt sich meines Erachtens außerdem eindeutig, dass die Praxis der rituellen Schlachtung von Tieren ohne vorherige Betäubung unter bestimmten Umständen dazu führt, dass die aus diesem Ritual gewonnenen Erzeugnisse anders behandelt werden als Erzeugnisse, die aus einer Schlachtung stammen, die unter Einhaltung höherer Tierschutznormen durchgeführt wurde.

61.      Es ist offensichtlich, dass Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 als Abweichung von der in Art. 4 Abs. 1 dieser Verordnung enthaltenen Regel eng auszulegen ist. Dies ist notwendig, um Tiere zum Zeitpunkt der Tötung so weit wie möglich zu schützen und gleichzeitig zu gewährleisten, dass die Religionsfreiheit und tief verwurzelte religiöse Überzeugungen geachtet werden. Trotz des offensichtlichen Spannungsverhältnisses zwischen diesen beiden – zuweilen widersprüchlichen – Zielen ist der auffälligste Gesichtspunkt des Zusammenspiels zwischen diesen Bestimmungen der Verordnung Nr. 1099/2009 meines Erachtens der sehr strikte Wortlaut des Art. 4 Abs. 1 dieser Verordnung und die Tragweite des darin enthaltenen Verbots. Demgegenüber fehlen für die in Art. 4 Abs. 4 vorgesehene Ausnahmeregelung, abgesehen von der Anforderung, dass die betreffende Schlachtung durch religiösen Ritus vorgeschrieben ist und in einem Schlachthof zu erfolgen hat, konkrete oder spezifische Schranken(25).

62.      Man muss in diesem Zusammenhang feststellen, dass die in Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 enthaltene Wendung „[f]ür Tiere, die speziellen Schlachtmethoden unterliegen, die durch bestimmte religiöse Riten vorgeschrieben sind“ leider vage ist und daher eine weite Auslegung zum Nachteil des Tierschutzes zulässt(26). Dem Schutz des Wohlergehens der Tiere, der in Art. 13 AEUV vorgeschrieben ist, muss vom Unionsgesetzgeber selbstverständlich tatsächlich Gewicht und Bedeutung gegeben werden. Er muss zwar unter bestimmten Umständen dem noch höheren Ziel der Gewährleistung der Religionsfreiheit und des Glaubens nachgeben, doch sollten diese Umstände selbst klar und präzise sein. Man kann zu Recht fragen, ob alle Erzeugnisse von Tieren, die unter dem Schutz der Ausnahmeregelung gemäß Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 geschlachtet werden, tatsächlich zum Verzehr durch Personen bestimmt sind, für die diese Schlachtung erforderlich ist, um die Vorschriften ihrer Religion einhalten zu können. Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass Erzeugnisse, die von ohne vorherige Betäubung geschlachteten Tieren gewonnen wurden, für den Verzehr durch Mitglieder der Öffentlichkeit bestimmt sind, die nicht nur nichts davon wissen, sondern für die eine solche Schlachtung auch nicht erforderlich ist, um von der Religion vorgeschriebene Ernährungsvorschriften einzuhalten(27). Es ist durchaus möglich, dass es Verbraucher gibt, die angesichts des vermeidbaren Leidens, das die betreffenden Tiere erdulden mussten, aus Gründen der Religion, des Gewissens oder der Moral Einwände gegen den Verzehr solcher Erzeugnisse haben würden.

63.      Auch wenn der Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1099/2009 eindeutig ist, kommt man dennoch nicht umhin, festzustellen, dass ein Verbraucher in der Union nur dann sicherstellen kann, dass tierische Erzeugnisse Art. 4 Abs. 1 der Verordnung entsprechen, wenn er mit dem EU-Bio-Logo versehene Erzeugnisse konsumiert. All dies bedeutet, dass die Mitgliedstaaten zwar verpflichtet sind, die tief verwurzelten religiösen Überzeugungen von Anhängern des islamischen und des jüdischen Glaubens zu achten, indem sie die rituelle Schlachtung von Tieren auf diese Weise zulassen, dass sie aber auch Verpflichtungen hinsichtlich des Wohlergehens dieser fühlenden Geschöpfe haben. Insbesondere würde eine Situation, in der Fleischerzeugnisse, die aus der Schlachtung von Tieren nach religiösen Riten stammen, einfach in die allgemeine Lebensmittelkette gelangen dürfen, um dann von Kunden verzehrt zu werden, die nicht wissen – und auch nicht darauf aufmerksam gemacht wurden –, wie die Tiere geschlachtet wurden, weder dem Geist noch dem Buchstaben von Art. 13 AEUV entsprechen.

64.      Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass immer mehr Mitgliedstaaten versuchen, den Anwendungsbereich der in Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 enthaltenen Ausnahmeregelung auf unterschiedliche Weise zu qualifizieren oder einzuschränken, indem sie u. a. auf der Grundlage von Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c dieser Verordnung z. B. die Schlachtung von Tieren ohne vorherige Betäubung oder die Schlachtung von Tieren ohne vorherige (umkehrbare) Betäubung oder ohne eine Betäubung nach Halsschnitt verbieten.

65.      Es ist die Frage der Rechtmäßigkeit dieser Praxis im Lichte der Bestimmungen der Verordnung Nr. 1099/2009, insbesondere des Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c dieser Verordnung, die den Kern des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens bildet und der ich mich nun zuwenden werde.

C.      Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009

66.      Art. 26 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1099/2009 und Art. 26 Abs. 2 dieser Verordnung erlauben es den Mitgliedstaaten, nationale Vorschriften beizubehalten oder zu erlassen, mit denen ein umfassenderer Schutz von Tieren(28) zum Zeitpunkt der Tötung als in dieser Verordnung vorgesehen sichergestellt werden soll. Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 sieht nämlich vor, dass die Mitgliedstaaten in Bezug auf die Schlachtung und Betäubung(29) von Tieren gemäß Art. 4 Abs. 4 dieser Verordnung einen umfassenderen Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung vorsehen können.

67.      Meines Erachtens ist Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 seinem Wortlaut nach nicht auf die Aufhebung oder Quasi-Aufhebung(30) der Praxis der rituellen Schlachtung durch die Mitgliedstaaten gerichtet. Dies ergibt sich eindeutig aus dem Wortlaut der Ausnahmeregelung in Art. 4 Abs. 4 der Verordnung, die als solche den Schutz der Religionsfreiheit zum Ziel hat. Die allgemeine Formulierung des Art. 26 Abs. 2 lässt sich nicht dahin interpretieren, dass damit die spezifische Bestimmung des Art. 4 Abs. 4 ausgehöhlt werden soll.

68.      Vielmehr erhält Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 diese Ausnahmeregelung aufrecht und erlaubt es gleichzeitig den Mitgliedstaaten, im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip und zur Berücksichtigung nationaler Tierschutzsensibilitäten zusätzliche oder strengere nationale Vorschriften zu erlassen, die über das ausdrückliche Erfordernis nach Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 hinausgehen, wonach die Schlachtung von Tieren, die bestimmten, durch religiöse Riten vorgeschriebenen Schlachtmethoden unterliegen, in einem Schlachthof zu erfolgen hat.

69.      Diese zusätzlichen Vorschriften könnten beispielsweise die Anforderung, dass während der rituellen Schlachtung jederzeit ein qualifizierter Tierarzt anwesend sein muss (zusätzlich zu dem in Art. 17 der Verordnung Nr. 1099/2009 enthaltenen Erfordernis eines Tierschutzbeauftragten) und dass die Person, die diese besondere Form der Schlachtung durchführt, angemessen geschult ist, sowie Vorgaben zu Art, Größe und Schärfe des verwendeten Messers und zur Notwendigkeit eines zweiten Messers für den Fall, dass das erste während der Schlachtung beschädigt wird, festlegen.

70.      Der Erlass strengerer Vorschriften durch die Mitgliedstaaten gemäß Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 muss also innerhalb des Rahmens und unter umfassender Berücksichtigung der Art der in Art. 4 Abs. 4 dieser Verordnung vorgesehenen Ausnahmeregelung erfolgen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Mitgliedstaaten von der in Art. 26 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1099/2009 enthaltenen Befugnis in einer Weise Gebrauch machen könnten, die die Ausnahmeregelung in Art. 4 Abs. 4 dieser Verordnung tatsächlich außer Kraft setzt – eine Ausnahmeregelung, die schließlich selbst den Zweck hat, die religiösen Freiheiten jener Anhänger des islamischen und des jüdischen Glaubens zu achten, für die das rituelle Schlachten von Tieren ein Schlüsselmerkmal ihrer religiösen Traditionen, Bräuche und damit ihrer Identität ist.

71.      So heißt es im 18. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1099/2009, dass die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, strengere nationale Vorschriften beizubehalten oder zu erlassen, den Willen des Unionsgesetzgebers widerspiegelt, „den Mitgliedstaaten … ein gewisses Maß an Subsidiarität“ einzuräumen, dabei aber die in Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 enthaltene Ausnahme von der Betäubung von Tieren vor der Schlachtung aufrechtzuerhalten(31).

72.      Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 erlaubt somit den Erlass strengerer nationaler Vorschriften zum Schutz des Tierwohls, sofern der „Kern“ der betreffenden religiösen Praxis, nämlich die rituelle Schlachtung, nicht beeinträchtigt wird. Er erlaubt es den Mitgliedstaaten daher nicht, die Schlachtung von Tieren, wie sie durch religiöse Riten vorgeschrieben und nach Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 ausdrücklich zugelassen ist, zu verbieten(32).

73.      Meines Erachtens wäre jede andere Auslegung von Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 abgesehen davon, dass sie nicht mit dem Wortlaut dieser Bestimmung im Einklang stünde(33) und der klaren Absicht des Unionsgesetzgebers zuwiderliefe(34), eine Einschränkung der durch Art. 10 Abs. 1 der Charta garantierten Religionsfreiheit und bedürfte einer ausdrücklichen detaillierten Rechtfertigung anhand der in Art. 52 Abs. 1 der Charta festgelegten drei Kriterien. Hier ist lediglich festzustellen, dass die Verordnung Nr. 1099/2009 keine solche Rechtfertigung enthält.

74.      Da sowohl die Erwägungsgründe der Verordnung Nr. 1099/2009 als auch der Wortlaut von Art. 4 Abs. 4 selbst eindeutig auf den Wunsch hinweisen, das rituelle Schlachten von Tieren zu bewahren, dient die den Mitgliedstaaten in Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009(35) eingeräumte weitere Befugnis hinsichtlich der Schlachtung von Tieren gemäß Art. 4 Abs. 4 lediglich dazu, sie in die Lage zu versetzen, die zusätzlichen Maßnahmen zu ergreifen, die sie für geeignet halten, das Wohlergehen der betreffenden Tiere zu fördern.

75.      Um es nochmals zu sagen: Diese zusätzlichen Maßnahmen dürfen daher nicht so weit reichen, dass die rituelle Schlachtung ohne vorherige oder nachträgliche Betäubung verboten wird, denn dies würde darauf hinauslaufen, die in Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 vorgesehene Ausnahme in ihrem eigentlichen Kern zu negieren. Dies aber würde das Wesen der in Art. 10 Abs. 1 der Charta enthaltenen religiösen Garantien für diejenigen Anhänger der jüdischen bzw. islamischen Religion beeinträchtigen, für die diese religiösen Rituale, wie wir gesehen haben, von herausragender persönlicher religiöser Bedeutung sind. Ich bin daher der Auffassung, dass die Mitgliedstaaten gemäß Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 und im Einklang mit dem Urteil vom 29. Mai 2018, Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen u. a. (C‑426/16, EU:C:2018:335), beispielsweise technische Bedingungen oder Anforderungen festlegen können(36), die darauf abzielen, das Leiden der Tiere zum Zeitpunkt der Tötung so gering wie möglich zu halten und ihr Wohlergehen zu fördern, und zwar zusätzlich zu dem in Art. 4 Abs. 4 festgelegten Erfordernis, dass rituelle Schlachtungen in einem Schlachthof stattfinden.

76.      Ich halte es nicht für ergiebig, darüber zu spekulieren, welche Art von Maßnahmen die Mitgliedstaaten auf der Grundlage von Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 oder auf einer anderen Rechtsgrundlage ergreifen dürfen, da dies eindeutig über den Rahmen des vorliegenden Verfahrens hinausgeht und daher in diesem Zusammenhang nicht wirklich erörtert worden ist(37). Es ist nicht die Aufgabe des Gerichtshofs, gutachterlich zu dieser Frage Stellung zu nehmen. Es genügt der Hinweis, dass diese Befugnis nicht so weit reicht, dass das rituelle Schlachten ohne Betäubung in der vom flämischen Gesetzgeber im vorliegenden Verfahren vorgesehenen Art und Weise verboten werden könnte.

77.      Mein Zwischenergebnis lautet daher, dass Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 und 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 im Licht von Art. 10 der Charta und Art. 13 AEUV dahin auszulegen ist, dass es den Mitgliedstaaten nicht gestattet ist, Vorschriften zu erlassen, die zum einen ein Verbot der Schlachtung von Tieren ohne Betäubung, das auch für die im Rahmen eines religiösen Ritus vorgenommene Schlachtung gilt, und zum anderen ein alternatives Betäubungsverfahren für die im Rahmen eines religiösen Ritus vorgenommene Schlachtung vorsehen, das so gestaltet ist, dass die Betäubung umkehrbar sein muss und nicht den Tod des Tieres herbeiführen darf.

78.      Die Prüfung der Vorlagefragen hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 im Hinblick auf Art. 10 Abs. 1 der Charta in Frage stellen könnte.

79.      Diesen Schlussfolgerungen steht nicht entgegen, dass es der jüdischen und der muslimischen Gemeinschaft – jedenfalls im Grundsatz – immer offen stünde, koscheres bzw. Halal-Fleisch zu importieren. Abgesehen davon, dass die Abhängigkeit von solchen Importen ziemlich problematisch wäre – so wurde dem Gerichtshof in der mündlichen Verhandlung vom 8. Juli 2020 mitgeteilt, dass einige Mitgliedstaaten, wie die Bundesrepublik Deutschland und das Königreich der Niederlande, Ausfuhrverbote für solche Fleischerzeugnisse erlassen haben –, wäre es kaum zufriedenstellend, wenn alle Mitgliedstaaten diesen Ansatz übernehmen würden. Tatsache ist, dass der Kern des durch Art. 4 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 garantierten Rechts uneingeschränkt in jedem Mitgliedstaat Geltung hat und dass die Befugnis zum Erlass zusätzlicher Vorschriften gemäß Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c dieser Verordnung nichts daran ändert.

80.      Die vorliegende Rechtssache macht jedoch auf ihre Weise die Schwäche des gegenwärtigen Regelwerks deutlich. Geht man davon aus, dass mit den Anforderungen des Art. 13 AEUV den Mitgliedstaaten echte Verpflichtungen auferlegt werden (was meines Erachtens der Fall ist), dann ist es Aufgabe des Unionsgesetzgebers, zumindest sicherzustellen, dass die Verbraucher eindeutig und unmissverständlich darauf hingewiesen werden, wenn Erzeugnisse von Tieren stammen, die ohne vorherige Betäubung getötet wurden.

81.      Mit einem solchen Ansatz, der neutral und nichtdiskriminierend ist, indem allen Verbrauchern durch die Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung von aus Tieren gewonnenen Erzeugnissen zusätzliche Informationen bereitgestellt werden, wird es ihnen ermöglicht, eine freie und fundierte Entscheidung in Bezug auf den Verbrauch solcher Erzeugnisse zu treffen(38). Dies würde darüber hinaus den Tierschutz fördern, indem das Leiden der Tiere bei der Tötung verringert und gleichzeitig die Religionsfreiheit geschützt würde(39).

D.      Art. 26 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009

82.      Die den Mitgliedstaaten eingeräumte Befugnis, zusätzliche oder strengere nationale Vorschriften zu erlassen, wird im Übrigen auch durch Art. 26 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 qualifiziert oder eingeschränkt. Diese Bestimmung besagt, dass solche nationalen Vorschriften den freien Verkehr von Erzeugnissen tierischen Ursprungs, bei denen die Tiere in anderen Mitgliedstaaten mit einem weniger umfassenden Schutz getötet wurden, nicht behindern dürfen. Somit ist, wie im 57. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1099/2009 festgestellt, ein umfassenderer Schutz der Tiere zum Zeitpunkt der Tötung zulässig, sofern er das Funktionieren des Binnenmarkts nicht beeinträchtigt.

83.      Das vorlegende Gericht hat in seinem Vorabentscheidungsersuchen darauf hingewiesen, dass der flämische Gesetzgeber der Ansicht sei, „dass das angefochtene Dekret keine Auswirkungen auf die Möglichkeit der Gläubigen hat, Fleisch von Tieren zu erhalten, die nach religiösen Riten geschlachtet wurden, da keine Bestimmung die Einfuhr dieses Fleisches in die Flämische Region verbietet“.

84.      Ich bin der Ansicht, dass das in Art. 26 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 festgelegte Erfordernis, dass von Mitgliedstaaten auf der Grundlage von Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 erlassene Vorschriften das Funktionieren des Binnenmarkts nicht behindern dürfen, nichts daran ändert, dass die von Mitgliedstaaten auf der Grundlage der letzteren Bestimmung erlassenen Maßnahmen im Kontext und in vollem Einklang mit der in Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 vorgesehenen Ausnahmeregelung greifen müssen. Der Umstand, dass tierische Erzeugnisse, bei denen spezielle, durch religiöse Riten vorgeschriebene Schlachtmethoden eingehalten wurden, aus einem anderen Mitgliedstaat bezogen werden können, wird daher für sich allein nicht ausreichen, um einen Verstoß gegen die Anforderungen des Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 zu beheben.

85.      Es trifft zu, dass der EGMR in der Rechtssache Cha’are Shalom Ve Tsedek/Frankreich (EGMR, 20. Juni 2000, CE:ECHR:2000:0627JUD002741795) die Auffassung vertreten hat, dass ein Eingriff in die Freiheit, seine Religion zu bekunden, nur dann vorläge, wenn es wegen der Rechtswidrigkeit der rituellen Schlachtung unmöglich wäre, Fleisch von Tieren zu verzehren, die in Übereinstimmung mit den einschlägigen religiösen Vorschriften geschlachtet wurden. Nach Ansicht des EGMR liegt also kein Eingriff in die Freiheit der Religionsausübung vor, wenn Fleisch, das mit den religiösen Vorschriften vereinbar ist, ohne Weiteres aus einem anderen Staat bezogen werden kann(40).

86.      Das in Art. 10 Abs. 1 der Charta garantierte Recht entspricht zwar dem Recht in Art. 9 der EMRK, der alle Mitgliedstaaten als Signatarstaaten angehören, und hat gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta dieselbe Bedeutung und dieselbe Tragweite. Es ist aber offensichtlich, dass der Unionsgesetzgeber mit Art. 4 Abs. 4 und dem Erfordernis, dass sich Art. 26 der Verordnung Nr. 1099/2009 innerhalb der Grenzen des Art. 4 Abs. 4 zu halten hat, der Religionsfreiheit einen spezifischeren Schutz gewähren wollte, als dies nach Art. 9 EMRK möglicherweise erforderlich gewesen wäre.

87.      Meines Erachtens lässt sich nicht leugnen, dass die Bewahrung der religiösen Riten der Schlachtung von Tieren nur schwer mit modernen Tierschutzvorstellungen vereinbar ist. Die Ausnahmeregelung des Art. 4 Abs. 4 ist jedoch eine politische Entscheidung, die der Unionsgesetzgeber sicherlich treffen durfte. Daraus folgt, dass der Gerichtshof es nicht zulassen kann, dass diese spezifische politische Entscheidung von einzelnen Mitgliedstaaten ausgehöhlt wird, die im Namen des Tierschutzes konkrete Maßnahmen ergreifen, die zur Folge hätten, dass die zugunsten bestimmter religiöser Anhänger bestehende Ausnahmeregelung inhaltlich entwertet würde. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Art. 26 der Verordnung Nr. 1099/2009 und insbesondere Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c dieser Verordnung mit Art. 10 Abs. 1 der Charta unvereinbar wären.

VI.    Ergebnis

88.      Ich schlage daher vor, die erste und die zweite Frage des Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof, Belgien) wie folgt zu beantworten:

Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 und 4 der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 des Rates vom 24. September 2009 über den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung ist im Licht von Art. 10 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 13 AEUV dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten nicht gestattet ist, Vorschriften zu erlassen, die zum einen ein Verbot der Schlachtung von Tieren ohne Betäubung, das auch für die im Rahmen eines religiösen Ritus vorgenommene Schlachtung gilt, und zum anderen ein alternatives Betäubungsverfahren für die im Rahmen eines religiösen Ritus vorgenommene Schlachtung vorsehen, das so gestaltet ist, dass die Betäubung umkehrbar sein muss und nicht den Tod des Tieres herbeiführen darf.

Die Prüfung der Vorlagefragen hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009 im Hinblick auf Art. 10 Abs. 1 der Charta in Frage stellen könnte.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Der Anwendungsbereich der betreffenden nationalen Vorschriften ist beschränkt auf Wirbeltiere und bezieht sich nicht auf Tiere im Allgemeinen. Der Verfahrensgegenstand vor dem Gerichtshof ist dementsprechend begrenzt.


3      Das vorlegende Gericht weist außerdem darauf hin, dass die Wallonische Region mit dem Dekret vom 18. Mai 2017 „zur Änderung der Artikel 3, 15 und 16 und zur Einfügung eines Artikels 45ter in das Gesetz vom 14. August 1986 über den Schutz und das Wohlbefinden von Tieren“ eine Regelung erlassen habe, die inhaltlich dem Dekret der Flämischen Region sehr ähnlich sei. Darüber hinaus geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass eine Reihe von Mitgliedstaaten aus Gründen des Tierschutzes ähnliche Verbote für die Tötung von Tieren ohne Betäubung erlassen haben.


4      Verordnung vom 24. September 2009 über den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung (ABl. 2009, L 303, S. 1).


5      Vgl. 18. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1099/2009 und Urteile vom 29. Mai 2018, Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen u. a. (C‑426/16, EU:C:2018:335, Rn. 53 und 55 bis 57), und vom 26. Februar 2019, Œuvre d’assistance aux bêtes d’abattoirs (C‑497/17, EU:C:2019:137, Rn. 48).


6      Vgl. 18. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1099/2009.


7      Für eine eingehendere Darstellung dieses Vorbringen wie auch des Vorbringens der anderen Beteiligten im Verfahren vor dem vorlegenden Gericht vgl. das Vorabentscheidungsersuchen in dieser Rechtssache.


8      Vgl. Nr. B.23.2 des Vorabentscheidungsersuchens und S. 9 der deutschen Übersetzung.


9      Die Kommission hat erklärt, dass diese Mitteilung am 27. November 2018 erfolgt sei.


10      Das vorlegende Gericht vertritt in Nr. B.22.3 des Vorabentscheidungsersuchens die Auffassung, dass das angefochtene Dekret der Kommission rechtzeitig mitgeteilt worden sei, da Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1099/2009 keine Frist enthalte und das Dekret nach seinem Art. 6 erst am 1. Januar 2019 in Kraft getreten sei.


11      Vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts Wahl in der Rechtssache Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen u. a. (C‑426/16, EU:C:2017:926, Nrn. 51 bis 54) und seine Schlussanträge in der Rechtssache Œuvre d’assistance aux bêtes d’abattoirs  (C‑497/17, EU:C:2018:747, Nrn. 46 und 47). In Nr. 51 der letzteren Schlussanträge hat Generalanwalt Wahl ausgeführt, dass „es aktuell auf dem Markt als ‚halal‘ gekennzeichnete Erzeugnisse [gibt], die aus Schlachtungen von Tieren stammen, die vorher betäubt wurden. Ebenso konnte festgestellt werden, dass Fleisch von Tieren, die ohne Betäubung geschlachtet wurden, auf dem herkömmlichen Vertriebsweg vermarktet wurde, ohne dass die Verbraucher darüber informiert wurden. … Letzten Endes sagt die Anbringung einer Kennzeichnung ‚halal‘ auf Erzeugnissen sehr wenig über eine vorherige Betäubung bei der Schlachtung und gegebenenfalls über das gewählte Betäubungsverfahren aus“.


12      C‑243/19, EU:C:2020:325, Nr. 5.


13      Ich gebe zu, dass sich dieser Ansatz – dem die notwendige Achtung unterschiedlicher religiöser Ansichten und Traditionen als ein unverzichtbares Merkmal der in Art. 10 Abs. 1 der Charta enthaltenen Garantie der Religionsfreiheit zu Grunde liegt – nicht ganz so leicht mit der Tatsache vereinbaren lässt, dass Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 als Abweichung von Art. 4 Abs. 1 eng auszulegen ist.


14      Vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts Wahl in der Rechtssache Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen u. a. (C‑426/16, EU:C:2017:926, Nr. 57). Vgl. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR), gemeinsames Sondervotum der Richter Bratza, Fischbach, Thomassen, Tsatsa-Nikolovska, Panţîru, Levits und Traja in der Rechtssache Cha’are Shalom Ve Tsedek/Frankreich (EGMR, 20. Juni 2000, CE:ECHR:2000:0627JUD002741795, § 1), in dem sie feststellen, dass „es zwar Spannungen geben kann, wenn eine Gemeinschaft, insbesondere eine Religionsgemeinschaft, gespalten ist, dies jedoch eine unvermeidlichen Folge der erforderlichen Achtung des Pluralismus ist. In einer solchen Situation besteht die Aufgabe der Behörden nicht darin, die Ursache von Spannungen durch Beseitigung des Pluralismus auszuräumen, sondern vielmehr alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die konkurrierenden Gruppen einander tolerieren“. Der EGMR hat in seinem Urteil vom 17. März 2014, Vartic/Rumänien (CE:ECHR:2013:1217JUD001415008) in Rn. 34 festgestellt, dass „[die] Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit Ansichten bezeichnet, die ein bestimmtes Maß an Überzeugungskraft, Ernsthaftigkeit, Zusammenhalt und Bedeutung beinhalten … Dennoch hat der Gerichtshof entschieden, dass die Pflicht des Staates zur Neutralität und Unparteilichkeit, wie sie in seiner Rechtsprechung definiert ist, … unvereinbar ist mit einer Befugnis seitens des Staates, die Legitimität religiöser Überzeugungen zu beurteilen …“


15      Diese Berücksichtigung religiöser Überzeugungen wird durch die im angefochtenen Dekret enthaltene Ausnahmeregelung für die umkehrbare Betäubung ohne Tötung des Tieres und die Betäubung von Rindern nach dem Halsschnitt belegt.


16      Das vorlegende Gericht hat in seinem Vorabentscheidungsersuchen ausgeführt, dass aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift hervorgehe, dass der flämische Gesetzgeber von dem Grundsatz ausgegangen sei, dass das Schlachten ohne Betäubung dem Tier vermeidbare Leiden verursache. Mit dem angefochtenen Dekret habe der Gesetzgeber daher beabsichtigt, das Wohlergehen der Tiere zu fördern. Darüber hinaus sei dem flämischen Gesetzgeber bewusst gewesen, dass das angefochtene Dekret die Religionsfreiheit beeinträchtige; er habe versucht, ein Gleichgewicht zwischen dem Ziel der Verbesserung des Tierschutzes einerseits und der Achtung der Religionsfreiheit andererseits herzustellen.


17      Vgl. Urteile vom 29. Mai 2018, Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen u. a. (C‑426/16, EU:C:2018:335, Rn. 53 und 55 bis 57), und vom 26. Februar 2019, Œuvre d’assistance aux bêtes d’abattoirs (C‑497/17, EU:C:2019:137, Rn. 48).


18      Im Urteil vom 14. März 2017, G4S Secure Solutions (C‑157/15, EU:C:2017:203, Rn. 27), hat der Gerichtshof festgestellt, dass das in Art. 10 Abs. 1 der Charta garantierte Recht, wie sich aus den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) ergibt, dem durch Art. 9 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) garantierten Recht entspricht und es nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und die gleiche Tragweite wie dieses hat. Nach ständiger Rechtsprechung stellt die EMRK, solange die Union ihr nicht beigetreten ist, kein Rechtsinstrument dar, das formell in die Unionsrechtsordnung übernommen worden ist. Daher ist die Prüfung der Gültigkeit der Verordnung Nr. 1099/2009 allein anhand der durch die Charta garantierten Grundrechte vorzunehmen. Vgl. Urteil vom 28. Juli 2016, Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a. (C‑543/14, EU:C:2016:605, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).


19      Es handelt sich dabei um einen Betrieb, der der Genehmigung durch die zuständigen nationalen Behörden bedarf und der für diese Zwecke die technischen Anforderungen an Bau, Konzeption und Ausrüstung gemäß der Verordnung (EG) Nr. 853/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 mit spezifischen Hygienevorschriften für Lebensmittel tierischen Ursprungs (ABl. 2004, L 139, S. 55, und Berichtigung, ABl. 2004, L 226, S. 22) einhält.


20      Urteil vom 29. Mai 2018, Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen u. a. (C‑426/16, EU:C:2018:335, Rn. 56).


21      Urteil vom 26. Februar 2019, Œuvre d’assistance aux bêtes d’abattoirs  (C‑497/17, EU:C:2019:137, Rn. 48). Der Gerichtshof hat in Rn. 49 dieses Urteils darauf hingewiesen, dass „es … im 43. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1099/2009 zwar heißt, dass bei der Schlachtung ohne Betäubung ein präziser Halsschnitt mit einem scharfen Messer erforderlich ist, damit das Tier ‚nicht so lange‘ leiden muss, eine solche Technik es jedoch nicht erlaubt, das Leiden der Tiere ‚so gering wie möglich‘ … zu halten“.


22      Vgl. 18. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1099/2009.


23      Vgl. entsprechend Urteil des EGMR vom 27. Juni 2000, Cha’are Shalom Ve Tsedek/Frankreich (CE:ECHR:2000:0627JUD002741795, §§ 76 und 77), in dem die Große Kammer des EGMR ausgeführt hat, „dass das französische Recht durch die Einführung einer Ausnahme von der Verpflichtung, Tiere vor der Schlachtung zu betäuben, der positivrechtlichen Verpflichtung des Staates, die Achtung der Religionsfreiheit zu garantieren, praktische Wirkung verliehen hat. Das Dekret von 1980 schränkt die Ausübung dieser Freiheit keineswegs ein, sondern ist vielmehr darauf angelegt, ihre freie Ausübung zu normieren und zu organisieren. Der Gerichtshof ist ferner der Ansicht, dass die Tatsache, dass die Ausnahmevorschriften zur Regelung der Vornahme des rituellen Schlachtens nur rituellen Schlachtern, die von zugelassenen religiösen Körperschaften hierzu ermächtigt wurden, diese Schlachtung erlauben, an sich nicht zu der Schlussfolgerung führt, dass ein Eingriff in die Freiheit der Religionsausübung vorliegt. Der Gerichtshof ist ebenso wie die Regierung der Auffassung, dass es im allgemeinen Interesse liegt, ungeregelte und ohne ausreichende Hygiene vorgenommene Schlachtungen zu vermeiden, und dass es daher im Fall von rituellen Schlachtungen vorzuziehen ist, diese in Schlachthöfen durchzuführen, die von den staatlichen Behörden überwacht werden“.


24      Da dieses Erfordernis keine Begrenzung oder Einschränkung der in Art. 10 Abs. 1 der Charta anerkannten Religionsfreiheit darstellt, bedarf es keiner Prüfung anhand der drei in Art. 52 Abs. 1 der Charta festgelegten Kriterien. Nach diesen Kriterien muss eine Einschränkung, wie etwa der Ausübung der Religionsfreiheit, i) gesetzlich vorgesehen sein, ii) den Wesensgehalt der Freiheit achten und iii) den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, nach dem Einschränkungen nur vorgenommen werden dürfen, wenn sie erforderlich sind, wahren und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. Auch wenn die Erfüllung der drei Kriterien bei manchen Sachverhalten nicht einfach ist, geht aus den Ausführungen des Gerichtshofs in den Rn. 58 ff. des Urteils vom 29. Mai 2018, Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen u. a. (C‑426/16, EU:C:2018:335), meiner Ansicht nach doch klar hervor, dass die Anforderung, dass die rituelle Schlachtung in einem Schlachthof stattfinden muss, diese drei Kriterien erfüllt hätte, wenn sie als eine Einschränkung angesehen worden wäre.


25      Dies bedeutet nicht, dass die rituelle Schlachtung nach der Verordnung Nr. 1099/2009 keinen anderen Bedingungen unterläge, um das Leiden von Tieren zum Zeitpunkt des Todes zu begrenzen. Wie Generalanwalt Wahl in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Œuvre d’assistance aux bêtes d’abattoirs (C‑497/17, EU:C:2018:747, Nrn. 79 und 80), ausgeführt hat, muss die rituelle Schlachtung von Tieren gemäß Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 „unter Bedingungen durchgeführt werden, die eine Begrenzung des Leidens der Tiere sicherstellen“. So heißt es im 2. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1099/2009 insbesondere, dass die „Unternehmer oder jede an der Tötung von Tieren beteiligte Person … die erforderlichen Maßnahmen ergreifen [sollten], um Schmerzen zu vermeiden und den Stress und das Leiden für die Tiere beim Schlachten und bei der Tötung so gering wie möglich zu halten, wobei sie einschlägige bewährte Verfahren und die gemäß dieser Verordnung erlaubten Methoden beachten“. Im 43. Erwägungsgrund dieser Verordnung heißt es, dass „[b]ei der Schlachtung ohne Betäubung ein präziser Halsschnitt mit einem scharfen Messer erforderlich [ist], damit das Tier nicht so lange leiden muss“. Außerdem sollten die Tiere gemäß Art. 9 Abs. 3 und Art. 15 Abs. 2 Unterabs. 1 der Verordnung einzeln und erst dann ruhig gestellt werden, „wenn die mit der Betäubung oder Entblutung beauftragte Person bereitsteht, um die Tiere so rasch wie möglich zu betäuben oder zu entbluten“. Schließlich heißt es in Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1099/2009, dass, wenn „Tiere für die Zwecke des Artikels 4 Absatz 4 ohne vorherige Betäubung getötet [werden], so müssen die für die Schlachtung zuständigen Personen systematische Kontrollen durchführen, um sicherzustellen, dass die Tiere keine Anzeichen von Wahrnehmung oder Empfindung aufweisen, bevor ihre Ruhigstellung beendet wird, und kein Lebenszeichen aufweisen, bevor sie zugerichtet oder gebrüht werden“.


26      Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn es um eine Ausnahme von der sehr strikten und eindeutigen Regel des Art. 4 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 geht.


27      Beispielsweise hat die Kommission in ihren Erklärungen gegenüber dem Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die Statistiken über die Schlachtung von Tieren in Flandern zwischen 2010 und 2016, die während des Gesetzgebungsverfahrens, das zum Erlass des angefochtenen Dekrets führte, vorgelegt wurden, „eindeutig darauf hindeuten, dass ein großer Anteil des Fleisches aus rituellen Schlachtungen ohne Betäubung wahrscheinlich in die normale Nahrungskette gelangt ist, für die selbstverständlich keine religiösen ‚Anforderungen‘ gelten“. Der Grund dafür sei wirtschaftlicher Art. Die Schlachtindustrie habe ein Interesse daran, den Endverbleib des Fleisches von einem ohne Betäubung geschlachteten Tier so offen wie möglich zu halten und beispielsweise bestimmte billigere Teile des Tieres auf dem Halal-Markt anzubieten (z. B. in Form von Merguez-Würsten), während andere teurere Teile (wie das Filet) in die reguläre Lebensmittelkette gelangten. Darüber hinaus werde in der Regel etwa die Hälfte eines geschlachteten Tieres abgelehnt, weil es die Anforderungen an koscheres Fleisch nicht erfülle, so dass dieses Fleisch aller Wahrscheinlichkeit nach in die reguläre Lebensmittelkette gelange.


28      Diese Begriffe sind nicht definiert. Ich habe jedoch keinen Zweifel daran, dass das angefochtene Dekret, indem es die vorherige umkehrbare Betäubung von Tieren oder die Betäubung von Rindern nach dem Halsschnitt vorschreibt, einen umfassenderen Schutz als Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 bietet und damit grundsätzlich unter Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c dieser Verordnung fällt.


29      Vgl. die Verwendung des Begriffs „damit zusammenhängende Tätigkeiten“. Ich möchte darauf hinweisen, dass dieser Begriff, der sich auch auf den Umgang mit dem Tier zum Zeitpunkt der Schlachtung bezieht, sehr weit gefasst ist und sich keineswegs auf die „Betäubung“ von Tieren beschränkt oder in erster Linie darauf abzielt.


30      Dies würde die praktische Wirksamkeit der Ausnahmeregelung gemäß Art. 4 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 untergraben.


31      Vgl. auch den 57. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1099/2009, in dem darauf verwiesen wird, dass es „angebracht [ist], den Mitgliedstaaten eine gewisse Flexibilität einzuräumen, was die Beibehaltung oder in bestimmten spezifischen Bereichen den Erlass umfassenderer nationaler Vorschriften anbelangt“ (Hervorhebung nur hier).


32      Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht, vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht, zudem hervor, dass trotz der erheblichen Bemühungen des flämischen Gesetzgebers, durch die Einführung der Ausnahmen in Bezug auf die vorherige umkehrbare Betäubung, die nicht zum Tod des Tieres führt, oder die Betäubung nach Halsschnitt im Falle von Rindern die Auffassungen der muslimischen und jüdischen Gemeinschaften so weit wie möglich zu berücksichtigen, dies für einige Vertreter dieser Gemeinschaften nicht ausreichend ist, um die Grundprinzipien der betreffenden religiösen Riten zu erfüllen.


33      Und daher contra legem wäre.


34      Im 18. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1099/2009 heißt es, dass „mit dieser Verordnung die Religionsfreiheit … geachtet [wird], wie dies in Art. 10 der [Charta] verankert ist“.


35      Und in der Tat nach dem Subsidiaritätsprinzip. Es ist offenkundig, dass der Unionsgesetzgeber keine vollständige Harmonisierung dieser speziellen Angelegenheit beabsichtigt hat.


36      Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass viele Mitgliedstaaten die Begriffe „umfassenderer Schutz“ oder „strengere nationale Vorschriften“ dahin ausgelegt haben, dass sie zusätzliche technische Anforderungen an die Art und Weise der Schlachtung von Tieren, vor allem durch die Vorgabe einer vorherigen oder nachträglichen Betäubung, stellen können. Ich bin der Ansicht, dass sich ein umfassenderer Schutz oder solche Vorschriften auch auf Maßnahmen beziehen können, die nicht speziell auf die Art und Weise der Schlachtung einzelner Tiere ausgerichtet sind, sondern auf Maßnahmen, mit denen sichergestellt werden soll, dass die Zahl der Tiere, die gemäß der in Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 enthaltenen Ausnahmeregelung geschlachtet wird, nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um die Ernährungsbedürfnisse bestimmter religiöser Gruppen zu befriedigen. Insoweit gibt es zugegebenermaßen eine gewisse begriffliche Überschneidung zwischen Art. 4 Abs. 4 und Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009. Dies ist zweifellos darauf zurückzuführen, dass die erstere Bestimmung recht vage ist. Klar ist aber, dass die Substanz dieser Riten – die für viele Anhänger sowohl des jüdischen als auch des islamischen Glaubens ein wesentlicher Bestandteil ihrer religiösen Tradition und Erfahrung sind – nach der Verordnung Nr. 1099/2009 in der Auslegung gemäß Art. 10 Abs. 1 der Charta geschützt werden muss.


37      Beispiele für solche technischen Maßnahmen sind in Nr. 69 dieser Schlussanträge aufgeführt. Eine wünschenswerte Rechtsänderung könnte auch in der Kennzeichnung der betreffenden Erzeugnisse bestehen, um die Verbraucher eindeutig darüber zu informieren, dass das Fleisch von einem Tier stammt, das nicht betäubt wurde. Eine Angabe, dass Fleisch koscher oder halal ist, richtet sich nur an bestimmte religiöse Gruppen und nicht an alle Verbraucher von Tiererzeugnissen und ist deshalb meines Erachtens in dieser Hinsicht nicht ausreichend. Siehe Nrn. 80 und 81 dieser Schlussanträge.


38      Vgl. entsprechend Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1924/2006 und (EG) Nr. 1925/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 87/250/EWG der Kommission, der Richtlinie 90/496/EWG des Rates, der Richtlinie 1999/10/EG der Kommission, der Richtlinie 2000/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, der Richtlinien 2002/67/EG und 2008/5/EG der Kommission und der Verordnung (EG) Nr. 608/2004 der Kommission (ABl. 2011, L 304, S. 18), in dem es heißt: „Die Bereitstellung von Informationen über Lebensmittel dient einem umfassenden Schutz der Gesundheit und Interessen der Verbraucher, indem Endverbrauchern eine Grundlage für eine fundierte Wahl und die sichere Verwendung von Lebensmitteln unter besonderer Berücksichtigung von gesundheitlichen, wirtschaftlichen, umweltbezogenen, sozialen und ethischen Gesichtspunkten geboten wird“ (Hervorhebung nur hier). Die Rolle von ethischen Erwägungen bei der Kennzeichnung von Lebensmitteln im Rahmen der Verordnung Nr. 1169/2011 ist vom Gerichtshof in seinem Urteil vom 12. November 2019, Organisation juive européenne und Vignoble Psagot (C‑363/18, EU:C:2019:954), und von mir in meinen Schlussanträgen in dieser Rechtssache (C‑363/18, EU:C:2019:494) erörtert worden.


39      Sowohl derer, deren Religion das rituelle Schlachten verlangt, als auch derer, die religiöse, gewissenhafte oder moralische Einwände gegen das Schlachten von Tieren ohne Betäubung haben.


40      In ihrem gemeinsamen Sondervotum in der Rechtssache Cha’are Shalom Ve Tsedek/Frankreich (EGMR, 20. Juni 2000, CE:ECHR:2000:0627JUD002741795) haben die Richter Bratza, Fischbach, Thomassen, Tsatsa-Nikolovska, Panţîru, Levits und Traja die Ansicht vertreten, dass die bloße Tatsache, dass einer religiösen Einrichtung bereits eine Genehmigung zur Durchführung einer rituellen Schlachtung erteilt worden sei, die französischen Behörden nicht von der Verpflichtung entbinde, spätere Anträge anderer religiöser Einrichtungen, die sich zur selben Religion bekennten, sorgfältig zu prüfen. Die Verweigerung der Genehmigung gegenüber der antragstellenden Vereinigung, während einer anderen Vereinigung eine solche Genehmigung erteilt werde, wodurch diese Vereinigung das ausschließliche Recht zur Zulassung ritueller Schlachter erhalte, verstoße gegen die Gewährleistung eines religiösen Pluralismus und den Grundsatz, dass die eingesetzten Mittel und das verfolgte Ziel in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen müssten. Daraus, dass „glattes“ Fleisch (das geschlachtete Tier darf keine Unreinheiten aufweisen) aus Belgien nach Frankreich eingeführt werden könne, lasse sich nicht ableiten, dass kein Eingriff in das Recht, seine Religion durch den Ritus der rituellen Schlachtung auszuüben, vorliege. Die Möglichkeit, solches Fleisch auf anderem Wege zu erhalten, sei unerheblich für die Beurteilung der Frage, welche Tragweite eine staatliche Handlung oder Unterlassung habe, mit der die Ausübung des Rechts auf Religionsfreiheit eingeschränkt werden solle.