Language of document : ECLI:EU:C:2021:942

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA

vom 18. November 2021(1)

Rechtssache C140/20

G. D.

gegen

The Commissioner of the Garda Síochána,

Minister for Communications, Energy and Natural Resources,

Attorney General

(Vorabentscheidungsersuchen des Supreme Court [Oberster Gerichtshof, Irland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Telekommunikation – Verarbeitung personenbezogener Daten – Vertraulichkeit der Kommunikation – Betreiber elektronischer Kommunikationsdienste – Richtlinie 2002/58/EG – Art. 15 Abs. 1 – Art. 4 Abs. 2 EUV – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 7, 8, 11 und 52 Abs. 1 – Allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten – Zugang zu den gespeicherten Daten – Verwendung der gespeicherten Daten als Beweis in Strafverfahren“






1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen – zu dem die verbundenen Rechtssachen C‑793/19, SpaceNet, und C‑794/19, Telekom Deutschland, hinzukommen, für die ich ebenfalls am heutigen Tag meine Schlussanträge(2) vortragen werde – zeigt erneut die Besorgnis, die die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Vorratsspeicherung und zum Zugang zu personenbezogenen Daten im Bereich der elektronischen Kommunikation bei einigen Mitgliedstaaten hervorgerufen hat.

2.        In meinen Schlussanträgen in den Rechtssachen C‑511/18 und C‑512/18, La Quadrature du Net u. a.(3), und C‑520/18, Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a.(4), habe ich die folgenden Urteile als die wichtigsten bisherigen Beispiele für diese Rechtsprechung angeführt:

–        das Urteil vom 8. April 2014, Digital Rights Ireland u. a.(5), in dem der Gerichtshof die Richtlinie 2006/24/EG(6) für ungültig erklärt hat, weil sie einen unverhältnismäßigen Eingriff in die in den Art. 7 und 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerten Rechte zuließ;

–        das Urteil vom 21. Dezember 2016, Tele2 Sverige und Watson u. a.(7), in dem der Gerichtshof festgestellt hat, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58/EG(8) einer nationalen Regelung entgegensteht, die die allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten zur Bekämpfung schwerer Kriminalität vorsieht;

–        das Urteil vom 2. Oktober 2018, Ministerio Fiscal(9), in dem der Gerichtshof die Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 bestätigt und die insoweit zu beachtende Bedeutung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit hervorgehoben hat.

3.        Im Jahr 2018 äußerten einige Gerichte bestimmter Mitgliedstaaten in Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof ihre Besorgnis, dass den staatlichen Stellen infolge dieser Urteile (aus den Jahren 2014, 2016 und 2018) ein für den Schutz der nationalen Sicherheit und für die Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus notwendiges Instrument vorenthalten werde.

4.        Vier dieser Vorabentscheidungsersuchen führten zu den Urteilen Privacy International(10) und La Quadrature du Net u. a.(11), beide vom 6. Oktober 2020, die im Wesentlichen das Urteil Tele2 Sverige bestätigten, jedoch auch Ergänzungen einführten.

5.        Aufgrund des Spruchkörpers (Große Kammer des Gerichtshofs) und des Inhalts der Urteile sowie aufgrund des Bestrebens des Gerichtshofs, im Dialog mit den vorlegenden Gerichten ausführlich die Gründe für die in den Urteilen enthaltenen Entscheidungen zu erläutern, wäre zu erwarten gewesen, dass diese beiden „zusammenfassenden“ Urteile vom 6. Oktober 2020 der Debatte ein Ende gesetzt haben. Bei jedem weiteren Vorabentscheidungsersuchen zu dem gleichen Gegenstand müsste daher ein mit Gründen versehener Beschluss gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ergehen.

6.        Bis zum 6. Oktober 2020 gingen jedoch drei weitere Vorabentscheidungsersuchen (das der vorliegenden Rechtssache zugrunde liegende sowie die den verbundenen Rechtssachen C‑793/19 und C‑794/19 zugrunde liegenden) beim Gerichtshof ein, mit denen die ständige Rechtsprechung zu Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 erneut in Frage gestellt wurde.

7.        Der Gerichtshof hat die vorlegenden Gerichte über die Urteile vom 6. Oktober 2020 informiert für den Fall, dass sie ihre jeweiligen Vorabentscheidungsersuchen zurückziehen wollten. Da sie, wie ich nachstehend ausführen werde(12), darauf bestehen, sie aufrechtzuerhalten, ist beschlossen worden, dass Art. 99 der Verfahrensordnung nicht zur Anwendung kommt und dass die Große Kammer des Gerichtshofs die Vorabentscheidungsersuchen beantwortet.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht. Richtlinie 2002/58

8.        Art. 5 („Vertraulichkeit der Kommunikation“) Abs. 1 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten stellen die Vertraulichkeit der mit öffentlichen Kommunikationsnetzen und öffentlich zugänglichen Kommunikationsdiensten übertragenen Nachrichten und der damit verbundenen Verkehrsdaten durch innerstaatliche Vorschriften sicher. Insbesondere untersagen sie das Mithören, Abhören und Speichern sowie andere Arten des Abfangens oder Überwachens von Nachrichten und der damit verbundenen Verkehrsdaten durch andere Personen als die Nutzer, wenn keine Einwilligung der betroffenen Nutzer vorliegt, es sei denn, dass diese Personen gemäß Artikel 15 Absatz 1 gesetzlich dazu ermächtigt sind. Diese Bestimmung steht – unbeschadet des Grundsatzes der Vertraulichkeit – der für die Weiterleitung einer Nachricht erforderlichen technischen Speicherung nicht entgegen.“

9.        Art. 6 („Verkehrsdaten“) sieht vor:

„(1)      Verkehrsdaten, die sich auf Teilnehmer und Nutzer beziehen und vom Betreiber eines öffentlichen Kommunikationsnetzes oder eines öffentlich zugänglichen Kommunikationsdienstes verarbeitet und gespeichert werden, sind unbeschadet der Absätze 2, 3 und 5 des vorliegenden Artikels und des Artikels 15 Absatz 1 zu löschen oder zu anonymisieren, sobald sie für die Übertragung einer Nachricht nicht mehr benötigt werden.

(2)      Verkehrsdaten, die zum Zwecke der Gebührenabrechnung und der Bezahlung von Zusammenschaltungen erforderlich sind, dürfen verarbeitet werden. Diese Verarbeitung ist nur bis zum Ablauf der Frist zulässig, innerhalb deren die Rechnung rechtlich angefochten oder der Anspruch auf Zahlung geltend gemacht werden kann.

…“

10.      In Art. 15 („Anwendung einzelner Bestimmungen der Richtlinie 95/46/EG“)(13) Abs. 1 heißt es:

„Die Mitgliedstaaten können Rechtsvorschriften erlassen, die die Rechte und Pflichten gemäß Artikel 5, Artikel 6, Artikel 8 Absätze 1, 2, 3 und 4 sowie Artikel 9 dieser Richtlinie beschränken, sofern eine solche Beschränkung gemäß Artikel 13 Absatz 1 der Richtlinie 95/46/EG für die nationale Sicherheit, (d. h. die Sicherheit des Staates), die Landesverteidigung, die öffentliche Sicherheit sowie die Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten oder des unzulässigen Gebrauchs von elektronischen Kommunikationssystemen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, angemessen und verhältnismäßig ist. Zu diesem Zweck können die Mitgliedstaaten unter anderem durch Rechtsvorschriften vorsehen, dass Daten aus den in diesem Absatz aufgeführten Gründen während einer begrenzten Zeit aufbewahrt werden. Alle in diesem Absatz genannten Maßnahmen müssen den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts einschließlich den in Artikel 6 Absätze 1 und 2 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegten Grundsätzen entsprechen.“

B.      Nationales Recht. Communications (Retention of Data) Act 2011 (Gesetz über die Kommunikation [Vorratsdatenspeicherung] von 2011, im Folgenden: Gesetz von 2011)

11.      In Rn. 3 seines Vorlagebeschlusses erläutert der Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland) die nationalen Rechtsvorschriften wie folgt:

–        „Das Gesetz von 2011 wurde mit dem ausdrücklichen Ziel erlassen, die Richtlinie [2006/24] umzusetzen.

–        Section 3 des Gesetzes verpflichtet alle Diensteanbieter, ‚die Festnetztelefonie- und Mobilfunkdaten‘ für einen Zeitraum von zwei Jahren auf Vorrat zu speichern.

–        Dabei handelt es sich um Daten, die die Herkunft, das Ziel, das Datum und die Uhrzeit des Beginns und des Endes einer Verbindung, die Art der Kommunikation sowie die Art und den geografischen Standort der verwendeten Kommunikationsgeräte identifizieren. Der Inhalt von Mitteilungen fällt nicht unter diese Art von Daten.

–        Zugang zu und Auskunft über die auf Vorrat gespeicherten Daten kann mit einer Auskunftsanfrage (,disclosure request‘) erlangt werden. Section 6 des Gesetzes von 2011 legt die Voraussetzungen fest, unter denen eine Auskunftsanfrage gestellt werden kann. Nach Subsection (1) kann ein Mitglied der An Garda Síochána (Nationalpolizei, Irland), das mindestens den Rang eines Chief Superintendent (leitender Superintendent) innehat, einen Auskunftsantrag stellen, wenn es davon überzeugt ist, dass die Daten u. a. zur Verhütung, Ermittlung Feststellung und Verfolgung einer schweren Straftat erforderlich sind. Eine ‚schwere Straftat‘ ist definiert als eine Straftat, die mit mindestens fünf Jahren Freiheitsentzug bedroht oder in Schedule 1 dieses Gesetzes aufgeführt ist.

–        Zu den im Gesetz von 2011 festgelegten Kontrollmechanismen gehören das in Section 10 des Gesetzes beschriebene Beschwerdeverfahren sowie die Aufgaben eines ‚benannten Richters‘ (‚designated judge‘) gemäß Section 12, der die Anwendung der Bestimmungen dieses Gesetzes zu überwachen hat.

–        … Der Leiter der An Garda Síochána – der Garda Commissioner – hat intern bestimmt, dass gemäß dem Gesetz von 2011 gestellte Anfragen auf Auskunft über Telefoniedaten zentralisiert und von einem einzigen Chief Superintendent zu bearbeiten sind. Der Detective Chief Superintendent, dem diese Zuständigkeit zugewiesen wurde, war der Leiter der Sicherheits- und Geheimdienstabteilung der An Garda Síochána, und die Entscheidung, ob eine Auskunftsanfrage gemäß den Bestimmungen des Gesetzes von 2011 an die Anbieter von Kommunikationsdiensten gerichtet wird, liegt letztlich bei ihm. Um den Detective Chief Superintendent bei seinen Aufgaben zu unterstützen, wurde als zentrale Kontaktstelle für die Diensteanbieter eine kleine, unabhängige Stelle eingerichtet, die als Telecommunications Liaison Unit (Koordinationsstelle für Telekommunikation, im Folgenden: TLU) bekannt ist.

–        Zu der für das vorliegende Verfahren maßgeblichen Zeit mussten alle Auskunftsanfragen zunächst von einem Superintendenten (oder einem in dieser Eigenschaft handelnden Inspektor) genehmigt werden und wurden dann zur Bearbeitung an die TLU weitergeleitet. Die Ermittler waren angewiesen, die Anfrage mit ausreichend detaillierten Informationen zu versehen, um eine fundierte Entscheidung zu ermöglichen, und zu bedenken, dass der Chief Superintendent die Entscheidung möglicherweise später vor Gericht oder vor dem benannten Richter des High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) rechtfertigen muss. Sowohl die TLU als auch der Detective Chief Superintendent sind verpflichtet, die Rechtmäßigkeit, Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit der Auskunftsanfragen von Mitgliedern der An Garda Síochána zu überprüfen. Anfragen, bei denen davon ausgegangen wurde, dass sie nicht den Anforderungen des Gesetzes oder der internen polizeilichen Richtlinien entsprachen, wurden zur Klarstellung oder zur Ergänzung um zusätzliche Informationen zurückgeschickt. In einem im Mai 2011 herausgegebenen Memorandum of Unterstanding heißt es, dass Diensteanbieter keine Anfragen zu Verkehrsdaten bearbeiten würden, die diesen Prozess nicht durchlaufen hätten. Die TLU unterliegt außerdem der Prüfung durch den Data Protection Commissioner (Datenschutzbeauftragter).“

12.      Anhang I des Vorlagebeschlusses enthält die folgenden zusätzlichen Erläuterungen zum Inhalt des Gesetzes von 2011:

–        Section 1 des Gesetzes von 2011 definiert „Daten“ als „Verkehrs- oder Standortdaten und die damit in Zusammenhang stehenden Daten, die zur Feststellung des Teilnehmers oder Nutzers erforderlich sind“.

–        Section 6(1) des Gesetzes von 2011 ermächtigt einen Polizeibeamten, unter den oben genannten Bedingungen auf diese Daten zuzugreifen, wenn er davon überzeugt ist, dass die Daten benötigt werden für: „a) die Verhütung, Aufdeckung, Untersuchung oder Verfolgung einer schweren Straftat; b) den Schutz der Sicherheit des Staates; und c) die Rettung von Menschenleben“.

II.    Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen

13.      Im Jahr 2015 wurde G. D. wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Während des Berufungsverfahrens beim Irish Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland) bestritt G. D. erfolglos die Zulässigkeit bestimmter Beweise der Anklage, die auf Telefoniedaten basierten, die gemäß den nationalen Vorschriften auf Vorrat gespeichert worden waren.

14.      Parallel zum strafrechtlichen Berufungsverfahren strengte G. D. ein Zivilverfahren(14) beim High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) an, um bestimmte Vorschriften des Gesetzes von 2011 anzufechten, auf deren Grundlage diese Telefonie-Metadaten auf Vorrat gespeichert worden waren und der Zugang zu diesen Daten erfolgt war.

15.      Mit Entscheidung vom 6. Dezember 2018 gab der High Court (Hoher Gerichtshof) der Klage von G. D. auf Feststellung, dass Section 6(1)(a) des Gesetzes von 2011 gegen Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58, ausgelegt im Licht der Art. 7, 8 und 52 Abs. 1 der Charta, verstößt, statt.

16.      Die irische Regierung hat dagegen ein Rechtsmittel beim Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland) eingelegt, der dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorlegt:

1.      Verstößt eine allgemeine/universelle Regelung über die Vorratsdatenspeicherung – auch wenn die Speicherung und der Zugang strengen Beschränkungen unterliegen – per se gegen Art. 15 der Richtlinie 2002/58, ausgelegt im Licht der Charta?

2.      Darf ein nationales Gericht bei der Prüfung der Frage, ob eine gemäß der Richtlinie 2006/24 umgesetzte nationale Maßnahme, die eine allgemeine Regelung für die Vorratsspeicherung von Daten vorsieht (mit den notwendigen strengen Kontrollen in Bezug auf die Vorratsspeicherung und/oder den Zugang), für mit dem Unionsrecht unvereinbar zu erklären ist, und insbesondere bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer solchen Regelung berücksichtigen, dass Diensteanbieter Daten für ihre eigenen kommerziellen Zwecke rechtmäßig auf Vorrat speichern dürfen und aus Gründen der nationalen Sicherheit, die nicht unter die Richtlinie 2002/58 fallen, möglicherweise auf Vorrat speichern müssen?

3.      Welche Kriterien muss ein nationales Gericht bei der Beurteilung der Vereinbarkeit einer nationalen Regelung über den Zugang zu auf Vorrat gespeicherten Daten mit dem Unionsrecht und insbesondere mit den in der Charta verankerten Rechten anwenden, wenn es prüft, ob eine solche Zugangsregelung die erforderliche unabhängige vorherige Kontrolle, wie sie der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung festgelegt hat, vorsieht? Kann ein nationales Gericht in diesem Zusammenhang bei einer solchen Beurteilung das Vorhandensein einer nachträglichen gerichtlichen oder unabhängigen Kontrolle berücksichtigen?

4.      Ist jedenfalls ein nationales Gericht verpflichtet, die Unvereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit Art. 15 der Richtlinie 2002/58 festzustellen, wenn die nationale Maßnahme eine allgemeine Regelung für die Vorratsspeicherung von Daten zum Zwecke der Bekämpfung schwerer Straftaten vorsieht und das nationale Gericht anhand aller verfügbaren Beweise zu dem Schluss gelangt ist, dass eine solche Vorratsspeicherung für die Erreichung des Ziels der Bekämpfung schwerer Straftaten sowohl wesentlich als auch zwingend erforderlich ist?

5.      Wenn ein nationales Gericht feststellen muss, dass eine nationale Maßnahme mit Art. 15 der Richtlinie 2002/58, ausgelegt im Licht der Charta, unvereinbar ist, darf es dann die zeitliche Wirkung einer solchen Feststellung beschränken, wenn es sich davon überzeugt hat, dass es andernfalls zu „daraus resultierendem Chaos und einer Schädigung des öffentlichen Interesses“ käme (im Einklang mit dem Ansatz, der etwa im Urteil R [National Council for Civil Liberties] v Secretary of State for Home Department und Secretary of State for Foreign Affairs [2018] EWHC 975, Rn. 46, verfolgt wurde)?

6.      Darf ein nationales Gericht, bei dem im Rahmen eines Verfahrens, das eingeleitet wurde, um Argumente zur Frage der Zulässigkeit von Beweisen in einem Strafverfahren zu stützen, oder in einem anderen Zusammenhang beantragt wird, die Unvereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften mit Art. 15 der Richtlinie 2002/58 festzustellen und/oder diese Rechtsvorschriften unangewendet zu lassen und/oder festzustellen, dass die Rechte eines Einzelnen durch die Anwendung dieser Rechtsvorschriften verletzt wurden, einen solchen Antrag in Bezug auf Daten zurückweisen, die gemäß der nationalen Bestimmung, die aufgrund der Verpflichtung nach Art. 288 AEUV zur getreuen Umsetzung der Bestimmungen einer Richtlinie in nationales Recht erlassen wurde, auf Vorrat gespeichert wurden, oder die Wirkung einer solchen Feststellung auf die Zeit nach der Ungültigerklärung der Richtlinie 2006/24 durch den Gerichtshof am 8. April 2014 beschränken?

17.      Der Supreme Court (Oberster Gerichtshof) weist darauf hin, dass die Aufdeckung bestimmter Kategorien von schweren Straftaten und deren Verfolgung durch Beweise wie die im Rahmen des Strafverfahrens gegen G. D. vorgelegten wesentlich beeinflusst werde. Wäre eine universelle Vorratsspeicherung von Metadaten trotz einer robusten Zugangsregelung nicht zulässig, könnten viele dieser schweren Straftaten nicht aufgedeckt oder erfolgreich verfolgt werden.

18.      Insoweit stellt das vorlegende Gericht Folgendes fest:

–        Alternative Formen der Vorratsspeicherung von Daten durch Geotargeting oder ähnliche Maßnahmen seien im Hinblick auf die Erreichung der Ziele der Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung zumindest bei bestimmten Arten von schweren Straftaten ineffizient und könnten darüber hinaus potenziell zu einer Verletzung anderer Rechte des Einzelnen führen.

–        Das Ziel der Vorratsspeicherung von Daten mit geringeren Mitteln als denen einer allgemeinen Vorratsdatenspeicherungsregelung, vorbehaltlich der erforderlichen Garantien, sei nicht praxistauglich.

–        Die Ziele der Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten seien ohne eine allgemeine Regelung über die Vorratsdatenspeicherung erheblich gefährdet.

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

19.      Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 25. März 2020 beim Gerichtshof eingegangen.

20.      G. D., der Commmisioner of the Garda Síochána (Kommissar der Nationalpolizei), die belgische, die dänische, die estnische, die finnische, die französische, die niederländische, die polnische, die portugiesische, die schwedische, die spanische, die tschechische und die zyprische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

21.      Auf die Frage an das vorlegende Gericht, ob es nach dem Erlass des Urteils in der Rechtssache La Quadrature du Net sein Vorabentscheidungsersuchen zurücknehmen wolle, hat es mit am 27. Oktober 2020 eingegangenem Schreiben erklärt, dass es dies nicht beabsichtige(15).

22.      Die mündliche Verhandlung hat gemeinsam mit den verbundenen Rechtssachen C‑793/19, SpaceNet, und C‑794/19, Telekom Deutschland, am 13. September 2021 stattgefunden. An der mündlichen Verhandlung teilgenommen haben die Verfahrensbeteiligten, die schriftliche Erklärungen eingereicht haben (mit Ausnahme der belgischen, der portugiesischen und der tschechischen Regierung), sowie der Europäische Datenschutzbeauftragte.

IV.    Würdigung

A.      Vorbemerkung

23.      Die meisten Verfahrensbeteiligten sind der Auffassung, dass sich die sechs Vorlagefragen des Supreme Court (Oberster Gerichtshof) zu Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 in die folgenden drei Gruppen zusammenfassen lassen:

– Ist eine Regelung der allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung von Daten an sich und insoweit, als sie die Bekämpfung schwerer Kriminalität bezweckt, rechtmäßig (erste, zweite und vierte Vorlagefrage)?

– Welche Voraussetzungen sind für den Zugang zu den gespeicherten Daten zu erfüllen (dritte Vorlagefrage)?

– Ist es möglich, die Wirkungen einer Feststellung der Unvereinbarkeit einer einschlägigen nationalen Regelung mit dem Unionsrecht zeitlich zu beschränken (fünfte und sechste Vorlagefrage)?

24.      Meiner Ansicht nach wurden alle diese Fragen im Urteil La Quadrature du Net sowie im Urteil vom 2. März 2021, Prokuratuur (Voraussetzungen für den Zugang zu Daten über die elektronische Kommunikation), beantwortet(16).

25.      Nachdem der Gerichtshof das vorlegende Gericht über das Urteil La Quadrature du Net in Kenntnis gesetzt hatte, hat dieses äußerst lakonisch geantwortet.

26.      Das vorlegende Gericht erkennt zwar an, dass dieses Urteil zur Klarstellung des Unionsrechts beitrage, weist jedoch darauf hin, dass „sich die Art der Situation, die dem Ausgangsverfahren, in dem der Supreme Court (Oberster Gerichtshof) die Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt hat, zugrunde liegt, deutlich von der Art der Situationen unterscheidet, die den Verfahren zugrunde lagen, in denen jenes Urteil ergangen ist“(17).

27.      Diese Äußerungen des vorlegenden Gerichts, die nach seinem Vorabentscheidungsersuchen erfolgt sind, stellen weder das Urteil La Quadrature du Net in Frage (wie dies einige der an dem Verfahren beteiligten Regierungen getan haben), noch sind sie als Ersuchen um Klarstellung seines Inhalts anzusehen.

28.      Obwohl sich die „Situationen, die den Verfahren zugrunde liegen“(18), über die im Urteil La Quadrature du Net entschieden wurde, von der des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens unterscheiden, ist festzuhalten, dass die in jenem Urteil vom Gerichtshof allgemein aufgestellte Rechtsprechung erga omnes, d. h. bei der Auslegung der Richtlinie 2002/58 für alle Gerichte der Mitgliedstaaten gilt.

29.      In Bezug auf den Zugang zu den gespeicherten Daten vertrete ich außerdem den Standpunkt, dass das Urteil Prokuratuur, das nach der Entscheidung des vorlegenden Gerichts, sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechtzuerhalten, ergangen ist, die dort gestellten Fragen beantwortet.

30.      Ich werde mich daher in den vorliegenden Schlussanträgen, anders als in den Schlussanträgen SpaceNet und Deutsche Telekom(19), darauf beschränken, auf die Folgen einzugehen, die sich für das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen, so wie es ursprünglich eingereicht wurde, aus den Urteilen La Quadrature du Net und Prokuratuur ergeben.

B.      Allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten (erste, zweite und vierte Vorlagefrage)

31.      Das vorlegende Gericht möchte zusammengefasst Folgendes wissen:

–        Steht Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58, ausgelegt im Licht der Charta, einer Regelung zur allgemeinen Vorratsspeicherung von Daten entgegen?

–        Ist es bei der Prüfung einer nationalen Regelung, die eine strengen Kontrollen unterliegende allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsieht, von Bedeutung, dass die Diensteanbieter Daten für ihre eigenen kommerziellen Zwecke rechtmäßig auf Vorrat speichern dürfen und aus Gründen der nationalen Sicherheit zu einer solchen Speicherung verpflichtet werden können?

–        Bleibt es dabei, dass eine nationale Rechtsvorschrift mit Art. 15 der Richtlinie 2002/58 unvereinbar ist, wenn sie die allgemeine Vorratsspeicherung solcher Daten zum Zweck der Bekämpfung schwerer Kriminalität vorschreibt?

32.      Wie ich es auch in den Schlussanträgen SpaceNet und Telekom Deutschland vertrete(20), kann die Antwort auf diese Fragen nicht anders ausfallen als jene, die der Gerichtshof im Urteil La Quadrature du Net, in dem er die einschlägige Rechtsprechung zusammenfasst, gegeben hat.

33.      Ich möchte daher zunächst an die Rechtsprechung des Gerichtshofs erinnern, die in Rn. 168 dieses Urteils wie folgt wiedergegeben wird:

„… Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 … ist im Licht der Art. 7, 8 und 11 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen …, dass er Rechtsvorschriften entgegensteht, die zu den in Art. 15 Abs. 1 genannten Zwecken präventiv eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsehen. Dagegen steht Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie im Licht der Art. 7, 8 und 11 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta Rechtsvorschriften nicht entgegen, die

–        es zum Schutz der nationalen Sicherheit gestatten, den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste aufzugeben, Verkehrs- und Standortdaten allgemein und unterschiedslos auf Vorrat zu speichern, wenn sich der betreffende Mitgliedstaat einer als real und aktuell oder vorhersehbar einzustufenden ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit gegenübersieht, sofern diese Anordnung Gegenstand einer wirksamen, zur Prüfung des Vorliegens einer solchen Situation sowie der Beachtung der vorzusehenden Bedingungen und Garantien dienenden Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle sein kann, deren Entscheidung bindend ist, und sofern die Anordnung nur für einen auf das absolut Notwendige begrenzten, aber im Fall des Fortbestands der Bedrohung verlängerbaren Zeitraum ergeht;

–        zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit auf der Grundlage objektiver und nicht diskriminierender Kriterien anhand von Kategorien betroffener Personen oder mittels eines geografischen Kriteriums für einen auf das absolut Notwendige begrenzten, aber verlängerbaren Zeitraum eine gezielte Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsehen;

–        zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit für einen auf das absolut Notwendige begrenzten Zeitraum eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der IP‑Adressen, die der Quelle einer Verbindung zugewiesen sind, vorsehen;

–        zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zum Schutz der öffentlichen Sicherheit eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der die Identität der Nutzer elektronischer Kommunikationsmittel betreffenden Daten vorsehen;

–        es zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und, a fortiori, zum Schutz der nationalen Sicherheit gestatten, den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste mittels einer Entscheidung der zuständigen Behörde, die einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegt, aufzugeben, während eines festgelegten Zeitraums die ihnen zur Verfügung stehenden Verkehrs- und Standortdaten umgehend zu sichern.

Diese Rechtsvorschriften müssen durch klare und präzise Regeln sicherstellen, dass bei der Speicherung der fraglichen Daten die für sie geltenden materiellen und prozeduralen Voraussetzungen eingehalten werden und dass die Betroffenen über wirksame Garantien zum Schutz vor Missbrauchsrisiken verfügen.“

34.      Im Mittelpunkt der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Richtlinie 2002/58 steht der Gedanke, dass Nutzer elektronischer Kommunikationsmittel grundsätzlich erwarten dürfen, dass ihre Nachrichten und die damit verbundenen Daten anonym bleiben und nicht gespeichert werden, es sei denn, sie haben darin eingewilligt(21).

35.      Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 ermöglicht Ausnahmen von der Verpflichtung zum Schutz der Vertraulichkeit und den entsprechenden Pflichten. Im Urteil La Quadrature du Net geht es um die Frage, wie diese Ausnahmen mit den Grundrechten, deren Ausübung betroffen sein kann, in Einklang zu bringen sind(22).

36.      Nach Auffassung des Gerichtshofs kann die allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten nur durch das Ziel des Schutzes der nationalen Sicherheit gerechtfertigt werden, dessen Bedeutung „die der übrigen von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 erfassten Ziele“ übersteigt(23).

37.      Für diesen Fall (den Fall der nationalen Sicherheit) stellt der Gerichtshof fest, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 im Licht der Art. 7, 8 und 11 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta „einer Rechtsvorschrift, mit der den zuständigen Behörden gestattet wird, den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste aufzugeben, die Verkehrs- und Standortdaten aller Nutzer elektronischer Kommunikationsmittel für begrenzte Zeit zu speichern, grundsätzlich nicht entgegen[steht], sofern hinreichend konkrete Umstände die Annahme zulassen, dass sich der betreffende Mitgliedstaat einer als real und aktuell oder vorhersehbar einzustufenden ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit … gegenübersieht“(24).

38.      Sicherlich führen diese Vorgaben zu einer strengeren Regelung als der, die sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt. Der Umstand, dass die Rechte der Charta, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche „Bedeutung und Tragweite“ wie die Rechte aus der Konvention haben, steht nach Art. 52 Abs. 3 a. E. der Charta nicht dem entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.

39.      Darüber hinaus betrifft die Rechtsprechung des EGMR in seinen Urteilen vom 25. Mai 2021, Big Brother Watch u. a./Vereinigtes Königreich(25) und Centrum för Rättvisa/Schweden(26), sowie in seinem Urteil vom 4. Dezember 2015, Zakharov/Russland(27), Fälle, die, wie in der mündlichen Verhandlung mehrheitlich vertreten worden ist, nicht mit dem im vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen in Rede stehenden vergleichbar sind. Die Entscheidung über den vorliegenden Fall muss durch Anwendung nationaler Rechtsvorschriften erfolgen, die mit der erschöpfenden Regelung der Richtlinie 2002/58 im Sinne ihrer Auslegung durch den Gerichtshof vereinbar sind.

40.      Unabhängig davon, welche Meinung in Bezug auf den Umstand vertreten wird, dass im Urteil La Quadrature du Net die nationale Sicherheit als Grund für eine unter bestimmten Bedingungen mögliche Aufhebung des Verbots der allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten angeführt wird (meiner Ansicht nach sind die vom Gerichtshof gesetzten Grenzen zu weit gefasst), sind die in den Rn. 137 bis 139 dieses Urteils aufgeführten Voraussetzungen zu erfüllen.

41.      Darüber hinaus ist zu prüfen, ob die nationale Rechtsvorschrift auf hinreichend selektiven Kriterien beruht, um die Voraussetzungen zu erfüllen, die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs einen besonders schwerwiegenden Eingriff in die betroffenen Grundrechte, wie er bei der Vorratsspeicherung von Daten vorliegt, zu rechtfertigen vermögen.

42.      Der Sinn des Urteils La Quadrature du Net würde jedoch nicht beachtet, wenn die dort getroffenen Feststellungen zur nationalen Sicherheit auf Straftaten ausgeweitet werden könnten, die zwar schwerwiegend sein mögen, jedoch nicht die nationale Sicherheit, sondern die öffentliche Sicherheit oder andere rechtlich geschützte Interessen verletzen.

43.      Aus diesem Grund hat der Gerichtshof sorgfältig zwischen den Rechtsvorschriften, die zum Schutz der nationalen Sicherheit eine präventive, allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsehen (Rn. 134 bis 139 des Urteils La Quadrature du Net), und den Rechtsvorschriften, die zur Bekämpfung der Kriminalität und zum Schutz der öffentlichen Sicherheit eine präventive Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsehen (Rn. 140 bis 151 desselben Urteils), unterschieden. Diese Rechtsvorschriften können nicht den gleichen Anwendungsbereich haben, soll diese Unterscheidung nicht jeglichen Sinnes beraubt werden.

44.      Die Rechtsvorschriften, die die Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten zur Bekämpfung schwerer Kriminalität regeln, werden, wie ich wiederholen möchte, in den Rn. 140 bis 151 des Urteils La Quadrature du Net dargestellt. Hinzu kommen die Rechtsvorschriften, die zu demselben Zweck eine präventive Vorratsspeicherung von IP‑Adressen und die Identität betreffenden Daten (Rn. 152 bis 159) bzw. eine „umgehende Sicherung“ von Verkehrs- und Standortdaten (Rn. 160 bis 166 desselben Urteils) vorsehen.

45.      Das vorlegende Gericht fragt konkret, welche Auswirkungen der Umstand hat, „dass Diensteanbieter Daten für ihre eigenen kommerziellen Zwecke rechtmäßig auf Vorrat speichern dürfen und aus Gründen der nationalen Sicherheit, die nicht unter die Richtlinie [2002/58] fallen, möglicherweise auf Vorrat speichern müssen“.

46.      Im Urteil La Quadrature du Net werden die Daten, die diese Betreiber zu kommerziellen Zwecken speichern, an den Zweck geknüpft, zu dem sie erhoben wurden, und eine „umgehende Sicherung“ ist nur unter den Bedingungen der zuvor genannten Rn. 160 bis 166 jenes Urteils zulässig.

47.      Die Erfordernisse der nationalen Sicherheit ermöglichen eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten in der Art und Weise und mit den Garantien und Einschränkungen, die im Urteil La Quadrature du Net genannt werden. Für das Ziel der Verfolgung von Straftaten, einschließlich schwerer Straftaten, die in Section 6(1)(a) des im vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen in Rede stehenden Gesetzes von 2011 genannt werden, gilt dies hingegen nicht.

48.      In Bezug auf die Probleme, die die gezielte Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten(28) mit sich bringt, verweise ich des Weiteren auf die Nrn. 43 bis 50 meiner Schlussanträge SpaceNet und Telekom Deutschland.

49.      Es kann nicht erwartet werden, dass der Gerichtshof eine Regelungsfunktion übernimmt und im Detail festlegt, welche Datenkategorien wie lange aufbewahrt werden dürfen(29). Noch weniger ist es Aufgabe des Gerichtshofs, bei der Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 die Rolle des Gesetzgebers einzunehmen, indem er in diese Bestimmung Zwischenkategorien zwischen der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Sicherheit einführt, um auf die zweite Kategorie die Voraussetzungen der ersten Kategorie anzuwenden.

50.      Der Gerichtshof hat entschieden, dass „die Aufzählung der in Art. 15 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie genannten Zwecke abschließend ist, so dass eine aufgrund dieser Bestimmung erlassene Rechtsvorschrift tatsächlich strikt einem von ihnen dienen muss“(30).

51.      Der Vorschlag, den die Kommission in der mündlichen Verhandlung vorgestellt hat(31) (Einführung eines tertium genus für Straftaten), würde den einzigen Grund, der eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten rechtfertigen kann – d. h. die nationale Sicherheit –, ohne klare Grenzen ausweiten, indem Bedrohungen der nationalen Sicherheit mit Bedrohungen durch schwere Kriminalität gleichgesetzt würden.

52.      Die während der mündlichen Verhandlung aufgetretenen Schwierigkeiten, die Straftaten, die zu diesem tertium genus zählen könnten, abzugrenzen, bestätigen, dass dies nicht die Aufgabe eines Gerichts sein kann.

53.      Es ist auch darauf hinzuweisen, dass sich der Gerichtshof mit der Beschreibung von „Tätigkeiten, die geeignet sind, die tragenden Strukturen eines Landes … in schwerwiegender Weise zu destabilisieren“ und insoweit „die wesentlichen Funktionen des Staates und die grundlegenden Interessen der Gesellschaft“ zu beeinträchtigen, auf die „Strukturen eines Landes im Bereich der Verfassung, Politik oder Wirtschaft oder im sozialen Bereich“ bezieht(32).

54.      Ausgehend von diesen Prämissen unterscheidet sich die vom vorlegenden Gericht beschriebene irische Regelung nicht wesentlich von den im Urteil La Quadrature du Net in Rede stehenden Rechtsvorschriften. Unabhängig von der Regelung des Datenzugangs im Gesetz von 2011 (die Gegenstand der dritten Vorlagefrage ist) ähneln die in diesem Gesetz enthaltenen Bestimmungen zur Datenspeicherung den Bestimmungen, die im Urteil La Quadrature du Net geprüft wurden, weshalb sie ebenfalls gegen Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 verstoßen.

55.      Die irische Regelung ermöglicht nämlich aus Gründen, die über den Schutz der nationalen Sicherheit hinausgehen, eine präventive, allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten aller Teilnehmer für einen Zeitraum von zwei Jahren.

56.      Im Ergebnis schlage ich vor, die erste, die zweite und die vierte Vorlagefrage des Supreme Court (Oberster Gerichtshof) genauso zu beantworten, wie der Gerichtshof im Urteil La Quadrature du Net entschieden hat.

C.      Zugang zu den gespeicherten Daten (dritte Vorlagefrage)

57.      Das vorlegende Gericht möchte wissen, welche Kriterien es bei der Prüfung zu berücksichtigen hat, ob die nationalen Vorschriften über den Zugang zu gespeicherten Daten die erforderliche vorherige Kontrolle, wie sie der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung festgelegt hat, umfassen oder ob eine nachträgliche gerichtliche oder unabhängige Kontrolle ausreicht.

58.      Das Urteil Prokuratuur hat auch diese Frage beantwortet. Um die Einhaltung der Voraussetzungen zu gewährleisten, die die Regelung des Zugangs zu den gespeicherten Daten erfüllen muss(33), „ist es unabdingbar, dass der Zugang der zuständigen nationalen Behörden zu den gespeicherten Daten einer vorherigen Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle unterworfen wird und dass dessen oder deren Entscheidung auf einen mit Gründen versehenen, von den zuständigen nationalen Behörden insbesondere im Rahmen von Verfahren zur Verhütung, Feststellung oder Verfolgung von Straftaten gestellten Antrag ergeht“(34).

59.      Nach Auffassung des Gerichtshofs setzt „[d]iese vorherige Kontrolle … u. a. voraus, dass das mit ihr betraute Gericht oder die mit ihr betraute Stelle über alle Befugnisse verfügt und alle Garantien aufweist, die erforderlich sind, um zu gewährleisten, dass die verschiedenen einander gegenüberstehenden Interessen und Rechte in Einklang gebracht werden. Im Fall strafrechtlicher Ermittlungen verlangt eine solche Kontrolle, dass dieses Gericht oder diese Stelle in der Lage ist, für einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen, die sich aus den Erfordernissen der Ermittlungen im Rahmen der Kriminalitätsbekämpfung ergeben, und den Grundrechten auf Achtung des Privatlebens und auf den Schutz personenbezogener Daten der Personen, auf deren Daten zugegriffen wird, zu sorgen“(35).

60.      Wird die vorherige Kontrolle von einer unabhängigen Verwaltungsstelle wahrgenommen, „muss diese über eine Stellung verfügen, die es ihr erlaubt, bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben objektiv und unparteiisch vorzugehen, ohne jede Einflussnahme von außen“(36).

61.      Gerade das „Erfordernis, wonach die mit der Wahrnehmung der vorherigen Kontrolle betraute Behörde unabhängig sein muss, … gebietet [es], dass es sich bei ihr um eine andere als die den Zugang zu den Daten begehrende Stelle handelt, damit Erstere in der Lage ist, diese Kontrolle objektiv und unparteiisch, ohne jede Einflussnahme von außen, auszuüben. Im strafrechtlichen Bereich impliziert das Erfordernis der Unabhängigkeit, … dass die mit der vorherigen Kontrolle betraute Behörde zum einen nicht an der Durchführung des fraglichen Ermittlungsverfahrens beteiligt ist und zum anderen eine Position der Neutralität gegenüber den Beteiligten am Strafverfahren hat“(37).

62.      Nach der Beschreibung der irischen Rechtsvorschriften durch das vorlegende Gericht scheint der Zugang zu den gespeicherten Daten keiner vorherigen Kontrolle durch ein Gericht oder eine andere unabhängige Behörde zu unterliegen, sondern im Ermessen eines Polizeibeamten eines bestimmten Dienstranges zu liegen, der darüber entscheidet, ob er eine Anfrage an die Diensteanbieter stellt oder nicht.

63.      Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob es sich bei dem Beamten, der nach der nationalen Regelung für die vorherige Kontrolle des Zugangs zu den gespeicherten Verkehrs- und Standortdaten zuständig ist, um eine „unabhängige Behörde“ handelt und ob er die Stellung eines „Dritten“ innehat, wie dies von der Rechtsprechung des Gerichtshofs gefordert wird.

64.      Bei dieser Prüfung hat das zuständige Gericht zu berücksichtigen, dass im Urteil Prokuratuur die Unabhängigkeit und die Stellung eines „Dritten“ in Bezug auf die Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats verneint wurde, wenn diese gleichzeitig Ermittlungsaufgaben in einem Strafverfahren wahrnimmt.

65.      Auch die Frage, ob die vom vorlegenden Gericht genannte Kontrolle nachträglich erfolgen kann, wird im Urteil Prokuratuur beantwortet (indem sie verneint wird):

–        „[D]ie fehlende Kontrolle seitens einer unabhängigen Behörde [kann nicht] durch eine spätere gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Zugangs einer nationalen Behörde zu Verkehrs- und Standortdaten ausgeglichen werden“;

–        „[D]ie unabhängige Kontrolle [muss] vor jedem Zugang stattfinden …, abgesehen von hinreichend begründeten Eilfällen, in denen sie kurzfristig erfolgen muss“(38).

D.      Möglichkeit, die Wirkungen der Feststellung der Unvereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Unionsrecht zeitlich zu beschränken (fünfte und sechste Vorlagefrage)

66.      Der Supreme Court (Oberster Gerichtshof) fragt schließlich, ob

–        er die zeitliche Wirkung der Feststellung, dass eine nationale Maßnahme mit Art. 15 der Richtlinie 2002/58 unvereinbar ist, beschränken darf, wenn es andernfalls zu „daraus resultierendem Chaos und einer Schädigung des öffentlichen Interesses“ käme;

–        er einen Antrag auf Nichtanwendung einer nationalen Rechtsvorschrift, die zur Umsetzung einer Richtlinie erlassen wurde, zurückweisen oder die Wirkung einer entsprechenden Feststellung auf die Zeit nach dem Urteil des Gerichtshofs vom 8. April 2014(39) beschränken darf, in dem der Gerichtshof die Richtlinie 2006/24 für ungültig erklärt hat.

67.      Erneut findet sich die Antwort auf diese Fragen im Urteil La Quadrature du Net, das insoweit der traditionellen Rechtsprechung folgt.

68.      In der Rechtssache C‑520/18 hat die Cour constitutionnelle (Verfassungsgerichtshof, Belgien) dem Gerichtshof eine ähnliche Frage wie die im vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen vom irischen Supreme Court (Oberster Gerichtshof) gestellte vorgelegt(40).

69.      Im Rahmen der Beantwortung dieser Frage im Urteil La Quadrature du Net weist der Gerichtshof zunächst auf die Voraussetzungen hin, die sich aus dem Vorrang des Unionsrechts ergeben (Rn. 214 und 215), und gibt seine Rechtsprechung zur Beschränkung der Wirkungen seiner Urteile wieder: „Nur der Gerichtshof kann in Ausnahmefällen und aus zwingenden Erwägungen der Rechtssicherheit eine vorübergehende Aussetzung der Verdrängungswirkung herbeiführen, die eine unionsrechtliche Vorschrift gegenüber mit ihr unvereinbarem nationalem Recht ausübt. Eine solche zeitliche Beschränkung der Wirkungen einer Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof kann nur in dem Urteil vorgenommen werden, in dem über die begehrte Auslegung entschieden wird“(41).

70.      Gleich im Anschluss stellt er fest, dass „[i]m Gegensatz zu dem Versäumnis, einer prozeduralen Pflicht wie der vorherigen Prüfung der Auswirkungen eines Projekts im speziellen Bereich des Umweltschutzes nachzukommen, … ein Verstoß gegen Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 im Licht der Art. 7, 8 und 11 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta aber nicht durch ein Verfahren wie das in der vorstehenden Randnummer erwähnte geheilt werden [kann]. Würden die Wirkungen nationaler Rechtsvorschriften wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden aufrechterhalten, würde dies nämlich bedeuten, dass durch die betreffenden Rechtsvorschriften den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste weiterhin Verpflichtungen auferlegt würden, die gegen das Unionsrecht verstoßen und mit schwerwiegenden Eingriffen in die Grundrechte der Personen verbunden sind, deren Daten gespeichert wurden“(42).

71.      Hieraus folgert der Gerichtshof, dass „[d]as vorlegende Gericht … eine Bestimmung seines nationalen Rechts nicht anwenden [darf], die es ermächtigt, die ihm nach nationalem Recht obliegende Feststellung der Rechtswidrigkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften in ihren zeitlichen Wirkungen zu beschränken“(43).

72.      Diese Erwägungen sind in vollem Umfang auf die fünfte und die sechste Vorlagefrage des Supreme Court (Oberster Gerichtshof) anwendbar.

73.      Erstens ist es unerheblich, ob die streitige nationale Rechtsvorschrift mit dem Ziel erlassen wurde, die Richtlinie 2006/24 in nationales Recht umzusetzen. Entscheidend ist vielmehr, dass die nationale Regelung mit dem Unionsrecht in seiner Gesamtheit vereinbar ist, was vorliegend nicht der Fall ist.

74.      Die Ungültigkeit einer Richtlinie, die der Gerichtshof wegen ihrer Unvereinbarkeit mit materiellen Bestimmungen der Verträge festgestellt hat, führt dazu, dass die Unvereinbarkeit mit dem Primärrecht der Union auch die nationalen Vorschriften betrifft, die sich auf die Umsetzung dieser Richtlinie beschränkten.

75.      Das vorlegende Gericht erklärt, das Gesetz von 2011 sei aufgrund der Verpflichtung nach Art. 288 AEUV zur getreuen Umsetzung der Richtlinie 2006/24 in irisches Recht erlassen worden. Dies bestreitet auch niemand, aber, wie ich vorstehend festgestellt habe, ist es entscheidend, dass diese Richtlinie (dem Urteil Digital Rights zufolge) aufgrund eines unverhältnismäßigen Eingriffs in die in den Art. 7 und 8 der Charta verankerten Rechte von Anfang an unwirksam war und dass sich die Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten nach der Richtlinie 2002/58 in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof zu richten hat.

76.      Zweitens ist bekannt, dass Vorabentscheidungen des Gerichtshofs, mit denen eine Auslegung vorgenommen wird, ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der unionsrechtlichen Bestimmung, die Gegenstand der Auslegung ist, Wirkung entfalten(44).

77.      Da eine solche zeitliche Beschränkung der Wirkungen einer Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof nur in dem Urteil vorgenommen werden kann, in dem über die begehrte Auslegung entschieden wird, möchte ich darauf hinweisen, dass dies im Urteil Digital Rights, auf das sich das vorlegende Gericht bezieht, nicht geschehen ist.

78.      Ebenso wenig war dies der Fall in:

–        dem Urteil Tele2 Sverige vom 21. Dezember 2016, in dem der Gerichtshof die Richtlinie 2002/58 ausgelegt und festgestellt hat, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, die die allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten zur Bekämpfung schwerer Kriminalität vorsieht;

–        dem Urteil La Quadrature du Net, das am 6. Oktober 2020 die vorstehend dargestellte Auslegung der Richtlinie 2002/58 bestätigt hat.

79.      Drittens geht es in dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen nicht um die Probleme, die sich bei einem Ausschluss der Beweise im Strafverfahren gegen die wegen Mordes verurteilte Person ergeben. Es handelt sich vorliegend vielmehr um ein Zivilverfahren (als solches wird es vom Supreme Court [Oberster Gerichtshof] bezeichnet), über das durch die objektive Gegenüberstellung der nationalen Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht zu entscheiden ist.

80.      Das vorlegende Gericht hebt hervor: „Im vorliegenden Rechtsmittelverfahren vor diesem Gericht (dem Supreme Court [Oberster Gerichtshof]) geht es um die einzige Frage, ob der High Court [Hoher Gerichtshof] zu Recht festgestellt hat, dass Section 6(1)(a) des Gesetzes [von 2011] mit dem Unionsrecht unvereinbar ist“(45).

81.      Die Antwort auf diese „einzige Frage“ lautet, dass Section 6(1)(a) des Gesetzes von 2011 nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist und dass es keinen Grund gibt, die Wirkung des Urteils, in dem dies festgestellt wird, aufzuschieben.

V.      Ergebnis

82.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, dem Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland) wie folgt zu antworten:

1.      Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation) in der durch die Richtlinie 2009/136/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 geänderten Fassung in Verbindung mit den Art. 7, 8, 11 und 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 4 Abs. 2 EUV ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Vorschrift entgegensteht, die

–        den Betreibern öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste eine Pflicht zur präventiven, allgemeinen und unterschiedslosen Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten der Endnutzer dieser Dienste für andere Zwecke als den Schutz der nationalen Sicherheit bei Vorliegen einer als real und aktuell oder vorhersehbar einzustufenden Bedrohung auferlegt;

–        den Zugang zu den gespeicherten Verkehrs- und Standortdaten durch die zuständigen Behörden nicht einer vorherigen Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Stelle unterwirft.

2.      Ein nationales Gericht darf die Feststellung, dass eine nationale Rechtsvorschrift, mit der den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste u. a. zur Verfolgung der Ziele des Schutzes der nationalen Sicherheit und der Bekämpfung der Kriminalität eine mit Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 in Verbindung mit den Art. 7, 8, 11 und 52 Abs. 1 der Charta unvereinbare Pflicht zur allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten auferlegt wird, rechtswidrig ist, nicht in ihrer zeitlichen Wirkung beschränken.


1      Originalsprache: Spanisch.


2      Im Folgenden: Schlussanträge SpaceNet und Telekom Deutschland.


3      EU:C:2020:6.


4      Im Folgenden: Schlussanträge Ordre des barreaux francophones et germanophone (EU:C:2020:7).


5      Rechtssachen C‑293/12 und C‑594/12 (EU:C:2014/238, im Folgenden: Urteil Digital Rights).


6      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze erzeugt oder verarbeitet werden, und zur Änderung der Richtlinie 2002/58/EG (ABl. 2006, L 105, S. 54).


7      Rechtssachen C‑203/15 und C‑698/15 (EU:C:2016:970, im Folgenden: Urteil Tele2 Sverige).


8      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation) (ABl. 2002, L 201, S. 37) in der durch die Richtlinie 2009/136/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 (ABl. 2009, L 337, S. 11) geänderten Fassung.


9      Rechtssache C-207/16 (EU:C:2018:788).


10      Rechtssache Privacy International (C‑623/17, EU:C:2020:790).


11      Rechtssachen C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18 (EU:C:2020:791, im Folgenden: Urteil La Quadrature du Net).


12      Nrn. 25 ff. der vorliegenden Schlussanträge.


13      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. 1995, L 281, S. 31).


14      Vgl. Nr. 80 der vorliegenden Schlussanträge.


15      Nrn. 25 ff. der vorliegenden Schlussanträge.


16      Rechtssache C‑746/18 (EU:C:2021:152; im Folgenden: Urteil Prokuratuur). Der Inhalt dieses Urteils ist in der mündlichen Verhandlung erörtert worden.


17      So die Antwort des Supreme Court (Oberster Gerichtshof) in seinem am 27. Oktober 2020 eingegangenen Schreiben auf die Aufforderung des Gerichtshofs, mitzuteilen, ob er sein Vorabentscheidungsersuchen auch nach dem Erlass des Urteils La Quadrature du Net aufrechterhalte.


18      Unter diesen „Situationen“ sind in Ermangelung näherer Erklärungen die Situationen zu verstehen, die den Sachverhalt und die anwendbaren nationalen Vorschriften betreffen.


19      Das Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) hat die Unterschiede zwischen den deutschen Rechtsvorschriften und den im Urteil La Quadrature du Net analysierten Rechtsvorschriften erläutert und ersucht den Gerichtshof um eine Entscheidung unter Berücksichtigung der deutschen Vorschriften.


20      Die nachstehenden Nrn. 33 bis 41 entsprechen Abschnitten aus den Schlussanträgen SpaceNet und Telekom Deutschland.


21      Urteil La Quadrature du Net, Rn. 109.


22      Ebd., Rn. 111 bis 133.


23      Ebd., Rn. 136.


24      Ebd., Rn. 137 (Hervorhebung nur hier). Der Gerichtshof führt weiter aus: „Auch wenn eine solche Maßnahme unterschiedslos alle Nutzer elektronischer Kommunikationsmittel erfasst, ohne dass prima facie ein Zusammenhang … zwischen ihnen und einer Bedrohung der nationalen Sicherheit dieses Mitgliedstaats zu bestehen scheint, ist gleichwohl davon auszugehen, dass das Vorliegen einer derartigen Bedrohung als solches geeignet ist, diesen Zusammenhang herzustellen“ (ebd.).


25      CE:ECHR:2021:0525JUD005817013.


26      CE:ECHR:2021:0525JUD003525208.


27      CE:ECHR:2015:1204JUD004714306.


28      Urteil La Quadrature du Net, Nr. 147: „… Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 im Licht der Art. 7, 8 und 11 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta [untersagt] es einem Mitgliedstaat … nicht, eine Regelung zu erlassen, die zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit sowie zum Schutz der nationalen Sicherheit präventiv eine gezielte Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten ermöglicht, sofern ihre Speicherung hinsichtlich der Kategorien der zu speichernden Daten, der erfassten Kommunikationsmittel, der betroffenen Personen und der vorgesehenen Dauer der Vorratsspeicherung auf das absolut Notwendige beschränkt ist.“ Hervorhebung nur hier.


29      Schlussanträge Ordre des barreaux francophones et germanophone, Nr. 101.


30      Urteil La Quadrature du Net, Rn. 112 und die dort angeführte Rechtsprechung.


31      Mit Unterstützung eines Großteils der erschienenen Regierungen.


32      Urteil La Quadrature du Net, Rn. 135.


33      Die betreffende nationale Regelung muss sich „bei der Festlegung der Umstände und Voraussetzungen, unter denen den zuständigen nationalen Behörden Zugang zu den fraglichen Daten zu gewähren ist, auf objektive Kriterien stützen. Insoweit darf im Zusammenhang mit dem Ziel, die Kriminalität zu bekämpfen, ein solcher Zugang grundsätzlich nur zu den Daten von Personen gewährt werden, die im Verdacht stehen, eine schwere Straftat zu planen, zu begehen oder begangen zu haben oder auf irgendeine Weise in eine solche Straftat verwickelt zu sein. Allerdings könnte in besonderen Situationen wie etwa solchen, in denen vitale Interessen der nationalen Sicherheit, der Landesverteidigung oder der öffentlichen Sicherheit durch terroristische Aktivitäten bedroht sind, auch Zugang zu Daten anderer Personen gewährt werden, wenn es objektive Anhaltspunkte dafür gibt, dass diese Daten in einem konkreten Fall einen wirksamen Beitrag zur Bekämpfung derartiger Aktivitäten leisten könnten.“ Urteil Prokuratuur, Rn. 50.


34      Urteil Prokuratuur, Rn. 51, Hervorhebung nur hier. Nach diesem Absatz muss in Übereinstimmung mit dem Urteil La Quadrature du Net, Rn. 189, „[i]n hinreichend begründeten Eilfällen … die Kontrolle kurzfristig erfolgen“.


35      Ebd., Rn. 52.


36      Ebd., Rn. 53.


37      Ebd., Rn. 54.


38      Ebd., Rn. 58.


39      Urteil Digital Rights.


40      In Rn. 213 des Urteils La Quadrature du Net wird der Inhalt der dritten Vorlagefrage in der Rechtssache C‑520/18 wie folgt wiedergegeben: „[D]as vorlegende Gericht [möchte] wissen, ob ein nationales Gericht eine Bestimmung seines nationalen Rechts anwenden darf, aufgrund deren es, wenn es im Einklang mit seinem nationalen Recht eine nationale Rechtsvorschrift, mit der den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste u. a. zur Verfolgung der Ziele des Schutzes der nationalen Sicherheit und der Bekämpfung der Kriminalität eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten auferlegt wird, wegen ihrer Unvereinbarkeit mit Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 im Licht der Art. 7, 8 und 11 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta für rechtswidrig erklärt, zu einer Beschränkung der zeitlichen Wirkungen dieser Erklärung befugt ist.“ Hervorhebung nur hier.


41      Urteil La Quadrature du Net, Rn. 216.


42      Ebd., Rn. 219.


43      Ebd., Rn. 220.


44      Nach ständiger Rechtsprechung wird durch die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 267 AEUV vornimmt, klargestellt und verdeutlicht, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, dass die Gerichte die Vorschriften in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, anwenden können und müssen, wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung dieser Vorschriften betreffenden Streit vorliegen (Urteile vom 3. Oktober 2019, Schuch-Ghannadan, C‑274/18, EU:C:2019:828, Rn. 60, und vom 16. September 2020, Romenergo und Aris Capital, C‑339/19, EU:C:2020:709, Rn. 47).


45      Vorlagebeschluss, Anhang II Abs. 6 a. E.