Language of document : ECLI:EU:C:2022:482

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA

vom 16. Juni 2022(1)

Rechtssache C289/21

IG

gegen

Varhoven administrativen sad

(Vorabentscheidungsersuchen des Administrativen sad Sofia-grad [Verwaltungsgericht Sofia, Bulgarien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Energiepolitik – Förderung der Energieeffizienz – Richtlinie 2012/27/EU – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – Ersatz des durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht entstandenen Schadens – Änderung einer nationalen Regelung während des Kassationsverfahrens“






1.        Nach dem bulgarischen Verfahrensrecht, wie es in diesem Vorabentscheidungsersuchen beschrieben wird, entfällt bei gerichtlichen Rechtsbehelfen gegen einen untergesetzlichen normativen Rechtsakt der Streitgegenstand, wenn der Rechtsakt vor Erlass eines Urteils geändert wird.

2.        Im Ausgangsverfahren hat die Person, auf die die entsprechende Verfahrensvorschrift Anwendung fand, gegen den Staat eine Klage wegen außervertraglicher Haftung erhoben, nachdem ihr Rechtsbehelf aufgrund der Änderung des Rechtsakts als gegenstandslos erklärt worden war.

3.        Das Gericht, das für die Entscheidung über die Klage zuständig ist, möchte im Wesentlichen wissen, ob die Verfahrensvorschrift mit dem durch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerten Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz vereinbar ist.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      Richtlinie 2012/27/EU(2)

4.        Art. 9 Abs. 1 bestimmt:

„Soweit es technisch machbar, finanziell vertretbar und im Vergleich zu den potenziellen Energieeinsparungen verhältnismäßig ist, stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass alle Endkunden in den Bereichen Strom, Erdgas, Fernwärme, Fernkälte und Warmbrauchwasser individuelle Zähler zu wettbewerbsfähigen Preisen erhalten, die den tatsächlichen Energieverbrauch des Endkunden genau widerspiegeln und Informationen über die tatsächliche Nutzungszeit bereitstellen.“

5.        Art. 10 regelt den Inhalt und die Art der Informationen, die den Kunden auf ihren Abrechnungen zur Verfügung gestellt werden müssen.

B.      Bulgarisches Recht

1.      Administrativnoprotsesualen kodeks(3)

6.        Art. 156 bestimmt:

„(1)      … Mit Zustimmung der weiteren Beklagten und der betroffenen Parteien, die durch den angefochtenen Rechtsakt begünstigt werden, kann die Verwaltungsbehörde einen Rechtsakt ganz oder teilweise zurücknehmen bzw. einen Rechtsakt erlassen, dessen Erlass sie zuvor abgelehnt hat.

(2)      Die Zustimmung des Beklagten ist auch dann erforderlich, wenn der Rechtsakt nach der ersten mündlichen Verhandlung zurückgenommen werden soll.

(3)      Ein zurückgenommener Rechtsakt kann nur dann erneut erlassen werden, wenn neue Umstände vorliegen.

(4)      Ist mit einem Rechtsbehelf gegen einen Rechtsakt eine Schadensersatzklage verbunden, wird das Verfahren in Bezug auf diese Klage weitergeführt.“

7.        Art. 187 legt fest:

„(1)      Rechtsbehelfe gegen untergesetzliche normative Rechtsakte unterliegen keinen Fristen.

(2)      Wurde gegen einen untergesetzlichen normativen Rechtsakt aus denselben Gründen bereits ein Rechtsbehelf eingelegt, ist ein weiterer Rechtsbehelf unzulässig.“

8.        In Art. 195 heißt es:

„(1)      Ein untergesetzlicher normativer Rechtsakt gilt ab dem Tag als aufgehoben, an dem die entsprechende Gerichtsentscheidung rechtskräftig wird.

(2)      Wird ein untergesetzlicher normativer Rechtsakt für nichtig erklärt oder auf Anfechtung aufgehoben, legt die zuständige Behörde von Amts wegen innerhalb einer Frist von höchstens drei Monaten ab Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung die entsprechenden Rechtsfolgen fest.“

9.        Nach Art. 204 Abs. 3 ist die Rechtswidrigkeit des nichtigen oder zurückgenommenen Verwaltungsrechtsakts, durch den ein Schaden verursacht wurde, von dem Gericht festzustellen, bei dem die Schadensersatzklage erhoben wurde.

10.      Art. 221 Abs. 4 bestimmt:

„Nimmt die Verwaltungsbehörde mit Zustimmung der sonstigen Beklagten den Verwaltungsrechtsakt zurück oder erlässt sie den Rechtsakt, dessen Erlass sie abgelehnt hatte, hebt der Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) die aufgrund dieses Rechtsakts oder dieser Ablehnung ergangene gerichtliche Entscheidung wegen Verfahrensfehlers auf und beendet das Verfahren.“

2.      Zakon za otgovornostta na darzhavata i obshtinite za vredi(4)

11.      In Art. 1 heißt es:

„(1)      Der Staat und die Gemeinden haften für Schäden, die natürlichen und juristischen Personen infolge von rechtswidrigen Rechtsakten, Handlungen oder Unterlassungen ihrer Organe oder Bediensteten bei oder anlässlich der Ausübung von deren Verwaltungstätigkeit entstanden sind …

(2)      Rechtsbehelfe nach Abs. 1 werden in dem Verfahren nach der Verwaltungsprozessordnung behandelt…“

II.    Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen

12.      In Anhang 1 zu Art. 61 Abs. 1 der vom Minister für Wirtschaft und Energie der Republik Bulgarien erlassenen Naredba Nr. 16-334/06.04.2007 za toplosnabdyavaneto(5) ist die Methode für die Aufteilung des Wärmeenergieverbrauchs bei im gemeinschaftlichen Wohneigentum stehenden Gebäuden (im Folgenden: Methode) geregelt.

13.      Im Normenkontrollverfahren Nr. 1372/2016 vor dem Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht, im Folgenden: VAS) beanstandete IG diese Methode.

14.      Eine mit drei Richtern besetzte Kammer des VAS hob mit Entscheidung vom 13. April 2018 die Methode rückwirkend auf, da sie dem Ziel der Art. 9 und 10 der Richtlinie 2012/27 (nämlich der Abrechnung der Fernwärmeenergie auf der Grundlage des tatsächlichen Verbrauchs) nicht dienlich sei(6).

15.      Gegen dieses erstinstanzliche Urteil legte der Minister für Wirtschaft und Energie bei einer mit fünf Richtern besetzten Kammer des VAS die Kassationsbeschwerde Nr. 1318/2019 ein.

16.      Am 20. September 2019 trat eine neue Verordnung in Kraft, mit der insbesondere die Formel für die Methode abgeändert wurde.

17.      Am 11. Februar 2020 befand die für die Entscheidung über die Kassationsbeschwerde zuständige, mit fünf Richtern besetzte Kammer des VAS, dass der Gegenstand des Normenkontrollverfahrens weggefallen sei. Die Kammer begründet ihre Entscheidung damit, dass die Änderung von Nr. 6.1.1 zur Aufhebung der Berechnungsmethode geführt habe und die Gerichte nach nationalem Recht in der Sache nur über geltende Bestimmungen entscheiden könnten.

18.      Die mit fünf Richtern besetzte Kammer des VAS hob daher das erstinstanzliche Urteil auf, ohne die Methode in der Sache zu prüfen. Diese Entscheidung ist rechtskräftig.

19.      Vor diesem Hintergrund hat IG beim Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia, Bulgarien) Klage erhoben auf Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 830 Leva (BGN) für die Kosten des ersten Verfahrens (Verfahren Nr. 1372/2016) und in Höhe von 300 BGN für immaterielle Schäden(7), die durch das Urteil im Kassationsverfahren Nr. 1318/2019 verursacht worden seien.

20.      Die Schadensersatzklage richtet sich gegen den VAS, der vor dem vorlegenden Gericht als Beklagter auftritt.

21.      In diesem Zusammenhang hat der Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia) dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Wird das Kassationsgericht durch die Änderung einer Vorschrift eines nationalen normativen Rechtsakts, die zuvor vom Berufungsgericht [sic] für mit einer geltenden Bestimmung des Unionsrechts unvereinbar erklärt wurde, von der Verpflichtung befreit, die vor der Änderung geltende Vorschrift zu prüfen bzw. zu beurteilen, ob sie mit dem Unionsrecht vereinbar ist?

2.      Stellt die Annahme, dass die fragliche Vorschrift zurückgenommen worden sei, einen wirksamen Rechtsbehelf für durch das Unionsrecht garantierte Rechte und Freiheiten (hier die Art. 9 und 10 der Richtlinie 2012/27) dar, bzw. stellt es einen solchen Rechtsbehelf dar, wenn die im nationalen Recht vorgesehene Möglichkeit, zu prüfen, ob die betreffende nationale Vorschrift vor ihrer Änderung mit dem Unionsrecht vereinbar war, nur dann besteht, wenn das zuständige Gericht mit einer konkreten Schadensersatzklage wegen dieser Vorschrift angerufen wird, und nur in Bezug auf die Person, die die Klage erhoben hat?

3.      Falls die Frage 2 bejaht wird: Ist es zulässig, dass die fragliche Vorschrift in dem Zeitraum vom Erlass bis zur Änderung weiterhin die Rechtsverhältnisse für einen unbegrenzten Kreis von Personen regelt, die keine Schadensersatzklagen wegen der Vorschrift erhoben haben, bzw. dass die Beurteilung der Vereinbarkeit der nationalen Norm mit der unionsrechtlichen Norm für die Zeit vor der Änderung nicht in Bezug auf diese Personen vorgenommen wurde?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

22.      Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 5. Mai 2021 beim Gerichtshof eingegangen.

23.      IG, der VAS, die polnische Regierung und die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Mit Ausnahme der polnischen Regierung haben alle an der mündlichen Verhandlung vom 6. April 2022 teilgenommen.

IV.    Würdigung

A.      Vorbemerkung

24.      Der Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens ergibt sich logischerweise aus dem im Ausgangsverfahren zu entscheidenden Rechtsstreit. Im vorliegenden Rechtsstreit geht es allein um die Frage, ob IG Anspruch auf Ersatz des Schadens hat, der ihm seiner Ansicht nach durch das Urteil entstanden ist, bei dem die bulgarische Verfahrensvorschrift zur Anwendung kam, nach der keine Entscheidung in der Sache über die Gültigkeit der Berechnungsmethode erfolgen konnte.

25.      Mit dem Vorabentscheidungsersuchen soll daher nicht geklärt werden, ob a) Nr. 6.1.1 der Berechnungsmethode mit der Richtlinie 2012/27 vereinbar ist, b) IG aufgrund des Verstoßes gegen die Richtlinie einen Anspruch auf Entschädigung besitzt, und c) andere Personen als IG einen Anspruch auf eine solche Entschädigung besitzen.

26.      Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft nicht die Frage, ob die Schäden, die durch die Anwendung einer Vorschrift zur Energieeffizienz entstanden sind, die, wie der Kläger geltend macht, gegen Unionsrecht verstößt, zu entschädigen sind oder nicht. IG macht, wie ich noch einmal betonen möchte, allein den Schaden geltend, der durch eine nationale Verfahrensvorschrift entstanden sein soll, die die Aufhebung des ersten Urteils, mit dem die Methode zur Berechnung der in Rechnung gestellten Energie aufgehoben worden war, ermöglicht hat.

27.      Um über diesen Schaden und seinen etwaigen Ersatz entscheiden zu können, muss das vorlegende Gericht wissen, ob die nationale Rechtsvorschrift, aufgrund derer die im erstinstanzlichen Urteil ausgesprochene Aufhebung der Methode hinfällig geworden ist, mit dem Unionsrecht vereinbar ist(8).

28.      Bei einer entsprechenden Auslegung des Vorabentscheidungsersuchens sind die Einwände gegen die Zulässigkeit zurückzuweisen, mit denen der VAS im Wesentlichen Folgendes geltend macht: a) einen Verstoß gegen Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, b) den fehlenden Bezug des Ausgangsrechtsstreits zum Unionsrecht und c) die Rechtskraft(9) des Urteils vom 11. Februar 2020.

29.      Den Einwänden setze ich Folgendes entgegen:

–      Im Vorlagebeschluss wird ausreichend begründet, warum das vorlegende Gericht die Vorlagefragen stellt. Die Vorgabe des Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist somit erfüllt.

–      Der Gegenstand des Ausgangsverfahrens weist einen Bezug zum Unionsrecht auf, da der ursprüngliche Rechtsstreit, aus dem sich die spätere Schadensersatzklage ergab, die Anwendung der Richtlinie 2012/27 betrifft. Die Erfolgschancen dieser Klage können davon abhängen, ob die in den bulgarischen Rechtsvorschriften vorgesehenen gerichtlichen Rechtsbehelfe zur Durchsetzung des Unionsrechts geeignet sind.

–      Die Rechtskraft des Urteils des VAS vom 11. Februar 2020 wird nicht in Zweifel gezogen. Eine andere Frage ist, ob nach Anerkennung dieser Rechtskraft ein Anspruch auf Ersatz des Schadens, der sich aus dem Urteil – und der darin erfolgten Anwendung der streitigen Verfahrensvorschrift – ergeben haben soll, zuzuerkennen ist oder nicht.

30.      Im Übrigen bin ich der Auffassung, dass die ersten beiden Vorlagefragen zusammen beantwortet werden können und dass die dritte Frage, wie ich darlegen werde, hypothetisch und daher unzulässig ist.

B.      Erste und zweite Vorlagefrage

1.      Anfechtungs- und Schadensersatzklagen als Mittel zur Wahrung der Rechte des Einzelnen

31.      In seinem Urteil vom 21. Dezember 2021, Randstad Italia(10), hat der Gerichtshof bestätigt, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verpflichtet sind, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit den Einzelnen die Wahrung ihres Anspruchs auf einen wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet wird(11).

32.      Diese Verpflichtung der Mitgliedstaaten ist mit dem Grundsatz der Verfahrensautonomie vereinbar, wonach es vorbehaltlich des Bestehens einschlägiger Unionsregeln Sache der Mitgliedstaaten ist, die verfahrensrechtlichen Modalitäten dieser Rechtsbehelfe festzulegen(12).

33.      Die Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten geht so weit, dass das Unionsrecht ihnen nicht die Festlegung eines eigenständigen Rechtsbehelfs(13) vorschreibt, der mit dem Hauptantrag direkt auf die Feststellung gerichtet ist, dass nationale Rechtsvorschriften gegen das Unionsrecht verstoßen.

34.      Dem Gerichtshof zufolge verstößt das Fehlen eines solchen eigenständigen Rechtsbehelfs in den nationalen Rechtsvorschriften nicht gegen Art. 47 der Charta: „Der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes als solcher verlangt … nicht, dass es einen eigenständigen Rechtsbehelf gibt, der mit dem Hauptantrag auf die Feststellung gerichtet ist, dass nationale Vorschriften gegen das Unionsrecht verstoßen, sofern es einen oder mehrere Rechtsbehelfe gibt, mit denen inzident die Wahrung der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleistet werden kann“(14).

35.      Zum Schutz der „dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden“ Rechte reicht es somit aus, dass andere Rechtsbehelfe inzident die Wahrung dieser Rechte gewährleisten.

36.      Zu den gerichtlichen Rechtsbehelfen, mit denen – wenigstens inzident – die Wahrung der durch die Unionsvorschriften anerkannten Rechte sichergestellt werden kann, gehört die Klage auf Haftung des Mitgliedstaats für den Schaden, der dem Einzelnen durch die Verletzung dieser Rechte entstanden ist.

37.      Es ist folglich möglich, dass „die volle Wirksamkeit des Unionsrechts und der wirksame Schutz der dem Einzelnen nach dem Unionsrecht zustehenden Rechte gegebenenfalls durch den dem System der Verträge, auf denen die Union beruht, innewohnenden Grundsatz der Haftung des Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch dem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Unionsrecht entstehen, gewährleistet werden können“(15).

38.      In Ansehung dieser Rechtsprechung ist eine Verfahrensregelung, die zwar keine Anfechtungsklage, jedoch eine Schadensersatzklage vorsieht, mit der die Rechte der Geschädigten wirksam geschützt werden, grundsätzlich mit Art. 47 der Charta vereinbar.

39.      Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die im bulgarischen Recht geregelte Schadensersatzklage, über die es selbst zu entscheiden hat, aufgrund ihrer Merkmale geeignet ist, die dem Kläger aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte wirksam zu schützen.

40.      Im Rahmen dieser Prüfung kann das vorlegende Gericht aus dem von ihm selbst zitierten Urteil vom 4. Oktober 2018, Kantarev(16), wertvolle Erkenntnisse ziehen, zumal es darin um Fragen im Zusammenhang mit den bulgarischen Rechtsvorschriften über Klagen wegen außervertraglicher Haftung des Staates ging(17).

41.      In diesem Urteil hat der Gerichtshof klargestellt, dass

–      „das nationale Gericht prüfen kann, ob sich der Geschädigte in angemessener Form um die Verhinderung des Schadenseintritts oder um die Begrenzung des Schadensumfangs bemüht hat und ob er insbesondere rechtzeitig von allen ihm zur Verfügung stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten Gebrauch gemacht hat“(18);

–      „es jedoch dem Grundsatz der Effektivität [widerspräche], von den Geschädigten zu verlangen, systematisch von allen ihnen zur Verfügung stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten Gebrauch zu machen, selbst wenn dies zu übermäßigen Schwierigkeiten führen würde oder ihnen nicht zugemutet werden könnte“(19);

–      „die Verpflichtung, zuvor die Nichtigkeit des dem Schaden zugrunde liegenden Verwaltungsakts feststellen zu lassen, als solche nicht im Widerspruch zum Grundsatz der Effektivität [steht]. Allerdings kann diese Verpflichtung die Erlangung von Schadensersatz wegen Verletzung des Unionsrechts übermäßig erschweren, falls eine solche Nichtigerklärung praktisch ausgeschlossen … ist“(20).

2.      Die doppelte Regelung in den bulgarischen Verfahrensvorschriften: Rechtsbehelfe gegen normative Rechtsakte und Schadensersatzklagen

42.      Das bulgarische Recht sieht einen direkten (eigenständigen) Rechtsbehelf vor, in dessen Rahmen die Vereinbarkeit der nationalen Rechtsvorschrift mit dem Unionsrecht geprüft werden kann. Auf einen solchen Rechtsbehelf hin erging das erstinstanzliche Urteil vom 13. April 2018, mit dem Nr. 6.1.1 der Berechnungsmethode aufgehoben wurde, da sie dem Ziel der Richtlinie 2012/27 nicht dienlich sei(21).

43.      Neben dem direkten Rechtsbehelf ist nach bulgarischem Recht auch eine Inzidentkontrolle zulässig, wenn gegen den Staat aufgrund der Verletzung einer Unionsvorschrift, die dem Einzelnen Rechte verleiht, eine Klage wegen außervertraglicher Haftung erhoben wird.

44.      In der mündlichen Verhandlung hat sich herausgestellt, dass die Schadensersatzklage die zuständigen Gerichte dazu ermächtigt, inzident und mit Wirkung zwischen den Streitparteien die Rechtswidrigkeit des untergesetzlichen normativen Rechtsakts, aus dem sich der dem Kläger entstandene Schaden ergibt, festzustellen. Die Gerichte scheinen insoweit nicht dadurch eingeschränkt zu sein, dass dieser Rechtsakt vor Urteilserlass aufgehoben oder geändert wurde.

45.      Diese doppelte Regelung ist nach Ansicht des VAS, der polnischen Regierung und der Kommission grundsätzlich ausreichend, um das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz zu wahren:

–      Dem VAS zufolge bieten die nationalen Rechtsvorschriften den Betroffenen, die sich durch einen ihrer Meinung nach rechtswidrigen Rechtsakt geschädigt fühlen, die Möglichkeit, den erlittenen Schaden mit einer Schadensersatzklage geltend zu machen. Eine solche Klage ermögliche außerdem eine gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit des betreffenden Rechtsakts und erfülle insbesondere die im Unionsrecht verankerten Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität.

–      Nach Auffassung der polnischen Regierung setzt Art. 47 der Charta nicht voraus, dass es einen eigenständigen Rechtsbehelf gibt, um die Vereinbarkeit nationaler Vorschriften mit dem Unionsrecht zu überprüfen. Soweit das bulgarische Recht im Zusammenhang mit einer Klage auf Ersatz des durch einen aufgehobenen Rechtsakt entstandenen Schadens die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Rechtsakts ermögliche, entspreche die streitige nationale Regelung den Erfordernissen eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes.

–      Die Kommission stimmt, was die Frage betrifft, ob eine Schadensersatzklage, in deren Rahmen die Rechtmäßigkeit der geänderten Vorschrift überprüft werden kann, den Voraussetzungen des Art. 47 der Charta genügt, im Wesentlichen mit der polnischen Regierung überein.

46.      Die vorstehend angeführte Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigt diesen Standpunkt. Unter der Voraussetzung ihrer Effektivität kann eine Staatshaftungsklage einen Rechtsbehelf für die dem Einzelnen entstandenen Schäden darstellen, wenn mit ihr auch die Vereinbarkeit der nationalen Rechtsvorschrift mit dem Unionsrecht überprüft werden kann.

47.      Diese vorläufige Antwort ist jedoch zu relativieren, da der eigenständige Rechtsbehelf, so wie er im bulgarischen Recht geregelt ist, möglicherweise nicht effektiv ist, um die Kontrolle der Vereinbarkeit einer nationalen Verwaltungsvorschrift mit dem Unionsrecht in vollem Umfang gewährleisten zu können, oder störende Auswirkungen hat. Die störenden Auswirkungen haben darüber hinaus Folgen für die Schadensersatzklage, wie ich im Anschluss erläutern werde.

48.      Wie ich bereits hervorgehoben habe, setzt das Unionsrecht keinen eigenständigen Rechtsbehelf voraus. Sieht ein Mitgliedstaat einen solchen Rechtsbehelf jedoch vor, unterliegt die Freiheit des Mitgliedstaats, die verfahrensrechtlichen Modalitäten der in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV genannten Rechtsbehelfe festzulegen, dem Äquivalenz- und dem Effektivitätsgrundsatz(22).

49.      Die Klage auf Haftung des Mitgliedstaats stellt einen subsidiären Rechtsbehelf für den wirksamen Schutz der Rechte des Einzelnen dar, wenn das nationale Recht keinen eigenständigen Rechtsbehelf vorsieht. Gibt es aber einen eigenständigen Rechtsbehelf, muss er, wie gesagt, die im Unionsrecht vorgesehenen Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität erfüllen.

50.      Soweit das nationale Prozessrecht den Zugang des Einzelnen zu einer Entschädigung behindert, erschwert oder verzögert, liegt zudem ein Verstoß gegen das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz vor, woraus ein neuer Staatshaftungsanspruch entstehen kann. Gerade aufgrund dieser Staatshaftung macht IG im Ausgangsverfahren Schadensersatz geltend.

51.      Erfüllt der im bulgarischen Recht vorgesehene eigenständige Rechtsbehelf die unionsrechtlichen Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität?

52.      Was den Äquivalenzgrundsatz betrifft, so scheint der (in dieser Rechtssache vom VAS erklärte) Wegfall des Streitgegenstands nicht nur für Rechtsbehelfe gegen nationale Rechtsvorschriften zu gelten, die mit dem Unionsrecht unvereinbar sind.

53.      Vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht ergibt sich aus den vorliegenden Informationen, dass es auch dann zu einem Wegfall des Streitgegenstands gekommen wäre, wenn die angefochtene Vorschrift aufgrund eines Verstoßes gegen eine höherrangige nationale Vorschrift ungültig wäre.

54.      Was den Effektivitätsgrundsatz anbetrifft, zeigt der im Ausgangsverfahren zu entscheidende Streitfall, dass der eigenständige Rechtsbehelf in der Praxis die Ausübung des IG durch die Unionsrechtsvorschriften verliehenen Rechts insofern deutlich erschwert, als die Änderung der angefochtenen Rechtsvorschrift den Erfolg des Rechtsbehelfs beeinträchtigt, worauf ich im Folgenden eingehen werde.

3.      Wegfall des Streitgegenstands des Rechtsbehelfs gegen einen untergesetzlichen Rechtsakt und Folgen der Änderung des Rechtsakts

55.      Nach den aus den Akten hervorgehenden Informationen, die in der mündlichen Verhandlung bestätigt wurden, ist der Rechtsbehelf gegen untergesetzliche normative Rechtsakte im bulgarischen Recht so gestaltet, dass (wie im vorliegenden Fall) der Streitgegenstand wegfallen kann, wenn der angefochtene Rechtsakt geändert wird, bevor die Gerichte in der Sache endgültig entscheiden(23).

56.      Abstrakt betrachtet steht das Unionsrecht dem nicht entgegen, dass ein Mitgliedstaat Anfechtungsklagen gegen normative Rechtsakte so gestaltet, dass die zuständigen Gerichte grundsätzlich nur über die Rechtmäßigkeit von Vorschriften zu entscheiden haben, die zum Zeitpunkt des Urteils in Kraft sind(24).

57.      Je nach der besonderen Ausgestaltung dieses Grundsatzes im nationalen Recht kann seine Geltung dazu führen, dass die Fähigkeit der Gerichte, die angefochtene und anschließend geänderte Vorschrift allgemein und mit Wirkung erga omnes auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen, erheblich eingeschränkt wird.

58.      Es ist somit zu klären, ob das bulgarische Recht unter Berücksichtigung dieser Einschränkung einen effektiven gerichtlichen Schutz der von der Union verliehenen Rechte gegenüber den Wirkungen einer Vorschrift gewährleistet, die diese vor ihrer Änderung oder Aufhebung entfaltet hat.

59.      Im ursprünglichen Rechtsstreit reichte es für die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils aus, dass die von IG im Verfahren Nr. 1372/2016 angefochtene Vorschrift vor der Entscheidung über die Kassationsbeschwerde geändert wurde. Nachdem die Vorschrift mit dem erstinstanzlichen Urteil aufgehoben worden war, wurde dieses Urteil aufgehoben, ohne dass das Kassationsgericht es in der Sache geprüft hat.

60.      IG konnte somit nicht erreichen, dass die Aufhebung des normativen Rechtsakts, die er bereits in erster Instanz erwirkt hatte, rechtskräftig wird. Vielmehr blieben die in dem Zeitraum zwischen dem Inkrafttreten des unionsrechtswidrigen Rechtsakts und seiner späteren Änderung eingetretenen Wirkungen trotz des Urteils erhalten.

61.      Ursache hierfür ist eine Regelung (oder zumindest ihre gerichtliche Auslegung), die, wie sich in der mündlichen Verhandlung herausgestellt hat, nicht die Voraussetzungen der Klarheit und der Vorhersehbarkeit zu erfüllen scheint, die zur Wahrung des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz erforderlich sind.

62.      In der mündlichen Verhandlung wurde erörtert, auf welcher Rechtsgrundlage die mit fünf Richtern besetzte Kammer des VAS den Wegfall des Streitgegenstands erklärt hat. Auf die Fragen des Gerichtshofs antwortete die Vertreterin des VAS, dass diese Rechtsgrundlage nicht Art. 221 Abs. 4 der Verwaltungsprozessordnung(25) sei und dass die mit fünf Richtern besetzte Kammer keine andere positive Bestimmung genannt habe, auf die sie sich stütze(26).

63.      Die Folgen der mangelnden Klarheit und Vorhersehbarkeit der Vorschrift (die für den Kläger, dem trotz seines Erfolgs in erster Instanz eine Entscheidung in der Sache vorenthalten wird, nachteilig sind) werden noch verstärkt, wenn die Vorschrift, wie IG geltend macht, angewandt wird, ohne dass die Streitparteien vorher gehört werden und sich über die Auswirkungen auf den Rechtsstreit äußern können(27).

64.      Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die streitigen Verfahrensvorschriften in ihrer Wirkung hinreichend klar und vorhersehbar sind oder ob nicht vielmehr die Durchsetzung der Rechte eines von einer unionsrechtswidrigen nationalen Vorschrift Betroffenen vom Ermessen des jeweiligen Gerichts abhängig ist, was einen Verlust an Rechtssicherheit bedeutete.

65.      Der heikelste Aspekt bei der Beurteilung dieser Verfahrensregelung ist jedoch, dass diese die Exekutive ermächtigt, einem bereits erlassenen Gerichtsurteil, in dem eine Verletzung des Unionsrechts festgestellt wurde, rückwirkend seine Wirksamkeit zu nehmen. Hierfür braucht die Exekutive lediglich, bevor das Kassationsgericht sein Urteil erlässt, eine Änderung(28) der im Urteil aufgehobenen Rechtsvorschrift zu beschließen.

66.      Dies soll im Ausgangsverfahren der Fall gewesen sein: Die Behörde soll die Berechnungsmethode „gerade wegen“ des erstinstanzlichen Urteils, mit dem sie aufgehoben wurde, geändert haben(29).

67.      Sollte dies zutreffen – was wiederum vom vorlegenden Gericht festzustellen ist –, würde die Wirksamkeit von gegen untergesetzliche Rechtsvorschriften gerichteten Anfechtungsklagen, auf die hin festgestellt wurde, dass die Vorschriften mit dem Unionsrecht unvereinbar sind, vom Willen der Behörde abhängen, die die angefochtene Vorschrift erlassen hat.

68.      Nichts würde die Behörde also daran hindern, eine Änderung des Rechtsakts gerade zu dem Zweck zu beschließen, die Wirkungen des ersten ihn aufhebenden Urteils zu vermeiden, bevor dieses durch ein rechtskräftiges Urteil im Kassationsverfahren bestätigt wird.

69.      Mit anderen Worten ließe die streitige Verfahrensregelung zu, dass sie als Mittel gebraucht wird, um sicherzustellen, dass eine frühere, auf eine Verletzung des Unionsrechts gestützte Aufhebung nicht wirksam wird. Ebenso würde durch den Verstoß gegen den Effektivitätsgrundsatz eine Verteidigung der Rechte des Einzelnen übermäßig erschwert.

70.      Zwar ist, wie der VAS in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat, die Exekutive bzw. generell die Regierungsbehörde, die einen untergesetzlichen normativen Rechtsakt erlässt, befugt, diesen jederzeit zu ändern oder aufzuheben.

71.      Diese Befugnis darf jedoch nicht dem Zweck dienen, von den Gerichten bereits erlassene Urteile, in denen ein Verstoß gegen Unionsvorschriften festgestellt wurde, zu neutralisieren, da ein solcher Mechanismus gleichzeitig verhindert,

–      dass das erstinstanzliche Urteil durch eine höhere Instanz (in diesem Fall eine mit fünf Richtern besetzte Kammer des VAS) überprüft wird, weil diese Instanz das Urteil nicht aus materiell-rechtlichen Gründen aufhebt, sondern wegen eines Umstands, der in keiner Weise mit dem Verfahren in Verbindung steht und allein vom einseitigen Willen des Urhebers der Vorschrift abhängt, bei dem es sich zudem um den Kassationsbeschwerdeführer handelt;

–      dass die Aufhebung des angefochtenen normativen Rechtsakts, so wie sie vom Gericht erster Instanz ausgesprochen wurde, ihre Wirkung entfaltet, und zwar auch für den Zeitraum, in dem der Rechtsakt in Kraft war.

72.      Dies hat zur Folge, dass eine Anfechtungsklage, die zu einem Zeitpunkt erhoben wurde, als der Rechtsakt in Kraft war, und über die durch ein erstinstanzliches Urteil zu einem Zeitpunkt, als der Rechtsakt ebenfalls noch in Kraft war, zugunsten des Klägers entschieden wurde, aufgrund der späteren Änderung desselben Rechtsakts nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils für gegenstandslos erklärt wird.

73.      Im Ergebnis erreicht die Behörde, die den Rechtsakt erlassen und später als „Reaktion“ auf das erstinstanzliche Urteil (gegen das sie Kassationsbeschwerde eingelegt hat) geändert hat, dass dieses Urteil keine Wirkung entfaltet, obwohl keine höhere Instanz über seinen Inhalt entschieden hat.

74.      Der Erfolg der Anfechtungsklage würde somit in unzulässiger Weise vom Zufall abhängig gemacht. Er hinge nicht mehr von einer gerichtlichen Beurteilung in der Sache ab, sondern davon, ob die Behörde, die die angefochtene Vorschrift erlassen hat, diese ändert, sobald sie feststellt, dass das erstinstanzliche Gericht zu ihren Ungunsten entschieden hat.

75.      Daraus folgt meiner Auffassung nach, dass der im bulgarischen Recht vorgesehene eigenständige Rechtsbehelf unter den vorstehend dargestellten Umständen dem Betroffenen, der eine Verletzung der ihm durch das Unionsrecht verliehenen Rechte geltend macht, keinen wirksamen Schutz zu bieten vermag.

76.      Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die nationale Verfahrensregelung dahin ausgelegt werden kann, dass unter den Umständen des Ausgangsverfahrens die Änderung der angefochtenen Vorschrift einer endgültigen Entscheidung in der Sache nicht entgegensteht.

77.      Zu diesem Zweck ist genau zu prüfen, ob die Folgen der streitigen Regelung hinsichtlich des Wegfalls des Streitgegenstands noch anhängiger Rechtsbehelfe hinreichend klar und genau sind und über eine tragfähige Rechtsgrundlage verfügen.

78.      Schließlich könnte die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, den Geschädigten, wenn die Anfechtungsklage aufgrund des Wegfalls des Streitgegenstands erfolglos ist, auf eine Klage auf Haftung des Staates als subsidiären Mechanismus zum Schutz der verletzten Rechte zu verweisen.

79.      Wie ich bereits erwähnt habe, könnte eine Schadensersatzklage den Schaden ausgleichen, der IG dadurch entstanden ist, dass er zur Einlegung eines gerichtlichen Rechtsbehelfs gezwungen war, der sich im Endeffekt aufgrund von Tatsachen, auf die er keinerlei Einfluss hat, als erfolglos erwiesen hat.

80.      Meiner Ansicht nach darf die Haftung für Schäden, die durch die Anwendung unionsrechtswidriger Vorschriften entstanden sind, nur dann im Wege einer Schadensersatzklage geltend gemacht werden, wenn eine mit dem Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz konforme Auslegung der streitigen Verfahrensregelung nicht möglich ist.

81.      Außerdem ist zu klären, ob das nationale Recht aufgrund der Besonderheit der Regelung über die Anwendung von Richtlinien das berechtigte Interesse derjenigen berücksichtigt, die in der Situation von IG die durch eine Richtlinie verliehenen Rechte nur geltend machen können, wenn die mit der Richtlinie unvereinbare innerstaatliche Vorschrift aufgehoben wird.

82.      Denn selbst wenn die dem Einzelnen Rechte verleihende Richtlinie unmittelbar anwendbar wäre, könnte IG sie kaum gegenüber einem Einzelnen wie dem Energieversorger, an den die sich aus der Anwendung von Nr. 6.1.1 der streitigen Methode ergebenden Beträge gezahlt wurden, geltend machen(30).

83.      Um den Schutz der ihm durch das Unionsrecht verliehenen Rechte zu erlangen, ist der Einzelne nach der im Vorlagebeschluss beschriebenen doppelten Regelung letztlich gezwungen,

–      zunächst die Aufhebung der unionsrechtswidrigen Vorschrift mit Hilfe eines Rechtsbehelfs zu erwirken, bei dem der Streitgegenstand, selbst wenn er in erster Instanz Erfolg hat, unerwartet wegfallen kann, wenn diese Vorschrift mit dem Ziel geändert wird, die Folgen ihrer Aufhebung zu verhindern;

–      und anschließend mit Hilfe einer Staatshaftungsklage den Ersatz des entstandenen Schadens geltend zu machen(31).

84.      Unter diesen Umständen vertrete ich den Standpunkt, dass die streitige Verfahrensregelung die Erlangung von effektivem gerichtlichen Rechtsschutz zur Gewährleistung der aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte übermäßig erschwert.

85.      Dies gilt für Einzelpersonen, die die gerichtliche Aufhebung von mit dem Unionsrecht unvereinbaren Rechtsvorschriften beantragt haben, nicht jedoch für diejenigen, die dies nicht getan haben und eine Entschädigung gegebenenfalls über eine Staatshaftungsklage erwirken müssen.

C.      Dritte Vorlagefrage

86.      Das vorlegende Gericht möchte klären, ob „es zulässig [ist], dass die streitige Vorschrift in dem Zeitraum vom Erlass bis zur Änderung weiterhin die Rechtsverhältnisse für einen unbegrenzten Kreis von Personen regelt, die keine Schadensersatzklagen wegen der Vorschrift erhoben haben“.

87.      Angesichts der Antworten, die ich für die erste und die zweite Vorlagefrage vorschlage, halte ich die Beantwortung der dritten Frage nicht für erforderlich.

88.      Auf jeden Fall ist das in der dritten Vorlagefrage aufgeworfene Problem im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens rein hypothetisch.

89.      Für die Entscheidung über die Schadensersatzklage von IG (die, wie ich betonen möchte, Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist) kommt es nicht darauf an, wie die Rechtsverhältnisse von Personen, die keine Schadensersatzklagen erhoben haben, geregelt sind oder „dass die Beurteilung der Vereinbarkeit der nationalen Norm mit der unionsrechtlichen Norm für die Zeit vor der Änderung nicht in Bezug auf diese Personen vorgenommen wurde“.

90.      Die Erfolgsaussichten der Klage von IG, die zu dem Vorabentscheidungsersuchen geführt hat, stehen in keinem Zusammenhang mit „Personen, die keine Schadensersatzklagen erhoben haben“. Das vorlegende Gericht muss sich allein mit der Klage von IG befassen.

91.      Aus diesen Gründen ist die dritte Vorlagefrage, wie ich sie vorstehend wiedergegeben habe, meiner Auffassung nach unzulässig.

V.      Ergebnis

92.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, dem Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia, Bulgarien) wie folgt zu antworten:

Der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes und insbesondere Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verlangen nicht, dass es einen eigenständigen Rechtsbehelf gibt, der mit dem Hauptantrag auf die Feststellung gerichtet ist, dass nationale Vorschriften gegen das Unionsrecht verstoßen, sofern es einen oder mehrere Rechtsbehelfe gibt, mit denen inzident die Wahrung der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleistet werden kann.

Eine nationale Regelung, die einen eigenständigen Rechtsbehelf vorsieht, mit dem der Verstoß nationaler Rechtsvorschriften gegen Unionsvorschriften gerügt werden kann, muss die Effektivität eines solchen dem Einzelnen zur Verfügung gestellten Anfechtungsmechanismus gewährleisten.

Diese Effektivität ist nicht gewährleistet, wenn in Anwendung der nationalen Regelung das Urteil eines Gerichts, mit dem in erster Instanz ein untergesetzlicher normativer Rechtsakt für mit dem Unionsrecht unvereinbar erklärt wurde und gegen das eine Kassationsbeschwerde eingelegt worden ist, ohne Prüfung der Gründe aufgrund einer bloßen Änderung dieses Rechtsakts aufgehoben werden kann, die nach Erlass dieses Urteils von derselben Behörde vorgenommen wird, die den angefochtenen Rechtsakt erlassen hat, und die auf diese Weise dem Urteil seine Wirkung nimmt und verhindert, dass es im Rahmen des Kassationsverfahrens in der Sache geprüft wird.


1      Originalsprache: Spanisch.


2      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 zur Energieeffizienz, zur Änderung der Richtlinien 2009/125/EG und 2010/30/EU und zur Aufhebung der Richtlinien 2004/8/EG und 2006/32/EG (ABl. 2012, L 315, S. 1).


3      Verwaltungsprozessordnung (DV Nr. 30 vom 11. April 2006).


4      Gesetz über die Haftung des Staates und der Gemeinden für Schäden (DV Nr. 60 vom 5. August 1988).


5      Verordnung Nr. 16-334 vom 6. April 2007 über die Fernwärmeversorgung (DV Nr. 34 vom 24. April 2007).


6      In der mündlichen Verhandlung hat der VAS ausgeführt, das Urteil vom 13. April 2018 stütze sich auf andere Gründe. Der Vorlagebeschluss ist insoweit jedoch eindeutig, und der Gerichtshof hat sich nach den Angaben des vorlegenden Gerichts zu richten. In Rn. 5 des Vorlagebeschlusses heißt es: „Mit Entscheidung … vom 13. April 2018 wurde die Formel in Nr. 6.1.1 … aufgehoben, da sie dem Ziel der Art. 9 und 10 der Richtlinie 2012/27/EU, umgesetzt in Art. 155 Abs. 2 des Energiegesetzes, nicht dienlich sei“.


7      Der geltend gemachte Schaden bestehe in der „Enttäuschung, Wut und Beleidigung aufgrund des Verhaltens der obersten Richter [der] Kammer des VAS, die die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht sichergestellt habe und sich, anstatt den Rechtsstreit zu entscheiden, geweigert habe, seine Kontrolle über die Tätigkeit der Exekutive auszuüben“.


8      In Rn. 17 des Vorlagebeschlusses wird von einer Diskussion in der innerstaatlichen Rechtsprechung über die Auswirkungen von Änderungen von Rechtsvorschriften auf laufende Verfahren berichtet. IG erklärt, dass in einem anderen Urteil des VAS vom 26. Juni 2020 über die Kassationsbeschwerde Nr. 14350/2019 in der Sache entschieden und die Rechtmäßigkeit einiger Artikel der Verordnung Nr. 16-334, die vor dem Erlass des Urteils aufgehoben oder geändert worden seien, geprüft worden sei. Bei der Erörterung dieser Frage in der mündlichen Verhandlung hat sich jedoch gezeigt, dass sich die Kassationsbeschwerde Nr. 14350/2019 auf Vorschriften bezog, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des mündlichen Verfahrens nicht von Aufhebung oder Änderung betroffen waren.


9      Der VAS betont, das Urteil vom 11. Februar 2020 sei rechtskräftig geworden und das Unionsrecht verlange nicht, dass nationale Rechtsvorschriften, die nationalen Gerichtsentscheidungen eine solche Rechtskraft verliehen, unangewendet blieben.


10      Rechtssache C‑497/20, EU:C:2021:1037 (im Folgenden: Urteil Randstad Italia).


11      Urteil Randstad Italia, Rn. 56, mit Verweis auf das Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 32).


12      Urteil Randstad Italia, Rn. 58: „Gleichwohl ist es – vorbehaltlich des Bestehens einschlägiger Unionsregeln – nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, die verfahrensrechtlichen Modalitäten der oben in Rn. 56 erwähnten Rechtsbehelfe festzulegen, vorausgesetzt allerdings, dass diese Modalitäten, wenn sie dem Unionsrecht unterliegende Sachverhalte regeln, nicht ungünstiger sind als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte regeln, die dem innerstaatlichen Recht unterliegen (Äquivalenzgrundsatz), und dass sie die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz)“.


13      Darunter sind Klagen oder Rechtsbehelfe zu verstehen, die sich mit dem Hauptantrag gegen die Vorschrift selbst und nicht nur gegen in Anwendung der Vorschrift getroffene Einzelrechtsakte richten.


14      Urteil vom 21. November 2019, Deutsche Lufthansa (C‑379/18, EU:C:2019:1000, Rn. 61).


15      Urteil vom 19. Dezember 2019, Deutsche Umwelthilfe (C‑752/18, EU:C:2019:1114, Rn. 54).


16      Rechtssache C‑571/16, EU:C:2018:807.


17      Zwar haben sich die einschlägigen bulgarischen Rechtsvorschriften, wie in der mündlichen Verhandlung festgestellt wurde, inzwischen geändert, diese Ausführungen sind jedoch, sofern sie allgemeiner Art sind, weiterhin von Bedeutung.


18      Rn. 140.


19      Rn. 142.


20      Rn. 143.


21      Vgl. Fn. 6 der vorliegenden Schlussanträge.


22      Urteil Randstad Italia, Rn. 58, und Urteil vom 10. März 2022, Grossmania (C‑177/20, EU:C:2022:175, Rn. 49).


23      Die Änderung führt dazu, dass die von der angefochtenen Vorschrift bis zu diesem Zeitpunkt entfalteten Wirkungen aufrechterhalten werden können. Der VAS führt in seinen schriftlichen Erklärungen aus, die unionsrechtlichen Verfahrensvorschriften auf der Grundlage von Art. 149 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs erkennten an, dass der Streitgegenstand eines direkten Rechtsbehelfs wegfallen könne, wenn der angefochtene Rechtsakt vor Urteilserlass geändert werde. Dies ist zwar zutreffend, wenn in erster Instanz keine Entscheidung ergangen ist, jedoch fällt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Streitgegenstand einer Anfechtungsklage gegen einen nicht mehr geltenden Rechtsakt nicht zwangsläufig weg, wenn der Kläger weiterhin ein Interesse an der Aufhebung des Rechtsakts hat. In diesem Sinne vgl. Lenaerts, K., Maselis, I., und Gutman, K., EU Procedural Law, Oxford University Press, Oxford, 2014, Rn. 7.10 und die dort angeführte Rechtsprechung.


24      In einigen Mitgliedstaaten gilt die gleiche Regel für die nachträgliche  Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Rechtsvorschriften. Deren Aufhebung nach Klageerhebung führt grundsätzlich zur Streichung der Rechtssache, da in einem Verfahren, das auf die objektive Korrektur der Rechtsordnung abzielt, kein Urteil über eine nicht mehr in Kraft befindliche Vorschrift erforderlich ist. Dieser Grundsatz kommt jedoch dann nicht zur Anwendung, wenn die Rechtsvorschrift trotz ihrer Aufhebung in gewissem Umfang weiterhin wirksam ist (Fortwirkung) oder fraglich ist, ob sie bei einer Anwendung auf den streitigen Sachverhalt nach dem Prinzip tempus regit factum mit der Verfassung vereinbar war.


25      Ich erinnere daran, dass nach dieser Bestimmung, die in Nr. 10 der vorliegenden Schlussanträge wiedergegeben wird, der VAS in dem Fall, dass die Verwaltungsbehörde den angefochtenen Rechtsakt „zurücknimmt“, die in Zusammenhang mit diesem Rechtsakt erlassene gerichtliche Entscheidung aufhebt.


26      Gemäß dem Vorlagebeschluss (Rn. 9) hat der VAS ausgeführt, der Rechtsstreit betreffe einen aufgehobenen Rechtsakt, auf den Art. 204 Abs. 3 der Verwaltungsprozessordnung angewandt werde. Nach dieser Vorschrift ist die Rechtswidrigkeit des aufgehobenen Rechtsakts, durch den der Schaden verursacht wurde, von dem Gericht festzustellen, das für die Entscheidung über die Schadensersatzklage zuständig ist.


27      In der mündlichen Verhandlung hat IG erklärt, die Kammer des VAS habe über den Wegfall des Streitgegenstands entschieden, ohne ihn hierzu anzuhören.


28      Die Erörterung während der mündlichen Verhandlung hat ergeben, dass eine minimale Änderung der Rechtsvorschrift ausreichen würde, um zum Wegfall des Streitgegenstands des laufenden gerichtlichen Verfahrens zu führen. IG hat geltend gemacht (Rn. 45 seiner schriftlichen Erklärungen), dass es sich bei der eingeführten Änderung nicht um eine Änderung gehandelt habe, da die neue Verordnung dieselbe Methode vorsehe. Das vorlegende Gericht erklärt jedoch, die am 20. September 2019 veröffentlichte Verordnung habe die vorhergehende Verordnung, „insbesondere“ in Bezug auf Nr. 6.1.1 der Methode zur Aufteilung des Wärmeenergieverbrauchs in Gebäuden, die im gemeinschaftlichen Wohneigentum stehen, geändert (Rn. 6 des Vorlagebeschlusses).


29      Rn. 4 der schriftlichen Erklärungen von IG, der diesen Punkt in der mündlichen Verhandlung besonders hervorgehoben hat. Meiner Ansicht nach wurden seine Argumente in der anschließenden Debatte nicht widerlegt.


30      Vgl. hierzu allgemein das Urteil vom 7. August 2018, Smith (C‑122/17, EU:C:2018:631).


31      Der VAS hat in der mündlichen Verhandlung eingewandt, dass jeder, der vor dem VAS die Rechtmäßigkeit einer Vorschrift anfechte, auch eine entsprechende Entschädigung geltend machen könne. Jedoch müsse der VAS selbst den entsprechenden Antrag an das zuständige Gericht weiterleiten, das dann entscheide, ob ein Fall der Staatshaftung vorliege.