Language of document : ECLI:EU:C:2010:404

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PEDRO CRUZ VILLALÓN

vom 6. Juli 20101(1)

Rechtssache C‑306/09

I. B.

gegen

Conseil des ministres

(Vorabentscheidungsersuchen der Cour Constitutionnelle [Belgien])

„Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Fakultative Ablehnungsgründe und Zusicherungen des Ausstellungsstaats – Möglichkeit für einen Mitgliedstaat, die Übergabe einer in seinem Hoheitsgebiet wohnenden Person von der Bedingung abhängig zu machen, dass diese Person nach ihrer Anhörung in dem Staat, in dem der Haftbefehl ausgestellt wurde, zur Verbüßung der gegen sie verhängten Strafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung an den Vollstreckungsstaat rücküberstellt wird – Auswirkung der Gefahr von Grundrechtsverletzungen auf die Entscheidung der Gerichte des Vollstreckungsstaats – Grundrecht auf persönliche und familiäre Intimsphäre“





1.        In dieser Rechtssache geht es um die Auslegung des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten(2) (im Folgenden: Rahmenbeschluss) im Zusammenhang mit der Vollstreckung von im Ausstellungsstaat in Abwesenheit ergangenen Entscheidungen. Die belgische Cour Constitutionnelle (Verfassungsgerichtshof) möchte im Wesentlichen wissen, ob eine Person, die in Abwesenheit verurteilt worden ist, von den Justizbehörden eines Vollstreckungsstaats unabhängig davon ausgeliefert werden muss, ob der Antrag als ein solcher auf Haftbefehl zum Zweck der Strafverfolgung oder als Antrag auf Haftbefehl zum Zweck der Vollstreckung einer Strafe eingestuft wird. Die Einstufung in dem einen oder dem anderen Sinne ist von entscheidender Bedeutung, denn nach dem Wortlaut des Rahmenbeschlusses erlaubt es die eine Art von Haftbefehl, dass der Vollstreckungsstaat die Auslieferung von der Rückkehr der Person abhängig macht, damit sie die Strafe dort verbüßt, während dies im anderen Fall nicht in Betracht kommt.

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

2.        In den Erwägungsgründen des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten werden der Zweck dieses Instruments sowie die Bedeutung der Gewährleistung des Grundrechtsschutzes hervorgehoben:

„(5) Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht zudem die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren innewohnen. Die bislang von klassischer Kooperation geprägten Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sind durch ein System des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen – und zwar sowohl in der Phase vor der Urteilsverkündung als auch in der Phase danach – innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu ersetzen.

(10)      Grundlage für den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls ist ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten. Die Anwendung dieses Mechanismus darf nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Artikel 6 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Artikel 7 Absatz 1 des genannten Vertrags mit den Folgen von Artikel 7 Absatz 2 festgestellt wird.

(12)      Der vorliegende Rahmenbeschluss achtet die Grundrechte und wahrt die in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union anerkannten Grundsätze, die auch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, insbesondere in deren Kapitel VI, zum Ausdruck kommen. Keine Bestimmung des vorliegenden Rahmenbeschlusses darf in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie es untersagt, die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl besteht, abzulehnen, wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der genannte Haftbefehl zum Zweck der Verfolgung oder Bestrafung einer Person aus Gründen ihres Geschlechts, ihrer Rasse, Religion, ethnischen Herkunft, Staatsangehörigkeit, Sprache oder politischen Überzeugung oder sexuellen Ausrichtung erlassen wurde oder dass die Stellung dieser Person aus einem dieser Gründe beeinträchtigt werden kann. Der vorliegende Rahmenbeschluss belässt jedem Mitgliedstaat die Freiheit zur Anwendung seiner verfassungsmäßigen Regelung des Anspruchs auf ein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren, der Vereinigungsfreiheit, der Pressefreiheit und der Freiheit der Meinungsäußerung in anderen Medien.“

3.        In Art. 1 des Rahmenbeschlusses wird der Europäische Haftbefehl definiert und erneut die Bedeutung des Schutzes der von ihm betroffenen Personen betont:

„(1)      Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)      Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)      Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind, zu achten.“

4.        Art. 4 des Rahmenbeschlusses nennt die fakultativen und im Ermessen des Gerichts stehenden Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann; unter ihnen ist Nr. 6 hervorzuheben:

„Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern:

6.      wenn der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist, sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken;

…“

5.        Art. 5 des Rahmenbeschlusses regelt die vom Ausstellungsmitgliedstaat zu gewährenden Garantien, deren Nichtbeachtung die Verweigerung der Übergabe rechtfertigen kann. In Bezug auf das vorliegende Verfahren ist die Abwesenheitsurteile betreffende Garantie von Bedeutung, die folgenden Inhalt hat:

„Die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls durch die vollstreckende Justizbehörde kann nach dem Recht dieses Staates an eine der folgenden Bedingungen geknüpft werden:

1.      Ist der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Strafe oder einer Maßregel der Sicherung ausgestellt worden, die in einem Abwesenheitsurteil verhängt worden ist, und ist die betroffene Person nicht persönlich vorgeladen oder nicht auf andere Weise vom Termin und vom Ort der Verhandlung, die zum Abwesenheitsurteil geführt hat, unterrichtet worden, so kann die Übergabe an die Bedingung geknüpft werden, dass die ausstellende Justizbehörde eine als ausreichend erachtete Zusicherung gibt, wonach die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, die Möglichkeit haben wird, im Ausstellungsmitgliedstaat eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen und bei der Gerichtsverhandlung anwesend zu sein;

3.      Ist die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zum Zweck der Strafverfolgung ergangen ist, Staatsangehöriger des Vollstreckungsmitgliedstaats oder in diesem wohnhaft, so kann die Übergabe davon abhängig gemacht werden, dass die betreffende Person nach Gewährung rechtlichen Gehörs zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängt wird, in den Vollstreckungsmitgliedstaat rücküberstellt wird.“

B –    Nationales Recht

6.        Das Königreich Belgien hat den Rahmenbeschluss 2002/584 durch das Gesetz vom 19. Dezember 2003 über den Europäischen Haftbefehl umgesetzt, dessen Gegenstand in Art. 2 § 3 definiert ist:

„3. Der Europäische Haftbefehl ist eine justizielle Entscheidung der zuständigen Justizbehörde eines Mitgliedstaats der Europäischen Union (ausstellende Justizbehörde) im Hinblick auf die Festnahme und die Übergabe durch die zuständige Justizbehörde eines anderen Mitgliedstaats (vollstreckende Behörde) einer gesuchten Person im Hinblick auf die Strafverfolgung oder die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Sicherungsmaßnahme.“

7.        Durch Art. 4 des Gesetzes wird der folgende Grund für die Ablehnung der Vollstreckung eingeführt:

„Die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls wird in den folgenden Fällen verweigert:

5.      wenn ernsthafte Gründe zur Annahme bestehen, dass die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls die Grundrechte der betroffenen Person verletzen würden, so wie sie durch Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union gewährleistet werden“.

8.        Zu den fakultativen Gründen für die Ablehnung der Vollstreckung sieht Art. 6 des Gesetzes u. a. vor:

„Die Vollstreckung kann in den folgenden Fällen verweigert werden:

4.      wenn der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Strafe oder einer Sicherungsmaßnahme ausgestellt wurde, wenn die betroffene Person Belgier ist oder in Belgien ihren Wohnsitz hat und die zuständigen belgischen Behörden sich verpflichten, diese Strafe oder Sicherungsmaßnahme nach belgischem Recht zu vollstrecken;

…“

9.        Das Verfahren zur Überstellung an den Vollstreckungsstaat ist in Art. 18 § 2 des Gesetzes vom 23. Mai 1990 über die zwischenstaatliche Überstellung von verurteilten Personen, die Übernahme und Übertragung der Beaufsichtigung von bedingt verurteilten oder bedingt freigelassenen Personen und die Übernahme und Übertragung der Vollstreckung von Freiheitsstrafen oder freiheitsentziehenden Maßnahmen geregelt, der folgenden Wortlaut hat:

„Die in Anwendung von Artikel 6 Nr. 4 des Gesetzes vom 19. Dezember 2003 über den Europäischen Haftbefehl ergangene gerichtliche Entscheidung hat die Übernahme der Vollstreckung der Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßnahme, auf die sich die besagte gerichtliche Entscheidung bezieht, zur Folge. Die Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßnahme wird gemäß den Bestimmungen dieses Gesetzes vollstreckt.“

10.      Art. 18 des Gesetzes vom 23. Mai 1990 wurde in ein Kapitel VI mit dem Titel „Die Vollstreckung von im Ausland verhängten Freiheitsstrafen und freiheitsentziehenden Maßnahmen in Belgien“ eingefügt. Er ist im Licht von Art. 25 dieses Gesetzes zu lesen, der Folgendes bestimmt:

„Die Bestimmungen der Kapitel V und VI sind nicht auf in Abwesenheit ergangene strafrechtliche Verurteilungen anwendbar, außer in den in Artikel 18 § 2 vorgesehenen Fällen, wenn es sich um eine in Abwesenheit ergangene und rechtskräftig gewordene Verurteilung handelt.“

11.      Art. 25 des Gesetzes vom 23. Mai 1990 steht der Anwendung von Art. 6 Nr. 4 des Gesetzes auf ein Verfahren der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zur Vollstreckung einer in Abwesenheit verhängten Strafe, gegen die der Verurteilte aber noch über ein Rechtsmittel verfügt, auf das er nicht verzichtet hat, entgegen.

12.      Zu den Garantien, die der Ausstellungsstaat beachten muss, bestimmte der belgische Gesetzgeber in dem Gesetz von 2003 Folgendes:

„Ist der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Strafe oder einer Sicherungsmaßnahme ausgestellt worden, die mit einem in Abwesenheit ergangenen Urteil verhängt worden ist, und ist die betroffene Person nicht persönlich vorgeladen oder nicht auf andere Weise vom Termin und vom Ort der Verhandlung, die zu dem Abwesenheitsurteil geführt hat, unterrichtet worden, so kann die Übergabe an die Bedingung geknüpft werden, dass die ausstellende Justizbehörde eine als ausreichend erachtete Zusicherung gibt, wonach die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, die Möglichkeit haben wird, im Ausstellungsstaat eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen und bei der Gerichtsverhandlung anwesend zu sein.

Das Bestehen einer Bestimmung im Recht des Ausstellungsstaats, in der ein Rechtsmittel sowie die Angabe der Bedingungen für die Einlegung dieses Rechtsmittels vorgesehen sind, aus denen hervorgeht, dass die Person es tatsächlich einlegen kann, sind als ausreichende Zusicherung im Sinne von Absatz 1 anzusehen.“

13.      Art. 8 des Gesetzes aus dem Jahr 2003 enthält eine Klausel, die auf Haftbefehle zum Zweck der Strafverfolgung anzuwenden ist und die Übergabe an Bedingungen knüpft:

„Ist die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zum Zweck der Strafverfolgung ergangen ist, Belgier oder hat sie in Belgien ihren Wohnsitz, so kann die Übergabe davon abhängig gemacht werden, dass die betreffende Person nach ihrer Verurteilung zur Verbüßung der Strafe oder Sicherungsmaßnahme, die im Ausstellungsstaat gegen sie verhängt worden ist, nach Belgien rücküberstellt wird.“

II – Sachverhalt und Verfahren vor den belgischen Gerichten

14.      Im Juni 2000 verurteilte ein Bukarester Gericht erster Instanz I. B., einen rumänischen Staatsangehörigen, wegen Handels mit nuklearen und radioaktiven Substanzen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren. Mit dem Urteil, das im April 2001 in der Berufungsinstanz bestätigt wurde, wurde die Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Am 15. Januar 2002 bestätigte der rumänische Oberste Gerichtshof die gegen I. B. verhängte Strafe, bestimmte aber, dass sie als Haftstrafe zu verbüßen sei. Das Urteil des Obersten Gerichtshofs erging in Abwesenheit, ohne dass I. B. persönlich von dem Termin und dem Ort der seinem Erlass vorausgehenden Verhandlung unterrichtet wurde.

15.      Nach Ansicht von I. B. sind die gerichtlichen Entscheidungen unter schwerwiegender Verletzung von Verfahrensgarantien ergangen. Dieser Umstand habe ihn dazu gezwungen, aus seinem Heimatland zu fliehen und sich in Belgien niederzulassen, wo er sich seither ununterbrochen aufhalte, ohne dass die gegen ihn verhängte Strafe jemals vollstreckt worden wäre.

16.      Am 14. Februar 2006 erhielt I. B. von den belgischen Behörden eine über drei Monate hinausgehende Aufenthaltserlaubnis. Ferner geht aus der Akte hervor, dass I. B. seit dem Jahr 2002 mit seiner Ehefrau und seinen drei Kindern in Belgien wohnt. Im Vorlagebeschluss wird ausgeführt, dass die Ehefrau von I. B. in Belgien als Selbständige niedergelassen sei.

17.      Am 11. Dezember 2007 wurde I. B. aufgrund einer Interpolausschreibung vom 10. Februar 2006 von der belgischen Polizei verhaftet und in ein Gefängnis eingeliefert. Gegenstand des Haftbefehls war die Festnahme und Überstellung von I. B. nach Rumänien zur Vollstreckung des genannten Urteils des rumänischen Obersten Gerichtshofs. Nach seiner Anhörung durch den Untersuchungsrichter wurde I. B. bis zur endgültigen Entscheidung über seine Auslieferung unter Auflagen freigelassen.

18.      Am 13. Dezember 2007 stellte das Bukarester Gericht gegen I. B. einen Europäischen Haftbefehl zur Vollstreckung der gegen ihn in Rumänien verhängten Freiheitsstrafe von vier Jahren aus.

19.      Am 19. Dezember 2007 stellte I. B. beim Ausländeramt einen Antrag auf Anerkennung als Asylbewerber, dem am 11. März 2008 stattgegeben wurde. Am 7. Juli 2008 lehnte das Generalkommissariat für Flüchtlinge und Staatenlose den Antrag jedoch ab. Diese Entscheidung wurde von I. B. angefochten und ist derzeit beim Conseil d’État anhängig.

20.      Am 29. Februar 2008 beantragte die belgische Staatsanwaltschaft beim Gericht erster Instanz Nivelles die Vollstreckung des von der rumänischen Justiz ausgestellten Haftbefehls. Das Gericht stellte am 22. Juli 2008 fest, dass der Haftbefehl sämtliche gesetzlichen Voraussetzungen erfülle. Es wurde aber auch festgestellt, dass der Haftbefehl auf einem in Abwesenheit ergangenen Urteil beruhe, das noch nicht rechtskräftig sei. Darüber hinaus stellte das Gericht fest, dass I. B. nach rumänischem Verfahrensrecht infolge seiner Verurteilung in Abwesenheit das Recht auf eine erneute Beurteilung seiner Sache durch das Gericht des ersten Rechtszugs habe.

21.      Das Gericht erster Instanz Nivelles hatte Zweifel hinsichtlich der Beurteilung des von dem rumänischen Gericht ausgestellten Haftbefehls. Einerseits könne er als Haftbefehl zur Vollstreckung einer Strafe, konkret der im Jahr 2002 verhängten und vom rumänischen Obersten Gerichtshof bestätigten, eingestuft werden. Andererseits könne das Ersuchen als Haftbefehl zur Strafverfolgung qualifiziert werden, denn I. B. habe das Recht auf einen erneuten Prozess, da er in Abwesenheit verurteilt worden sei. Die Entscheidung für die eine oder die andere Einstufung habe erhebliche Konsequenzen: Handele es sich um einen Haftbefehl zur Strafvollstreckung, könne I. B. nicht beantragen, sie in Belgien zu verbüßen, da es sich nicht um die Vollstreckung eines rechtskräftigen Urteils handele. Handele es sich hingegen um einen Haftbefehl zum Zweck der Strafverfolgung, könnten die belgischen Behörden die Auslieferung davon abhängig machen, dass I. B. nach Belgien, sein Wohnsitzland, rücküberstellt werde.

22.      Das Gericht war der Ansicht, es handele sich um einen Haftbefehl zur Strafvollstreckung, so dass keine Rechtsgrundlage dafür bestanden habe, seine Vollziehung abzulehnen oder sie von einer Rücküberstellung abhängig zu machen.

23.      Diese auf einer systematischen Auslegung des belgischen Rechts beruhenden Zweifel liegen einem Antrag auf konkrete Normenkontrolle des Gerichts erster Instanz bei der Cour Constitutionnelle zugrunde, der folgenden Wortlaut hatte:

„Verstößt Art. 8 des Gesetzes vom 19. Dezember 2003 über den Europäischen Haftbefehl, dahin gehend ausgelegt, dass er nur Anwendung findet auf den Europäischen Haftbefehl, der zum Zweck der Strafverfolgung ausgestellt wurde, im Gegensatz zu demjenigen, der zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Sicherungsmaßnahme ausgestellt wurde, gegen die Art. 10 und 11 der Verfassung, indem er verhindern würde, dass die an die ausstellende Justizbehörde erfolgende Übergabe einer Person belgischer Staatsangehörigkeit oder einer Person mit Wohnsitz in Belgien, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zur Vollstreckung einer Strafe, die in einem in ihrer Abwesenheit ergangenen Urteil verhängt worden ist, erlassen wurde, von der Bedingung abhängig gemacht wird, dass diese Person, nachdem sie das Rechtsmittel eingelegt und die Wiederaufnahme des Verfahrens genossen hat, für die die ausstellende Justizbehörde als ausreichend erachtete Zusicherungen im Sinne von Art. 7 dieses Gesetzes gegeben hat, zur Verbüßung der Strafe oder der Sicherungsmaßnahme, die im Ausstellungsstaat gegen sie verhängt worden ist, nach Belgien rücküberstellt wird?“

24.      Die Cour Constitutionnelle kam zu dem Ergebnis, dass die Frage eine Materie betreffe, die im Wesentlichen einer Auslegung des Rahmenbeschlusses 2002/584 bedürfe. Nach Anhörung der Parteien hat sie im Rahmen des Antrags auf konkrete Normenkontrolle beschlossen, dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen.

III – Verfahren vor dem Gerichtshof

25.      Am 31. Juli 2009 ist der Vorabentscheidungsbeschluss der Cour Constitutionnelle mit folgender Frage bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen:

1.      Ist der Europäische Haftbefehl, der zur Vollstreckung einer Verurteilung ausgestellt wurde, die in Abwesenheit ergangen ist, ohne dass die verurteilte Person vom Ort und vom Termin der Verhandlung unterrichtet wurde, und gegen die sie noch ein Rechtsmittel einlegen kann, nicht als ein Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Sinne von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates der Europäischen Union vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten anzusehen, sondern als ein Haftbefehl zum Zweck der Strafverfolgung im Sinne von Art. 5 Nr. 3 dieses Rahmenbeschlusses?

2.      Sind im Fall einer verneinenden Antwort auf die erste Frage Art. 4 Nr. 6 und Art. 5 Nr. 3 dieses Rahmenbeschlusses in dem Sinne auszulegen, dass sie es den Mitgliedstaaten nicht erlauben, die Übergabe einer in ihrem Gebiet wohnhaften Person, gegen die unter den in der ersten Frage beschriebenen Umständen ein Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ergangen ist, an die Justizbehörden des Ausstellungsstaats davon abhängig zu machen, dass diese Person zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel zur Sicherung, die im Ausstellungsstaat endgültig gegen sie verhängt wird, in den Vollstreckungsstaat rücküberstellt wird?

Verstoßen im Fall einer bejahenden Antwort auf die zweite Frage dieselben Artikel gegen Art. 6 Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union, insbesondere gegen den Grundsatz der Gleichheit und Nichtdiskriminierung?

3.      Sind im Fall einer verneinenden Antwort auf die erste Frage die Art. 3 und 4 dieses Rahmenbeschlusses in dem Sinne auszulegen, dass sie es verbieten, dass die Justizbehörden eines Mitgliedstaats die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verweigern, wenn ernsthafte Gründe zur Annahme bestehen, dass dessen Vollstreckung die Grundrechte der betroffenen Person verletzen würde, so wie sie in Art. 6 Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union verankert sind?

26.      I. B., die Regierungen Belgiens, Österreichs, Deutschlands, Polens, Schwedens und des Vereinigten Königreichs sowie die Kommission und der Rat haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

27.      In der mündlichen Verhandlung am 11. Mai 2010 haben die Regierungen Belgiens und Schwedens sowie die Kommission mündliche Ausführungen gemacht.

IV – Vorabuntersuchung

28.      Die vorliegende Rechtssache betrifft die Auslegung des Rahmenbeschlusses 2002/584. Die Cour Constitutionnelle führt aus, der Rahmenbeschluss könne dahin ausgelegt werden, dass einer in einem Mitgliedstaat in Abwesenheit verurteilten Person die Möglichkeit genommen sein könne, dass der Vollstreckungsstaat ihre Übergabe davon abhängig mache, dass sie zur Verbüßung der Freiheitsstrafe in seinem Hoheitsgebiet rücküberstellt werde.

29.      Dem liegt folgende Auslegung zugrunde.

30.      Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 ermächtigt die vollstreckende Justizbehörde, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zu verweigern, wenn er im Ausstellungsstaat „zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung“ ausgestellt worden ist und der Verurteilte Staatsangehöriger des Vollstreckungsstaats ist oder dort seinen Wohnsitz hat bzw. dort wohnt. In diesem Fall kann das zuständige Gericht die Vollstreckung des Haftbefehls verweigern, wenn der Vollstreckungsstaat sich verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung selbst zu vollstrecken. Es handelt sich nach dem Wortlaut des Rahmenbeschlusses um „Gründe, aus denen die Vollstreckung … abgelehnt werden kann“.

31.      Art. 5 wiederum enthält eine Reihe von Garantien, die die Gerichte des Ausstellungsstaats zu beachten haben, wenn sie wollen, dass ihre Entscheidungen nach Maßgabe der im Rahmenbeschluss 2002/584 vorgesehenen Verfahren vollstreckt werden. Hervorzuheben ist neben anderen die in Nr. 1 vorgesehene Garantie, die es ermöglicht, die Übergabe an eine Bedingung zu knüpfen, wenn ein Abwesenheitsurteil gegen den Angeklagten ergangen ist und keine ausreichende Zusicherung gegeben wird, dass die Person, gegen die der Haftbefehl ergangen ist, die Möglichkeit haben wird, die Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen(3). Nr. 3 ergänzt, dass die Übergabe auch von Bedingungen abhängig gemacht werden kann, wenn ein Haftbefehl zum Zweck der Strafverfolgung ergangen ist und die betroffene Person Staatsangehöriger des Vollstreckungsstaats ist oder in diesem wohnhaft ist. In diesem Fall ist die Bedingung dadurch eingeschränkt, dass sich der Ausstellungsstaat verpflichten muss, dass die Person „zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängt wird“, in den Vollstreckungsmitgliedstaat rücküberstellt wird.

32.      Vor diesem Hintergrund schützt der Rahmenbeschluss 2002/584 einerseits die Staatsangehörigen des Vollstreckungsstaats und die Personen, die dort ihren Wohnsitz haben, um ihre Bindungen zu einem bestimmten Gebiet zu wahren. Es handelt sich letzten Endes um eine Art Einrede gegen den Haftbefehl, die auf dem Schutz bestimmter Gefühlsbande einer Person zu ihrem engsten Umfeld beruht. Andererseits wird auch geschützt, wer in einem Ausstellungsstaat in Abwesenheit verurteilt wurde, indem ermöglicht wird, dass diese Person nur übergeben wird, wenn ihr eine Wiederaufnahme des Verfahrens zugesichert wird.

33.      Doch führt, wie der Conseil Constitutionnel festgestellt hat, die Verbindung dieser beiden Ziele zu einem inkohärenten Ergebnis. Dies ist der Fall, wenn jemand geschützt werden muss, auf den beide Voraussetzungen gleichzeitig zutreffen. Genau das ist der Fall bei I. B., einem rumänischen Staatsangehörigen, der sich im Vollstreckungsstaat – Belgien – legal aufhält und dort eine Familieneinheit begründet hat, aber nach Rumänien zurückkehren muss, um eine mit einem Abwesenheitsurteil verhängte Strafe zu verbüßen, dessen Wirkungen er anfechten wird, indem er die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt, auf die er ein Recht hat. Welche Art von Haftbefehl haben die ausstellenden rumänischen Behörden erlassen? Handelt es sich um einen Haftbefehl zur Vollstreckung einer Strafe oder um einen Haftbefehl zum Zweck der Strafverfolgung? Es könnte sich um die erste Variante handeln, doch wären die belgischen Gerichte dann weder durch den Rahmenbeschluss noch durch das innerstaatliche Recht befugt, die Übergabe von I. B. davon abhängig zu machen, dass er später an Belgien rücküberstellt wird, um dort seine Strafe zu verbüßen.

34.      Genau diese Unmöglichkeit für die belgischen Gerichte, die Übergabe von einer späteren Rückkehr von I. B. abhängig zu machen, damit er die Strafe in seinem Wohnstaat verbüßt, ist das Ergebnis, das sowohl das Gericht erster Instanz Nivelles als auch die Cour Constitutionnelle in Frage stellen.

V –    Zur ersten und zur zweiten Vorlagefrage

35.      Mit der ersten Frage bittet die Cour Constitutionnelle den Gerichtshof um Feststellung, ob ein Haftbefehl zur Vollstreckung eines in Abwesenheit ergangenen Urteils, dessen Rechtskraft in Frage gestellt werden kann, indem die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt wird, einen Haftbefehl zur Vollstreckung einer Strafe oder einen Haftbefehl zum Zweck der Strafverfolgung darstellt. Auf der anderen Seite möchte sie wissen, ob dann, wenn es sich bei dem von den rumänischen Behörden ausgestellten Haftbefehl um einen Haftbefehl zur Vollstreckung einer Strafe handelt, das Gericht erster Instanz Nivelles aufgrund des Rahmenbeschlusses berechtigt ist, die Übergabe von I. B. davon abhängig zu machen, dass er in den Vollstreckungsstaat rücküberstellt wird, um dort die Freiheitsstrafe oder die freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsmitgliedstaat rechtskräftig gegen ihn verhängt wird, zu verbüßen.

36.      Obwohl die beiden Fragen scheinbar unterschiedliche Problemstellungen betreffen, bin ich der Ansicht, dass sie gemeinsam beantwortet werden können. Im Folgenden wird dargelegt, dass der Kernpunkt dieser Rechtssache darin besteht, wie die Art. 4 Nr. 6 und 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses auszulegen sind, wenn mit einem Haftbefehl erreicht werden soll, dass eine Person in den Ausstellungsstaat zurückkehrt und dort erneut abgeurteilt wird. Die konkrete Einstufung des Haftbefehls ist eine zweitrangige Frage, da – wie ich weiter unten aufzeigen werde – der Rahmenbeschluss so ausgelegt werden kann, dass auf jeden Fall gewährleistet ist, dass eine Person unabhängig von der formellen Ausgestaltung des Haftbefehls die Garantien in Anspruch nehmen kann, die die genannten Bestimmungen gewährleisten, sei es durch die Ablehnung der Übergabe, sei es, dass sie von Bedingungen abhängig gemacht wird.

37.      Als Ausgangspunkt ist hervorzuheben, dass mit dem Rahmenbeschluss das Ziel verfolgt wird, ein auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruhendes multilaterales System der Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten durch ein System der Übergabe von verurteilten oder verdächtigen Personen zwischen Justizbehörden zu ersetzen, um Urteile oder Verfügungen zu vollstrecken(4). Zu diesem Zweck ist in Art. 4 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses festgelegt, dass die Mitgliedstaaten jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses vollstrecken.

38.      Diese Prämisse hat der Gerichtshof für die Feststellung zum Anlass genommen, dass jede nationale Bestimmung, die die Gründe für die Verweigerung der Vollstreckung einschränkt, „nur das mit diesem Rahmenbeschluss im Sinne eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts errichtete System der Übergabe [verstärkt]“(5). Das bedeutet, je enger das Ermessen ist, das der nationale Gesetzgeber den Gerichten bei der Entscheidung über die Vollstreckung eines Haftbefehls einräumt, desto mehr wird das durch den Rahmenbeschluss geschaffene System der Zusammenarbeit verstärkt. Mit den Worten des Gerichtshofs wird „mit der Begrenzung der Fälle, in denen die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verweigern kann, … die Übergabe gesuchter Personen gemäß dem in Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 aufgestellten Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, bei dem es sich um die mit diesem Rahmenbeschluss eingeführte Grundregel handelt“, erleichtert(6).

39.      Die bisher nicht sehr umfangreiche Rechtsprechung gibt daher Anlass zu der Annahme, dass die Mitgliedstaaten die in Art. 4 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung sowie der in Art. 5 geregelten Garantien eng auslegen müssen. Damit wäre jede weite Auslegung, durch die ein Grund für die Ablehnung der Vollstreckung für Haftbefehle zur Strafverfolgung, wie ihn Art. 5 Nr. 3 vorsieht, auf Haftbefehle zur Vollstreckung einer Strafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel ausgeweitet wird, ausgeschlossen.

40.      Dieses Argument wird durch den Wortlaut des Art. 5 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses verstärkt, nach dem das vollstreckende Gericht die Übergabe an die Bedingung knüpfen kann, dass ein in Abwesenheit Verurteilter das Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens hat. Durch diese Bestimmung wird die hierzu ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umgesetzt(7) und den Garantien zugunsten einer Person wie I. B. Genüge getan, indem gewährleistet wird, dass sie die Möglichkeit einer erneuten Durchführung des Verfahrens, diesmal aber mit allen Garantien, hat.

41.      Obwohl für diese Auslegung der Wortlaut des Rahmenbeschlusses spricht, teile ich sie nicht. Ich bin im Gegenteil der Auffassung, dass von dem Recht, die Strafe im Wohnstaat zu verbüßen, auch dann keine Ausnahme gemacht werden kann, wenn ein zweites Verfahren beantragt wird.

42.      Erstens ist hervorzuheben, dass der Gerichtshof zu keinem Zeitpunkt festgestellt hat, dass die in den Art. 4 bzw. 5 des Rahmenbeschlusses geregelten Gründe dafür, dass die Vollstreckung verweigert und an Bedingungen geknüpft wird, eng auszulegen sind. Im Gegenteil, das Urteil Wolzenburg ist gerade deshalb sehr explizit, weil in ihm keine bestimmte Auslegung dieser Bestimmungen vorgegeben und sogar festgestellt wird, dass „[die Mitgliedstaaten] bei der Durchführung [einer Bestimmung wie Art. 4] … notwendigerweise über einen bestimmten Wertungsspielraum [verfügen]“(8). Damit hat der Gerichtshof es nicht nur vermieden, von einer engen Auslegung zu sprechen, sondern er hat ebenso wenig einen weiten Wertungsspielraum der Mitgliedstaaten anerkannt. Im Gegenteil, sie verfügen über einen „bestimmten“, aber alles andere als weiten Spielraum.

43.      Zweitens bin ich unter Anknüpfung an die vorstehenden Ausführungen der Ansicht, dass bei einer Auslegung nach dem Wortlaut und dem Zweck des Rahmenbeschlusses sämtliche mit ihm verfolgten Ziele zu berücksichtigen sind. Wenn es richtig ist, dass die gegenseitige Anerkennung ein Instrument zur Stärkung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist, so trifft es doch nicht weniger zu, dass der Schutz der Grundrechte und ‑freiheiten ein prius darstellt, das das Bestehen und die Entwicklung dieses Raums legitimiert. Dies wird in den Erwägungsgründen 10, 12, 13 und 14 sowie in Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses wiederholt zum Ausdruck gebracht. Folglich ist, obwohl Art. 5 Nr. 1 eine Garantie enthält, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Hinblick auf Abwesenheitsurteile anerkannt hat, ebenso hervorzuheben, dass in Art. 4 Nr. 6 und 5 Nr. 3 ebenfalls eine Forderung der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Ausdruck kommt(9). Die Möglichkeit, dass ein Verurteilter die Strafe an dem Ort verbüßen kann, an dem er seine persönlichen und gefühlsmäßigen Bindungen hat, ist eine aus Art. 8 der Konvention abgeleitete Garantie, die der Rahmenbeschluss widerspiegeln wollte. Darüber hinaus handelt es sich um Einreden, durch die „die vollstreckende Justizbehörde in die Lage versetzt werden soll, der Frage besondere Bedeutung beizumessen, ob die Resozialisierungschancen der gesuchten Person nach Verbüßung der gegen sie verhängten Strafe erhöht werden können“(10) eine Prämisse, die in einigen Mitgliedstaaten den eigentlichen Zweck des Strafrechts darstellt(11).

44.      Die Notwendigkeit, den Rahmenbeschluss im Licht der Grundrechte auszulegen, ist nach dem Inkrafttreten der Charta der Grundrechte, in deren Art. 7 das Grundrecht auf persönliche und familiäre Intimsphäre verankert ist, noch dringlicher geworden(12). Die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs zu dieser Frage bezog sich sehr spezifisch auf den freien Personenverkehr, hat sich aber nicht unmittelbar mit der Beziehung zwischen diesem Grundrecht und der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen befasst. Die Tatsache, dass die Urteile Kozlowski und Wolzenburg vor dem Inkrafttreten der Charta ergangen sind, hat logischerweise mit diesem Ergebnis zu tun. Seit dem 1. Dezember 2009 hat die Auslegung der Art. 4 Nr. 6 und 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses zwingend im Licht des Art. 7 der Charta zu erfolgen. Unter diesen Umständen kann die in den Nrn. 38 bis 40 dargestellte enge Auslegung nicht durchgreifen.

45.      Drittens kann der Wille des europäischen Gesetzgebers nicht in einem Sinne ausgelegt werden, der zu einem Ergebnis führt, das mit den von ihm verfolgten Zielen unvereinbar ist. Ich schlage dem Gerichtshof nicht vor, eine Auslegung anhand der Ziele des Rahmenbeschlusses vorzunehmen, sondern eher, eine Auslegung zu vermeiden, die ihnen entgegensteht. Diese Schlussfolgerung würde bedeuten, dass die enge Auslegung, die oben dargestellt wurde (und deren Ablehnung ich vorschlage), nicht nur mit dem Rahmenbeschluss, sondern auch mit den Grundrechten, die sich in den genannten Bestimmungen widerspiegeln sollen, unvereinbar wäre.

46.      Ebenso zeigen die vorstehend dargelegten Argumente eindringlich, dass in der Tatsache, dass der Rahmenbeschluss nicht ausdrücklich die Möglichkeit vorsieht, die Vollstreckung eines Haftbefehls zur Strafvollstreckung unter Umständen, die denen des vorliegenden Falls entsprechen, von einer Bedingung abhängig zu machen, keine ausdrückliche gesetzgeberische Entscheidung zum Ausdruck kommt, die das Ergebnis eines klaren und präzisen politischen Willens wäre. Ich gehe im Gegenteil eher von einer Lücke als Folge einer mangelhaften Regelungstechnik aus, die durch Auslegung geschlossen werden kann und muss, ohne dass ein neuer Ablehnungsgrund für die Vollstreckung geschaffen werden muss.

47.      Obwohl diese Auslegung eine unmittelbare Beantwortung der Frage der Cour Constitutionnelle erlauben würde, darf nicht übersehen werden, dass eine gewisse Mehrdeutigkeit im Hinblick auf die Beurteilung des Haftbefehls unter Umständen wie im vorliegenden Fall besteht. Hierzu haben sowohl Belgien wie auch Polen vorgebracht, dass ein Haftbefehl zur Vollstreckung eines in Abwesenheit ergangenen Urteils, das im Rahmen eines außerordentlichen Verfahrens überprüft werden könne, einen Haftbefehl zum Zweck der Strafverfolgung im Sinne des Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses darstelle. I. B., Schweden, Deutschland, Österreich und die Kommission stimmen hingegen dahin überein, dass es sich um einen Haftbefehl zum Zweck der Strafverfolgung im Sinne von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses handele.

48.      Ich schicke voraus, dass alle Beteiligten teilweise Recht haben, denn I. B. wird an Rumänien zur Vollstreckung einer Strafe übergeben, die aufgrund der Tatsache, dass sie in Abwesenheit verhängt wurde, als Grundlage für die Durchführung eines zweiten Verfahrens mit allen Garantien, die anfänglich fehlten, dient. Ich glaube jedoch nicht, dass der zur Festnahme von I. B. ausgestellte Haftbefehl zwingend auf die eine oder die andere Weise zu beurteilen ist. Ich bin eher der Ansicht, dass ein Haftbefehl wie der, der Gegenstand dieses Verfahrens ist, beiden Kategorien zugeordnet werden kann, und zwar im Hinblick auf den Zeitpunkt und das Verhalten der betroffenen Person.

49.      Tatsächlich wird ein Haftbefehl zur Durchsetzung eines Abwesenheitsurteils im Ausstellungsstaat immer als Haftbefehl zur Vollstreckung einer Strafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt. Der grenzübergreifende Charakter des Haftbefehls impliziert, dass dies häufig der Fall ist, und der Rahmenbeschluss trägt dem Rechnung, indem er die Garantien des Art. 5 Nr. 1 gerade zur Vermeidung der Rechtsschutzlosigkeit, zu der Abwesenheitsurteile führen, vorsieht. Es ist offensichtlich, dass der Ausstellungsstaat den Haftbefehl bei seiner Ausstellung zur Strafvollstreckung erlässt, denn es steht noch nicht fest, ob die betroffene Person der Übergabe widerspricht oder beantragt, dass ein neues Verfahren durchgeführt wird. Es hängt gerade von der Person ab, die im Augenblick der Zustellung des Haftbefehls das in den Art. 11 und 13 des Rahmenbeschlusses geregelte Verfahren in Anspruch nehmen und ebenfalls beim Gericht des Vollstreckungsstaats beantragen kann, über die in Art. 3 und 5 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Garantien zu wachen, falls es dies noch nicht getan hat.

50.      Anhand der vorstehenden Ausführungen lässt sich feststellen, dass ein Haftbefehl, der es der angeklagten Person ermöglicht, im Ausstellungsstaat die Wiederaufnahme des Verfahrens zu verlangen, formell einen Haftbefehl zur Vollstreckung einer Strafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung darstellt, der sich in dem Augenblick, in dem die betroffene Person die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt, materiell in einen Haftbefehl zum Zweck der Strafverfolgung umwandelt. Diese Umwandlung darf nicht zum Verlust der Garantien führen, die der Rahmenbeschluss jeder von einem Haftbefehl betroffenen Person gewährt. Im Gegenteil, das Dazwischentreten des Art. 5 Nr. 1, durch den die Problematik der Abwesenheitsurteile gelöst werden soll, ändert das Gepräge des Haftbefehls, berührt aber nicht die Rechte, die das Recht der Union der betroffenen Person verleiht.

51.      Infolgedessen schlage ich dem Gerichtshof vor, Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen, dass er es bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 5 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses einem Vollstreckungsstaat erlaubt, die Vollziehung eines Haftbefehls zur Vollstreckung einer Strafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung von der Zusicherung des Ausstellungsstaats abhängig zu machen, dass die betroffene Person, die Staatsangehöriger des Vollstreckungsstaats ist oder dort ihren Wohnsitz hat, zur Verbüßung der Strafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung in seinem Hoheitsgebiet in ihn rücküberstellt wird.

VI – Zur dritten und zur vierten Vorlagefrage

52.      Angesichts der in der vorstehenden Nummer dargestellten Argumente sind die dritte und die vierte Frage gegenstandslos. Die Antwort, die ich für die beiden ersten Fragen vorschlage, halte ich nicht nur angesichts der mit dem Rahmenbeschluss verfolgten Ziele für zutreffend, sondern auch im Rahmen seiner Auslegung im Licht der Grundrechte. Infolgedessen bin ich der Ansicht, dass eine Untersuchung der übrigen Fragen der Cour Constitutionnelle nicht erforderlich ist.

VII – Ergebnis

53.      Angesichts der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die Fragen der Cour Constitutionnelle wie folgt zu beantworten:

Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses ist dahin auszulegen, dass er es bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 5 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses einem Vollstreckungsstaat erlaubt, die Vollziehung eines Haftbefehls zur Vollstreckung einer Strafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung von der Zusicherung des Ausstellungsstaats abhängig zu machen, dass die betroffene Person, die Staatsangehöriger des Vollstreckungsstaats ist oder dort ihren Wohnsitz hat, zur Verbüßung der Strafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung in seinem Territorium in ihn rücküberstellt wird.


1 – Originalsprache: Spanisch.


2 – Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 (ABl. L 190, S. 1).


3 – Diese Bestimmung wurde aufgehoben und ersetzt durch den neuen Art. 4a, eingeführt durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 zur Änderung der Rahmenbeschlüsse 2002/584/JI, 2005/214/JI, 2006/783/JI, 2008/909/JI und 2008/947/JI zur Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht erschienen ist (ABl. L 81, S. 24).


4 – Urteil vom 3. Mai 2007, Advocaten voor de Wereld (C‑303/05, Slg. 2007, I‑3633, Randnr. 28).


5 – Urteil vom 6. Oktober 2009, Wolzenburg (C‑123/08, Slg. 2009, I‑0000, Randnr. 58).


6 – Urteil Wolzenburg, Randnr. 59.


7 – Vgl. u. a. die Urteile Goddi/Italien vom 9. April 1984, Randnr. 27, Ekbatani/Schweden vom 26. Mai 1988, Randnr. 25, Pfeifer und Plankl/Österreich vom 25. Februar 1992, Randnr. 37, Van Geyseghem/Belgien vom 21. Januar 1999, Randnr. 34, und Poitrimol/Frankreich vom 23. November 2003, Randnr. 31.


8 – Urteil Wolzenburg, Randnr. 61 (Hervorhebung nur hier).


9 – Vgl. u. a. die Urteile Mehemi/Frankreich vom 26. September 1997, § 34, ECHR 1997-VI, Dalia/Frankreich vom 19. Februar 1998, § 52, ECHR 1998‑I, Boultif/Schweiz vom 2. Juli 2001, §§ 39, 41 und 46, ECHR 2001‑IX, Sen/Niederlande vom 21. Dezember 2001, § 40, Amrollahi/Dänemark vom 11. Juli 2002, §§ 33 bis 44, und Slivenko/Litauen vom 9. September 2003, § 94.


10 – Urteile vom 17. Juli 2008, Kozlowski (C‑66/08, Slg. 2008, I‑6041, Randnr. 45), und Wolzenburg, Randnr. 62.


11 – Vgl. z. B. Art. 27 Abs. 3 der italienischen Verfassung und Art. 25 Abs. 2 der spanischen Verfassung.


12 – Vgl. u. a. die Urteile vom 11. Juli 2002, Carpenter (C‑60/00, Slg. 2002, I‑6279, Randnr. 38), vom 25. Juli 2002, MRAX (C‑459/99, Slg. 2002, I‑6591, Randnr. 53), vom 14. April 2005, Kommission/Spanien (C‑157/03, Slg. 2005, I‑2911, Randnr. 26), vom 31. Januar 2006, Kommission/Spanien (C‑503/03, Slg. 2006, I‑1097, Randnr. 41), vom 27. April 2006, Kommission/Deutschland (C‑441/02, Slg. 2006, I‑3449, Randnr. 109), und vom 11. Dezember 2007, Eind (C‑291/05, Slg. 2007, I‑10719, Randnr. 44).