URTEIL DES GERICHTS (Vierte Kammer)
1. Oktober 1998 (1)
„Binnenschiffahrt Strukturbereinigung Bedingungen für die Inbetriebnahme
neuer Schiffe Befreiung“
In der Rechtssache T-155/97
Natural van Dam AG, Gesellschaft schweizerischen Rechts mit Sitz in Basel
(Schweiz),
Danser Container Line BV, Gesellschaft niederländischen Rechts mit Sitz in
Sliedrecht (Niederlande),
Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt Marius J. van Dam, Rotterdam,
Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Fernand Entringer, 34 A, Rue
Phillipe II, Luxemburg,
gegen
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten zunächst durch Berend-Jan Drijber, sodann durch Laura Pignataro und Maurits Lugard, Juristischer Dienst,
als Bevollmächtigte; Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de la Cruz,
Juristischer Dienst, Centre Wagner, Luxemburg-Kirchberg,
wegen Nichtigerklärung der Entscheidung SG(97) D/1862 der Kommission vom 7.
März 1997, mit der diese die Anwendung von Artikel 8 Absatz 3 Buchstabe c der
Verordnung (EWG) Nr. 1101/89 des Rates vom 27. April 1989 über die
Strukturbereinigung in der Binnenschiffahrt (ABl. L 116, S. 25) auf drei
Schiffbauvorhaben der Klägerinnen abgelehnt hat,
erläßt
DAS GERICHT ERSTER INSTANZ
DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin P. Lindh sowie der Richter K. Lenaerts und
J. D. Cooke,
Kanzler: A. Mair, Verwaltungsrat
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14.
Mai 1998,
folgendes
Urteil
Sachverhalt
- 1.
- Die Verordnung (EWG) Nr. 1101/89 des Rates vom 27. April 1989 über die
Strukturbereinigung in der Binnenschiffahrt (ABl. L 116, S. 25) bezweckt den
Abbau des Schiffsraumüberhangs, der in allen Bereichen des
Binnenschiffsgüterverkehrsmarktes zu verzeichnen ist. Hierfür sind eine auf
Gemeinschaftsebene koordinierte Abwrackaktion und Begleitmaßnahmen
vorgesehen. Nach der Regel „alt für neu“ muß der Eigentümer eines neuen
Schiffes für dessen Inbetriebnahme ohne Abwrackprämie eine Schiffsraumtonnage
abwracken, die der Tonnage dieses Schiffes entspricht. Wenn er kein Schiff
abwrackt, muß er an den zu diesem Zweck errichteten Fonds, bei dem sein neues
Schiff gemeldet ist, einen Sonderbeitrag entrichten (Artikel 8 Absatz 1 der
Verordnung Nr. 1101/89).
- 2.
- Nach Artikel 8 Absatz 3 Buchstabe c der Verordnung Nr. 1101/89 besteht die
Möglichkeit, für „Spezialschiffe“ von dieser allgemeinen Regelung abzuweichen.
- 3.
- Am 7. Dezember 1990 verfaßte die Kommission nach Konsultation der
Mitgliedstaaten und der Binnenschiffahrtsverbände einen Vermerk über die
Definition allgemeiner Kriterien für die Prüfung von Anträgen auf Befreiung von
Spezialschiffen von der Verordnung Nr. 1101/89 (im folgenden:
Auslegungsvermerk).
- 4.
- Nach diesem Vermerk kann eine Befreiung gewährt werden, wenn die drei
folgenden Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind:
Das Schiff muß speziell für die Beförderung einer bestimmten
Warenkategorie konstruiert sein und darf ohne Konstruktionsänderung
technisch nicht für die Beförderung anderer Waren geeignet sein;
die Ware kann oder darf nicht mit Schiffen befördert werden, die nicht über
technische Spezialvorrichtungen verfügen;
der Eigentümer des Spezialschiffes muß sich schriftlich verpflichten, daß mit
seinem Schiff keine andere Ware befördert wird, solange die Regel „alt für
neu“ gilt, und sich bereit erklären, später den Sonderbeitrag „alt für neu“
zu entrichten, wenn er gleich, aus welchen Gründen während der
Geltungsdauer der Regel „alt für neu“ mit seinem Schiff andere Waren
befördern möchte.
- 5.
- Die Natural van Dam AG und die Danser Container Line BV, die eine
Containerlinie auf dem Rhein betreiben, beabsichtigten den Bau von drei
Spezialschiffen, die für den Containertransport gefährlicher Stoffe bestimmt waren
und entweder unter Schweizer Flagge oder der Flagge eines Mitgliedstaats fahren
sollten.
- 6.
- Am 5. Juli 1996 stellten sie bei der Kommission einen Antrag auf Befreiung gemäß
Artikel 8 Absatz 3 Buchstabe c der Verordnung Nr. 1101/89.
- 7.
- Zur Begründung ihres Antrags verwiesen sie auf die positiven Auswirkungen, die
die Entwicklung des Binnenschiffahrttransports gefährlicher Stoffe durch keinen
quantitativen Beschränkungen unterliegende Spezialschiffe sowohl auf den
Schiffahrtsmarkt als auch auf die allgemeine Verkehrspolitik hätte, die eine
Entlastung des Straßengüterverkehrs befürworte. Die Entrichtung des in der
Verordnung Nr. 1101/89 vorgesehenen Beitrags würde ihr Vorhaben wirtschaftlich
und kommerziell undurchführbar machen und somit das Gegenteil dessen
bewirken, was von der allgemeinen Verkehrspolitik erhofft werde.
- 8.
- Die Klägerinnen führten ferner die technischen Spezifikationen dieser Schiffe auf,
die den Sicherheitsanforderungen entsprächen, und wiesen auf die damit
verbundenen finanziellen Lasten hin. Der Umfang der getätigten Investitionen
rechtfertige es, sie von der Entrichtung des Beitrags „alt für neu“ zu befreien.
- 9.
- Diese Spezialschiffe würden weiterhin zum Containertransport anderer Waren
dienen, die gewöhnlich mit herkömmlichen Schiffen befördert würden.
- 10.
- Am 25. Oktober 1996 wurden die Mitgliedstaaten und die
Binnenschiffahrtsverbände gemäß dem in Artikel 8 Absatz 3 Buchstabe c der
Verordnung Nr. 1101/89 vorgesehenen Verfahren konsultiert.
- 11.
- Im Anschluß an diese Konsultation teilte die Kommission den Klägerinnen mit
Schreiben vom 7. März 1997 (SG[97] D/1862) mit, daß sie ihnen die beantragte
Befreiung nicht gewähren werde (im folgenden: angefochtene Entscheidung).
- 12.
- Unter Bezugnahme auf die in ihrem Auslegungsvermerk aufgestellten
Voraussetzungen führte sie aus, daß zum einen die drei betreffenden Schiffe
technisch für die Beförderung anderer Waren als gefährlicher Stoffe geeignet seien
und daß zum anderen diese Stoffe von herkömmlichen Schiffen befördert werden
könnten, die den technischen Vorschriften der Verordnung über die Beförderung
gefährlicher Güter auf dem Rhein entsprächen (im folgenden: ADNR).
- 13.
- Die Inbetriebnahme der betreffende Schiffe würde somit eine Erhöhung der
Flottenkapazität bewirken, die den Strukturbereinigungsmaßnahmen unterliege;
daher könnten diese Schiffe nicht als „Spezialschiffe“ im Sinne von Artikel 8
Absatz 3 Buchstabe c der Verordnung Nr. 1101/89 angesehen werden.
Verfahren und Anträge der Parteien
- 14.
- Die Klägerinnen haben mit Klageschrift, die am 7. Mai 1997 bei der Kanzlei des
Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage auf Nichtigerklärung der
angefochtenen Entscheidung erhoben.
- 15.
- Auf Bericht des Berichterstatters hat das Gericht (Vierte Kammer) beschlossen, die
mündliche Verhandlung ohne vorherige Beweisaufnahme zu eröffnen. Es hat die
Klägerinnen jedoch gemäß Artikel 64 der Verfahrensordnung aufgefordert, das
ADNR vorzulegen. Die Klägerinnen sind dieser Aufforderung nachgekommen.
- 16.
- Die Parteien haben in der Sitzung vom 14. Mai 1998 mündlich verhandelt und
Fragen des Gerichts beantwortet.
- 17.
- Die Klägerinnen beantragen,
die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären;
der Beklagten die Kosten aufzuerlegen.
- 18.
- Die Kommission beantragt,
die Klage abzuweisen;
den Klägerinnen die Kosten aufzuerlegen.
Begründetheit
- 19.
- Die Klägerinnen stützen ihre Klage auf eine Vielzahl von Argumenten, die sich in
zwei Klagegründe aufgliedern, mit denen ein Verstoß gegen die Verordnung Nr.
1101/89 und ein Verstoß der Kommission gegen ihre Begründungspflicht geltend
gemacht werden.
Erster Klagegrund: Verstoß gegen die Verordnung Nr. 1101/89
Vorbringen der Parteien
- 20.
- Die Klägerinnen vertreten die Auffassung, daß ihre Schiffe Spezialschiffe im Sinne
von Artikel 8 Absatz 3 Buchstabe c der Verordnung Nr. 1101/89 seien und ihnen
daher die Abweichung von der Regel „alt für neu“ zugute kommen müsse.
- 21.
- Für diese Auffassung führen die Klägerinnen vier Argumente an.
- 22.
- Erstens habe die Kommission in der angefochtenen Entscheidung das Ziel der
Verordnung Nr. 1101/89 nicht ordnungsgemäß untersucht. Die Verordnung
bezwecke nicht, die Verlagerung künftiger Warentransportströme von der Straße
auf die Binnenschiffahrt zu bremsen, sondern im Gegenteil, eine solche Alternative
zu entwickeln. Diese Behauptung stützen die Klägerinnen auf die zweite
Begründungserwägung der Verordnung Nr. 1101/89, der zufolge der ständige
Rückgang des Anteils der Binnenschiffahrt am gesamten Verkehrsmarkt auf den
fortschreitenden Veränderungen in der Grundstoffindustrie beruhe, die
hauptsächlich auf dem Wasserweg versorgt werde. Die drei Schiffe hätten zur
Schaffung eines Sektors für die Beförderung spezieller gefährlicher Stoffe
beigetragen, der als neuer Sektor nicht durch den Kapazitätsüberhang
gekennzeichnet gewesen wäre, der durch die Verordnung Nr. 1101/89 verringert
werden solle. Bei einer sachgerechten Auslegung des Artikels 8 Absatz 3 Buchstabe
c der Verordnung Nr. 1101/89 hätte ihren Schiffen die Befreiung zugute kommen
müssen.
- 23.
- Zweitens wenden sich die Klägerinnen gegen die Auffassung der Kommission, daß
ihre Schiffe nicht als Spezialschiffe eingestuft werden könnten, weil für sie die
Möglichkeit bestehe, andere Waren zu befördern. Diese Möglichkeit hätte die
Entwicklung eines neuen Segments des Binnenschiffsgüterverkehrsmarktes zur
Folge, nämlich des Containertransports gefährlicher Stoffe, der keinen strukturellen
Kapazitätsüberhang aufweise und der es der Binnenschiffahrt erlauben würde,
einen neuen Anteil am Verkehrsmarkt allgemein zu erobern.
- 24.
- Drittens bestreiten die Klägerinnen die Behauptung der Kommission, daß die drei
Schiffe zur Erhöhung der Flottenkapazität beitragen würden. Sie wiederholen in
diesem Zusammenhang ihr Vorbringen zur Zielsetzung der Verordnung Nr.
1101/89 und führen aus, daß die drei Schiffe der Beginn eines neuen logistischen
Konzepts gewesen wären, das zur Schaffung des spezifischen Marktes für
Containertransport geführt hätte. Dieser neue Markt würde die betreffende
Beförderung durch Schiffe sicherstellen und so an die Stelle des gegenwärtig
genutzten Straßengüterverkehrs treten. Entgegen dem Vorbringen der Kommission
hätten ihre Schiffe daher eine neue Wettbewerbskapazität geboten, die die
Flottenkapazität anderer Sektoren nicht erhöht hätte.
- 25.
- Viertens zeigten die technischen Merkmale des Schiffe und ihre Übereinstimmung
mit dem ADNR (Anlage B Kapitel I Rn. 10111 ff. und Rn. 10400 ff. des ADNR),
daß es sich um besondere Schiffe handele. Aus dem ADNR ergebe sich, daß es im
vorliegenden Fall nicht um gefährliche Stoffe allgemein gehe, sondern um
besondere gefährliche Stoffe, die bei den für ihre Beförderung bestimmten Schiffen
besondere technische Merkmale voraussetzten.
- 26.
- Die Schiffe der Klägerinnen gehörten somit im Rahmen des ADNR einer
Sonderkategorie an. Die Klägerinnen wenden sich in diesem Zusammenhang gegen
die Behauptung der Kommission, daß die Anwendung und die Einhaltung des
ADNR nicht voraussetzten, daß es sich um besondere Schiffe handele. Um die
beabsichtigte Beförderung spezieller gefährlicher Stoffe auf dem Binnenwasserweg
kommerziell möglich zu machen, würden die betreffenden Schiffe im Gegensatz zu
herkömmlichen Schiffen unter Verwendung spezieller Techniken konstruiert.
Darüber hinaus zeigten sowohl die speziellen Konstruktionstechniken als auch der
Umstand, daß die Zusammenladeverbote des ADNR auf die drei geplanten Schiffe
nicht angewandt würden, daß es sich bei diesen Schiffen um besondere Schiffe
handele.
- 27.
- Die Kommission bestreitet die Erheblichkeit all dieser Argumente, da sie im
Widerspruch zu dem in der Verordnung Nr. 1101/89 festgelegten Ziel stünden, den
strukturellen Kapazitätsüberhang im Sektor der Binnenschiffahrt abzubauen. Die
betreffenden Schiffe entsprächen keiner der drei im Auslegungsvermerk
festgelegten kumulativen Befreiungsvoraussetzungen. In diesem Zusammenhangweist die Beklagte insbesondere darauf hin, daß die Schiffe mehrere Warensorten
hätten befördern sollen. Schließlich könne aus der Einhaltung der Vorschriften des
ADNR nicht hergeleitet werden, daß es sich um Spezialschiffe im Sinne von Artikel
8 Absatz 3 Buchstabe c der Verordnung Nr. 1101/89 handele, da das ADNR
allgemein für alle Schiffe gelte, die gefährliche Stoffe beförderten.
Würdigung durch das Gericht
- 28.
- Artikel 1 der Verordnung Nr. 1101/89 bestimmt:
„(1) Binnenschiffe, die zwischen zwei oder mehreren Punkten
Güterbeförderungen auf Binnenwasserstraßen der Mitgliedstaaten
durchführen, unterliegen Maßnahmen zur Strukturbereinigung der
Binnenschiffahrt nach Maßgabe dieser Verordnung.
(2) Die Maßnahmen nach Absatz 1 erstrecken sich auf
den Abbau der strukturellen Kapazitsüberhänge durch auf
Gemeinschaftsebene koordinierte Abwrackaktionen,
Begleitmaßnahmen, die darauf abzielen, die Vergrößerung
bestehender oder die Entstehung neuer Kapazitsüberhänge zu
verhindern.“
- 29.
- Diese Vorschrift ist im Licht der zweiten und der sechsten Begründungserwägung
der Verordnung auszulegen, in denen es heißt:
„In den nächsten Jahren ist in diesem Bereich nicht mit einem ausreichenden
Nachfrageanstieg zu rechnen, der diesen Kapazitsüberhang auffangen könnte. Denn
der Anteil der Binnenschiffahrt am gesamten Verkehrsmarkt geht wegen der
fortschreitenden Veränderungen in der Grundstoffindustrie, die hauptsächlich auf
dem Wasserweg versorgt wird, ständig zurück.
...
Der Kapazitätsüberhang ist generell in allen Bereichen des
Binnenschiffsgüterverkehrsmarktes zu verzeichnen. Die zu beschließenden
Maßnahmen müssen daher allgemein eingeführt werden und für alle Güterschiffe
und Schubboote gelten.“
- 30.
- Artikel 8 Absatz 3 Buchstabe c der Verordnung bestimmt:
„Die Kommission kann nach Konsultation der Mitgliedstaaten und der
Binnenschiffahrtsverbände auf Gemeinschaftsebene Spezialschiffe von Absatz 1
ausnehmen.“
- 31.
- Da diese Vorschrift von der geltenden allgemeinen Regelung abweicht, ist sie unter
Berücksichtigung des Zweckes der Verordnung Nr. 1101/89 eng auszulegen.
- 32.
- Die Klägerinnen vertreten die Auffassung, die genannte Abweichung könne ihnen
zugute kommen, da die Verordnung Nr. 1101/89 nicht der Inbetriebnahme neuer
Schiffe entgegenstehe, die in einem neuen Segment des Binnenschiffahrtsmarkts,
dem Containertransport gefährlicher Stoffe, eingesetzt würden. Diese
Beförderungsart stelle nämlich ein neues Angebot dar, das nicht zur Erhöhung des
bestehenden Kapazitätsüberhangs auf dem Binnenschiffahrtsmarkt beitrage.
- 33.
- Die Klägerinnen haben jedoch während des gesamten Verfahrens behauptet, daß
die betreffenden Schiffe nicht nur für die Beförderung gefährlicher Stoffe, sondern
auch für die Beförderung anderer Waren bestimmt seien (siehe oben, Randnr. 9).
In der mündlichen Verhandlung haben sie sogar erläutert, daß sie beabsichtigten,
andere Waren zu befördern, solange der Containertransport gefährlicher Stoffe
allein wirtschaftlich nicht tragbar sei.
- 34.
- Aus den Erklärungen der Klägerinnen ergibt sich somit eindeutig, daß ihre Schiffe
zur Erhöhung des Schiffsraumüberhangs der für die Beförderung anderer Waren
eingesetzten Flotten beigetragen hätten, die bereits einen Kapazitätsüberhang zu
verzeichnen haben. Die Inbetriebnahme dieser Schiffe hätte daher gegen die Ziele
der Verordnung Nr. 1101/89 verstoßen.
- 35.
- In diesem Zusammenhang ist unbeachtlich, daß die betreffenden Schiffe in einem
gesonderten Segment des Binnenschiffahrtsmarkts, dem Markt des
Containertransports, eingesetzt werden. Die Gewährung einer Befreiung gemäß
Artikel 8 Absatz 3 Buchstabe c der Verordnung Nr. 1101/89 setzt entsprechend
Aufbau und Zweck dieser Verordnung voraus, daß die neuen Schiffe nicht zur
Erhöhung der Kapazität zur Beförderung solcher Waren beitragen, die durch
andere, bereits auf dem Binnenschiffahrtsmarkt eingesetzte Schiffe befördert
werden können. Der Binnenschiffahrtsmarkt ist also insgesamt zu berücksichtigen,
damit beurteilt werden kann, ob die Inbetriebnahme eines neuen Schiffes zu einer
Erhöhung des bestehenden Kapazitätsüberhangs in diesem Sektor beiträgt.
- 36.
- Auch das Argument der Klägerinnen, ihre Schiffe hätten zur Entlastung des
Straßengüterverkehrs und zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der
Binnenschiffahrt beigetragen, entkräftet nicht die Schlußfolgerung, daß die
Inbetriebnahme der Schiffe der Klägerinnen gegen das Ziel der Verordnung Nr.
1101/89 verstoßen hätte. Denn aus den Erklärungen der Klägerinnen im
schriftlichen Verfahren und insbesondere aus ihrer Behauptung, daß ihre Schiffe
andere Waren des Binnenschiffahrtsmarkts hätten befördern können (siehe oben,
Randnrn. 33 und 34), ergibt sich, daß sie mit dem Vorhaben der Inbetriebnahme
dieser Schiffe nicht nur das Ziel einer Entlastung der Straßengüterverkehrs
verfolgten. Daher konnte das an sich legitime Ziel der Entlastung des
Straßengüterverkehrs nicht einen Vorgang rechtfertigen, der eine Vergrößerung der
bestehenden Kapazitätsüberhänge bewirkt hätte.
- 37.
- Schließlich ist zum Vorbringen der Klägerinnen, daß es sich bei den Schiffen
deshalb um spezielle Schiffe handele, weil sie den Vorschriften des ADNR
entsprächen, festzustellen, daß die Sicherheitsregeln und die technischen
Bedingungen des ADNR je nach Art und physischen Eigenschaften der beförderten
Stoffe mehr oder weniger zwingend für alle Schiffe gelten, die für die Beförderung
gefährlicher Stoffe bestimmt sind. Denn die gefährlichen Stoffe im Sinne des
ADNR umfassen alle Gegenstände und Materialien, deren Beförderung nur unter
bestimmten Bedingungen zugelassen ist.
- 38.
- Folglich handelte es sich nicht um Spezialschiffe im Sinne von Artikel 8 Absatz 3
Buchstabe c der Verordnung Nr. 1101/89, selbst wenn die Konstruktion der
betreffenden Schiffe tatsächlich den strengen Vorschriften des ADNR entsprochen
haben sollte.
- 39.
- Ihre Übereinstimmung mit den Vorschriften des ADNR ist daher für die
Entscheidung des Rechtsstreits unerheblich.
- 40.
- Darüber hinaus geht aus den Erklärungen der Klägerinnen hervor, daß die
Einhaltung der strengen technischen Bedingungen des ADNR es ermöglicht hätte,
die betreffenden Schiffe nicht den Zusammenladeverboten zu unterwerfen. Diese
Schiffe hätten daher gleichzeitig mehrere Warensorten befördern dürfen, so daß
sie möglicherweise zum bestehenden Kapazitätsüberhang im
Binnenschiffahrtssektor beigetragen hätten.
- 41.
- Folglich hat die Kommission zu Recht die Auffassung vertreten, daß die
betreffenden Schiffe insbesondere deswegen nicht ausgenommen werden durften,
weil die Klägerinnen beabsichtigten, andere Waren als diejenigen zu befördern, für
die ihre Schiffe speziell konstruiert waren.
- 42.
- Nach alledem ist der erste Klagegrund zurückzuweisen.
Zweiter Klagegrund: Verstoß der Kommission gegen ihre Begründungspflicht
Vorbringen der Parteien
- 43.
- Die Klägerinnen beanstanden, daß die Kommission die technischen Merkmale der
Schiffe nicht vollständig untersucht habe. Sie habe, da sie der Auffassung gewesen
sei, daß die Inbetriebnahme der drei Schiffe zur Erhöhung des
Schiffsraumüberhangs der Flotte beitragen würde, nicht die positiven Auswirkungen
berücksichtigt, die die Eroberung eines neuen, bis dahin vom Straßengüterverkehr
eingenommenen Marktes auf die Binnenschiffahrt hätte.
- 44.
- Im übrigen habe sie nicht angegeben, welche Auffassung die Mitgliedstaaten und
die betroffenen Verbände vertreten hätten. Diese hätten sich außerdem bei ihrer
Beurteilung auf falsche Tatsachen gestützt. Die betreffenden gefährlichen Stoffe
könnten nämlich entgegen der Behauptung der Kommission nicht mit
herkömmlichen Schiffen befördert werden, die nicht über Spezialvorrichtungen
verfügten.
- 45.
- Die Kommission wendet sich gegen diese Argumente. Insbesondere sei, wie
ausdrücklich aus der angefochtenen Entscheidung hervorgehe, die Weigerung, den
Klägerinnen eine Befreiung zu gewähren, bereits dadurch gerechtfertigt, daß sich
die drei Schiffe technisch für die Beförderung anderer Waren eigneten.
- 46.
- Außerdem habe die angefochtene Entscheidung in der Stellungnahme der
Mitgliedstaaten und der betroffenen Verbände, die im übrigen nicht bindend sei,
breite Unterstützung gefunden.
Würdigung durch das Gericht
- 47.
- Die Begründung einer Einzelentscheidung soll den Gemeinschaftsrichter in die
Lage versetzen, deren Rechtmäßigkeit zu überprüfen, und es dem Betroffenen
ermöglichen, die Gründe für die erlassene Maßnahme zu erfahren, so daß er seine
Rechte verteidigen und die Begründetheit der Entscheidung prüfen kann (vgl.
insbesondere Urteil des Gerichtshofes vom 28. März 1984 in der Rechtssache 8/83,
Bertoli/Kommission, Slg. 1984, 1649, Randnr. 12; Urteile des Gerichts vom 24.
Januar 1992 in der Rechtssache T-44/90, La Cinq/Kommission, Slg. 1992, II-1,
Randnr. 42, und vom 29. Juni 1993 in der Rechtssache T-7/92, Asia Motor France
u. a./Kommission, Slg. 1993, II-669, Randnr. 30).
- 48.
- Die Kommission ist somit nicht verpflichtet, in der Begründung ihrer
Entscheidungen zu allen Argumenten Stellung zu nehmen, auf die die Betroffenen
ihren Antrag stützen. Es genügt, wenn sie die die Entscheidung tragenden
Tatsachen und rechtlichen Erwägungen darstellt.
- 49.
- In der angefochtenen Entscheidung hat die Kommission die Hauptmerkmale der
Schiffe und ihre technische Eignung für die Beförderung anderer Waren
festgestellt; unter Berücksichtigung des Auslegungsvermerks rechtfertigten diese
tatsächlichen Umstände ihrer Auffassung nach die Entscheidung.
- 50.
- Sie hat daher ihre Weigerung, die Schiffe als Spezialschiffe im Sinne von Artikel
8 Absatz 3 Buchstabe c der Verordnung Nr. 1101/89 einzustufen, rechtlich
ausreichend begründet.
- 51.
- Im übrigen können die Klägerinnen der Kommission nicht vorwerfen, sie habe die
Auffassung der Mitgliedstaaten und der betroffenen Verbände nicht erwähnt. Denn
nach Artikel 8 Absatz 3 Buchstabe c und der dreizehnten Begründungserwägung
der Verordnung Nr. 1101/89 haben die Mitgliedstaaten und die
Binnenschiffahrtsverbände eine konsultative Rolle. Folglich ist die Kommission
nicht gehalten, den Standpunkt dieser Institutionen zu übernehmen. Da deren
Auffassung nur den Wert einer Stellungnahme hat, beeinträchtigt eine etwaige
Divergenz zwischen dieser Auffassung und derjenigen der Kommission nicht die
Gültigkeit der Kommissionsentscheidung. Die Kommission war daher nicht
verpflichtet, die Klägerinnen im einzelnen über die Auffassung der Mitgliedstaaten
und der betroffenen Verbände zu unterrichten.
- 52.
- Die angefochtene Entscheidung ist somit nicht mit einem Begründungsmangel
behaftet.
- 53.
- Folglich ist der zweite Klagegrund ebenfalls zurückzuweisen.
- 54.
- Nach alledem ist die Klage insgesamt abzuweisen.
Kosten
- 55.
- Gemäß Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf
Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerinnen mit ihrem
Vorbringen unterlegen sind und die Kommission beantragt hat, ihnen die Kosten
aufzuerlegen, haben die Klägerinnen die Kosten zu tragen.
Aus diesen Gründen
hat
DAS GERICHT (Vierte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerinnen tragen die Kosten des Verfahrens.
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 1. Oktober 1998.
Der Kanzler
Der Präsident
H. Jung
P. Lindh