Language of document : ECLI:EU:T:2017:462

Rechtssache T392/15

European Dynamics Luxembourg SA u. a.

gegen

Eisenbahnagentur der Europäischen Union

„Öffentliche Dienstleistungsaufträge – Ausschreibungsverfahren – Externe Dienstleistungen für die Entwicklung eines Informationssystems für die Eisenbahnagentur der Europäischen Union – Einstufung des Angebots eines Bieters – Ablehnung des Angebots eines Bieters – Begründungspflicht – Ungewöhnlich niedriges Angebot“

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Dritte Kammer) vom 4. Juli 2017

1.      Nichtigkeitsklage – Rechtsschutzinteresse – Klageerhebung als maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Rechtsschutzinteresses – Klage eines ausgeschlossenen Bieters gegen die Entscheidung des Auftraggebers, sein Angebot zurückzuweisen – Berufung auf fehlende Begründung – Nachreichung der Entscheidungsgründe nach Klageerhebung, aber vor Ablauf der Klagefrist – Fortbestand des Rechtsschutzinteresses

(Art. 263 AEUV)

2.      Nichtigkeitsklage – Rechtsschutzinteresse – Natürliche oder juristische Personen – Klage, die geeignet ist, dem Kläger einen Vorteil zu verschaffen – Erheblichkeit der Begründetheit der vom Kläger geltend gemachten Klagegründe – Fehlen

(Art. 263 AEUV)

3.      Gerichtliches Verfahren – Vorbringen neuer Klage- und Verteidigungsgründe im Laufe des Verfahrens – Voraussetzungen – Angriffs- oder Verteidigungsmittel, das auf Gründe gestützt wird, die erst während des Verfahrens zutage getreten sind

(Verfahrensordnung des Gerichts, Art. 84 Abs. 1, und 85 Abs. 2 und 3)

4.      Gerichtliches Verfahren – Beweis – Beweiswert – Beurteilungskriterien – Grundsätze der freien Beweiswürdigung und der freien Beweisführung – Vereinbarkeit mit dem Recht auf ein faires Verfahren und dem Grundsatz der Waffengleichheit

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47; Verfahrensordnung des Gerichts, Art. 85)

5.      Gerichtliches Verfahren – Behandlung der Rechtssachen vor dem Gericht – Schutz der Parteien gegen die unangemessene Verwendung von Verfahrensstücken – Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der freien Beweisführung – Verwendung eines Verfahrensstücks aus einer anderen Rechtssache – Erforderlichkeit für die das Verfahrensstück vorlegende Partei, die vorherige Zustimmung der Partei, die das Verfahrensstück in der anderen Rechtssache vorgelegt hat, zu erhalten – Fehlen

(Verfahrensordnung des Gerichts, Art. 85)

6.      Handlungen der Organe – Begründung – Pflicht – Umfang – Beurteilung der Begründungspflicht anhand der Umstände des Einzelfalls – Pflicht, auf schriftliches Ersuchen die Merkmale und Vorteile des erfolgreichen Angebots sowie den Namen des Auftragnehmers mitzuteilen

(Art. 296 Abs. 2 AEUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 41 Abs. 2 Buchst. c)

7.      Handlungen der Organe – Begründung – Pflicht – Umfang – Entscheidung in einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags, ein Angebot nicht zu berücksichtigen – Berücksichtigung von während des streitigen Verfahrens vorgebrachten Gründen – Zulässigkeit – Ausnahmecharakter

(Art. 296 AEUV)

8.      Handlungen der Organe – Begründung – Pflicht – Umfang – Entscheidung in einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags, ein Angebot nicht zu berücksichtigen

(Art. 296 AEUV; Verordnung Nr. 966/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 113 Abs. 2; Verordnung Nr. 1268/2012 der Kommission, Art. 161 Abs. 2)

9.      Nichtigkeitsklage – Gründe – Fehlende oder unzureichende Begründung – Klagegrund, der sich von dem die materielle Rechtmäßigkeit betreffenden Klagegrund unterscheidet

(Art. 263 AEUV und 296 AEUV)

10.    Öffentliche Aufträge der Europäischen Union – Vergabe eines Auftrags aufgrund einer Ausschreibung – Ungewöhnlich niedriges Angebot – Pflicht des öffentlichen Auftraggebers zur Anhörung des Bieters – Prüfung des öffentlichen Auftraggebers, ob ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist – Zu berücksichtigende Gesichtspunkte

(Verordnung Nr. 1268/2012 der Kommission, Art. 151 Abs. 1)

11.    Öffentliche Aufträge der Europäischen Union – Vergabe eines Auftrags aufgrund einer Ausschreibung – Ungewöhnlich niedriges Angebot – Begründungspflicht – Umfang – Erforderlichkeit für den Auftraggeber, seine Argumentation genau darzulegen, wenn kein Antrag in diese Richtung vorliegt – Fehlen

(Art. 296 Abs. 2 AEUV; Verordnung Nr. 966/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 113 Abs. 2; Verordnung Nr. 1268/2012 der Kommission, Art. 151)

1.      Das Rechtsschutzinteresse ist die wesentliche Grundvoraussetzung für jede vor Gericht erhobene Klage. Es muss hinsichtlich des Klagegegenstands bei Klageerhebung gegeben sein; andernfalls wäre die Klage unzulässig. Dieses Interesse muss bis zum Erlass der gerichtlichen Entscheidung weiter vorliegen; andernfalls ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt.

Was die Klage eines ausgeschlossenen Bieters gegen die Entscheidung des Auftraggebers angeht, die seiner Ansicht nach nicht begründet ist, so nimmt der Umstand, dass der Auftraggeber nach Klageerhebung aber vor Ablauf der Klagefrist Klarstellungen zu den Gründen der angefochtenen Entscheidung geliefert hat, der Klage nicht ihre praktische Wirksamkeit. Zum Zeitpunkt der Klageerhebung hatte die angefochtene Entscheidung nämlich beschwerende Wirkung. Die Nichtigerklärung dieser Entscheidung hätte zum Ergebnis, dass der Auftraggeber grundsätzlich das klägerische Angebot erneut zu prüfen hätte, was dem Kläger einen Vorteil verschaffen könnte, da insbesondere nicht ausgeschlossen werden kann, dass nach einer erneuten Prüfung der Zuschlag für das von diesem Angebot erfasste Los dem Kläger erteilt werden könnte. Außerdem könnte eine Nichtigerklärung dieser Entscheidung den Auftraggeber dazu veranlassen, künftig geeignete Änderungen an den Ausschreibungen vorzunehmen.

(vgl. Rn. 31, 34, 36, 37)

2.      Für das Bestehen eines Rechtsschutzinteresses einer Partei ist erforderlich, aber auch ausreichend, dass die vor dem Unionsrichter erhobene Nichtigkeitsklage der klagenden Partei durch ihr Ergebnis einen Vorteil verschaffen kann. Das Rechtsschutzinteresse des Klägers hängt daher nicht von der Begründetheit seiner Rüge ab.

(vgl. Rn. 41)

3.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 45)

4.      Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung bedeutet für das Gericht, dass das alleinige Kriterium für die Beurteilung von Beweismitteln ihre Glaubhaftigkeit ist. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung hat den der freien Beweisführung zur Folge, der den Parteien die Möglichkeit gibt, dem Unionsrichter jedes rechtmäßig erlangte Beweismittel vorzulegen, das sie für die Stützung ihrer Standpunkte als relevant ansehen. Diese Freiheit der Beweisführung trägt dazu bei, den Parteien das in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union niedergelegte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf zu garantieren.

Die Grundsätze der freien Beweiswürdigung und der Freiheit der Beweisführung müssen jedoch mit den Grundsätzen des Unionsrechts, wie denen des Rechts auf ein faires Verfahren und der Waffengleichheit, vereinbar sein. So muss die freie Beweiswürdigung mit dem Recht jeder Partei vereinbar sein, ihre Interessen unabhängig von jeder äußeren Beeinflussung, insbesondere durch die Öffentlichkeit, zu vertreten und gegen die unangemessene Verwendung ihrer Verfahrensstücke geschützt zu sein.

(vgl. Rn. 50-53)

5.      Aus dem Grundsatz der Freiheit der Beweisführung ergibt sich, dass eine Partei vor dem Gericht grundsätzlich das Recht hat, sich auf Verfahrensunterlagen als Beweismittel zu berufen, die in einem anderen Gerichtsverfahren vorgelegt wurden, in dem sie selbst Partei war. Wenn diese Partei rechtmäßig Zugang zu diesen Verfahrensunterlagen hatte und sie nicht vertraulich sind, läuft ihre Vorlage beim Gericht der geordneten Rechtspflege grundsätzlich nicht zuwider. So hat der Gerichtshof entschieden, dass eine Partei in einem bei ihm anhängigen Verfahren nicht die Entfernung eines Verfahrensstücks aus den Akten verlangen durfte, wenn es von dieser Partei bereits in einem anderen Verfahren zwischen denselben Beteiligten vorgelegt worden war.

Außerdem kann die Zustimmung der Partei, von der das Verfahrensstück stammt, nicht die Vorbedingung für die Zulassung eines Verfahrensstücks aus einer anderen Rechtssache beim Gericht darstellen. Die Zustimmung der Partei, von der das Verfahrensstück stammt, kann nämlich zwar ein relevanter Umstand für die Beurteilung der Angemessenheit seiner Verwendung sein, die Verpflichtung, diese Zustimmung vor seiner Vorlage einzuholen, verschafft jedoch der Partei, von der es stammt, die Befugnis, sie auszuschließen und damit dem Gericht die Möglichkeit zu nehmen, über die Angemessenheit seiner Verwendung zu befinden und folglich seiner Verpflichtung nachzukommen, es jeder Partei angemessen zu ermöglichen, ihren Standpunkt sowie ihre Beweise unter Bedingungen vorzutragen, die sie nicht in eine gegenüber ihrem Gegner deutlich nachteilige Position versetzen, was dem Grundsatz der Waffengleichheit zugrunde liegt. Es obliegt daher dem Gericht, in jedem Einzelfall die Freiheit der Beweisführung und den Schutz gegen die unangemessene Verwendung der Verfahrensunterlagen der Parteien von Gerichtsverfahren gegeneinander abzuwägen.

(vgl. Rn. 55, 56)

6.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 72-75)

7.      Nur außergewöhnliche Umstände können die Berücksichtigung durch die Unionsgerichte von während des Verfahrens vorgebrachten Umständen rechtfertigen.

Dies ist der Fall bei einer von einem ausgeschlossenen Bieter gegen die Entscheidung eines Auftraggebers, sein Angebot abzulehnen, erhobenen Klage, wenn der ausgeschlossene Bieter, ohne die Antwort des Auftraggebers auf seinen Antrag auf Begründung der ungewöhnlichen Preise der ausgewählten Angebote abzuwarten und ohne ihm hierfür eine hinreichende Frist einzuräumen, obwohl die Klagefristen dem nicht entgegenstanden, Klage erhoben und ausschließlich einen Begründungsmangel der angefochtenen Entscheidungen insbesondere aufgrund der Tatsache geltend gemacht hat, dass er keine Antwort auf seinen Antrag erhalten hätte. Der Auftraggeber hat seinerseits die Gründe, aus denen ihm die ausgewählten Angebote nicht ungewöhnlich niedrig erschienen sind, innerhalb einer angemessenen Frist erläutert.

(vgl. Rn. 74, 102)

8.      Art. 113 Abs. 2 der Haushaltsordnung (Verordnung Nr. 966/2012) und Art. 161 Abs. 2 der Anwendungsverordnung (Verordnung Nr. 1268/2012) sehen gegenüber den abgelehnten Bietern eine Begründung in zwei Schritten vor. Zunächst teilt der öffentliche Auftraggeber allen abgelehnten Bietern mit, dass ihr Angebot abgelehnt wurde, und unterrichtet sie über die Gründe für diese Ablehnung. Diese Gründe können summarisch sein, da nach dieser Bestimmung für den abgelehnten Bieter die Möglichkeit besteht, um eine genauere Begründung zu ersuchen. Sodann teilt nach den genannten Bestimmungen der öffentliche Auftraggeber, wenn ein abgelehnter Bieter, der den Ausschluss- und Auswahlkriterien entspricht, schriftlich darum ersucht, so schnell wie möglich und jedenfalls binnen einer Frist von 15 Tagen nach Eingang dieses Ersuchens die Merkmale und Vorteile des ausgewählten Angebots sowie den Namen des erfolgreichen Bieters mit.

Diese Unterrichtung in zwei Schritten verstößt nicht gegen das Ziel der Begründungspflicht, zum einen den Betroffenen die Gründe für die erlassene Maßnahme zur Kenntnis zu bringen, damit sie ihre Rechte geltend machen können, und zum anderen dem Richter die Ausübung seiner Kontrolle zu ermöglichen.

(vgl. Rn. 78, 79)

9.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 80, 106)

10.    Die Frage, ob ungewöhnlich niedrige Angebote vorliegen, wird vom öffentlichen Auftraggeber in zwei Schritten geprüft. In einem ersten Schritt muss der öffentliche Auftraggeber prüfen, ob die eingereichten Angebote ungewöhnlich niedrig zu sein scheinen. Die Verwendung des Verbs „scheinen“ in Art. 151 Abs. 1 der Anwendungsverordnung Nr. 1268/2012 bedeutet, dass der öffentliche Auftraggeber eine Prima-facie-Prüfung der Frage vornimmt, ob ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist. Die Anwendungsverordnung schreibt daher dem öffentlichen Auftraggeber nicht vor, von Amts wegen die Einzelpositionen jedes Angebots eingehend zu prüfen, um festzustellen, ob es nicht ungewöhnlich niedrig ist. So muss der öffentliche Auftraggeber in einem ersten Schritt nur feststellen, ob die eingereichten Angebote einen Hinweis enthalten, der den Verdacht erwecken kann, dass sie ungewöhnlich niedrig sind. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der in einem eingereichten Angebot angeführte Preis erheblich niedriger ist als derjenige der anderen eingereichten Angebote oder als der übliche Marktpreis. Enthalten die eingereichten Angebote keinen solchen Hinweis und erscheinen sie daher nicht ungewöhnlich niedrig, kann der öffentliche Auftraggeber die Bewertung dieses Angebots und das Vergabeverfahren fortsetzen.

Liegen hingegen Hinweise vor, die den Verdacht erwecken können, dass ein Angebot ungewöhnlich niedrig sein könnte, hat der öffentliche Auftraggeber in einem zweiten Schritt die Einzelpositionen des Angebots zu prüfen, um sich zu vergewissern, dass dieses nicht ungewöhnlich niedrig ist. Wenn er diese Prüfung vornimmt, ist der öffentliche Auftraggeber verpflichtet, dem Bieter, von dem dieses Angebot stammt, die Möglichkeit zu geben, darzulegen, aus welchen Gründen er der Ansicht ist, dass sein Angebot nicht ungewöhnlich niedrig ist. Der öffentliche Auftraggeber hat sodann die gegebenen Erläuterungen zu beurteilen und festzustellen, ob das in Rede stehende Angebot ungewöhnlich niedrig ist, und ist gegebenenfalls zu dessen Ablehnung verpflichtet.

(vgl. Rn. 87-89)

11.    Zum Umfang der Begründungspflicht, die dem öffentlichen Auftraggeber obliegt, wenn er der Ansicht ist, dass das ausgewählte Angebot nicht ungewöhnlich niedrig erscheint, ergibt sich aus Art. 151 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1268/2012 über die Anwendungsbestimmungen für die Finanzverordnung und insbesondere aus dem Umstand, dass der öffentliche Auftraggeber in einem ersten Schritt nur eine Prima-facie-Prüfung der Frage vorzunehmen hat, ob ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist, dass der Umfang seiner Begründungspflicht eingeschränkt ist. Den öffentlichen Auftraggeber dazu zu zwingen, im Einzelnen darzulegen, aus welchem Grund ein Angebot ihm nicht ungewöhnlich niedrig erscheint, würde nämlich der Unterscheidung zwischen den beiden Schritten der in Art. 151 der Verordnung Nr. 1268/2012 vorgesehenen Prüfung nicht Rechnung tragen.

Insbesondere ist ein öffentlicher Auftraggeber, wenn er ein Angebot auswählt, nicht gehalten, ausdrücklich auf jedes Begründungsersuchen hin, das nach Art. 113 Abs. 2 der Verordnung Nr. 966/2012 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union an ihn gerichtet wird, die Gründe anzugeben, aus denen ihm das Angebot, das er ausgewählt hat, nicht ungewöhnlich niedrig erschien. Wenn nämlich dieses Angebot vom öffentlichen Auftraggeber ausgewählt wird, folgt daraus implizit, aber notwendig, dass er davon ausging, dass keine Hinweise dafür vorlagen, dass dieses Angebot ungewöhnlich niedrig war. Hingegen müssen einem abgelehnten Bieter, der ausdrücklich darum ersucht, solche Gründe mitgeteilt werden.

(vgl. Rn. 92, 93)