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SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

HENRIK SAUGMANDSGAARD ØE

vom 9. September 2021(1)

Rechtssache C461/20

Advania Sverige AB,

Kammarkollegiet

gegen

Dustin Sverige AB

(Vorabentscheidungsersuchen des Högsta förvaltningsdomstol [Oberster Verwaltungsgerichtshof, Schweden])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Öffentliche Aufträge – Richtlinie 2014/24/EU – Art. 72 Abs. 1 Buchst. d Ziff. ii – Auftragsänderung während der Vertragslaufzeit – Insolvenz – Übertragung von Rahmenvereinbarungen nach der Einleitung eines Konkursverfahrens gegen den ursprünglichen Auftragnehmer – Neuer Auftragnehmer – Begriff ‚wesentliche Änderung des Auftrags‘ – Ausnahme von der Durchführung eines neuen Verfahrens zur Vergabe öffentlicher Aufträge – Bedingungen“






I.      Einleitung

1.        Die vorliegende Rechtssache, die sich auf die Richtlinie 2014/24/EU über die öffentliche Auftragsvergabe(2) bezieht, betrifft eine der Ausnahmen von der Anwendung des Vergabeverfahrens, nämlich die Insolvenz des Auftragnehmers während der Durchführung des Auftrags. Die genannte Ausnahme ist in Art. 72 Abs. 1 Buchst. d Ziff. ii der Richtlinie 2014/24 enthalten (im Folgenden: streitige Vorschrift).

2.        Der Gerichtshof wird zu den Bedingungen, unter denen diese Ausnahme anwendbar ist, befragt und insbesondere dazu, ob es diese Bedingungen erfordern, dass derjenige, der an die Stelle des ursprünglichen Auftragnehmers tritt, nicht nur den betreffenden Auftrag übernimmt, sondern auch mindestens einen Teil der Geschäftstätigkeit dieses Auftragnehmers.

3.        Die Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Kammarkollegiet, dem schwedischen Zentralamt für Rechts‑, Vermögens- und Verwaltungsangelegenheiten, und der Advania Sverige AB (im Folgenden: Advania), der Nachfolgerin des ursprünglichen Auftragnehmers, sowie der Dustin Sverige AB (im Folgenden: Dustin), einer Gesellschaft, die an den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verträgen interessiert ist. Letztere wendet sich gegen die Übertragung der ursprünglich an die Misco AB vergebenen Rahmenvereinbarungen auf Advania, die nach der Einleitung eines Konkursverfahrens gegen die ursprüngliche Vertragspartei, ohne einen Aufruf zum Wettbewerb gemäß der Richtlinie 2014/24 und ohne dass diese Übertragung mit der Übertragung zumindest eines Geschäftsbereichs von Misco, d. h. desjenigen, der die Durchführung der Rahmenvereinbarungen ermöglicht, verbunden worden wäre, erfolgt ist.

4.        Die Insolvenz des ursprünglichen Bieters und der Umstand, dass ein neuer Auftragnehmer an dessen Stelle tritt, ist eine im Prinzip unerwartete und außergewöhnliche Situation, da normalerweise alle Vorkehrungen getroffen werden, um sich der Zahlungsfähigkeit der Bieter zu vergewissern. Es handelt sich dennoch um ein Problem, mit dem die öffentlichen Auftraggeber im Leben der Unternehmen zuweilen konfrontiert sind, wie die Rechtssache des Ausgangsverfahrens zeigt, und welches der Gesetzgeber in der streitigen Vorschrift erstmals erfassen wollte. Der Gerichtshof wird aufgefordert, sich mit der Frage zu befassen, ob diese Vorschrift es erlaubt, dass ein neuer Auftragnehmer bestimmt wird, insbesondere vom Konkursverwalter, ohne Wettbewerb, ohne Verpflichtung des neuen Auftragnehmers, einen Teil der Geschäftstätigkeit des ursprünglichen Auftragnehmers zu übernehmen, und ohne dass die Leitlinien für die Vergabe öffentlicher Aufträge, die die Richtlinie 2014/24 wahren möchte, dadurch beeinträchtigt würden.

5.        Am Ende meiner Würdigung werde ich dem Gerichtshof vorschlagen, zu entscheiden, dass die in der streitigen Vorschrift vorgesehene Ausnahme es nicht erfordert, dass der neue Auftragnehmer, der an die Stelle des ursprünglichen Auftragnehmers tritt und an den als solcher der Auftrag vergeben wird, auch einen Teil der Geschäftstätigkeit des ursprünglichen Auftragnehmers erwerben muss.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Richtlinie 2014/24

6.        Die Erwägungsgründe 107 und 110 der Richtlinie 2014/24 lauten:

„(107)      Es ist erforderlich, die Bedingungen näher zu bestimmen, unter denen Änderungen eines Auftrags während des Ausführungszeitraums ein neues Vergabeverfahren erfordern; dabei ist der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union Rechnung zu tragen. Ein neues Vergabeverfahren ist erforderlich bei wesentlichen Änderungen des ursprünglichen Auftrags, insbesondere des Umfangs und der inhaltlichen Ausgestaltung der gegenseitigen Rechte und Pflichten der Parteien, einschließlich der Zuweisung der Rechte des geistigen Eigentums. Derartige Änderungen sind Ausdruck der Absicht der Parteien, wesentliche Bedingungen des betreffenden Auftrags neu zu verhandeln. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die geänderten Bedingungen, hätten sie bereits für das ursprüngliche Verfahren gegolten, dessen Ergebnis beeinflusst hätten.

(110)      Im Einklang mit den Grundsätzen der Gleichbehandlung und Transparenz sollte der erfolgreiche Bieter, zum Beispiel wenn ein Auftrag aufgrund von Mängeln bei der Ausführung gekündigt wird, nicht durch einen anderen Wirtschaftsteilnehmer ersetzt werden, ohne dass der Auftrag erneut ausgeschrieben wird. Der erfolgreiche Bieter, der den Auftrag ausführt, sollte jedoch – insbesondere wenn der Auftrag an mehr als ein Unternehmen vergeben wurde – während des Zeitraums der Auftragsausführung gewisse strukturelle Veränderungen durchlaufen können, wie etwa eine rein interne Umstrukturierung, eine Übernahme, einen Zusammenschluss oder Unternehmenskauf oder eine Insolvenz. Derartige strukturelle Veränderungen sollten nicht automatisch neue Vergabeverfahren für sämtliche von dem betreffenden Bieter ausgeführten öffentlichen Aufträge erfordern.“

7.        Art. 18 („Grundsätze der Auftragsvergabe“) dieser Richtlinie bestimmt in seinem Abs. 1:

„Die öffentlichen Auftraggeber behandeln alle Wirtschaftsteilnehmer in gleicher und nichtdiskriminierender Weise und handeln transparent und verhältnismäßig.

Das Vergabeverfahren darf nicht mit der Absicht konzipiert werden, es vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie auszunehmen oder den Wettbewerb künstlich einzuschränken …“

8.        Art. 57 Abs. 4 Buchst. b dieser Richtlinie sieht vor:

„Öffentliche Auftraggeber können in einer der folgenden Situationen einen Wirtschaftsteilnehmer von der Teilnahme an einem Vergabeverfahren ausschließen oder dazu von den Mitgliedstaaten verpflichtet werden:

b)      der Wirtschaftsteilnehmer ist zahlungsunfähig oder befindet sich in einem Insolvenzverfahren oder in Liquidation, seine Vermögenswerte werden von einem Insolvenzverwalter oder Gericht verwaltet, er befindet sich in einem Vergleichsverfahren, seine gewerbliche Tätigkeit wurde eingestellt oder er befindet sich aufgrund eines in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen gleichartigen Verfahrens in einer vergleichbaren Lage“.

9.        Art. 72 („Auftragsänderungen während der Vertragslaufzeit“) der Richtlinie 2014/24 bestimmt:

„(1)      Aufträge und Rahmenvereinbarungen können in den folgenden Fällen ohne Durchführung eines neuen Vergabeverfahrens im Einklang mit dieser Richtlinie geändert werden:

d)      wenn ein neuer Auftragnehmer den Auftragnehmer ersetzt, an den der öffentliche Auftraggeber den Auftrag ursprünglich vergeben hatte, aufgrund entweder:

ii)      der Tatsache, dass ein anderer Wirtschaftsteilnehmer, der die ursprünglich festgelegten qualitativen Eignungskriterien erfüllt, im Zuge einer Unternehmensumstrukturierung – einschließlich Übernahme, Fusion, Erwerb oder Insolvenz – ganz oder teilweise an die Stelle des ursprünglichen Auftragnehmers tritt, sofern dies keine weiteren wesentlichen Änderungen des Auftrags zur Folge hat und nicht dazu dient, die Anwendung dieser Richtlinie zu umgehen, …

e)      wenn die Änderungen, unabhängig von ihrem Wert, nicht wesentlich im Sinne des Absatzes 4 sind.

(4)      Eine Änderung eines Auftrags oder einer Rahmenvereinbarung während seiner beziehungsweise ihrer Laufzeit gilt als wesentlich im Sinne des Absatzes 1 Buchstabe e, wenn sie dazu führt, dass sich der Auftrag oder d[ie] Rahmenvereinbarung erheblich von dem ursprünglichen vergebenen Auftrag beziehungsweise der ursprünglich vergebenen Rahmenvereinbarung unterscheidet. Unbeschadet der Absätze 1 und 2 ist eine Änderung in jedem Fall als wesentlich anzusehen, wenn eine oder mehrere der folgenden Voraussetzungen erfüllt ist:

a)      Mit der Änderung werden Bedingungen eingeführt, die, wenn sie für das ursprüngliche Vergabeverfahren gegolten hätten, die Zulassung anderer als der ursprünglich ausgewählten Bewerber oder die Annahme eines anderen als des ursprünglich angenommenen Angebots ermöglicht hätten oder das Interesse weiterer Teilnehmer am Vergabeverfahren geweckt hätten;

b)      mit der Änderung wird das wirtschaftliche Gleichgewicht des Auftrags oder der Rahmenvereinbarung zugunsten des Auftragnehmers in einer Weise verschoben, die im ursprünglichen Auftrag beziehungsweise der ursprünglichen Rahmenvereinbarung nicht vorgesehen war;

c)      mit der Änderung wird der Umfang des Auftrags oder der Rahmenvereinbarung erheblich ausgeweitet;

d)      ein neuer Auftragnehmer ersetzt den Auftragnehmer, an den der öffentliche Auftraggeber den Auftrag ursprünglich vergeben hatte, in anderen als den in Absatz 1 Buchstabe d vorgesehenen Fällen.

…“

B.      Schwedisches Recht

10.      Das Lag (2016:1145) om offentlig upphandling (Gesetz [2016:1145] über die öffentliche Auftragsvergabe, im Folgenden: LOU)(3) sah in seinem Kapitel 17 § 13 vor, dass ein Auftrag oder eine Rahmenvereinbarung ohne neues Vergabeverfahren im Zuge eines Auftragnehmerwechsels geändert werden kann, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind:

„1.      [D]er neue Auftragnehmer tritt im Zuge einer Unternehmensumstrukturierung – einschließlich Übernahme, Fusion, Erwerb oder Insolvenz – ganz oder teilweise an die Stelle des ursprünglichen Auftragnehmers, und

2.      der Umstand, dass ein neuer Auftragnehmer ganz oder teilweise an die Stelle des ursprünglichen Auftragnehmers tritt, hat keine sonstigen wesentlichen Änderungen des Auftrags oder der Rahmenvereinbarung zur Folge.“

11.      Das vorlegende Gericht führt aus, dass sich aus der zweiten Bedingung ergebe, dass ein solcher Auftragnehmerwechsel voraussetze, dass der neue Auftragnehmer nicht aufgrund der in diesem Gesetz vorgesehenen Ausschlussgründe ausgeschlossen werden dürfe und dass er die im ursprünglichen Vertrag vorgesehenen Eignungskriterien erfüllen müsse.

III. Ausgangsverfahren, Vorlagefrage und Verfahren vor dem Gerichtshof

12.      Das Kammarkollegiet hatte ein Vergabeverfahren für die Lieferung von Informatikmaterial, insbesondere Computer, Computerbildschirme und Tablets, in einem nicht offenen Verfahren(4), gemäß dem LOU durchgeführt.

13.      17 Bewerber, darunter Advania, hatten nachgewiesen, dass sie die erforderlichen Voraussetzungen erfüllten. Gemäß den Vorschriften über das nicht offene Verfahren(5) hatte das Kammarkollegiet vorgesehen, dass für den Fall, dass mehr als neun Bewerber die Voraussetzungen erfüllen würden, nur die neun bestplatzierten Bewerber aufgefordert würden, ein Gebot abzugeben. Advania gehörte nicht dazu.

14.      Rahmenvereinbarungen wurden mit sechs Lieferanten in verschiedenen Bereichen unterzeichnet. Misco erhielt vier Rahmenvereinbarungen, die sämtliche betroffenen Bereiche abdeckten. Dustin erhielt Rahmenvereinbarungen in zwei von diesen Bereichen.

15.      Mit Schreiben vom 4. Dezember 2017 beantragte Misco beim Kammarkollegiet, die Übertragung seiner vier Rahmenvereinbarungen auf Advania zuzulassen. Am 12. Dezember 2017 wurde das Konkursverfahren gegen Misco eingeleitet. Am 18. Januar 2018 schloss der Konkursverwalter eine Vereinbarung mit Advania, die die Übertragung der vier Rahmenvereinbarungen vorsah. Die Übertragung wurde vom Kammarkollegiet im Februar 2018 genehmigt.

16.      Nach dieser Übertragung erhob Dustin Klage beim Förvaltningsrätt i Stockholm (Verwaltungsgericht Stockholm, Schweden) auf Ungültigerklärung der Rahmenvereinbarungen zwischen Advania und dem Kammarkollegiet.

17.      Das Förvaltningsrätt (Verwaltungsgericht) wies diese Klage ab. Es führte aus, dass Advania die Rahmenvereinbarungen erhalten und die Unternehmensbereiche von Misco erworben habe, die die Durchführung dieser Rahmenvereinbarungen erlaubten, wie dies in Kapitel 17 § 13 LOU gefordert werde.

18.      Dustin legte gegen dieses Urteil Berufung zum Kammarrätt i Stockholm (Oberverwaltungsgericht Stockholm, Schweden) ein. Dieses gab der Berufung statt und erklärte die vier Rahmenvereinbarungen zwischen Advania und dem Kammarkollegiet für ungültig. Das Kammarrätt i Stockholm (Oberverwaltungsgericht Stockholm) stellte fest, dass das Kammarkollegiet die Übertragung der Rahmenvereinbarungen wegen der Insolvenz von Misco genehmigt habe. Im Gegensatz zum Gericht erster Instanz führte es jedoch aus, dass Misco außer den in Rede stehenden Rahmenvereinbarungen praktisch keine Geschäftsbereiche auf Advania übertragen habe und dass folglich nicht davon ausgegangen werden könne, dass Advania im Sinne von Kapitel 17 § 13 LOU ganz oder teilweise an die Stelle von Misco getreten sei. Das Berufungsgericht führte u. a. aus, dass nur ein Angestellter von Misco in der Folge zu Advania gegangen sei, dass die auf Advania übertragene Liste der Kunden von Misco nicht vollständig aktualisiert oder berichtigt worden sei und dass es keinerlei Belege dafür gebe, dass Advania Subunternehmer von Misco übernommen habe.

19.      Advania und das Kammarkollegiet legten gegen dieses Urteil der zweiten Instanz ein Rechtsmittel beim Högsta förvaltningsdomstol (Oberster Verwaltungsgerichtshof, Schweden) ein. Darin wenden sie sich nicht gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts hinsichtlich der der Konkursmasse entnommenen und aus ihr übertragenen Bestandteile. Dennoch machen sie geltend, dass eine solche Übertragung die Bedingung einer gesamten oder teilweisen Ersetzung im Sinne von Kapitel 17 § 13 des LOU und der Richtlinie 2014/24 erfülle.

20.      Nach Ansicht von Advania und dem Kammarkollegiet ist weder nach dem LOU noch nach der Richtlinie 2014/24 erforderlich, dass dem neuen Auftragnehmer außer den Rahmenvereinbarungen eine Geschäftstätigkeit von einer bestimmten Art und einem gewissen Umfang übertragen werde.

21.      Dustin trägt ihrerseits vor, dass sich aus dem Wortlaut „ganz oder teilweise an die Stelle des ursprünglichen Auftragnehmers tritt“ in Verbindung mit dem Begriff „Unternehmensumstrukturierung“ in der streitigen Vorschrift ergebe, dass der neue Auftragnehmer mit der Rahmenvereinbarung die Geschäftstätigkeit des ursprünglichen Auftragnehmers, die für die Durchführung des in Rede stehenden Vertrags vorgesehen sei, ganz oder teilweise übernehmen müsse.

22.      Angesichts dieser unterschiedlichen Auslegungen betont das vorlegende Gericht, dass es Aufschluss über die Tragweite der streitigen Vorschrift benötige, insbesondere darüber, was darunter zu verstehen sei, dass „[ein anderer Wirtschaftsteilnehmer] im Zuge einer Unternehmensumstrukturierung – einschließlich Übernahme, Fusion, Erwerb oder Insolvenz – ganz oder teilweise an die Stelle des ursprünglichen Auftragnehmers tritt“.

23.      Unter diesen Umständen hat der Högsta förvaltningsdomstol (Oberster Verwaltungsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Folgt aus dem Umstand, dass ein neuer Auftragnehmer die Rechte und Pflichten des ursprünglichen Auftragnehmers aus einer Rahmenvereinbarung übernommen hat, nachdem über das Vermögen des ursprünglichen Auftragnehmers das Konkursverfahren eröffnet wurde und die Vereinbarung aus der Konkursmasse übertragen wurde, dass der neue Auftragnehmer unter Bedingungen, wie sie Art. 72 Abs. 1 Buchst. d Ziff. ii der Richtlinie 2014/24 vorsieht, an die Stelle des ursprünglichen Auftragnehmers getreten ist?

24.      Das Vorabentscheidungsersuchen vom 15. September 2020 ist am 24. September 2020 beim Gerichtshof eingegangen.

25.      Schriftliche Erklärungen haben Advania, das Kamarkollegiet, Dustin, die österreichische Regierung und die Europäische Kommission abgegeben.

IV.    Würdigung

26.      Um die Tragweite der streitigen Vorschrift zu beurteilen, erinnere ich vorab daran, dass, wie der Gerichtshof im Urteil pressetext Nachrichtenagentur(6) entschieden hat, ein Wechsel des Vertragspartners im Allgemeinen eine Änderung einer wesentlichen Vertragsbestimmung des öffentlichen Auftrags darstellt. Diese Erwägung ist in Art. 72 Abs. 4 Buchst. d der Richtlinie 2014/24 aufgenommen worden.

27.      Daraus folgt, dass die Ersetzung des ursprünglichen Auftragnehmers grundsätzlich eine wesentliche Änderung des Auftrags darstellt, die ein neues Vergabeverfahren zur Folge hat(7), gemäß den Grundsätzen der Transparenz und der Gleichbehandlung, die der Pflicht zum Wettbewerb zwischen den potenziell interessierten Bewerbern der verschiedenen Mitgliedstaaten zugrunde liegen(8).

28.      Ausnahmsweise sieht die streitige Vorschrift die Möglichkeit vor, eine Person zu bestimmen, die bei Insolvenz des ursprünglichen Auftragnehmers an dessen Stelle tritt, ohne dass ein solches Verfahren durchzuführen ist.

29.      Es stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen diese Ausnahme anwendbar ist und ob der neue Auftragnehmer zumindest einen Teil der Geschäftstätigkeit des ursprünglichen Auftragnehmers übernehmen muss.

30.      Dem Gerichtshof sind zwei unterschiedliche Auslegungen der streitigen Vorschrift vorgetragen worden.

31.      Nach einer ersten Auslegung, die vom Kammarkollegiet, von Advania und der österreichischen Regierung vertreten wird, ist die Vorschrift dahin auszulegen, dass die Ersetzung des ursprünglichen Auftragnehmers im Zuge von dessen Insolvenz es nicht erfordert, dass mit der Übertragung des Auftrags auf den neuen Auftragnehmer die Übernahme eines Teils der Geschäftstätigkeit des ursprünglichen Auftragnehmers verbunden ist. Sie sind der Ansicht, dass die Anwendbarkeit der Vorschrift stark eingeschränkt wäre, wenn man den Wortlaut dahin verstehen müsste, dass eine wie auch immer geartete Geschäftstätigkeit mitübertragen werden müsse.

32.      Die zweite Auslegung, die von Dustin und der Kommission vertreten wird, beruht dagegen auf der Annahme, dass der neue Auftragnehmer zumindest einen Teil der Tätigkeiten des ursprünglichen Auftragnehmers übernimmt. Andernfalls würde dies nach Ansicht von Dustin praktisch zu einer Freigabe des Handels mit Aufträgen aus einem Vergabeverfahren führen.

33.      Um die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Transparenz und somit das Ziel, den Wettbewerb zu gewährleisten, nicht zu beeinträchtigen, ist es nach Ansicht von Dustin und der Kommission wichtig, dass die tatsächliche Identität des ursprünglichen Auftragnehmers aufrechterhalten wird, d. h., dass die für die Durchführung der Rahmenvereinbarung genutzten Vermögenswerte auf den neuen Auftragnehmer übertragen werden, so dass eine Kontinuität zwischen dem ursprünglichen und dem neuen Auftragnehmer besteht. Die Kommission räumt ein, dass dies nicht möglich sein könne, wenn die Geschäftstätigkeit des ursprünglichen Auftragnehmers vollständig aufgelöst werde. Ihrer Ansicht nach ist es in einem solchen Fall daher zur Gewährleistung der Gleichbehandlung zwischen den ursprünglichen Bietern notwendig, dass sich der öffentliche Auftraggeber vorrangig an diese wendet, beispielsweise entsprechend der Reihenfolge am Ende des ursprünglichen Vergabeverfahrens.

34.      Diese Fragen sind von Bedeutung. Der Gerichtshof ist aufgefordert, die Bandbreite der Möglichkeiten zu präzisieren, die der öffentliche Auftraggeber im Fall der Insolvenz des ursprünglichen Auftragnehmers hat, um diesen zu ersetzen.

35.      Ich bin der Meinung, dass der Wortlaut der streitigen Vorschrift einer Auslegung, wie sie Dustin und Kommission vorgetragen haben, nicht zugänglich ist. In der weiteren Folge meiner Würdigung werde ich versuchen, aufzuzeigen, dass diese Vorschrift im Sinne der ersten Auslegung zu verstehen ist, und ich werde dabei auf den Wortlaut (Abschnitt A), auf den inneren und äußeren Kontext, d. h. die Vorschriften, in deren Rahmen sie steht, auf die Vorarbeiten (Abschnitt B) sowie auf die vom Gesetzgeber verfolgten Ziele (Abschnitt C) abstellen.

A.      Zum Wortlaut der streitigen Vorschrift

36.      Ich weise zunächst darauf hin, dass nach dem Wortlaut von Art. 72 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24 Rahmenvereinbarungen in fünf unter den Buchst. a bis e dieser Vorschrift aufgezählten Fällen ohne ein neues Vergabeverfahren geändert werden können. In Buchst. d Ziff. ii, der dem Gerichtshof zur Auslegung vorgelegt worden ist, wird die Insolvenz des ursprünglichen Auftragnehmers ausdrücklich als einer der Fälle genannt, in denen eine Rahmenvereinbarung ohne ein neues Vergabeverfahren an einen neuen Auftragnehmer vergeben werden kann, obwohl diese Änderung eine wesentliche Änderung des Auftrags darstellt.

37.      Nach der streitigen Vorschrift unterliegt die Anwendung der in Rede stehenden Ausnahme mehreren Bedingungen, diese umfassen jedoch nicht ausdrücklich die Übertragung eines Teils der Geschäftstätigkeit des ursprünglichen Auftragnehmers.

38.      Es bestehen drei Bedingungen:

–        Der neue Auftragnehmer ist ein Wirtschaftsteilnehmer, der die qualitativen Eignungskriterien erfüllt. Es steht fest, dass diese Bedingung bei einem Sachverhalt wie dem des Ausgangsverfahrens erfüllt ist, in dem der neue Auftragnehmer, hier Advania, zu den Unternehmen gehört, die als geeignet angesehen wurden, sich zu bewerben(9).

–        Die Ersetzung durch den neuen Auftragnehmer bewirkt keine weiteren wesentlichen Änderungen des Auftrags. An dieser Bedingung bestehen im Ausgangsverfahren, wie es vom vorlegenden Gericht dargestellt wurde, offenbar auch keine Zweifel.

–        Die Ersetzung durch einen neuen Auftragnehmer hat nicht zum Ziel, die Anwendung der Richtlinie 2014/24 zu umgehen. Die in Rede stehende Ersetzung, darf keine Hintertür sein, durch die der öffentliche Auftraggeber den Auftragnehmer seiner Wahl aussucht, ohne zu einem Wettbewerb der interessierten Bewerber aufzurufen. Ich werde auf diese letztgenannte Bedingung zurückkommen, die eine Umgehung der in der Richtlinie vorgesehenen Regeln für Vergabeverfahren verhindern soll (10). Ich stelle jedoch von vornherein klar, dass das vorlegende Gericht nicht angedeutet hat, dass im Ausgangsverfahren die Bestimmung des neuen Auftragnehmers die Anwendung dieser Regeln umgehen sollte.

39.      Nach Ansicht von Dustin und der Kommission ergibt sich das Erfordernis der Übertragung zumindest eines Teils der Geschäftstätigkeit des ursprünglichen Auftragnehmers implizit aus dem Wortlaut der streitigen Vorschrift selbst, wonach der ursprüngliche Auftragnehmer durch einen anderen Wirtschaftsteilnehmer „im Zuge einer Unternehmensumstrukturierung – einschließlich Übernahme, Fusion, Erwerb oder Insolvenz – ganz oder teilweise“ ersetzt wird(11).

40.      Der Wortlaut der streitigen Vorschrift variiert in den verschiedenen Sprachfassungen leicht. So sprechen die englische und die französische Sprachfassung dieser Vorschrift von einer „vollständigen oder teilweisen Nachfolge“, während es in der schwedischen Fassung der streitigen Vorschrift heißt, dass ein anderer Wirtschaftsteilnehmer „ganz oder teilweise an die Stelle“ des ursprünglichen Auftragnehmers „tritt“.

41.      In dem in Rede stehenden Kontext scheinen diese Begriffe jedoch weitgehend bedeutungsgleich zu sein.

42.      Meines Erachtens ergibt sich aus dem Umstand, dass alle Beteiligten, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, den Begriff „Nachfolge“ betont haben, zu Recht, dass der neue Auftragnehmer dem ursprünglichen Auftragnehmer ganz oder teilweise nachfolgt. Die englische Sprachfassung unterstreicht diesen Gedanken noch, indem sie präzisiert, dass die Ersetzung als Folge einer vollständigen oder teilweisen Nachfolge stattfindet(12).

43.      Daraus ist abzuleiten, dass der neue Auftragnehmer das gesamte Vermögen des ursprünglichen Auftragnehmers oder einen Teil davon übernimmt. Ich betone jedoch, dass der Begriff „Teil“ in der streitigen Vorschrift nicht definiert ist. Der Teil kann größer oder kleiner sein, je nach dem Ereignis, das zu der Nachfolge geführt hat(13). Mit der wörtlichen Auslegung dieser Begriffe kann also davon ausgegangen werden, dass der neue Auftragnehmer nur den Auftrag oder eine Rahmenvereinbarung übernehmen kann.

44.      Ich weise darauf hin, dass der Begriff „Teil“ es demgegenüber nicht zulässt, davon auszugehen, dass nur ein Teil eines Auftrags oder einer Rahmenvereinbarung übertragen werden könnte, denn dies würde eine wesentliche Änderung des Auftrags oder der Rahmenvereinbarung darstellen und würde der Bedingung, dass keine weitere „wesentliche Änderung“ vorliegen darf, widersprechen. Eine Verringerung des Anwendungsbereichs der Rahmenvereinbarung kann meiner Ansicht nach in der Tat das wirtschaftliche Gleichgewicht des Vertrags zugunsten des neuen Auftragnehmers ganz klar in einer Art und Weise ändern, die in der ursprünglichen Rahmenvereinbarung nicht vorgesehen war und mithin eine „wesentliche Änderung“ im Sinne von Art. 72 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2014/24 darstellen.

45.      Daraus folgt, dass der neue Auftragnehmer, der an die Stelle des ursprünglichen Auftragnehmers tritt, die gesamte Rahmenvereinbarung oder den gesamten öffentlichen Auftrag übernehmen muss. Mit anderen Worten, er muss sämtliche Rechte und Pflichten aus diesem Vertrag akzeptieren(14).

46.      Wie im Weiteren in der streitigen Vorschrift genau ausgeführt ist, muss es sich bei dem Ereignis, das zur Nachfolge führt, um eine Unternehmensumstrukturierung handeln, die in verschiedenen Formen erfolgen kann. Der Gesetzgeber hat beispielhaft und somit nicht abschließend vier davon aufgezählt. Wie die Kommission bin ich der Meinung, dass die ersten drei angeführten Beispiele, nämlich Übernahme, Fusion und Erwerb, ähnlich sind. In diesen drei Fällen implizieren die genannten Vorgänge die Fortsetzung des betreffenden Unternehmens, d. h. die Weiterführung der Geschäftstätigkeit und der dafür erforderlichen materiellen und personellen Mittel.

47.      Dagegen besteht das Unternehmen im Fall der Insolvenz, die als viertes Bespiel genannt ist, nicht zwangsläufig fort. Es sind zahlreiche Sachverhalte vorstellbar. Das Unternehmen kann zwar insgesamt weitergeführt werden, es kann jedoch auch aufgelöst und die Aktiva können veräußert werden, gegebenenfalls Stück für Stück. In diesem letztgenannten Fall kann eine Rahmenvereinbarung, die zu den Aktiva des Unternehmens gehört, einzeln auf einen Dritten übertragen werden, ohne dass dieser irgendeinen anderen Vermögenswert dieses Unternehmens übernimmt.

48.      Betrachtet man nur den Wortlaut der streitigen Vorschrift, so lässt nichts darauf schließen, dass bei einer Insolvenz des ursprünglichen Auftragnehmers neben der Übertragung einer Rahmenvereinbarung, die auf ihn lautet, ein Teil der anderen ihm gehörenden Aktiva notwendigerweise auf den neuen Auftragnehmer übertragen werden muss.

49.      Ich teile daher nicht die Auffassung der Kommission, dass die Tatsache, dass die ersten drei Beispiele die Fortführung der Geschäftstätigkeit des ursprünglichen Unternehmers voraussetzten und dass die Insolvenz dem Wortlaut nach mit diesen Beispielen gleichgesetzt werde, auch eine vollständige oder zumindest teilweise Fortführung der zugrunde liegenden Geschäftstätigkeit des ursprünglichen Auftragnehmers impliziere. Die Kommission vertritt demnach, dass der Gesetzgeber nicht den Fall erfasst habe, dass die Geschäftstätigkeit des ursprünglichen Auftragnehmers vollständig aufgelöst werde.

50.      Ich bin der Meinung, dass der Begriff „Insolvenz“ wegen des Fehlens einer ausdrücklichen Begrenzung seiner Tragweise in der Richtlinie 2014/24 nicht derart eingeschränkt verstanden werden kann, wie die Kommission es vorschlägt.

51.      Dieses Verständnis wird meines Erachtens vom Kontext der streitigen Vorschrift untermauert.

B.      Zum Kontext der streitigen Vorschrift

52.      Die Vorarbeiten zeigen meines Erachtens, dass es sich bei der Insolvenz nicht um ein Beispiel einer Umstrukturierung handelt, die mit der Übernahme, der Fusion und dem Erwerb vergleichbar wäre, woraus folgen würde, dass der neue Auftragnehmer und der ursprüngliche Auftragnehmer tatsächlich identisch(15) sein müssten und folglich der Teil der Geschäftstätigkeit beibehalten werden müsste, den Letzterer der Ausführung des in Rede stehenden öffentlichen Auftrags gewidmet hatte. Aus diesen Arbeiten geht im Gegenteil hervor, dass der Gesetzgeber von Anfang an die Insolvenz in einem weiten Sinne gesehen hat als eine Situation, die sich von der Übernahme, der Fusion und dem Erwerb unterscheidet.

53.      Ich stelle zunächst fest, dass die Kommission in ihrem Grünbuch über das öffentliche Auftragswesen(16) die interessierten Kreise aufforderte, sich speziell zu Änderungen zu äußern, die den Auftragnehmer betreffen, wenn sich dessen Situation aufgrund von Ereignissen ändert, die seine Fähigkeit zur Vertragserfüllung beeinträchtigen, wie z. B. ein Konkurs. Die Kommission betonte, dass es notwendig sei, darüber zu diskutieren, ob auf Unionsebene Instrumente definiert werden sollten, die es den öffentlichen Auftraggebern ermöglichten, eine angemessene Lösung für diese Situationen zu finden. Die Kommission hatte daher die interessierten Kreise gefragt, ob sie der Ansicht seien, dass das Unionsrecht ausdrücklich die Verpflichtung oder das Recht der öffentlichen Auftraggeber vorsehen solle, in bestimmten Fällen den Auftragnehmer zu wechseln oder den Auftrag zu beenden, und ob es auch spezifische Verfahren für die Bestimmung des neuen Auftragnehmers festlegen solle(17).

54.      Insbesondere sah die Kommission die Möglichkeit vor, den ursprünglichen Auftragnehmer im Fall seiner Insolvenz durch ein vereinfachtes Verfahren zu ersetzen oder den Auftrag an den zweitbesten Bieter zu vergeben, der im ursprünglichen Vergabeverfahren ausgewählt worden war, oder die Ausschreibung nur zwischen Bietern erneut zu eröffnen, die am ursprünglichen Verfahren teilgenommen hatten, sofern dieses vor nicht allzu langer Zeit durchgeführt wurde(18).

55.      In ihrem ursprünglichen Vorschlag für eine Richtlinie(19), der unter Berücksichtigung der zu ihrem Grünbuch eingegangenen Stellungnahmen erstellt wurde, schlug die Kommission vor, dass die Ausnahme von einem Vergabeverfahren im Fall einer Unternehmensumstrukturierung oder einer Insolvenz(20) gelten solle. Die Kommission hat daher eine klare Unterscheidung zwischen den beiden Sachverhalten getroffen, indem sie in der Präambel ihres Richtlinienvorschlags die ins Auge gefassten Situationen spezifiziert hat, die als „strukturelle Veränderungen“ qualifiziert werden, nämlich interne Reorganisation, Fusionen und Übernahmen sowie Insolvenz(21).

56.      Die Tatsache, dass der endgültige Wortlaut der streitigen Vorschrift diese Unterscheidung nicht ausdrücklich vornimmt und dass der Gesetzgeber es vorgezogen hat, Beispiele für die vorgesehenen Situationen aufzuzählen, bedeutet meines Erachtens nicht, dass er zum einen die Insolvenz und zum anderen Übernahmen, Fusionen und Erwerb in Bezug auf die Übertragung von Geschäftstätigkeiten auf den neuen Auftragnehmer auf die gleiche Stufe gestellt hat.

57.      Meine Würdigung wird durch die Bedeutung des Begriffs „Umstrukturierungsmaßnahmen“ gestützt, der nicht auf Fälle beschränkt ist, in denen die Geschäftstätigkeit des betreffenden Unternehmens aufrechterhalten wird(22).

58.      Ich bin daher der Ansicht, dass der Gesetzgeber in der streitigen Bestimmung selbst und nicht nur in den Erwägungsgründen der Richtlinie 2014/24, wie zuvor vorgeschlagen, die Arten der ins Auge gefassten Situationen präzisieren wollte, ohne jedoch zu suggerieren, dass sie alle hinsichtlich der Übernahme der Geschäftstätigkeit des ursprünglichen Auftragnehmers, die die Ausführung des öffentlichen Auftrags ermöglicht, ähnliche Charakteristika aufweisen.

59.      Der innere Kontext der streitigen Vorschrift innerhalb der Richtlinie 2014/24 stützt meines Erachtens diese Auslegung.

60.      Die streitige Vorschrift ist Teil von Art. 72 („Auftragsänderungen während der Vertragslaufzeit“) dieser Richtlinie, der in seinen verschiedenen Absätzen sorgfältig die Ausnahmen von der Verpflichtung zur Einhaltung der Vorschriften des Vergabeverfahrens und die Bedingungen für ihre Anwendung beschreibt. In den Abs. 1 und 2 werden die Fälle aufgeführt, in denen Aufträge und Rahmenvereinbarungen ohne ein neues Vergabeverfahren geändert werden können, und in Abs. 5 wird ferner hervorgehoben, dass in anderen als den in diesen beiden Absätzen vorgesehenen Fällen ein neues Vergabeverfahren erforderlich ist. In Abs. 4 wird klargestellt, was eine wesentliche Änderung eines Vertrags oder einer Rahmenvereinbarung darstellt, indem betont wird, dass die Bestimmung eines neuen Auftragnehmers eine solche Änderung darstellt, außer u. a. in den in Abs. 1 Buchst. d vorgesehenen Fällen, also insbesondere im Fall einer Insolvenz, wie sie in der streitigen Vorschrift genannt wird.

61.      Art. 72 legt für jeden ins Auge gefassten Fall die Bedingungen fest, unter denen die Ausnahmen von den Vergabeverfahren gelten. Diese erwähnen jedoch, wie ich bereits festgestellt habe, nicht die Verpflichtung, im Fall der Insolvenz des ursprünglichen Auftragnehmers zumindest einen Teil der Geschäftstätigkeit des ursprünglichen Auftragnehmers auf den neuen Auftragnehmer zu übertragen.

62.      In Bezug auf die Ausnahme von der allgemeinen Regel der öffentlichen Auftragsvergabe ist die streitige Vorschrift zwar, was den Begriff „Insolvenz“ betrifft, eng auszulegen. Diese Auslegung sollte jedoch der Ausnahme nicht ihre praktische Wirksamkeit nehmen. Dies wäre meines Erachtens dann der Fall(23), wenn der Begriff „Insolvenz“ auf Situationen beschränkt würde, in denen der Betrieb des betreffenden Unternehmens zumindest teilweise fortgeführt werden kann, und nicht in seinem üblichen weiteren Sinne verstanden würde. Ich betone insoweit, dass der Begriff „Insolvenz“ allgemein verwendet wird und meines Erachtens alle in Art. 57 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2014/24 genannten Insolvenzsituationen miteinschließen kann(24).

63.      Ich bin daher der Auffassung, dass die die Insolvenz betreffende Ausnahme ohne andere Bedingungen als die drei in der streitigen Vorschrift genannten, auf die ich in Nr. 38 der vorliegenden Schlussanträge hingewiesen habe, gilt.

64.      Der 110. Erwägungsgrund der Richtlinie stützt diese Würdigung, denn er besagt, dass im Fall „gewisser struktureller Veränderungen“ des Auftragnehmers während der Ausführung des Auftrags, einschließlich der Insolvenz, die Eröffnung eines neuen Vergabeverfahrens nicht automatisch erforderlich ist. Der Ausdruck „gewisse strukturelle Veränderungen“ führt zu einem besonders weiten Verständnis des Begriffs „Unternehmensumstrukturierungen“. Die genannten Beispiele umfassen Vorfälle oder Ereignisse, die die Struktur eines Unternehmens selbst betreffen können, und sind so vielfältig wie eine rein interne Umstrukturierung oder Insolvenz bis hin zu Unternehmensübernahmen.

65.      Die von mir vorgeschlagene Auslegung der streitigen Vorschrift, wonach aus deren Wortlaut und Kontext nicht abgeleitet werden kann, dass ein Teil der Geschäftstätigkeit des ursprünglichen Auftragnehmers auf den neuen Auftragnehmer übertragen werden muss, damit die mit der Insolvenz des ursprünglichen Auftragnehmers verbundene Ausnahme greift, wird zudem durch die mit der Richtlinie 2014/24 verfolgten Ziele gestützt.

C.      Die Ziele der Richtlinie 2014/24

66.      Welche Ziele der Gesetzgeber verfolgt hat, ergibt sich aus der Darlegung der Gründe des Vorschlags für eine Richtlinie.

67.      Der Gesetzgeber hat zwar das Ziel bekräftigt, den Wettbewerb zwischen den Bewerbern in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten, und zu diesem Zweck die Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung bekräftigt, doch wollte er zum einen andere Ziele berücksichtigen(25) und zum anderen ein gewisses Maß an Flexibilität und Vereinfachung bei der Anwendung der Vorschriften(26) einführen. Der Richtlinienvorschlag unterstreicht somit den Wunsch, unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs den Formalismus zu reduzieren und pragmatisch auf die konkreten Probleme der öffentlichen Auftraggeber und Bieter zu reagieren.

68.      Wie in der Literatur dargelegt wurde(27), konzentrierten sich die Vergaberichtlinien früher auf die Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge und insbesondere auf den Wettbewerb der Bewerber vor der eigentlichen Auftragsvergabe, während die Richtlinie 2014/24(28) auch die Ausführung der öffentlichen Aufträge und damit die Phase nach Auftragsvergabe abdeckt, die die mögliche Änderung von Verträgen während der Ausführung einschließt.

69.      In dieser letzten Hinsicht trägt die Richtlinie 2014/24 der Rechtsprechung des Gerichtshofs in vollem Umfang Rechnung, indem sie diese kodifiziert. Aber sie ist, wie ich aufzeigen werde, noch viel weiter gegangen. Es ist zweckmäßig, diese Rechtsprechung und die Art und Weise, wie sie in der Richtlinie zum Ausdruck kommt, zu untersuchen, um die durch die Richtlinie eingeführten Neuerungen zu würdigen.

70.      Das Urteil pressetext(29) ist in diesem Bereich maßgeblich. Der Fall, der diesem Urteil zugrunde lag, betraf die Änderung eines öffentlichen Auftrags während seiner Ausführung und bezog sich insbesondere auf die Person des Auftragnehmers. Der Gerichtshof stellte fest, dass die bestehende Richtlinie diese Frage nicht behandele(30), auch wenn sie maßgebliche Hinweise enthalte.

71.      Der Gerichtshof betonte daher, dass die betreffende Richtlinie sowohl die Transparenz der Verfahren als auch die Gleichbehandlung der Bieter sicherstellen und damit dem Hauptziel der Öffnung für den Wettbewerb in allen Mitgliedstaaten entsprechen solle(31). Er kam zu dem Ergebnis, dass Änderungen der Bestimmungen eines öffentlichen Auftrags während seiner Geltungsdauer eine Neuvergabe des Auftrags darstellten, wenn sie wesentlich andere Merkmale aufwiesen als der ursprüngliche Auftrag. Der Gerichtshof erläuterte, was unter wesentlichen Änderungen zu verstehen sei, indem er darauf hinwies, dass sie die Einführung von Bedingungen umfassten, die die Zulassung anderer als der ursprünglich zugelassenen Bieter oder die Annahme eines anderen als des ursprünglich angenommenen Angebots erlaubt hätten, wenn sie Gegenstand des ursprünglichen Vergabeverfahrens gewesen wären(32).

72.      Der Gerichtshof zieht daraus den Schluss, dass die Ersetzung des Vertragspartners, dem der öffentliche Auftraggeber ursprünglich den Auftrag erteilt hatte, durch einen neuen Auftragnehmer im Allgemeinen eine wesentliche Änderung des Wortlauts des öffentlichen Auftrags darstellt(33).

73.      Das Urteil pressetext präzisiert die Sachverhalte, in denen bestimmte, den Auftragnehmer berührende Änderungen indessen keine wesentliche Änderung darstellen.

74.      Dies ist der Fall, wenn, wie in der Rechtssache, die zu diesem Urteil geführt hat, die Tätigkeit des Auftragnehmers auf eine seiner Tochtergesellschaften übertragen wird, die er zu 100 % kontrolliert, die er leitet und für die er gesamtschuldnerisch haftet, und wenn die bestehende Gesamtleistung unverändert bleibt. Eine solche Vereinbarung ist nichts anderes als eine interne Umstrukturierung des Vertragspartners, die den Wortlaut des ursprünglichen Vertrags nicht wesentlich ändert(34).

75.      Dies ist auch dann der Fall, wenn der Auftragnehmer eine juristische Person in Form einer börsennotierten Aktiengesellschaft ist. Der Gerichtshof hat ausgeführt, dass sich aus dem Wesen einer solchen Gesellschaft selbst ergibt, dass sich die Besitzverhältnisse jederzeit ändern können. Daraus folgt, dass eine solche Situation die Gültigkeit der Vergabe eines öffentlichen Auftrags an ein solches Unternehmen grundsätzlich nicht in Frage stellt(35).

76.      Der Gerichtshof hat weiter ausgeführt, dass diese Schlussfolgerung auch für juristische Personen gilt, die in Form einer eingetragenen Genossenschaft mit beschränkter Haftung gegründet wurden, wie in der Rechtssache, die dem Urteil pressetext zugrunde lag. Mögliche Änderungen in der Zusammensetzung des Kreises der Mitglieder einer solchen Genossenschaft führen grundsätzlich nicht zu einer wesentlichen Änderung des an sie vergebenen Auftrags(36).

77.      Diese Erwägungen spiegeln sich in der Richtlinie 2014/24 zum einen in der streitigen Vorschrift und zum anderen in ihren Erwägungsgründen 107 und 110 vollständig wider. So wird im 107. Erwägungsgrund ausdrücklich auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs verwiesen, und im 110. Erwägungsgrund werden sowohl rein interne Umstrukturierungen als auch Übernahmen, Zusammenschlüsse und Unternehmenskäufe erwähnt, die einen Wechsel der Anteilseigner oder Gesellschafter und damit der Eigentümer mit sich bringen.

78.      Ich betone jedoch, dass die Richtlinie 2014/24 sich nicht damit begnügt, den Lehren aus dem Urteil pressetext Rechnung zu tragen, und dass sie auch andere Arten von Sachverhalten behandelt.

79.      Während der Gerichtshof nämlich die Sachverhalte präzisiert hat, in denen eine Änderung, die den Auftragnehmer betrifft, keine wesentliche Änderung darstellt und daher nicht zu einem neuen Vergabeverfahren führt, spezifiziert die Richtlinie 2014/24 in der streitigen Vorschrift zudem die Fälle, in denen eine Änderung, die den Auftragnehmer betrifft, zwar in der Regel eine wesentliche Änderung darstellt, aber ebenfalls kein neues Vergabeverfahren erfordert.

80.      Dies gilt insbesondere für Fälle der Übernahme, der Fusion und des Erwerbs, sofern die in der streitigen Vorschrift genannten Bedingungen erfüllt sind.

81.      Was in der vorliegenden Rechtssache für den Gerichtshof von Interesse ist, ist vor allem, dass die Richtlinie 2014/24 ausdrücklich den Fall einer Insolvenz vorsieht, der ihm noch nicht zur Beurteilung vorgelegt worden ist.

82.      Dass dieser letztgenannte Sachverhalt berücksichtigt wird, ist eine Neuerung sowohl in Bezug auf das Vergaberecht der Union als auch in Bezug auf die zum Zeitpunkt der Annahme der Richtlinie 2014/24 bestehende Rechtsprechung. Damit wird einem praktischen Problem entsprochen, auf das man bei der Durchführung des Auftrags trifft.

83.      Dieses Problem besteht darin, sicherzustellen, dass dann, wenn der öffentliche Auftraggeber mit einem Auftragnehmer konfrontiert ist, der aufgrund seiner Insolvenz nicht mehr in der Lage ist, den öffentlichen Auftrag auszuführen, ein Ersatz bestellt werden kann, ohne dass es zu unverhältnismäßigen Verzögerungen kommt oder die Kosten des betreffenden Auftrags durch ein neues Vergabeverfahren unverhältnismäßig erhöht werden. Die streitige Vorschrift soll diesem Problem durch eine Lösung im Interesse sowohl des Auftraggebers als auch des erfolgreichen Bieters und seiner Gläubiger abhelfen. Es ist jedoch zu beachten, dass das Problem, das durch die Insolvenzsituation entsteht, nicht weniger bedeutend ist, je nachdem, ob das insolvent gewordene Unternehmen teilweise weiterbesteht oder ganz aufgelöst wird. In allen Fällen muss ein Ersatz gefunden werden. Indem der Gesetzgeber nicht ausdrücklich zwischen diesen Sachverhalten differenzierte, wollte er offenbar pragmatisch auf alle diese Sachverhalte reagieren und gleichzeitig die Einhaltung der in Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24 niedergelegten Grundsätze für die Vergabe öffentlicher Aufträge sicherstellen, insbesondere das Verbot für den öffentlichen Auftraggeber, den Wettbewerb künstlich einzuschränken, indem er die Anwendung der Richtlinie umgeht.

84.      Im Zusammenhang mit Letzterem möchte ich nämlich zunächst darauf hinweisen, dass im Fall der Insolvenz des ursprünglichen Auftragnehmers die Rahmenvereinbarung bereits Gegenstand eines Aufrufs zum Wettbewerb war(37) und das angenommene Angebot nicht mehr wesentlich geändert werden kann. Wie die streitige Vorschrift ausdrücklich feststellt, ist bei weiteren wesentlichen Änderungen, abgesehen vom Wechsel des Vertragspartners, eine der drei in der streitgegenständlichen Vorschrift genannten Bedingungen(38) nicht erfüllt und es muss ein neues Vergabeverfahren durchgeführt werden.

85.      Sodann stellt das Eintreten der Insolvenz des Auftragnehmers – ohne ein seltenes Ereignis zu sein – eine außergewöhnliche Situation dar, die normalerweise vom öffentlichen Auftraggeber oder vom Auftragnehmer weder vorhergesehen noch gewünscht wird. Ich erinnere daran, dass die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit eines der drei Kriterien für die Eignung der Bewerber ist, die in Art. 58 der Richtlinie 2014/24 vorgesehen sind. Darüber hinaus ist die Insolvenz eines Wirtschaftsteilnehmers im Sinne von Art. 57 Abs. 4 Buchst. b der genannten Richtlinie ein Grund für den Ausschluss von der Teilnahme an einem Vergabeverfahren, der je nach nationalem Recht entweder fakultativ oder obligatorisch ist.

86.      Dieser außergewöhnliche Charakter der Insolvenzsituation wird im Allgemeinen dazu führen, dass die Ersetzung des Auftragnehmers durch einen neuen Auftragnehmer kein Manöver des öffentlichen Auftraggebers zur Umgehung der Anwendung der Richtlinie 2014/24 darstellt. Ich weise darauf hin, dass die Gefahr eines solchen Manövers umso unwahrscheinlicher ist, wenn, wie im Ausgangsverfahren, ein Konkursverwalter bestellt wurde, der die Interessen der Gläubiger des Auftragnehmers und nicht die Interessen des öffentlichen Auftraggebers vertritt und der unter der Aufsicht eines Gerichts tätig wird.

87.      In jedem Fall ist es Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob die Beteiligten nicht ein solches Manöver durchgeführt haben. Insbesondere muss es prüfen, ob die Auswahlkriterien, wie z. B. die finanzielle Leistungsfähigkeit des Auftragnehmers, geprüft wurden. Der Zeitpunkt der Insolvenz, insbesondere, wenn er nahe am Vertragsdatum liegt, kann ein Hinweis darauf sein, dass die Überprüfung der Einhaltung dieses qualitativen Kriteriums nicht ordnungsgemäß durchgeführt wurde. In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens stelle ich fest, dass dem Gerichtshof hierzu keine Einzelheiten mitgeteilt wurden, das vorlegende Gericht aber in keiner Weise angedeutet hat, dass die Betroffenen die Anwendung der Richtlinie 2014/24 umgehen wollten.

88.      Schließlich ist in den Fällen, in denen ein Konkursverwalter zur Verwaltung des Vermögens eines insolvent gewordenen Auftragnehmers bestellt wurde, die Auswahl des neuen Auftragnehmers in erster Linie Sache dieses Konkursverwalters und nicht des öffentlichen Auftraggebers. Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2014/24, der den Anwendungsbereich dieser Richtlinie betrifft, definiert die Auftragsvergabe aber als den Erwerb von Lieferungen oder Dienstleistungen im Wege eines öffentlichen Auftrags durch einen öffentlichen Auftraggeber von Wirtschaftsteilnehmern, die von diesem ausgewählt wurden. Da hier keine Auswahl durch den öffentlichen Auftraggeber vorliegt, ist ein Vergabeverfahren im Hinblick auf die Richtlinie 2014/24 nicht zwingend geboten, auch wenn die Billigung des Auftragnehmers durch den öffentlichen Auftraggeber erforderlich ist.

89.      Hinsichtlich eines Vertrags, der gegenseitige Verpflichtungen des neuen Auftragnehmers und des öffentlichen Auftraggebers beinhaltet, ist eine solche Billigung, obwohl sie in der Richtlinie 2014/24 nicht vorgesehen ist, gemäß dem Vertragsrecht der Mitgliedstaaten nämlich erforderlich. Der öffentliche Auftraggeber kann sogar vor der Bestimmung des neuen Auftragnehmers konsultiert worden sein und an bestimmten Verhandlungen teilgenommen haben, wie es im Ausgangsverfahren der Fall gewesen zu sein scheint(39). Dies reicht meines Erachtens nicht aus, um davon auszugehen, dass der öffentliche Auftraggeber den Auftragnehmer im Sinne der Richtlinie 2014/24 „ausgewählt“ hat(40).

90.      Es ist offensichtlich, dass die Möglichkeit, im Fall der Insolvenz des ursprünglichen Auftragnehmers einen neuen Auftragnehmer zu bestimmen, ohne ein neues Vergabeverfahren durchzuführen, einen erheblichen Spielraum bei der öffentlichen Auftragsvergabe schafft. Meines Erachtens entspricht dieser jedoch der Absicht des Gesetzgebers unter gleichzeitiger Wahrung der in Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24 verankerten Grundsätze, sofern die drei in Nr. 38 der vorliegenden Schlussanträge genannten Bedingungen für die Anwendung der Ausnahme erfüllt sind.

91.      Die Auslegung von Dustin und der Kommission, dass der neue Auftragnehmer nur dann in dieser Weise bestimmt werden könne, wenn er zumindest den Teil der Tätigkeit des ursprünglichen Auftragnehmers übernehme, der die Ausführung des Auftrags erlaube, wirft, abgesehen davon, dass sie vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich vorgesehen ist und meines Erachtens über den Sinn der streitigen Vorschrift hinausgehen würde, mehr Probleme auf, als sie löst.

92.      Als Erstes stelle ich fest, dass die Verpflichtung, einen Teil der Geschäftstätigkeit des ursprünglichen Auftragnehmers zu übernehmen, den Anwendungsbereich der die Insolvenz betreffenden Ausnahme erheblich einschränken würde, da in vielen Fällen das Unternehmen vollständig aufgelöst wird. Des Weiteren kann man sich fragen, wie groß der zu übertragende Anteil der Geschäftstätigkeit des ursprünglichen Auftragnehmers sein müsste, damit die Ausnahme anwendbar ist.

93.      Als Zweites könnte eine solche Verpflichtung die Aufgabe des Konkursverwalters besonders schwierig machen. Sie könnte sogar im Widerspruch zu den Befugnissen stehen, die ihm nach dem nationalen Insolvenzrecht eingeräumt werden, um im Interesse der Gläubiger zu verhandeln(41).

94.      In dieser Hinsicht teile ich den Standpunkt der österreichischen Regierung, dass die alleinige Übertragung von Aufträgen oder Rahmenvereinbarungen je nach Geschäftsbereich üblich sein kann oder auch nicht. Im Rahmen der Insolvenz eines Bauunternehmens kann z. B. die Übertragung bestimmter Großbaustellen möglicherweise den Übergang von Material und Personal erfordern. Dies muss bei Computerdienstleistungen oder der Lieferung von Computerausrüstung dagegen nicht der Fall sein. Ich bin ebenso wie diese Regierung der Ansicht, dass es vorkommt, dass ein Unternehmen, das insolvent geworden ist, seine Geschäfte nur dann weiterführen kann, wenn es einen öffentlichen Auftrag überträgt. Wäre diese Möglichkeit ausgeschlossen, würde dies nicht nur die Ersetzung des Auftragnehmers unmöglich machen, sondern könnte auch die Erreichung der Ziele des Insolvenzverfahrens, den bestehenden Betrieb im Interesse der Gläubiger so weit wie möglich zu erhalten, gefährden.

95.      Als Drittes wäre die Pflicht zu einer solchen Übertragung von Vermögenswerten zur Vermeidung einer Umgehung der Wettbewerbsregeln nicht nur eine kostspielige Lösung, sondern es ist auch fraglich, ob sie erforderlich ist, da die Übertragung des öffentlichen Auftrags jedenfalls unter der in der streitigen Vorschrift vorgesehenen Bedingung steht, dass sie kein Mittel zur Umgehung der Anwendung der Richtlinie 2014/24 darstellt.

96.      Als Viertes werde ich auf die spezifischen Probleme eingehen, die sich aus dem Standpunkt der Kommission ergeben, dass der Konkursverwalter verpflichtet ist, sich an die ursprünglichen Bieter zu wenden, wenn die Geschäftstätigkeit des ursprünglichen Auftragnehmers vollständig verschwunden ist.

97.      Ich erinnere daran, dass es nach Auffassung der Kommission nicht die Absicht des Gesetzgebers war, den Fall zu erfassen, in dem die Tätigkeit des ursprünglichen Auftragnehmers vollständig aufgelöst wird(42). Die Kommission räumt aber ein, dass eine solche Situation eintreten könne(43) und ein öffentlicher Auftrag der einzige verbleibende Aktivposten sei.

98.      In einem solchen Fall kann die streitige Vorschrift nach Auffassung der Kommission dahin ausgelegt werden, dass die Ausnahme von der Durchführung eines neuen Vergabeverfahrens anwendbar ist, sofern der öffentliche Auftrag allen ursprünglichen Bietern, die die Auswahlkriterien erfüllen, in nicht diskriminierender und gleichwertiger Weise angeboten wird, z. B., indem sie entsprechend ihrer Rangfolge angesprochen werden(44).

99.      Ich betone jedoch erstens, dass eine solche Bedingung in der streitigen Vorschrift nicht enthalten ist und dass sie dem Willen des Gesetzgebers zu widersprechen scheint. Wie ich in den Nrn. 53 und 54 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, hatte die Kommission bei den vorbereitenden Arbeiten die Möglichkeit ins Auge gefasst, dass im Fall eines Konkurses ein besonderes Verfahren zur Anwendung kommen könnte, das insbesondere vorsieht, dass sich der Auftraggeber erneut an die ursprünglichen Bieter wendet. Letztendlich wurde dieser Vorschlag nicht in die Richtlinie 2014/24 übernommen und auch nicht durch einen anderen ersetzt. Daraus schließe ich, dass der Gesetzgeber eine solche Verpflichtung, die ursprünglichen Bieter zu kontaktieren, klar abgelehnt hat.

100. Wenn der öffentliche Auftrag oder die Rahmenvereinbarung den ursprünglichen Bietern entsprechend ihrer Rangfolge angeboten werden muss, bedeutet dies zweitens, dass der Auftrag an den ersten von ihnen vergeben werden muss, der ihn annimmt. Dabei wird jedoch nicht berücksichtigt, dass der neue Auftragnehmer vom Auftraggeber(45) gebilligt werden muss. Ein ehemaliger Bieter, auch wenn er in der Rangliste nach dem ursprünglichen Auftragnehmer am besten platziert ist, hat unter solchen Umständen nicht automatisch Anspruch auf den Auftrag.

101. Wenn der Insolvenzverwalter gezwungen ist, sich so an die ursprünglichen Bieter zu wenden, wird ihm drittens die Möglichkeit genommen, im Interesse der Gläubiger nach dem Höchstbietenden zu suchen. Aus der Richtlinie 2014/24 geht meines Erachtens jedoch keineswegs hervor, dass der Unionsgesetzgeber beabsichtigte, die den Konkursverwaltern möglicherweise nach nationalem Recht übertragenen Befugnisse in dieser Weise zu beschränken(46).

102. Ich kann mich daher der Auslegung der Kommission nicht anschließen.

103. Andererseits bin ich, wie sich aus der vorstehenden Würdigung ergibt, der Auffassung, dass, sofern die drei in der streitigen Vorschrift festgelegten und in Nr. 38 der vorliegenden Schlussanträge genannten Bedingungen erfüllt sind, die Auslegung dieser Vorschrift dahin, dass sie die alleinige Übertragung der zuvor vergebenen Rahmenvereinbarung oder des zuvor vergebenen öffentlichen Auftrags auf einen neuen Auftragnehmer erlaubt, ohne dass ein neues Vergabeverfahren durchzuführen ist und ohne dass dieser neue Auftragnehmer verpflichtet ist, eine weitere Geschäftstätigkeit des ursprünglichen Auftragnehmers zu übernehmen, ein konkretes Problem im Leben von Unternehmen behandelt und dabei die in Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24 niedergelegten Grundsätze für die Vergabe öffentlicher Aufträge beachtet.

V.      Ergebnis

104. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefrage des Högsta förvaltningsdomstol (Oberster Verwaltungsgerichtshof, Schweden) wie folgt zu antworten:

Art. 72 Abs. 1 Buchst. d Ziff. ii der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG ist dahin auszulegen, dass der Umstand, dass ein neuer Auftragnehmer die Rechte und Pflichten des ursprünglichen Auftragnehmers aus einer Rahmenvereinbarung übernommen hat, nachdem ihm diese Vereinbarung vom Konkursverwalter im Zuge der Eröffnung des Konkursverfahrens über das Vermögen des ursprünglichen Auftragnehmers übertragen worden ist, bedeutet, dass der neue Auftragnehmer im Sinne dieser Vorschrift ganz oder teilweise an die Stelle des ursprünglichen Auftragnehmers tritt. Es ist nicht erforderlich, dass diese Übertragung mit der Übertragung eines Teils der Geschäftstätigkeit des ursprünglichen Auftragnehmers, die der Ausführung der Rahmenvereinbarung dient, auf den neuen Auftragnehmer einhergeht.


1      Originalsprache: Französisch


2      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG (ABl. 2014, L 94, S. 65).


3      Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts wurde dieses Gesetz inzwischen aufgehoben.


4      Dieses Verfahren wird in Art. 28 der Richtlinie 2014/24 im Einzelnen beschrieben.


5      Vgl. Art. 65 („Verringerung der Zahl geeigneter Bewerber, die zur Teilnahme aufgefordert werden sollen“) der Richtlinie 2014/24.


6      Urteil vom 19. Juni 2008 (C‑454/06, im Folgenden: Urteil pressetext, EU:C:2008:351, Rn. 40). In den Nrn. 70 bis 78 der vorliegenden Schlussanträge untersuche ich die Folgen dieses Urteils genauer.


7      Siehe in diesem Sinne Urteil pressetext (Rn. 47) und Art. 72 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2014/24.


8      Vgl. Urteil vom 7. September 2016, Finn Frogne (C‑549/14, EU:C:2016:634, Rn. 28). Auf diese Grundsätze und auf die Pflicht zum Wettbewerb verweist Art. 18 der Richtlinie 2014/24.


9      Vgl. Nr. 13 der vorliegenden Schlussanträge.


10      Vgl. Nrn. 84, 86 und 87 der vorliegenden Schlussanträge.


11      Hervorhebung nur hier.


12      In der englischen Sprachfassung heißt es: „as a consequence of universal or partial succession into the position of the initial contractor“.


13      Vgl. Nrn. 46 und 47 der vorliegenden Schlussanträge.


14      Ich stelle fest, dass diese Frage nicht streitig ist. Dustin betont, dass es nicht möglich sei, die Rahmenvereinbarung nur teilweise auf den neuen Auftragnehmer zu übertragen.


15      Der Begriff „tatsächliche Identität“ zwischen Wirtschaftsteilnehmern wird im Rahmen der Prüfung der Konformität der Angebote verwendet, die von den Bietern vorgelegt wurden, und ist mit dem Begriff „rechtliche Identität“ verknüpft. Es muss eine rechtliche und tatsächliche Identität zwischen den in der Vorauswahl berücksichtigten Wirtschaftsteilnehmern und den Wirtschaftsteilnehmern, die die Angebote vorlegen, bestehen (vgl. Urteile vom 24. Mai 2016, MT Højgaard und Züblin, C‑396/14, EU:C:2016:347, Rn. 40, und vom 11. Juli 2019, Telecom Italia, C‑697/17, EU:C:2019:599, Rn. 34). Ich betone jedoch, dass dieses Erfordernis bei der Auftragsvergabe gilt und nicht bei der Durchführung der Aufträge.


16      Grünbuch vom 27. Januar 2011 über die Modernisierung der europäischen Politik im Bereich des öffentlichen Auftragswesens – Wege zu einem effizienteren europäischen Markt für öffentliche Aufträge (KOM[2011] 15 endgültig, im Folgenden: Grünbuch).


17      Vgl. Frage 41 des Grünbuchs.


18      Vgl. S. 27 und Fn. 61des Grünbuchs.


19      Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die öffentliche Auftragsvergabe (KOM(2011) 896 endgültig, im Folgenden: Vorschlag für eine Richtlinie).


20      Vgl. Vorschlag für eine Richtlinie, Art. 72 Abs. 3.


21      Vgl. 47. Erwägungsgrund des Vorschlags für eine Richtlinie


22      Wie sich aus der Stellungnahme des Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) (Abteilung für Finanzen) vom 8. Juli 2000 (Übertragung von Verträgen – Nr. 141654) ergibt, kann eine Umstrukturierungsmaßnahme dazu führen, dass es den ursprünglichen Inhaber des öffentlichen Auftrags nicht mehr gibt.


23      Zur Beeinträchtigung der praktischen Wirksamkeit der streitigen Vorschrift vgl. auch Nrn. 92 bis 94 der vorliegenden Schlussanträge.


24      Vgl. Nr. 8 der vorliegenden Schlussanträge.


25      Insbesondere Umweltschutz, Förderung von Innovation, Beschäftigung und sozialer Eingliederung (vgl. Nr. 1 der Begründung des Vorschlags für eine Richtlinie).


26      Vgl. Begründung des Vorschlags für die Richtlinie.


27      Vgl. u. a. Treumer, S., „Contract changes and the duty to retender under the new EU public procurement Directive“, Public Procurement Law Review, 2014, 3, S. 148.


28      Diese Bemerkungen gelten ebenso für die Richtlinie 2014/25/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die Vergabe von Aufträgen durch Auftraggeber im Bereich der Wasser‑, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/17/EG (ABl. 2014, L 94, S. 243).


29      Vgl. Nr. 26 der vorliegenden Schlussanträge.


30      Vgl. Rn. 30 des Urteils pressetext. Es handelte sich um die Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge (ABl. 1992, L 209, S. 1).


31      Vgl. Rn. 31 und 34 des Urteils pressetext.


32      Vgl. Rn. 35 des Urteils pressetext.


33      Vgl. Rn. 40 des Urteils pressetext.


34      Vgl. Rn. 45 des Urteils pressetext.


35      Vgl. Urteil pressetext (Rn. 51).


36      Vgl. Urteil pressetext (Rn. 52).


37      Vgl. Treumer, S., „Regulations of contract changes leading to a duty to retender the contract: the European Commission’s proposals of December 2011“, Public Procurement Law Review, 2012, 5, S. 135 bis 166, der betont, dass die Regeln über den öffentlichen Auftrag bereits ihre Rolle gespielt haben.


38      Vgl. die zweite in Nr. 38 der vorliegenden Schlussanträge genannte Bedingung.


39      Vgl. Nr. 15 der vorliegenden Schlussanträge.


40      Sue Arrowsmith ist jedoch der Ansicht, dass, wenn der öffentliche Auftraggeber die Möglichkeit behält, die Bestimmung des Auftragnehmers aus anderen Gründen als denen, die sich auf dessen technische oder finanzielle Leistungsfähigkeit beziehen, zu beeinflussen, er diesen auswählt und diese Wahl Gegenstand eines Vergabeverfahrens sein muss; vgl. The law of Public and Utilities procurement: Regulations in the EU and UK, Sweet and Maxwell, 3. Aufl., 2014, Rn. 6 bis 290.


41      Es ergibt sich aus den Akten der vorliegenden Rechtssache, dass solche Befugnisse in Schweden und in Österreich im nationalen Recht vorgesehen sind. Die Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren (ABl. 2015, L 141, S. 19) betont in ihrem 22. Erwägungsgrund, dass große Unterschiede im materiellen Recht der Mitgliedstaaten in diesem Bereich bestehen. Vgl. dazu auch die Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs‑, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) (ABl. 2019, L 172 S. 18), insbesondere ihre Erwägungsgründe 1, 4, 7, 8 und 12.


42      Vgl. Nr. 49 der vorliegenden Schlussanträge.


43      Vgl. Nr. 33 der vorliegenden Schlussanträge.


44      Die Kommission weist darauf hin, dass im italienischen Recht eine Lösung dieser Art vorgesehen zu sein scheint. In ihren Kommentaren zum italienischen Recht, das die Richtlinie 2014/24 umsetzt, weisen Marion Comba und Sara Richetto darauf hin, dass dieser Mitgliedstaat in Art. 110 D Lgs 50/2016 die Möglichkeit vorgesehen habe, dass der öffentliche Auftraggeber auf die ursprünglichen Bieter in der Reihenfolge ihrer Einstufung zurückgreife (vgl. Treumer, S., und Comba, M., Modernising Public Procurement, The approach of EU member States, Elgar, 2018, Kapitel 7, S. 149).


45      Vgl. Nr. 89 der vorliegenden Schlussanträge.


46      Ich möchte klarstellen, dass daraus nicht folgt, dass alle finanziellen Schwierigkeiten des ursprünglichen Auftragnehmers zur Bestimmung eines neuen Auftragnehmers führen könnten, ohne dass ein neues Vergabeverfahren gemäß der Richtlinie 2014/24 durchzuführen ist. Voraussetzung ist, dass – wie im Ausgangsverfahren – ein förmliches Insolvenzverfahren eingeleitet wurde.