Language of document : ECLI:EU:C:2022:202

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

22. März 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Wettbewerb – Postdienste – Von einem Anbieter von Universaldienstleistungen eingeführtes Tarifsystem – Von einer nationalen Regulierungsbehörde für den Postsektor verhängte Geldbuße – Von einer nationalen Wettbewerbsbehörde verhängte Geldbuße – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 50 – Grundsatz ne bis in idem – Vorliegen derselben Straftat – Art. 52 Abs. 1 – Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem – Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen – Voraussetzungen – Verfolgung einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung – Verhältnismäßigkeit“

In der Rechtssache C‑117/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d’appel de Bruxelles (Appellationshof Brüssel, Belgien) mit Entscheidung vom 19. Februar 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 3. März 2020, in dem Verfahren

bpost SA

gegen

Autorité belge de la concurrence,

Beteiligte:

Publimail SA,

Europäische Kommission,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan und N. Jääskinen, der Kammerpräsidentin I. Ziemele, des Kammerpräsidenten J. Passer sowie der Richter M. Ilešič, T. von Danwitz, A. Kumin und N. Wahl,

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. März 2021,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der bpost SA, vertreten durch J. Bocken, S. Gnedasj, K. Verbouwe und S. Mathieu, Avocats,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch J.‑C. Halleux, L. Van den Broeck und C. Pochet als Bevollmächtigte im Beistand von P. Vernet und E. de Lophem, Avocats,

–        der deutschen Regierung, zunächst vertreten durch J. Möller und S. Heimerl als Bevollmächtigte, dann durch J. Möller als Bevollmächtigten,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und I. Gavrilova als Bevollmächtigte,

–        der griechischen Regierung, vertreten durch L. Kotroni als Bevollmächtigte,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von F. Meloncelli, Avvocato dello Stato,

–        der lettischen Regierung, zunächst vertreten durch K. Pommere und V. Kalniņa, dann durch K. Pommere als Bevollmächtigte,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und M. Wiącek als Bevollmächtigte,

–        der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane, R. I. Haţieganu und A. Wellman als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch H. van Vliet, P. Rossi, A. Cleenewerck de Crayencour und F. van Schaik als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 2. September 2021

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der bpost SA und der Autorité belge de la concurrence (Belgische Wettbewerbsbehörde), der Rechtsnachfolgerin des Conseil de la concurrence (Wettbewerbsrat) (im Folgenden zusammen: Wettbewerbsbehörde), über die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung, mit der bpost wegen Missbrauchs einer beherrschenden Stellung eine Geldbuße auferlegt wurde (im Folgenden: Entscheidung der Wettbewerbsbehörde).

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Mit der Richtlinie 97/67/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 1997 über gemeinsame Vorschriften für die Entwicklung des Binnenmarktes der Postdienste der Gemeinschaft und die Verbesserung der Dienstequalität (ABl. 1998, L 15, S. 14) in der durch die Richtlinie 2008/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Februar 2008 (ABl. 2008, L 52, S. 3) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 97/67) soll der Markt für Postdienste schrittweise liberalisiert werden.

4        Die Erwägungsgründe 8 und 41 der Richtlinie 97/67 lauten:

„(8)      Maßnahmen zur schrittweisen und kontrollierten Liberalisierung des Marktes und zur Wahrung eines angemessenen Gleichgewichts bei deren Durchführung sind notwendig, um [in der gesamten Europäischen Union] das freie Angebot von Diensten im Postsektor unter Beachtung der Pflichten und Rechte der Anbieter von Universaldienstleistungen zu gewährleisten.

(41)      Die Anwendung der Bestimmungen des Vertrags, insbesondere der Bestimmungen über den Wettbewerb und die Dienstleistungsfreiheit, bleibt von dieser Richtlinie unberührt.“

5        Art. 12 dieser Richtlinie sieht u. a. vor, dass die Mitgliedstaaten Schritte unternehmen, um zu gewährleisten, dass die Tarife für die einzelnen Universaldienstleistungen transparent und nicht diskriminierend sind.

 Belgisches Recht

6        Mit den Art. 144bis und 144ter der Loi du 21 mars 1991 portant réforme de certaines entreprises publiques économiques (Gesetz vom 21. März 1991 zur Umstrukturierung bestimmter öffentlicher Wirtschaftsunternehmen) (Moniteur belge vom 27. März 1991, S. 6155, deutsche Übersetzung veröffentlicht im Belgischen Staatsblatt vom 9. Januar 2013, S. 600) in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung wird Art. 12 der Richtlinie 97/67 in die belgische Rechtsordnung umgesetzt.

7        Art. 3 der Loi du 10 juin 2006 sur la protection de la concurrence économique (Gesetz vom 10. Juni 2006 über den Schutz des wirtschaftlichen Wettbewerbs) (Moniteur belge vom 29. Juni 2006, S. 32755, deutsche Übersetzung veröffentlicht im Belgischen Staatsblatt vom 28. Februar 2007, S. 9418), koordiniert durch den Königlichen Erlass vom 15. September 2006 (Moniteur belge vom 29. September 2006, S. 50613, deutsche Übersetzung veröffentlicht im Belgischen Staatsblatt vom 6. April 2007, S. 19544), in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz über den Schutz des Wettbewerbs) bestimmt:

„Verboten ist, ohne dass dies einer vorherigen Entscheidung bedarf, die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem betreffenden belgischen Markt oder auf einem wesentlichen Teil davon durch ein oder mehrere Unternehmen.

Dieser Missbrauch kann insbesondere in Folgendem bestehen:

1.      der unmittelbaren oder mittelbaren Erzwingung von unangemessenen Einkaufs- oder Verkaufspreisen oder sonstigen Geschäftsbedingungen,

2.      der Einschränkung der Erzeugung, des Absatzes oder der technischen Entwicklung zum Schaden der Verbraucher,

3.      der Anwendung unterschiedlicher Bedingungen bei gleichwertigen Leistungen gegenüber Handelspartnern, wodurch diese im Wettbewerb benachteiligt werden,

4.      der an den Abschluss von Verträgen geknüpften Bedingung, dass die Vertragspartner zusätzliche Leistungen annehmen, die weder sachlich noch nach Handelsbrauch in Beziehung zum Vertragsgegenstand stehen.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

8        In Belgien ist bpost der etablierte Postdiensteanbieter. Sie bietet Postzustelldienste für die breite Öffentlichkeit an, aber auch für zwei besondere Kategorien von Kunden, nämlich Massenversender, die Endverbraucher sind, und Konsolidierer, bei denen es sich um Postvorbereiter handelt, die selbst Dienstleistungen vor dem Postzustelldienst erbringen, indem sie Post aufbereiten und Sendungen einliefern.

9        Ab dem Jahr 2010 führte bpost ein neues Tarifsystem für die Zustellung von namentlich adressierten Werbesendungen und Verwaltungssendungen ein, das auf dem sogenannten „Versendermodell“ beruht. Nach diesem Modell wurden die den Konsolidierern gewährten Mengenrabatte nicht mehr auf der Grundlage der Gesamtmenge der Sendungen aller Versender, denen sie ihre Dienste erbrachten, sondern auf der Grundlage der Sendungsmenge berechnet, die individuell von jedem Versender abgegeben wurde.

10      Mit Entscheidung vom 20. Juli 2011 verhängte das Institut belge des services postaux et des télécommunications (Belgisches Institut für Post- und Fernmeldewesen, BIPF, im Folgenden: Regulierungsbehörde für den Postsektor) auf der Grundlage von Art. 144bis und Art. 144ter Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes vom 21. März 1991 zur Umstrukturierung bestimmter öffentlicher Wirtschaftsunternehmen in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung eine Geldbuße in Höhe von 2,3 Mio. Euro gegen bpost, da sie hinsichtlich der Tarife gegen das Gebot der Nichtdiskriminierung verstoßen habe (im Folgenden: Entscheidung der Regulierungsbehörde für den Postsektor). Gemäß dieser Entscheidung beruhte das von bpost ab dem Jahr 2010 eingeführte neue Tarifsystem auf einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung von Konsolidierern und unmittelbaren Kunden. Die Regulierungsbehörde für den Postsektor wies außerdem darauf hin, dass das Verfahren, das zum Erlass dieser Entscheidung geführt habe, nicht die Anwendung des Wettbewerbsrechts betreffe.

11      Mit Urteil vom 10. März 2016 hob die Cour d’appel de Bruxelles (Appellationshof Brüssel, Belgien) die Entscheidung der Regulierungsbehörde für den Postsektor auf, da das in Rede stehende Tarifsystem nicht diskriminierend sei. Dieses Urteil, das rechtskräftig geworden ist, erging im Anschluss an ein Vorabentscheidungsersuchen, zu dem das Urteil vom 11. Februar 2015, bpost (C‑340/13, EU:C:2015:77), ergangen ist.

12      In der Zwischenzeit stellte die Wettbewerbsbehörde mit Entscheidung vom 10. Dezember 2012 fest, dass bpost einen nach Art. 3 des Gesetzes über den Schutz des Wettbewerbs und Art. 102 AEUV verbotenen Missbrauch einer beherrschenden Stellung begangen habe. Dieser Missbrauch habe in der Einführung und Umsetzung des neuen Tarifsystems durch bpost im Zeitraum von Januar 2010 bis Juli 2011 bestanden. Gemäß dieser Entscheidung hatte dieses System einen Verdrängungseffekt für potenzielle Konsolidierer und Wettbewerber von bpost sowie einen Effekt der Kundenbindung bei den wichtigsten Kunden, so dass die Zutrittsschranken zum Markt erhöht worden seien. Aufgrund dieses Missbrauchs wurde bpost eine Geldbuße in Höhe von 37 399 786 Euro auferlegt, die unter Berücksichtigung der zuvor von der Regulierungsbehörde für den Postsektor verhängten Geldbuße berechnet wurde. Das Verfahren, das zum Erlass dieser Entscheidung führte, betraf nicht das Vorliegen etwaiger diskriminierender Praktiken.

13      Mit Urteil vom 10. November 2016 hob die Cour d’appel de Bruxelles (Appellationshof Brüssel) die Entscheidung der Wettbewerbsbehörde auf, da diese gegen den Grundsatz ne bis in idem verstoße. Dieses Gericht war der Ansicht, dass die von der Regulierungsbehörde für den Postsektor und von der Wettbewerbsbehörde durchgeführten Verfahren denselben Sachverhalt beträfen.

14      Mit Urteil vom 22. November 2018 hob die Cour de cassation (Kassationshof, Belgien) dieses Urteil auf und verwies die Sache an die Cour d’appel de Bruxelles (Appellationshof Brüssel) zurück.

15      Im Rahmen des Verfahrens im Anschluss an diese Zurückverweisung erörterten bpost, die Wettbewerbsbehörde und die als amicus curiae beteiligte Europäische Kommission, ob der Grundsatz ne bis in idem und die Voraussetzungen für seine Anwendung beachtet worden seien.

16      In seinem Vorabentscheidungsersuchen führt das vorlegende Gericht aus, dass die von der Regulierungsbehörde für den Postsektor bzw. von der Wettbewerbsbehörde durchgeführten Verfahren zur Verhängung von Verwaltungssanktionen mit strafrechtlichem Charakter führten, mit denen verschiedene Verstöße geahndet werden sollten, die sich im einen Fall aus der Missachtung einer sektorspezifischen Regelung und im anderen Fall aus der Missachtung des Wettbewerbsrechts ergäben. Unter diesen Umständen sei grundsätzlich auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Grundsatz ne bis in idem im Bereich des Wettbewerbsrechts abzustellen, wie sie sich insbesondere aus dem Urteil vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a. (C‑17/10, EU:C:2012:72), ergebe. Aus dieser Rechtsprechung gehe hervor, dass zur Feststellung, ob zwei Verfahren denselben Sachverhalt beträfen, zu prüfen sei, ob drei kumulative Kriterien erfüllt seien, nämlich die Identität des Sachverhalts, die Identität der Zuwiderhandelnden und die Identität des geschützten Rechtsguts. Die letzte Voraussetzung gelte aber nicht in anderen Gebieten als dem des Wettbewerbsrechts.

17      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verfahren auf verschiedenen Rechtsvorschriften beruhten, mit denen verschiedene Rechtsgüter geschützt werden sollten. Mit dem von der Regulierungsbehörde für den Postsektor durchgeführten Verfahren habe die Liberalisierung des Postsektors durch Vorschriften über die Transparenz und die Nichtdiskriminierung im Hinblick auf die Tarife gewährleistet werden sollen, während das von der Wettbewerbsbehörde durchgeführte Verfahren darauf abziele, den freien Wettbewerb auf dem Binnenmarkt zu gewährleisten, indem u. a. der Missbrauch einer beherrschenden Stellung verboten werde. Das Kriterium der Identität des geschützten Rechtsguts sei notwendig, um die Wirksamkeit der Anwendung des Wettbewerbsrechts zu gewährleisten.

18      Gleichwohl hält es das vorlegende Gericht in Anbetracht der Ungewissheit, ob dieses Kriterium im Hinblick auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs relevant sei, für erforderlich, diesen hierzu um Klarstellung zu ersuchen.

19      Außerdem möchte das vorlegende Gericht wissen, unter welchen Voraussetzungen eine etwaige Kumulierung der Verfolgungsmaßnahmen aufgrund einer Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem im Licht der Rechtsprechung aus den Urteilen vom 20. März 2018, Menci (C‑524/15, EU:C:2018:197), vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a. (C‑537/16, EU:C:2018:193), sowie vom 20. März 2018, Di Puma und Zecca (C‑596/16 und C‑597/16, EU:C:2018:192), möglich ist.

20      Unter diesen Umständen hat die Cour d’appel de Bruxelles (Appellationshof Brüssel) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist der Grundsatz ne bis in idem, so wie er durch Art. 50 der Charta garantiert ist, dahin auszulegen, dass er die zuständige Verwaltungsbehörde eines Mitgliedstaats nicht daran hindert, eine Geldbuße wegen Verstoßes gegen das europäische Wettbewerbsrecht zu verhängen, wenn in einem Fall wie dem vorliegenden dieselbe juristische Person bereits vom Vorwurf eines Verstoßes gegen das Postrecht, der von der nationalen Regulierungsbehörde für den Postsektor im Hinblick auf denselben oder einen ähnlichen Sachverhalt gegen sie erhoben und mit einer Geldbuße geahndet wurde, rechtskräftig freigesprochen wurde, da das Kriterium der Identität des geschützten Rechtsguts nicht erfüllt ist, weil die vorliegende Rechtssache zwei unterschiedliche Verstöße gegen zwei gesonderte Regelungen aus zwei verschiedenen Rechtsbereichen betrifft?

2.      Ist der Grundsatz ne bis in idem, so wie er durch Art. 50 der Charta garantiert ist, dahin auszulegen, dass er die zuständige Verwaltungsbehörde eines Mitgliedstaats nicht daran hindert, eine Geldbuße wegen Verstoßes gegen das europäische Wettbewerbsrecht zu verhängen, wenn in einem Fall wie dem vorliegenden dieselbe juristische Person bereits vom Vorwurf eines Verstoßes gegen das Postrecht, der von der nationalen Regulierungsbehörde für den Postsektor im Hinblick auf denselben oder einen ähnlichen Sachverhalt gegen sie erhoben und mit einer Geldbuße geahndet wurde, rechtskräftig freigesprochen wurde, weil eine Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem im Hinblick darauf gerechtfertigt ist, dass die wettbewerbsrechtlichen Vorschriften eine dem Gemeinwohl dienende komplementäre Zielsetzung verfolgen, und zwar die Wahrung und Aufrechterhaltung eines Systems ohne Wettbewerbsverzerrung im Binnenmarkt, und nicht über das hinausgehen, was zum Erreichen der mit diesen Rechtsvorschriften verfolgten legitimen Zielsetzung und/oder zum Schutz der unternehmerischen Freiheit der übrigen Wirtschaftsteilnehmer gemäß Art. 16 der Charta geeignet und erforderlich ist?

 Zu den Vorlagefragen

21      Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass er der Verhängung einer Geldbuße gegen eine juristische Person wegen eines Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht der Union entgegensteht, wenn gegen diese Person im Hinblick auf denselben Sachverhalt am Ende eines Verfahrens wegen eines Verstoßes gegen eine sektorspezifische Regelung über die Liberalisierung des betreffenden Marktes bereits eine endgültige Entscheidung ergangen ist.

 Vorbemerkungen

22      Beim Grundsatz ne bis in idem handelt es sich um einen tragenden Grundsatz des Unionsrechts (Urteil vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, EU:C:2002:582, Rn. 59), der nunmehr in Art. 50 der Charta niedergelegt ist.

23      Diese Bestimmung enthält ein Recht, das dem in Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zu der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) vorgesehenen entspricht. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die in ihr enthaltenen Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen wird. Daher ist Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK unbeschadet der Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs der Europäischen Union bei der Auslegung von Art. 50 der Charta zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 23 und 60).

24      Art. 50 der Charta bestimmt, dass „[n]iemand … wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden [darf]“. Der Grundsatz ne bis in idem verbietet somit eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur im Sinne dieses Artikels sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat (Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25      Für die vom vorlegenden Gericht vorzunehmende Beurteilung der strafrechtlichen Natur der in Rede stehenden Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen sind drei Kriterien maßgebend: erstens die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens der Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juni 2012, Bonda, C‑489/10, EU:C:2012:319, Rn. 37, und vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 26 und 27).

26      Zu betonen ist insoweit, dass sich die Anwendung von Art. 50 der Charta nicht allein auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen beschränkt, die im nationalen Recht als „strafrechtlich“ eingestuft werden, sondern sich – unabhängig von einer solchen Einordnung im innerstaatlichen Recht – auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen erstreckt, die nach den beiden anderen in der vorstehenden Randnummer angeführten Kriterien strafrechtlicher Natur sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 30).

27      Im vorliegenden Fall genügt jedoch die Feststellung, dass, wie das vorlegende Gericht ausführt, die beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verfahren auf die Verhängung von Verwaltungssanktionen mit strafrechtlichem Charakter gerichtet sind, so dass die strafrechtliche Einordnung dieser Verfahren im Hinblick auf die in Rn. 25 des vorliegenden Urteils angeführten Kriterien nicht in Frage steht.

28      Die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem setzt zweierlei voraus, nämlich zum einen, dass es eine frühere endgültige Entscheidung gibt (Voraussetzung „bis“), und zum anderen, dass bei der früheren Entscheidung und bei den späteren Verfolgungsmaßnahmen oder Entscheidungen auf denselben Sachverhalt abgestellt wird (Voraussetzung „idem“).

 Zur Voraussetzung „bis“

29      Was die Voraussetzung „bis“ anbelangt, ist es für die Annahme, dass eine gerichtliche Entscheidung über den einem zweiten Verfahren unterliegenden Sachverhalt endgültig entschieden hat, nicht nur erforderlich, dass diese Entscheidung rechtskräftig geworden ist, sondern auch, dass sie nach einer Prüfung in der Sache ergangen ist (vgl. entsprechend Urteil vom 5. Juni 2014, M, C‑398/12, EU:C:2014:1057, Rn. 28 und 30).

30      Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Feststellungen des vorlegenden Gerichts, dass die Entscheidung der Regulierungsbehörde für den Postsektor durch ein rechtskräftiges Urteil aufgehoben wurde, gemäß dem bpost in dem Verfahren, das auf der Grundlage der spezifischen Regelung für den Postsektor gegen sie geführt wurde, von den entsprechenden Vorwürfen freigesprochen wurde. Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht zeigt sich somit, dass das erste Verfahren durch eine endgültige Entscheidung im Sinne der in der vorstehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung beendet wurde.

 Zur Voraussetzung „idem“

31      Was die Voraussetzung „idem“ betrifft, ergibt sich schon aus dem Wortlaut von Art. 50 der Charta, dass dieser es verbietet, dieselbe Person mehr als einmal wegen derselben Straftat in einem Strafverfahren zu verfolgen oder zu bestrafen.

32      Wie das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen ausführt, betreffen die beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verfahren dieselbe juristische Person, nämlich bpost.

33      Für die Beurteilung, ob es sich um dieselbe Straftat handelt, ist nach gefestigter Rechtsprechung des Gerichtshofs das Kriterium der Identität der materiellen Tat maßgebend, verstanden als das Vorliegen einer Gesamtheit konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände, die zum Freispruch oder zur rechtskräftigen Verurteilung des Betroffenen geführt haben. Art. 50 der Charta verbietet es somit, wegen derselben Tat mehrere Sanktionen strafrechtlicher Natur am Ende verschiedener zu diesem Zweck durchgeführter Verfahren zu verhängen (Urteile vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 35, und vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a., C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34      Ferner sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die rechtliche Einordnung der Tat nach nationalem Recht und das geschützte Rechtsgut für die Feststellung, ob dieselbe Straftat vorliegt, nicht erheblich, da die Reichweite des in Art. 50 der Charta gewährten Schutzes nicht von einem Mitgliedstaat zum anderen unterschiedlich sein kann (Urteile vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 36, sowie vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a., C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 38).

35      Gleiches gilt für die Anwendung des in Art. 50 der Charta verankerten Grundsatzes ne bis in idem im Bereich des Wettbewerbsrechts der Union, da, wie der Generalanwalt in den Nrn. 95 und 122 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Reichweite des mit dieser Bestimmung gewährten Schutzes, sofern im Unionsrecht nichts anderes bestimmt ist, nicht von einem Bereich des Unionsrechts zu einem anderen unterschiedlich sein kann.

36      Insoweit ist noch darauf hinzuweisen, dass die Voraussetzung „idem“ angesichts der in Rn. 33 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung eine identische materielle Tat erfordert. Dagegen findet der Grundsatz ne bis in idem keine Anwendung, wenn der fragliche Sachverhalt nicht identisch, sondern nur ähnlich ist.

37      Die Identität der materiellen Tat ist nämlich als die Gesamtheit der konkreten Umstände zu verstehen, die sich aus Ereignissen ergeben, bei denen es sich im Wesentlichen um dieselben handelt, da dieselbe Person gehandelt hat und sie zeitlich sowie räumlich unlösbar miteinander verbunden sind (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 10. Februar 2009, Sergueï Zolotoukhine/Russland, CE:ECHR:2009:0210JUD001493903, §§ 83 und 84, sowie EGMR, Urteil vom 20. Mai 2014, Pirttimäki/Finnland, CE:ECHR:2014:0520JUD003523211, §§ 49 bis 52).

38      Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob der Sachverhalt, der Gegenstand der beiden auf der Grundlage einer sektorspezifischen Regelung bzw. des Wettbewerbsrechts eingeleiteten Verfahren war, identisch ist. Insoweit hat es den Sachverhalt, der im Rahmen jedes der Verfahren berücksichtigt wurde, sowie den Zeitraum der behaupteten Zuwiderhandlung zu prüfen.

39      Sollte das vorlegende Gericht der Ansicht sein, dass der Sachverhalt, der Gegenstand der beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verfahren war, identisch ist, würde diese Kumulierung das in Art. 50 der Charta verbürgte Grundrecht einschränken.

 Zur Rechtfertigung einer etwaigen Einschränkung des in Art. 50 der Charta verbürgten Grundrechts

40      Eine Einschränkung des in Art. 50 der Charta verbürgten Grundrechts kann auf der Grundlage von Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden (Urteile vom 27. Mai 2014, Spasic, C‑129/14 PPU, EU:C:2014:586, Rn. 55 und 56, sowie vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 40).

41      Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 dürfen Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.

42      Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob es, wie aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervorzugehen scheint, gesetzlich vorgesehen war, dass jede der betreffenden nationalen Behörden tätig wird, was – wie geltend gemacht wird – zu einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen geführt habe.

43      Diese Möglichkeit, Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen zu kumulieren, wahrt den Wesensgehalt von Art. 50 der Charta, sofern die nationale Regelung es nicht ermöglicht, denselben Sachverhalt aufgrund desselben Verstoßes oder zur Verfolgung desselben Ziels zu verfolgen und zu ahnden, sondern nur die Möglichkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen aufgrund unterschiedlicher Regelungen vorsieht.

44      Zur Frage, ob die Einschränkung des in Art. 50 der Charta verbürgten Grundrechts durch eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen auf der Grundlage einer sektorspezifischen Regelung und des Wettbewerbsrechts einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung entspricht, ist festzustellen, dass mit den beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelungen verschiedene legitime Ziele verfolgt werden.

45      Mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden sektorspezifischen Regelung, mit der die Richtlinie 97/67 umgesetzt wurde, soll der Binnenmarkt für Postdienste liberalisiert werden.

46      Zum Gesetz über den Schutz des Wettbewerbs und Art. 102 AEUV, auf die die Entscheidung der Wettbewerbsbehörde gestützt ist, ist darauf hinzuweisen, dass der genannte Artikel eine der öffentlichen Ordnung zuzurechnende zwingende Bestimmung ist, die den Missbrauch beherrschender Stellungen verbietet und das für das Funktionieren des Binnenmarkts unerlässliche Ziel verfolgt, zu garantieren, dass der Wettbewerb im Binnenmarkt nicht verfälscht wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Juli 2006, Manfredi u. a., C‑295/04 bis C‑298/04, EU:C:2006:461, Rn. 31, sowie vom 17. Februar 2011, TeliaSonera Sverige, C‑52/09, EU:C:2011:83, Rn. 20 bis 22).

47      Es ist daher legitim, dass ein Mitgliedstaat, um zu gewährleisten, dass der Prozess der Liberalisierung des Binnenmarkts für Postdienste bei gleichzeitiger Sicherstellung seines reibungslosen Funktionierens fortschreitet, Verstöße gegen die sektorspezifische Regelung zur Liberalisierung des betreffenden Marktes und gegen die im Wettbewerbsrecht anwendbaren Vorschriften ahndet, wie es im 41. Erwägungsgrund der Richtlinie 97/67 vorgesehen ist.

48      Zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist festzustellen, dass nach diesem Grundsatz die in der nationalen Regelung vorgesehene Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nicht die Grenzen dessen überschreiten darf, was zur Erreichung der mit dieser Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist; stehen mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl, ist die am wenigsten belastende zu wählen, und die durch sie bedingten Nachteile müssen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Behörden berechtigt sind, auf bestimmte für die Gesellschaft schädliche Verhaltensweisen einander ergänzende rechtliche Antworten zu geben, indem in verschiedenen Verfahren in zusammenhängender Weise unterschiedliche Aspekte des betreffenden sozialen Problems behandelt werden, sofern diese kombinierten rechtlichen Antworten keine übermäßige Belastung für die betreffende Person darstellen (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 15. November 2016, A und B/Norwegen, CE:ECHR:2016:1115JUD002413011, §§ 121 und 132). Die Tatsache, dass mit zwei Verfahren unterschiedliche dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen verfolgt werden, deren kumulierter Schutz legitim ist, kann daher im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen als Faktor zur Rechtfertigung dieser Kumulierung berücksichtigt werden, sofern diese Verfahren komplementär sind und die zusätzliche Belastung durch diese Kumulierung somit durch die beiden verfolgten Ziele gerechtfertigt werden kann.

50      Mit nationalen Vorschriften, die die Möglichkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen auf der Grundlage einer sektorspezifischen Regelung und des Wettbewerbsrechts vorsehen, kann die dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung erreicht werden, die wirksame Anwendung jeder der beiden in Rede stehenden Regelungen sicherzustellen, da mit ihnen die in den Rn. 45 und 46 des vorliegenden Urteils genannten verschiedenen legitimen Ziele verfolgt werden. Insoweit ist es Sache des vorlegenden Gerichts, im Hinblick auf die nationalen Bestimmungen, die zu den von der Regulierungsbehörde für den Postsektor bzw. der Wettbewerbsbehörde eingeleiteten Verfahren geführt haben, zu beurteilen, ob die Kumulierung strafrechtlicher Sanktionen im Ausgangsrechtsstreit dadurch gerechtfertigt sein kann, dass mit den von diesen Behörden eingeleiteten Verfolgungsmaßnahmen komplementäre Zwecke verfolgt werden, die verschiedene Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 44).

51      Hinsichtlich der zwingenden Erforderlichkeit einer solchen Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen ist zu prüfen, ob es klare und präzise Regeln gibt, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, und die eine Koordinierung zwischen den verschiedenen Behörden ermöglichen; weiter ist zu prüfen, ob die beiden Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt wurden und ob die gegebenenfalls im Rahmen des chronologisch zuerst geführten Verfahrens verhängte Sanktion bei der Bestimmung der zweiten Sanktion berücksichtigt wurde, so dass die Belastungen, die sich aus einer solchen Kumulierung für die Betroffenen ergeben, auf das zwingend Erforderliche beschränkt bleiben und die Gesamtheit der verhängten Sanktionen der Schwere der begangenen Straftaten entspricht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 49, 52, 53, 55 und 58, sowie EGMR, Urteil vom 15. November 2016, A und B/Norwegen, CE:ECHR:2016:1115JUD002413011, §§ 130 und 132).

52      Zwar können, wie der Generalanwalt in Nr. 109 seiner Schlussanträge ausführt, die in der vorstehenden Randnummer beschriebene Beurteilung der Erforderlichkeit und folglich die umfassende Prüfung der Frage, ob die Kumulierung von zwei Verfahren nach Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden kann, angesichts der Natur bestimmter zu berücksichtigender Faktoren nur nachträglich vollständig erfolgen.

53      Jedoch wird durch den Schutz, der sich aus den beiden in Rn. 28 des vorliegenden Urteils angeführten Umständen, von denen die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem abhängt, ergibt – vorbehaltlich einer etwaigen Rechtfertigung einer Einschränkung der sich aus diesem Grundsatz ergebenden Rechte nach Art. 52 Abs. 1 der Charta in einem konkreten Fall –, der Wesensgehalt von Art. 50 der Charta gewahrt. Wie nämlich aus Rn. 51 des vorliegenden Urteils hervorgeht, setzt eine solche Rechtfertigung die Feststellung voraus, dass die Kumulierung der in Rede stehenden Verfahren zwingend erforderlich war, wobei in diesem Kontext im Wesentlichen zu berücksichtigen ist, ob ein hinreichend enger sachlicher und zeitlicher Zusammenhang zwischen den beiden in Rede stehenden Verfahren bestand (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 61, sowie entsprechend EGMR, Urteil vom 15. November 2016, A und B/Norwegen, CE:ECHR:2016:1115JUD002413011, § 130). Die etwaige Rechtfertigung einer Kumulierung von Sanktionen ist somit an Voraussetzungen geknüpft, die, wenn sie erfüllt sind, insbesondere dazu dienen, die in funktionaler Hinsicht bestehende Verschiedenartigkeit der betreffenden Verfahren und damit die konkreten Auswirkungen, die sich für die Betroffenen aus dem Umstand ergeben, dass die gegen sie geführten Verfahren kumuliert werden, zu begrenzen, ohne jedoch das Vorliegen eines „bis“ als solches in Frage zu stellen.

54      Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, im Licht aller Umstände des Ausgangsrechtsstreits zu prüfen, ob die in Rn. 51 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen in diesem Rechtsstreit erfüllt sind. Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, sind jedoch folgende Klarstellungen vorzunehmen.

55      Erstens ist festzustellen, dass das Bestehen einer Bestimmung des nationalen Rechts, die – wie Art. 14 der Loi du 17 janvier 2003 relative au statut du régulateur des secteurs des postes et des télécommunications belges (Gesetz vom 17. Januar 2003 über das Statut der Regulierungsinstanz des belgischen Post- und Telekommunikationssektors, Moniteur belge vom 24. Januar 2003, S. 2591) – die Zusammenarbeit und den Informationsaustausch zwischen den betreffenden Behörden vorsieht, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist, einen einschlägigen Rahmen für die Gewährleistung der in Rn. 51 des vorliegenden Urteils genannten Koordinierung darstellen würde. Es ist ebenfalls Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob eine solche Koordinierung im vorliegenden Fall tatsächlich stattgefunden hat.

56      Zweitens ist vorbehaltlich der Beurteilung durch das vorlegende Gericht darauf hinzuweisen, dass die dem Gerichtshof vorliegenden Akten Anhaltspunkte für einen hinreichend engen zeitlichen Zusammenhang zwischen den beiden geführten Verfahren sowie zwischen den auf der Grundlage der sektorspezifischen Regelung und des Wettbewerbsrechts erlassenen Entscheidungen enthalten. So scheinen die Regulierungsbehörde für den Postsektor und die Wettbewerbsbehörde ihre Verfahren zumindest teilweise parallel durchgeführt zu haben. Die beiden Behörden haben ihre Entscheidungen in engem zeitlichen Abstand getroffen, nämlich am 20. Juli 2011 bzw. am 10. Dezember 2012, was im Übrigen angesichts der Komplexität von wettbewerbsrechtlichen Ermittlungen von einem hinreichend engen zeitlichen Zusammenhang zeugt.

57      Schließlich lässt der Umstand, dass die im Rahmen des zweiten Verfahrens verhängte Geldbuße höher ist als die, die im Rahmen des ersten Verfahrens durch eine endgültige Entscheidung verhängt wurde, für sich genommen nicht den Schluss zu, dass die Kumulierung der Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen gegen die betreffende juristische Person unverhältnismäßig ist, u. a. deshalb, weil diese beiden Verfahren komplementäre und zusammenhängende, aber gleichwohl unterschiedliche rechtliche Antworten auf dasselbe Verhalten darstellen können.

58      Nach alledem ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass Art. 50 der Charta in Verbindung mit deren Art. 52 Abs. 1 dahin auszulegen ist, dass er der Verhängung einer Geldbuße gegen eine juristische Person wegen eines Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht der Union nicht entgegensteht, wenn gegen diese Person im Hinblick auf denselben Sachverhalt am Ende eines Verfahrens wegen eines Verstoßes gegen eine sektorspezifische Regelung über die Liberalisierung des betreffenden Marktes bereits eine endgültige Entscheidung ergangen ist, sofern es klare und präzise Regeln gibt, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, und die eine Koordinierung zwischen den beiden zuständigen Behörden ermöglichen, sofern die beiden Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in engem zeitlichen Zusammenhang geführt wurden und sofern die Gesamtheit der verhängten Sanktionen der Schwere der begangenen Straftaten entspricht.

 Kosten

59      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Verbindung mit deren Art. 52 Abs. 1 ist dahin auszulegen, dass er der Verhängung einer Geldbuße gegen eine juristische Person wegen eines Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht der Union nicht entgegensteht, wenn gegen diese Person im Hinblick auf denselben Sachverhalt am Ende eines Verfahrens wegen eines Verstoßes gegen eine sektorspezifische Regelung über die Liberalisierung des betreffenden Marktes bereits eine endgültige Entscheidung ergangen ist, sofern es klare und präzise Regeln gibt, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, und die eine Koordinierung zwischen den beiden zuständigen Behörden ermöglichen, sofern die beiden Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in engem zeitlichen Zusammenhang geführt wurden und sofern die Gesamtheit der verhängten Sanktionen der Schwere der begangenen Straftaten entspricht.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Französisch.