Language of document : ECLI:EU:T:2024:301

Rechtssache T28/22

(Auszugsweise Veröffentlichung)

Ryanair DAC

gegen

Europäische Kommission

 Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 8. Mai 2024

„Staatliche Beihilfen – Deutscher Luftverkehrsmarkt – Von Deutschland zugunsten eines Luftfahrtunternehmens gewährte Umstrukturierungsbeihilfe – Änderung der Bedingungen für die von Deutschland gewährten Darlehen und teilweise Abschreibung von Schulden – Beschluss, keine Einwände zu erheben – Nichtigkeitsklage – Klagebefugnis – Zulässigkeit – Wahrung der Verfahrensrechte – Ernsthafte Schwierigkeiten – Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV – Rn. 67 der Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung nichtfinanzieller Unternehmen in Schwierigkeiten – Lastenverteilung“

1.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen – Beschluss der Kommission, mit dem ohne Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens die Vereinbarkeit einer staatlichen Beihilfe mit dem Binnenmarkt festgestellt wird – Klage von Beteiligten im Sinne von Art. 108 Abs. 2 AEUV – Klage zur Wahrung der Verfahrensrechte der Beteiligten – Zulässigkeit

(Art. 108 Abs. 2 und 3 und Art. 263 Abs. 4 AEUV; Verordnung 2015/1589 des Rates, Art. 1 Buchst. h)

(vgl. Rn. 17‑19)

2.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen – Individuelle Betroffenheit – Kriterien – Beschluss der Kommission, mit dem eine Beihilfe ohne Einleitung eines förmlichen Prüfverfahrens für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt wird – Unternehmen, das die Begründetheit dieses Beschlusses in Abrede stellt – Unternehmen, das keine spürbare Beeinträchtigung seiner Marktstellung dartut – Unzulässigkeit

(Art. 108 Abs. 2 und 3 und Art. 263 Abs. 4 AEUV)

(vgl. Rn. 20‑29)

3.      Staatliche Beihilfen – Prüfung durch die Kommission – Vorprüfungsphase und kontradiktorische Prüfungsphase – Pflicht der Kommission, bei ernsthaften Schwierigkeiten das kontradiktorische Verfahren einzuleiten – Umstände, die das Vorliegen solcher Schwierigkeiten belegen können – Unzulänglichkeit oder Unvollständigkeit der von der Kommission durchgeführten Prüfung

(Art. 108 Abs. 2 und 3 AEUV; Verordnung 2015/1589 des Rates, Art. 4)

(vgl. Rn. 33‑36, 241‑243)

4.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Beihilfen zur Umstrukturierung eines in Schwierigkeiten befindlichen Unternehmens – Beurteilung anhand von Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV und der Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung nichtfinanzieller Unternehmen in Schwierigkeiten – Gesellschaft, die sich in Schwierigkeiten befindet und einer Gruppe angehört – Gesellschaft, die nach den Leitlinien von Beihilfen ausgeschlossen ist – Erwerb einer in Schwierigkeiten befindlichen Gesellschaft durch eine Gruppe – Erwerb unter dem Vorbehalt der Gewährung der Umstrukturierungsbeihilfe – Gesellschaft in Schwierigkeiten, die nach den Leitlinien beihilfefähig ist

(Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV; Mitteilung 2014/C 249/01 der Kommission, Rn. 22)

(vgl. Rn. 40‑54)

5.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Beihilfen zur Umstrukturierung eines in Schwierigkeiten befindlichen Unternehmens – Beurteilung anhand von Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV und der Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung nichtfinanzieller Unternehmen in Schwierigkeiten – Kriterien – Verfolgung eines Ziels von gemeinsamem Interesse – Maßnahme zur Vermeidung sozialer Härten oder zur Behebung von Marktversagen – Gefahr einer Unterbrechung der Erbringung eines wichtigen Dienstes, der beim Ausfall des begünstigten Unternehmens nur schwer durch einen Wettbewerber zu ersetzen ist

(Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV; Mitteilung 2014/C 249/01 der Kommission, Rn. 43 und 44)

(vgl. Rn. 57‑92)

6.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Beihilfen zur Rettung eines in Schwierigkeiten befindlichen Unternehmens – Beurteilung anhand von Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV und der Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung nichtfinanzieller Unternehmen in Schwierigkeiten – Kriterien – Erforderlichkeit der Beihilfe zur Erreichung der in Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV vorgesehenen Ziele – Anreizeffekt der Beihilfe für den Empfänger, damit er zur Erreichung dieser Ziele beiträgt

(Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV; Mitteilung 2014/C 249/01 der Kommission, Rn. 8, 53 und 59 sowie Anhang II Unterabs. 2 Nr. 3)

(vgl. Rn. 96‑120)

7.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Beihilfen zur Rettung eines in Schwierigkeiten befindlichen Unternehmens – Beurteilung anhand von Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV und der Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung nichtfinanzieller Unternehmen in Schwierigkeiten – Kriterien – Verpflichtung des Mitgliedstaats zur Erstellung eines realistischen, kohärenten und weitreichenden Umstrukturierungsplans, mit dem binnen einer angemessenen Frist die langfristige Rentabilität des Begünstigten wiederhergestellt werden soll – Umstrukturierungsplan, der geeignet und auf das zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderliche Minimum beschränkt sein muss

(Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV; Mitteilung 2014/C 249/01 der Kommission, Rn. 45, 47, 48, 50 bis 52, 54, 58 und 61 sowie Anhang II Unterabs. 2 Nr. 9)

(vgl. Rn. 123‑126, 150, 161, 175, 183, 184, 187, 195)

8.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Beihilfen zur Rettung eines in Schwierigkeiten befindlichen Unternehmens – Beurteilung anhand von Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV und der Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung nichtfinanzieller Unternehmen in Schwierigkeiten – Kriterien – Angemessener Beitrag zu den Umstrukturierungskosten durch den Beihilfeempfänger, seine Aktionäre oder Gläubiger, seine Gruppe oder die neuen Investoren

(Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV; Mitteilung 2014/C 249/01 der Kommission, Rn. 61 bis 64)

(vgl. Rn. 198‑201)

9.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Beihilfen zur Rettung eines in Schwierigkeiten befindlichen Unternehmens – Beurteilung anhand von Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV und der Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung nichtfinanzieller Unternehmen in Schwierigkeiten – Kriterien – Angemessene Lastenverteilung – Beihilfen zur Stärkung des Eigenkapitals des Begünstigten – Konditionen der Gewährung, die dem Staat einen angemessenen Anteil an künftigen Wertgewinnen des Empfängers zusichern müssen

(Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV; Mitteilung 2014/C 249/01 der Kommission, Rn. 67)

(vgl. Rn. 204‑233)

10.    Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Beihilfen zur Rettung eines in Schwierigkeiten befindlichen Unternehmens – Beurteilung anhand von Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV und der Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung nichtfinanzieller Unternehmen in Schwierigkeiten – Kriterien – Angemessene Lastenverteilung – Kalibrierung der Maßnahmen zur Begrenzung von Wettbewerbsverfälschungen

(Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV; Mitteilung 2014/C 249/01 der Kommission, Rn. 87 und 90)

(vgl. Rn. 236‑238)

Zusammenfassung

Das mit einer vom Luftfahrtunternehmen Ryanair DAC erhobenen Nichtigkeitsklage befasste Gericht erklärt den Beschluss der Europäischen Kommission zur Genehmigung einer von der Bundesrepublik Deutschland zugunsten der Condor Flugdienst GmbH (im Folgenden: Condor) gewährten Umstrukturierungsbeihilfe für nichtig(1). In diesem Rahmen erläutert das Gericht die Prüfung der Vereinbarkeit von Umstrukturierungsbeihilfen mit dem Binnenmarkt im Hinblick auf die in den Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten(2) vorgesehene Anforderung, wonach staatliche Beihilfen, die die Eigenkapitalposition des begünstigten Unternehmens verbessern, zu Konditionen gewährt werden sollten, die dem Staat einen angemessenen Anteil an künftigen Wertgewinnen des Empfängers zusichern.

Zur Wiedergutmachung der aufgrund der Einführung von Reisebeschränkungen im Zusammenhang mit der Covid‑19-Pandemie erlittenen Schäden erhielt Condor von Deutschland in den Jahren 2020 und 2021 zwei Einzelbeihilfen.

Mit Beschluss vom 26. April 2020(3) stellte die Kommission fest, dass die Covid‑19-Beihilfe, die Condor im Jahr 2020 in Form von zwei staatlich abgesicherten Darlehen in Höhe von insgesamt 550 Mio. Euro gewährt worden war (im Folgenden: Covid‑19-Darlehen von 2020), nach Art. 107 Abs. 2 Buchst. b AEUV mit dem Binnenmarkt vereinbar sei. Das mit einer Nichtigkeitsklage befasste Gericht hat diesen Beschluss wegen Begründungsmangels für nichtig erklärt, dabei aber die Wirkungen der Nichtigerklärung bis zum Erlass eines neuen Beschlusses ausgesetzt(4). Am 26. Juli 2021 erließ die Kommission daher einen neuen Beschluss, mit dem sie feststellte, dass die Covid‑19-Beihilfe von 2020 mit dem Binnenmarkt vereinbar sei(5).

Am selben Tag erließ die Kommission einen Beschluss, mit dem sie feststellte, dass die Covid‑19-Beihilfe, die Condor im Jahr 2021 in Form einer teilweisen Abschreibung in Höhe von 60 Mio. Euro Schulden aus den im Rahmen der Covid‑19-Beihlfe von 2020 gewährten Darlehen gewährt worden war, ebenfalls nach Art. 107 Abs. 2 Buchst. b AEUV mit dem Binnenmarkt vereinbar sei(6).

Schließlich genehmigte die Kommission mit einem weiteren Beschluss vom 26. Juli 2021(7) nach Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV und den Leitlinien eine von Deutschland zur Förderung der Umstrukturierung und der Fortsetzung der Tätigkeiten von Condor gewährte und zwei Teile umfassende Beihilfemaßnahme. Deren erster Teil besteht zum einen in der Änderung der Bedingungen für die Covid‑19-Darlehen von 2020 und zum anderen in der teilweisen Abschreibung – in Höhe von 90 Mio. Euro – von Schulden aus diesen Darlehen. Der zweite Teil besteht aus der Abschreibung einer Verbindlichkeit in Höhe von 20,2 Mio. Euro, was den Zinsen entspricht, die Condor aufgrund des Beschlusses vom 26. Juli 2021 über die geänderte Covid‑19-Beihilfe von 2020 zurückzahlen musste.

Ryanair erhob beim Gericht Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses vom 26. Juli 2021 über die Genehmigung der zugunsten von Condor gewährten Umstrukturierungsbeihilfe.

Würdigung durch das Gericht

Ryanair begründete ihre Klage u. a. mit einer Verletzung ihrer Verfahrensrechte, da die Kommission, obwohl sie Zweifel in Bezug auf die Vereinbarkeit der fraglichen Beihilfe mit dem Binnenmarkt hätte hegen müssen, den angefochtenen Beschluss ohne Einleitung des in Art. 108 Abs. 2 AEUV vorgesehenen förmlichen Prüfverfahrens erlassen habe.

Hat die Vorprüfung einer Beihilfemaßnahme der Kommission nicht ermöglicht, die ernsthaften Schwierigkeiten auszuräumen, die sich bei der Beurteilung der Vereinbarkeit dieser Maßnahme mit dem Binnenmarkt ergaben, so ist sie nach ständiger Rechtsprechung verpflichtet, das förmliche Prüfverfahren einzuleiten. In diesem Rahmen hat die Rechtsprechung außerdem klargestellt, dass mit dem Beweis dessen, dass die von der Kommission bei der Beurteilung der Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Binnenmarkt durchgeführte Prüfung unzulänglich oder unvollständig war, belegt werden kann, dass diese Beurteilung ernsthafte Schwierigkeiten aufgeworfen hat.

In Anbetracht dieser Rechtsprechung machte Ryanair u. a. geltend, die Kommission habe im angefochtenen Beschluss Rn. 67 der Leitlinien verkannt: Dies zeige, dass es ernsthafte Schwierigkeiten gegeben habe, die die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens notwendig machten.

Hierzu stellt das Gericht fest, dass nach Rn. 67 der Leitlinien alle staatlichen Beihilfen, die die Eigenkapitalposition des begünstigten Unternehmens verbessern, zu Konditionen gewährt werden sollten, die dem Staat einen Anteil an künftigen Wertgewinnen des Empfängers zusichern, der angesichts des Verhältnisses zwischen dem Betrag des zugeführten staatlichen Kapitals und dem verbleibenden Eigenkapital des Unternehmens nach Berücksichtigung der Verluste angemessen ist.

Da die Frage, ob die Konditionen der in Rede stehenden Beihilfegewährung Deutschland einen angemessenen Anteil am künftigen Wertgewinn von Condor zusicherten, im angefochtenen Beschluss nicht geprüft worden war, untersucht das Gericht den Vortrag der Kommission, wonach die fragliche Beihilfemaßnahme nicht unter Rn. 67 der Leitlinien falle. Die Kommission hält diese Rn. 67 nur für anwendbar, wenn die Beihilfemaßnahme eine Kapitalzuführung darstellt und der betroffene Mitgliedstaat am Kapital des Empfängers beteiligt ist, was im vorliegenden Fall nicht zutreffe.

Das Gericht weist insoweit zunächst darauf hin, dass der Wortlaut von Rn. 67 der Leitlinien insofern eine gewisse Inkohärenz aufweist, als diese Randnummer zum einen ihrem einleitenden Teil zufolge auf „staatliche Beihilfen, die die Eigenkapitalposition des begünstigten Unternehmens verbessern“, anzuwenden ist, also auf Zuschüsse, Kapitalzuführungen und Schuldenabschreibungen, während zum anderen gegen Ende der Randnummer lediglich auf den „Betrag des zugeführten staatlichen Kapitals“ verwiesen wird. Diese Inkohärenz, die im Übrigen von der Kommission als Verfasserin dieser Leitlinien zu verantworten ist, hätte sie zu einer gründlicheren Prüfung dieser Bestimmung im Licht des Kontexts dieser Randnummer und der mit ihr verfolgten Ziele veranlassen müssen, was sie jedoch unterlassen hat.

Was den Kontext von Rn. 67 der Leitlinien anbelangt, präzisiert das Gericht sodann, dass diese Randnummer zu dem die Lastenverteilung betreffenden Abschnitt der Leitlinien gehört, der durch Rn. 65 eingeleitet wird. Diese Rn. 65, wonach Beihilfen zur Deckung von Verlusten zu Bedingungen gewährt werden sollten, die eine angemessene Lastenverteilung auf Investorenseite voraussetzen, betrifft ohne Unterscheidung Zuschüsse, Kapitalzuführungen und Schuldenabschreibungen. Desgleichen ist Rn. 66 der Leitlinien, der zufolge der Staat erst eingreifen sollte, wenn die Verluste voll berücksichtigt und den Anteilseignern und Inhabern nachrangiger Schuldtitel zugewiesen worden sind, unabhängig von der Form dieses Eingreifens anzuwenden. Nichts deutet indessen darauf hin, dass die Rn. 65, 66 und 67 der Leitlinien sich hinsichtlich ihrer Anwendungsbereiche danach unterscheiden müssten, in welcher Form die staatliche Unterstützung erfolgt. Insbesondere legen die Systematik der in den Rn. 66 und 67 vorgesehenen Anforderungen sowie deren kumulativer Charakter nahe, dass diese Anforderungen ebenso wie Rn. 65 auf alle staatlichen Beihilfen anwendbar sind, die die Eigenkapitalposition des begünstigten Unternehmens stärken.

Schließlich weist das Gericht in Bezug auf die Zielsetzung von Rn. 67 der Leitlinien darauf hin, dass durch diese dem die Lastenverteilung betreffenden Abschnitt zugehörigen Vorschriften u. a. ein Schutz der Anteilseigner und nachrangigen Gläubiger vor den Auswirkungen ihrer Entscheidung, in das begünstigte Unternehmen zu investieren, vermieden werden soll: Dies könnte ein moralisches Risiko begründen und die Marktdisziplin untergraben. Den Leitlinien kann an keiner Stelle entnommen werden, dass diese Gefahr eines moralischen Risikos nur dann bestünde, wenn ein Mitgliedstaat dem begünstigten Unternehmen Kapital zuführt, nicht aber, wenn er Schulden dieses Unternehmens abschreibt oder ihm einen Zuschuss gewährt. Die Rn. 67 zugrunde liegende Zielsetzung, die darin besteht, das Risiko zu verringern, dass Unternehmen, die darauf setzen, bei Auftreten von Schwierigkeiten wahrscheinlich gerettet und umstrukturiert zu werden, sich übermäßig riskant verhalten könnten, um die Gewinne zu steigern, könnte überdies nicht vollständig erreicht werden, wenn bestimmte Beihilfemaßnahmen, etwa die Abschreibung von Schulden, vom Anwendungsbereich dieser Randnummer ausgeschlossen werden müssten, obwohl sie die Eigenkapitalposition des begünstigten Unternehmens verbessern und sich aus ihnen das gleiche moralische Risiko wie bei einer Kapitalzuführung ergibt. Darüber hinaus steht es mit den in den Leitlinien genannten Zielen der Effizienz öffentlicher Ausgaben im Einklang, dem Staat, wenn er eine Umstrukturierungsbeihilfe in Form eines Zuschusses, einer Kapitalzuführung oder einer Schuldenabschreibung gewährt, einen angemessenen Anteil an künftigen Wertgewinnen des Empfängers einzuräumen.

Nach alledem konnte die Kommission nach Auffassung des Gerichts nicht zu dem Schluss gelangen, dass die Condor gewährte Umstrukturierungsbeihilfe nicht unter Rn. 67 der Leilinien falle, und auch die Frage nicht ungeprüft lassen, ob diese Beihilfe mit den Anforderungen dieser Randnummer vereinbar sei.

Da Ryanair somit nachgewiesen hat, dass die Vereinbarkeit der Condor gewährten Umstrukturierungsbeihilfe mit dem Binnenmarkt unvollständig und unzureichend geprüft wurde, stellt das Gericht fest, dass die Kommission Bedenken hätte hegen müssen, die die Einleitung des Verfahrens nach Art. 108 Abs. 2 AEUV rechtfertigten, und erklärt den angefochtenen Beschluss für nichtig.


1      Beschluss C(2021) 5729 final der Kommission vom 26. Juli 2021 über die staatliche Beihilfe SA.63203 (2021/N) – Deutschland – Umstrukturierungsbeihilfe zugunsten von Condor (im Folgenden: angefochtener Beschluss).


2      Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung nichtfinanzieller Unternehmen in Schwierigkeiten (ABl. 2014, C 249, S. 1, im Folgenden: Leitlinien).


3      Beschluss C(2020) 2795 final der Kommission vom 26. April 2020 über die staatliche Beihilfe SA.56867 (2020/N, ex 2020/PN) – Deutschland – Entschädigung für die der Condor Flugdienst GmbH durch die COVID‑19-Pandemie entstandenen Schäden (im Folgenden: Beschluss über die Covid‑19-Beihilfe von 2020).


4      Urteil vom 9. Juni 2021, Ryanair/Kommission (Condor; Covid‑19) (T‑665/20, EU:T:2021:344).


5      Beschluss C(2020) 5730 final der Kommission vom 26. Juli 2021 über die staatliche Beihilfe SA.56867 (2020/N, ex 2020/PN) – Deutschland – Entschädigung für die der Condor Flugdienst GmbH durch die COVID‑19-Pandemie entstandenen Schäden (im Folgenden: geänderter Beschluss über die Covid‑19-Beihilfe von 2020).


6      Beschluss C(2021) 5731 final der Kommission vom 26. Juli 2021 über die staatliche Beihilfe SA.63617 (2021/N) – Deutschland – COVID‑19 – Entschädigung für die Condor entstandenen Schäden II.


7      Siehe Fn. 1.