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URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

11. Juli 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gültigkeit und Auslegung – Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen – Richtlinie 92/43/EWG – Art. 12 Abs. 1 – Strenges Schutzsystem für Tierarten – Anhang IV – Canis lupus (Wolf) – Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten – Art. 16 Abs. 1 – Nationale Genehmigung der Entnahme eines wildlebenden Exemplars der Art canis lupus – Bewertung des Erhaltungszustands der Populationen der betreffenden Art – Räumlicher Geltungsbereich – Feststellung des Schadens – Anderweitige zufriedenstellende Lösung“

In der Rechtssache C‑601/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesverwaltungsgericht Tirol (Österreich) mit Entscheidung vom 19. September 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 19. September 2022, in dem Verfahren

Umweltverband WWF Österreich,

ÖKOBÜRO – Allianz der Umweltbewegung,

Naturschutzbund Österreich,

Umweltdachverband,

Wiener Tierschutzverein

gegen

Tiroler Landesregierung


erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev (Berichterstatter), der Richter T. von Danwitz, P. G. Xuereb und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,

Generalanwältin: T. Ćapeta,

Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25. Oktober 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        vom Umweltverband WWF Österreich und vom ÖKOBÜRO – Allianz der Umweltbewegung, weiters vom Umweltdachverband, vertreten durch Rechtsanwältin G. K. Jantschgi,

–        des Wiener Tierschutzvereins, vertreten durch M. Lehner, im Beistand von C. Pichler als Sachverständiger,

–        der Tiroler Landesregierung, vertreten durch J. Egger und C. Ranacher als Bevollmächtigte,

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und A. Kögl als Bevollmächtigte,

–        der dänischen Regierung, vertreten durch J. F. Kronborg und A.‑S. Maertens als Bevollmächtigte,

–        der französischen Regierung, vertreten durch R. Bénard und M. De Lisi als Bevollmächtigte,

–        der finnischen Regierung, vertreten durch H. Leppo als Bevollmächtigte,

–        der schwedischen Regierung, vertreten durch F.‑L. Göransson und H. Shev als Bevollmächtigte,

–        des Rates der Europäischen Union, vertreten durch T. Haas und A. Maceroni als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Hermes und M. Noll-Ehlers als Bevollmächtigte,


nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 18. Januar 2024

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit von Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. 1992, L 206, S. 7) in der durch die Richtlinie 2013/17/EU des Rates vom 13. Mai 2013 (ABl. 2013, L 158, S. 193) geänderten Fassung (im Folgenden: Habitatrichtlinie) in Verbindung mit Anhang IV dieser Richtlinie sowie die Auslegung von Art. 16 Abs. 1 dieser Richtlinie.

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen mehreren Tierschutz- und Umweltorganisationen, nämlich dem Umweltverband WWF Österreich, dem Ökobüro – Allianz der Umweltbewegung, dem Naturschutzbund Österreich, dem Umweltdachverband und dem Wiener Tierschutzverein auf der einen Seite und der Tiroler Landesregierung (Österreich) auf der anderen Seite wegen einer von dieser Landesregierung gewährten befristeten Ausnahme vom Verbot der Bejagung eines wildlebenden Exemplars der Art canis lupus (Wolf).

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 1 („Begriffsbestimmungen“) der Habitatrichtlinie sieht vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet:

i)      ‚Erhaltungszustand einer Art’: die Gesamtheit der Einflüsse, die sich langfristig auf die Verbreitung und die Größe der Populationen der betreffenden Arten in dem in Artikel 2 bezeichneten Gebiet auswirken können.

Der Erhaltungszustand wird als ‚günstig‘ betrachtet, wenn

–        aufgrund der Daten über die Populationsdynamik der Art anzunehmen ist, dass diese Art ein lebensfähiges Element des natürlichen Lebensraumes, dem sie angehört, bildet und langfristig weiterhin bilden wird,

und

–        das natürliche Verbreitungsgebiet dieser Art weder abnimmt noch in absehbarer Zeit vermutlich abnehmen wird

und

–        ein genügend großer Lebensraum vorhanden ist und wahrscheinlich weiterhin vorhanden sein wird, um langfristig ein Überleben der Populationen dieser Art zu sichern.

…“

4        Art. 2 der Habitatrichtlinie sieht vor:

„(1)      Diese Richtlinie hat zum Ziel, zur Sicherung der Artenvielfalt durch die Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, für das der Vertrag Geltung hat, beizutragen.

(2)      Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen zielen darauf ab, einen günstigen Erhaltungszustand der natürlichen Lebensräume und wildlebenden Tier- und Pflanzenarten von gemeinschaftlichem Interesse zu bewahren oder wiederherzustellen.

(3)      Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen tragen den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten Rechnung.“

5        Art. 12 Abs. 1 der Habitatrichtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten treffen die notwendigen Maßnahmen, um ein strenges Schutzsystem für die in Anhang IV Buchstabe a) genannten Tierarten in deren natürlichen Verbreitungsgebieten einzuführen; dieses verbietet:

a)      alle absichtlichen Formen des Fangs oder der Tötung von aus der Natur entnommenen Exemplaren dieser Arten;

b)      jede absichtliche Störung dieser Arten, insbesondere während der Fortpflanzungs‑, Aufzucht‑, Überwinterungs- und Wanderungszeiten;

c)      jede absichtliche Zerstörung oder Entnahme von Eiern aus der Natur;

d)      jede Beschädigung oder Vernichtung der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten.“

6        In Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie heißt es:

„Sofern es keine anderweitige zufriedenstellende Lösung gibt und unter der Bedingung, dass die Populationen der betroffenen Art in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet trotz der Ausnahmeregelung ohne Beeinträchtigung in einem günstigen Erhaltungszustand verweilen, können die Mitgliedstaaten von den Bestimmungen der Artikel 12, 13 und 14 sowie des Artikels 15 Buchstaben a) und b) im folgenden Sinne abweichen:

a)      zum Schutz der wildlebenden Tiere und Pflanzen und zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume;

b)      zur Verhütung ernster Schäden insbesondere an Kulturen und in der Tierhaltung sowie an Wäldern, Fischgründen und Gewässern sowie an sonstigen Formen von Eigentum;

…“

7        Nach Art. 19 Abs. 2 der Habitatrichtlinie werden „[d]ie Änderungen, die zur Anpassung des Anhangs IV an den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt erforderlich sind, … vom Rat [der Europäischen Union] auf Vorschlag der [Europäischen] Kommission einstimmig beschlossen“.

8        Zu den „streng zu schützenden“ Tierarten „von gemeinschaftlichem Interesse“, die in Anhang IV Buchst. a der Habitatrichtlinie aufgeführt sind, gehört u. a. der canis lupus (Wolf), „ausgenommen die griechischen Populationen nördlich des 39. Breitengrades; die estnischen Populationen, die spanischen Populationen nördlich des Duero; die bulgarischen, lettischen, litauischen, polnischen, slowakischen Populationen und die finnischen Populationen innerhalb des Rentierhaltungsareals im Sinne von Paragraf 2 des finnischen Gesetzes Nr. 848/90 vom 14. September 1990 über die Rentierhaltung“.

 Das österreichische Recht

9        § 36 Abs. 2 des Tiroler Jagdgesetzes vom 15. Juni 2004 (LGBl. 41/2004) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung vom 30. Juni 2022 (im Folgenden: TJG 2004) sieht im Wesentlichen vor, dass außerhalb der festgesetzten Jagdzeit alle Wildarten zu schonen sind.

10      § 52a („Besondere Maßnahmen zur Hintanhaltung von Schäden durch Bären, Wölfe und Luchse“) TJG 2004 bestimmt in Abs. 8 im Wesentlichen, dass die Tiroler Landesregierung auf der Grundlage einer Empfehlung des Fachkuratoriums mit Verordnung feststellen kann, dass von einem bestimmten Bären, Wolf oder Luchs eine unmittelbare Gefahr für die Sicherheit von Personen oder eine unmittelbare erhebliche Gefahr für Weidetiere, landwirtschaftliche Kulturen und Einrichtungen ausgeht.

11      In § 52a Abs. 9 TJG 2004 heißt es:

„Im Fall der Erlassung einer Verordnung nach Abs. 8 hat die Landesregierung, sofern eine Empfehlung des Fachkuratoriums vorliegt und es keine anderweitige zufrieden stellende Lösung gibt und die Populationen der betroffenen Tierart in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet dennoch ohne Beeinträchtigung in einem günstigen Erhaltungszustand verweilen, bestimmte Bären, Wölfe oder Luchse mit Bescheid vom Verbot nach § 36 Abs. 2 erster Satz auszunehmen. Solche Ausnahmen dürfen nur

a)      zum Schutz anderer wildlebender Tiere und Pflanzen und zur Erhaltung ihrer natürlichen Lebensräume,

b)      zur Vermeidung ernster Schäden an Kulturen und in der Tierhaltung sowie an Wäldern, Fischgründen und Gewässern sowie an sonstigen Formen von Eigentum,

c)      im Interesse der Volksgesundheit und der öffentlichen Sicherheit oder aus anderen zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses, einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art oder positiver Folgen für die Umwelt und

d)      zu Zwecken der Forschung und des Unterrichts, bewilligt werden.“

12      § 52a Abs. 10 TJG 2004 bestimmt:

„Im Ausnahmebescheid nach Abs. 9 sind jedenfalls festzulegen:

a)      der Zweck, für den die Ausnahme erteilt wird,

b)      die Art des Tieres, für die die Ausnahme erteilt wird, sowie erforderlichenfalls deren Geschlecht, Alter oder sonstige Identifizierungsmerkmale,

c)      der Zeitraum, für den die Ausnahme erteilt wird,

d)      der örtliche Bereich, für den die Ausnahme erteilt wird,

e)      die nach Maßgabe der Bestimmungen dieses Gesetzes und der auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Verordnungen zulässigen Maßnahmen wie die Verwendung von bestimmten Waffen oder Munition, von bestimmten Fangvorrichtungen oder die Anwendung von bestimmten Methoden,

f)      erforderlichenfalls weitere persönliche und sachliche Einschränkungen und Bedingungen, unter welchen die Ausnahme erteilt wird.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

13      In einem Fachgutachten vom 25. Juli 2022 stellte ein unabhängiges Fachkuratorium fest, dass zwischen dem 10. Juni und dem 2. Juli 2022 ein näher bezeichneter Wolf, nämlich der Wolf 158MATK, etwa 20 Schafe aus einer Herde auf nicht geschütztem Weideland im Land Tirol gerissen habe. Da das Fachkuratorium der Ansicht war, dass dieser Wolf eine erhebliche unmittelbare Gefahr für die Weidetiere darstelle und die fraglichen Almen nicht schützbar seien, empfahl es die Entnahme des Wolfs.

14      Infolge dieses Fachgutachtens stellte die Tiroler Landesregierung mit Verordnung vom 26. Juli 2022 fest, dass von dem Wolf mit der Bezeichnung 158MATK eine unmittelbare erhebliche Gefahr für Weidetiere, landwirtschaftliche Kulturen und Einrichtungen ausgehe. Diese Verordnung trat am 29. Juli 2022 in Kraft und gilt zeitlich unbefristet.

15      Folglich genehmigte die Tiroler Landesregierung mit Bescheid vom 29. Juli 2022 die Entnahme des Wolfs 158MATK und schloss ihn von der im TJG 2004 vorgesehenen dauerhaften Schonung aus. Außerdem sieht dieser Bescheid die Befristung der Ausnahme von der dauerhaften Schonung der Art des Wolfs vor, da die Ausnahme am 31. Oktober 2022 endet und vor diesem Zeitpunkt außer Kraft tritt, wenn der Wolf 158MATK mehrfach deutlich außerhalb des Maßnahmengebiets molekularbiologisch nachgewiesen wird.

16      Als Erstes hat sich die Tiroler Landesregierung im genannten Bescheid zur Rechtfertigung dieser Ausnahme auf drei Kategorien von Schäden berufen, die eingetreten seien oder einzutreten drohten. Erstens handele es sich um Schäden, die auf den Wolf 158MATK in Form von unmittelbaren und mittelbaren wirtschaftlichen Verlusten zurückzuführen seien und den Verlust der getöteten Tiere, die Mehraufwendungen des verfrühten Almabtriebs, den Zuchtwertverlust, Mehraufwendungen in Betreuung und Versorgung der nunmehr auf dem Heimbetrieb gehaltenen Tiere sowie die langfristige Reduktion der Tierhaltung auf den Heimbetrieben bei Einstellung der Almbetriebe beträfen. Zweitens gehe es um immaterielle Schäden, die sich aus dem Verlust der Freude an der Tierhaltung und der psychischen Belastung der betreffenden Almbewirtschafter ergäben. Drittens gehe es um indirekte Schäden, die nicht auf den Wolf 158MATK zurückzuführen seien und sich aus Betriebsauflassungen und der daraus resultierenden Reduktion des Gesamt-Tierbestands ergeben. Dies beruhe auf der Nichtnutzung des Futteraufwuchses, der Verwaldung, der Verbuschung der Almen, der Bodenerosion sowie dem Verlust an Biodiversität und attraktiver, für die Freizeitgestaltung und den Tourismus sehr bedeutender Landschaften.

17      Als Zweites stellt die Tiroler Landesregierung in ihrem Bescheid vom 29. Juli 2022 fest, dass es keine zufriedenstellende Alternative gebe, und führt zum einen aus, dass die Entnahme eines erwachsenen Wolfs aus der Natur, um ihn dauerhaft in Gefangenschaft zu halten, angesichts des erheblichen Leidens des Wolfs, der sich nicht an ein Leben in Gefangenschaft anpassen könne, wenn er zuvor in Freiheit gelebt habe, keine geeignete mildere Maßnahme darstelle. Zum anderen stellten Herdenschutzmaßnahmen keine anderweitige zufriedenstellende Lösung dar.

18      Als Drittes hat die Tiroler Landesregierung zum Erhaltungszustand der Populationen der betroffenen Art in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet ausgeführt, dass im vorliegenden Fall die Entnahme eines Exemplars der Art des Wolfs keine Beeinträchtigung des günstigen Erhaltungszustands der alpinen Population dieser Art bewirke und dass selbst bei isolierter Betrachtung des österreichischen Hoheitsgebiets, in dem der Erhaltungszustand noch nicht günstig sei, nicht mit einer Verschlechterung dieses Erhaltungszustands oder einer Behinderung der Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustands zu rechnen sei.

19      Die Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens erhoben gegen den Bescheid vom 29. Juli 2022 Beschwerde beim Landesverwaltungsgericht Tirol (Österreich), dem vorlegenden Gericht, und machten geltend, dass dieser Bescheid nicht den Anforderungen von Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie genüge.

20      Das vorlegende Gericht weist zunächst darauf hin, dass ungeachtet dessen, dass der Bescheid der Tiroler Landesregierung vom 29. Juli 2022, mit dem die Bejagung eines Wolfsexemplars genehmigt worden sei, nur bis zum 31. Oktober 2022 in Kraft stehe, eine Antwort auf das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits gleichwohl relevant sei, da die Tiroler Verordnung, auf die sich dieser Bescheid stütze, ihrerseits nicht zeitlich befristet sei, so dass jederzeit ein neuer Bescheid in Bezug auf den Wolf 158MATK ergehen könne.

21      In der Sache weist das vorlegende Gericht zunächst darauf hin, dass nach Anhang IV der Habitatrichtlinie bestimmte Wolfspopulationen innerhalb der Europäischen Union, zu denen die Population der Art im österreichischen Hoheitsgebiet nicht gehöre, von dem durch Art. 12 der Habitatrichtlinie eingeführten strengen Schutzsystem ausgenommen seien. Da sich die Wolfspopulation in Österreich entwickelt habe und daher nicht mehr als isoliert angesehen werden könne, stelle sich dem vorlegenden Gericht die Frage, ob der Verbleib dieser Population in Österreich auf der Liste der streng zu schützenden Tierarten nicht gegen den in Art. 4 Abs. 2 EUV verankerten Grundsatz der Gleichheit der Mitgliedstaaten verstoße, wenn und soweit sich die Mitgliedstaaten, darunter die Republik Österreich, derzeit in der gleichen oder zumindest in einer vergleichbaren Situation befänden.

22      Sodann fragt es sich, wie groß das Gebiet sein muss, das bei der Beurteilung des günstigen Erhaltungszustands der Art des Wolfs, wie er für die Gewährung einer Ausnahme nach Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie erforderlich ist, zu berücksichtigen ist, da der Gerichtshof im Urteil vom 10. Oktober 2019, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola (C‑674/17, EU:C:2019:851, Rn. 58), ausgeführt habe, dass im Rahmen einer solchen Beurteilung „die zuständige nationale Behörde [diesen Erhaltungszustand] u. a. bezogen auf das Gebiet des Mitgliedstaats oder gegebenenfalls, wenn sich die Grenzen des betreffenden Mitgliedstaats mit mehreren biogeografischen Regionen überschneiden, bezogen auf die betreffende biogeografische Region, oder aber, wenn das natürliche Verbreitungsgebiet der Art es erfordert und soweit möglich grenzüberschreitend [zu ermitteln hat]“.


23      Außerdem gehe aus dem von der Kommission am 12. Oktober 2021 übermittelten Leitfaden zum strengen Schutzsystem für Tierarten von gemeinschaftlichem Interesse im Rahmen der [Habitatrichtlinie], C(2021) 7301 final, (im Folgenden: Leitfaden) hervor, dass der Begriff „ernste Schäden“ den wirtschaftlichen Interessen Rechnung trage, so dass sich das vorlegende Gericht fragt, ob ein mittelbarer künftiger wirtschaftlicher Schaden, der nicht auf ein einziges Wolfsexemplar zurückzuführen sei, wie die Nichtnutzung des Futteraufwuchses, die Verwaldung, die Verbuschung der Almen, die Bodenerosion sowie der Verlust an Biodiversität und attraktiver, für die Freizeitgestaltung und den Tourismus sehr bedeutender Landschaften, für die Beurteilung dieses Begriffs herangezogen werden könne.

24      Schließlich weist das vorlegende Gericht auf die besondere Situation des Landes Tirol hin, die durch kleine landwirtschaftliche Betriebe und Almen gekennzeichnet sei, die nicht oder nicht durch angemessene und verhältnismäßige Herdenschutzmaßnahmen, wie z. B. die Errichtung von Zäunen, den Einsatz von Hirtenhunden oder die Begleitung von Herden durch Hirten, geschützt werden könnten. Es fragt sich daher, ob diese Besonderheiten bei der Ermittlung einer „anderweitigen zufriedenstellenden Lösung“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie berücksichtigt werden können.

25      Vor diesem Hintergrund hat das Landesverwaltungsgericht Tirol beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Verstößt Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang IV der Habitatrichtlinie, wonach der Wolf dem strengen Schutzsystem unterliegt, Populationen in mehreren Mitgliedstaaten aber davon ausnimmt, während für die Republik Österreich keine entsprechende Ausnahme vorgesehen wurde, gegen den in Art. 4 Abs. 2 EUV verankerten „Grundsatz der Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten“?

2.      Ist Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie, wonach ein Abweichen vom strengen Schutzsystem des Wolfes nur dann erlaubt ist, wenn u. a. die Populationen der betroffenen Art in ihrem „natürlichen Verbreitungsgebiet“ trotz der Ausnahmegenehmigung in einem „günstigen Erhaltungszustand“ verweilen, dahin gehend auszulegen, dass der günstige Erhaltungszustand nicht auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats bezogen, sondern im natürlichen Verbreitungsgebiet einer Population, das grenzüberschreitend eine wesentlich größere biogeografische Region umfassen kann, gewahrt oder wiederhergestellt werden muss?

3.      Ist Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Habitatrichtlinie dahin gehend auszulegen, dass dem „ernsten Schaden“ neben dem unmittelbaren Schaden, welcher durch einen bestimmten Wolf verursacht wird, auch der mittelbare, nicht einem bestimmten Wolf zurechenbare (zukünftige) „volkswirtschaftliche“ Schaden zuzurechnen ist?

4.      Ist Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie dahin gehend auszulegen, dass „anderweitige zufriedenstellende Lösungen“ aufgrund der vorherrschenden topografischen, almwirtschaftlichen und betrieblichen Strukturen im Bundesland Tirol rein aufgrund tatsächlicher Durchführbarkeit oder auch anhand wirtschaftlicher Kriterien zu prüfen sind?

 Zu den Vorlagefragen

 Zu Frage 1

26      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 12 Abs. 1 der Habitatrichtlinie in Verbindung mit deren Anhang IV im Hinblick auf den in Art. 4 Abs. 2 EUV verankerten Grundsatz der Gleichheit der Mitgliedstaaten gültig ist, soweit dieser Anhang IV die Wolfspopulationen im Hoheitsgebiet bestimmter Mitgliedstaaten von dem in Art. 12 dieser Richtlinie eingeführten strengen Schutzsystem ausnimmt, die Wolfspopulation in Österreich aber nicht.

27      Das vorlegende Gericht bezweifelt insbesondere die Gültigkeit von Art. 12 der Habitatrichtlinie mit der Begründung, dass angesichts der Entwicklung der Lage seit dem Inkrafttreten der Habitatrichtlinie die Unterscheidung zwischen einerseits Mitgliedstaaten, deren Wolfspopulation vom strengen Schutzsystem ausgenommen werde, und andererseits der Republik Österreich, in deren Hoheitsgebiet diese Tierart nicht unter eine solche Ausnahme falle, nicht mehr gerechtfertigt sei, da die Wolfspopulation im österreichischen Hoheitsgebiet keine von anderen Wolfspopulationen isolierte Population mehr sei. Das vorlegende Gericht fragt sich daher, ob das Fehlen einer Ausnahme vom strengen Schutzsystem in Bezug auf die Republik Österreich gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoße.

 Zur Zulässigkeit

28      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass in der mündlichen Verhandlung der Umweltverband WWF Österreich, das ÖKOBÜRO – Allianz der Umweltbewegung und der Umweltdachverband geltend gemacht haben, dass die erste Frage unzulässig sei, da die Antwort auf diese Frage keinen Einfluss auf den Ausgang des Ausgangsrechtsstreits habe. Nach Ansicht des Rates ist diese Frage unzulässig, da der Ausgangsrechtsstreit nur Art. 16 der Habitatrichtlinie und nicht deren Art. 12 betreffe, auf den sich die erste Frage beziehe. Die Kommission hat sich dieser Argumentation des Rates im Wesentlichen angeschlossen.

29      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof, wenn die vom nationalen Gericht in eigener Verantwortung vorgelegten Fragen die Gültigkeit einer Vorschrift des Unionsrechts betreffen, grundsätzlich gehalten ist, darüber zu befinden, es sei denn, es sind etwa die in Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs aufgeführten Anforderungen an den Inhalt des Vorabentscheidungsersuchens nicht erfüllt, die Auslegung oder die Beurteilung der Gültigkeit dieser Unionsvorschrift steht offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits oder das Problem ist hypothetischer Natur (Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers et Institut national de la statistique et des études économiques, C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 87 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30      Im vorliegenden Fall genügt, wie die Generalanwältin in den Nrn. 40 und 41 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, die Feststellung, dass – sollte der Gerichtshof die Ungültigkeit von Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang IV der Habitatrichtlinie feststellen – dies Auswirkungen auf den Ausgangsrechtsstreit hätte, soweit er Art. 16 Abs. 1 dieser Richtlinie betrifft. Letztere Vorschrift stellt nämlich eine Ausnahme von Art. 12 der Richtlinie dar. Eine Ausnahme kann es aber ohne allgemeine Regel nicht geben. In einem solchen Fall wäre mit anderen Worten zunächst der neue Inhalt von Art. 12 in Verbindung mit Anhang IV der Habitatrichtlinie zu bestimmen, bevor beurteilt wird, ob die in Art. 16 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehene Ausnahme auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar ist oder ob es überhaupt noch erforderlich ist, von dieser Ausnahme Gebrauch zu machen.

31      Nach alledem ist die erste Frage zulässig.

 Zur Beantwortung der Frage

32      Es ist darauf hinzuweisen, dass die Union nach Art. 4 Abs. 2 EUV die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen achtet.

33      Nach der Rechtsprechung verlangt der allgemeine Grundsatz der Gleichbehandlung, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden, sofern eine solche Behandlung nicht objektiv gerechtfertigt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. April 2024, Dumitrescu u. a./Kommission und Gerichtshof, C‑567/22 P bis C‑570/22 P, EU:C:2024:336, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34      Die Verletzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung durch eine unterschiedliche Behandlung setzt nach ständiger Rechtsprechung voraus, dass die betreffenden Sachverhalte im Hinblick auf alle Merkmale, die sie kennzeichnen, vergleichbar sind. Die Merkmale unterschiedlicher Sachverhalte und somit deren Vergleichbarkeit sind u. a. im Licht des Ziels und des Zwecks der betreffenden Bestimmungen zu bestimmen und zu beurteilen, wobei die Grundsätze und Ziele des Regelungsbereichs zu berücksichtigen sind, dem die in Rede stehende Maßnahme unterfällt (Urteil vom 30. November 2023, MG/EIB, C‑173/22 P, EU:C:2023:932, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).


35      Zur Beantwortung der ersten vom vorlegenden Gericht gestellten Frage ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Gültigkeit eines Unionsrechtsakts gemessen an den Informationen, über die der Unionsgesetzgeber zum Zeitpunkt des Erlasses der betreffenden Regelung verfügte, zu beurteilen ist (Urteil vom 22. Februar 2022, Stichting Rookpreventie Jeugd u. a., C‑160/20, EU:C:2022:101, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36      Im vorliegenden Fall wurde die Habitatrichtlinie am 21. Mai 1992 erlassen und durch die Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 1994, C 241, S. 21, und ABl. 1995, L 1, S. 1) infolge des Beitritts der Republik Österreich zur Union am 1. Januar 1995 geändert.

37      Hierzu ist festzustellen, dass die Republik Österreich, wie sich aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten ergibt, zu diesem letzteren Zeitpunkt weder Vorbehalte gegen die Aufnahme der Wolfspopulation in ihrem Hoheitsgebiet in Anhang IV der Habitatrichtlinie geäußert noch einen Beweis dafür erbracht hat, dass es sich in einer vergleichbaren Situation wie die anderen Mitgliedstaaten befand, deren Wolfspopulation zu diesem Zeitpunkt vom strengen Schutzsystem ausgenommen war.

38      Ferner ist festzustellen, dass sich sowohl die Tiroler Landesregierung als auch die österreichische Regierung in ihren Erklärungen darauf beschränken, die Gültigkeit von Art. 12 Abs. 1 der Habitatrichtlinie in Verbindung mit deren Anhang IV wegen der günstigen Entwicklung in Frage zu stellen, die die Wolfspopulation im österreichischen Hoheitsgebiet seit dem Beitritt der Republik Österreich zur Union (wie in Rn. 27 des vorliegenden Urteils dargelegt) genommen haben soll, was genau einem der von der Richtlinie verfolgten Ziele entspricht, wie diese in ihrem Art. 2 aufgeführt sind.

39      Außerdem geht aus der Richtlinie hervor, dass sie es erlaubt, die Entwicklungen zu berücksichtigen, die in dem Bereich eintreten können, zu dem die Habitatrichtlinie gehört – dem der Umweltpolitik der Union, dessen Art. 191 Abs. 2 AEUV bestimmt, dass sie „unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Gegebenheiten in den einzelnen Regionen der Union auf ein hohes Schutzniveau“ abzielt und dass sie u. a. auf den Grundsätzen der Vorsorge und Vorbeugung beruht. Um diesen sich fortentwickelnden komplexen technischen Rahmen anzupassen, hat der Unionsgesetzgeber nämlich in Art. 19 Abs. 2 der Habitatrichtlinie eine Entwicklungsklausel eingefügt, die es dem Rat ermöglicht, Anhang IV dieser Richtlinie auf Vorschlag der Kommission einstimmig an den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt anzupassen.

40      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die österreichische Regierung im Wesentlichen geltend macht, der Unionsgesetzgeber hätte auf Art. 19 Abs. 2 der Habitatrichtlinie zurückgreifen müssen, um die Wolfspopulation in Österreich vom strengen Schutzsystem von Art. 12 dieser Richtlinie auszunehmen.

41      Damit ist davon auszugehen, dass die österreichische Regierung nicht die Gültigkeit der Richtlinie als solche in Frage stellt, sondern in Wirklichkeit eine etwaige Untätigkeit des Unionsgesetzgebers bemängelt. Wie aber der Gerichtshof bereits entschieden hat, kann ein nationales Gericht den Gerichtshof im Wege der Vorlage nicht ersuchen, durch Vorabentscheidung die Untätigkeit eines Organs der Union festzustellen; eine Untätigkeit kann nur im Rahmen einer entsprechenden von einem Mitgliedstaat auf der Grundlage von Art. 265 AEUV gegen ein Organ, eine Einrichtung oder eine sonstige Stelle der Union eingereichten Klage festgestellt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. November 1996, T. Port, C‑68/95, EU:C:1996:452, Rn. 53). Wie die österreichische Regierung in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, hat die Republik Österreich bis dato keine solche Klage erhoben.

42      Selbst unter der Annahme, dass der Unionsgesetzgeber verpflichtet gewesen wäre, durch Anpassung des Anhangs IV der Habitatrichtlinie auf der Grundlage von Art. 19 dieser Richtlinie tätig zu werden, um den Wolf in Österreich aus dem strengen Schutzsystem herauszunehmen, ändert dies nichts daran, dass eine etwaige Untätigkeit des Unionsgesetzgebers in dieser Hinsicht, wie die Generalanwältin in Nr. 60 ihrer Schlussanträge hervorhebt, keinen Grund für die Ungültigkeit von Art. 12 Abs. 1 dieser Richtlinie in Verbindung mit deren Anhang IV darstellen kann.

43      Jedenfalls ist zum einen darauf hinzuweisen, dass der Wolf in der Liste der Tierarten in Anhang II des am 19. September 1979 in Bern unterzeichneten Übereinkommens über die Erhaltung der europäischen wildlebenden Pflanzen und Tiere und ihrer natürlichen Lebensräume (ABl. 1982, L 38, S. 3) belassen wurde, die nach diesem Übereinkommen streng geschützt sind. Die Union ist Vertragspartei dieses Übereinkommens und dadurch völkerrechtlich gebunden, wie der Rat und die Kommission vorgetragen haben und wie auch die Generalanwältin in Nr. 56 ihrer Schlussanträge hervorgehoben hat.

44      Zum anderen ergibt sich, wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, aus den Zielen der Habitatrichtlinie, die darin bestehen, einen günstigen Erhaltungszustand der natürlichen Lebensräume und wildlebenden Tier- und Pflanzenarten von Interesse für die Union zu bewahren oder wiederherzustellen, dass, da die Habitatrichtlinie auch auf die „Wahrung“ eines günstigen Erhaltungszustands abzielt, davon auszugehen ist, dass die Arten, die einen solchen Erhaltungszustand erreicht haben, gegen jede Verschlechterung dieses Zustands geschützt werden müssen. Daher kann Art. 12 Abs. 1 der Habitatrichtlinie nicht dahin ausgelegt werden, dass der Schutz, den diese Bestimmung vorsieht, für die Arten, die einen günstigen Erhaltungszustand erreicht haben, nicht mehr gilt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. März 2021, Föreningen Skydda Skogen, C‑473/19 und C‑474/19, EU:C:2021:166, Rn. 65 und 66).


45      Im vorliegenden Fall ist zwar, wie sich aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten ergibt, die Wolfspopulation nach Österreich zurückgekehrt, doch befindet sich diese Population, wie die österreichische Regierung in ihren Erklärungen selbst eingeräumt und in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, dort nicht in einem günstigen Erhaltungszustand.

46      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass ihre Prüfung nichts ergeben hat, was die Gültigkeit von Art. 12 Abs. 1 der Habitatrichtlinie in Verbindung mit deren Anhang IV beeinträchtigen könnte.

 Zu Frage 2

47      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie dahin auszulegen ist, dass die dort aufgestellte Bedingung, wonach die Populationen der betroffenen Art in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet trotz der gemäß dieser Bestimmung gewährten Ausnahmeregelung ohne Beeinträchtigung in einem günstigen Erhaltungszustand verweilen müssen, unter Berücksichtigung allein des lokalen und nationalen Gebiets des betreffenden Mitgliedstaats oder anhand der gesamten biogeografischen Region, die über die nationalen Grenzen hinausgeht, zu beurteilen ist.

48      Insbesondere neigt das vorlegende Gericht zu der Auffassung, dass im Hinblick auf das Urteil vom 10. Oktober 2019, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola (C‑674/17, EU:C:2019:851), im Rahmen der Prüfung nach Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie ein größeres geografisches Gebiet als das Hoheitsgebiet der Republik Österreich zu berücksichtigen sei, so dass die Gefahr einer Verschlechterung des günstigen Erhaltungszustands der in diesem Gebiet vorherrschenden Art des Wolfs ausgeschlossen sei.

49      Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie den Mitgliedstaaten zwar erlaubt, von den Bestimmungen der Art. 12 bis 14 sowie von Art. 15 Buchst. a und b dieser Richtlinie abzuweichen, doch unterliegt eine auf dieser Grundlage erlassene Ausnahmeregelung, da sie es den Mitgliedstaaten erlaubt, den mit dem System des strengen Schutzes natürlich vorkommender Arten einhergehenden Verpflichtungen zu entgehen, der Bedingung, dass es keine anderweitige zufriedenstellende Lösung gibt und die Populationen der betroffenen Art in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet trotz der Ausnahmeregelung ohne Beeinträchtigung in einem günstigen Erhaltungszustand verweilen (Urteil vom 11. Juni 2020, Alianța pentru combaterea abuzurilor, C‑88/19, EU:C:2020:458, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).


50      Sodann stellt Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie, der die Voraussetzungen, unter denen die Mitgliedstaaten von den Art. 12 bis 14 sowie von Art. 15 Buchst. a und b dieser Richtlinie abweichen dürfen, genau und abschließend festlegt, eine Ausnahme von dem in dieser Richtlinie vorgesehenen Schutzsystem dar, die restriktiv auszulegen ist und bei der die Beweislast für das Vorliegen der erforderlichen Voraussetzungen für jede Abweichung die Stelle treffen muss, die über sie entscheidet (Urteil vom 11. Juni 2020, Alianța pentru combaterea abuzurilor, C‑88/19, EU:C:2020:458, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

51      Schließlich hat der Gerichtshof klargestellt, dass eine auf Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie gestützte Ausnahme nur eine konkrete und punktuelle Anwendung sein kann, mit der konkreten Erfordernissen und besonderen Situationen begegnet wird (Urteil vom 10. Oktober 2019, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola, C‑674/17, EU:C:2019:851, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

52      Wie Rn. 49 des vorliegenden Urteils zu entnehmen ist, zählt zu den in Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie niedergelegten Bedingungen jene, dass die Populationen der betroffenen Art in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet trotz der Ausnahmeregelung ohne Beeinträchtigung in einem günstigen Erhaltungszustand verweilen. Der günstige Erhaltungszustand dieser Populationen in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet ist nämlich eine unabdingbare Voraussetzung für die Zulassung der in Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie vorgesehenen Ausnahmen (Urteil vom 10. Oktober 2019, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola, C‑674/17, EU:C:2019:851, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

53      Insoweit wird nach Art. 1 Buchst. i der Habitatrichtlinie der Erhaltungszustand als günstig betrachtet, wenn zum einen aufgrund der Daten über die Populationsdynamik der Art anzunehmen ist, dass diese Art ein lebensfähiges Element des natürlichen Lebensraums, dem sie angehört, bildet und langfristig weiterhin bilden wird, des Weiteren das natürliche Verbreitungsgebiet dieser Art weder abnimmt noch in absehbarer Zeit vermutlich abnehmen wird und schließlich ein genügend großer Lebensraum vorhanden ist und wahrscheinlich weiterhin vorhanden sein wird, um langfristig ein Überleben der Populationen dieser Art zu sichern (Urteil vom 10. Oktober 2019, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola, C‑674/17, EU:C:2019:851, Rn. 56).

54      Eine Ausnahmeregelung gemäß Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie ist somit auf Kriterien zu stützen, die so definiert sind, dass die Erhaltung der Populationsdynamik und ‑stabilität der betreffenden Art langfristig sichergestellt ist (Urteil vom 10. Oktober 2019, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola, C‑674/17, EU:C:2019:851, Rn. 57).


55      Die zuständige nationale Behörde hat daher bei der Prüfung, ob eine Ausnahme auf der Grundlage von Art. 16 Abs. 1 zuzulassen ist, u. a. bezogen auf das Gebiet des Mitgliedstaats oder gegebenenfalls, wenn sich die Grenzen des betreffenden Mitgliedstaats mit mehreren biogeografischen Regionen überschneiden, bezogen auf die betreffende biogeografische Region, oder aber, wenn das natürliche Verbreitungsgebiet der Art es erfordert und, soweit möglich grenzüberschreitend, in einem ersten Schritt den Erhaltungszustand der Populationen der betreffenden Arten und in einem zweiten Schritt die geografischen und demografischen Auswirkungen, die die in Betracht gezogenen Ausnahmeregelungen auf diesen haben können, zu ermitteln (Urteil vom 10. Oktober 2019, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola, C‑674/17, EU:C:2019:851, Rn. 58).

56      Außerdem ist die Bewertung der Auswirkung einer Ausnahme bezogen auf das Gebiet einer lokalen Population im Allgemeinen erforderlich, um ihre Auswirkung auf den Erhaltungszustand der in Rede stehenden Population in einem größeren Rahmen zu bestimmen. Da nämlich eine solche Ausnahme konkreten Anforderungen und spezifischen Situationen Rechnung tragen muss, wie sich aus Rn. 51 des vorliegenden Urteils ergibt, werden sich die Folgen einer solchen Ausnahme in der Regel am unmittelbarsten in dem von ihr betroffenen lokalen Gebiet bemerkbar machen (Urteil vom 10. Oktober 2019, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola, C‑674/17, EU:C:2019:851, Rn. 59).

57      Aus dem Vorstehenden ergibt sich in Bezug auf den ersten Schritt der Beurteilung der auf Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie gestützten Ausnahme, wie sie in Rn. 55 des vorliegenden Urteils beschrieben worden ist, dass, wie die Generalanwältin in den Nrn. 73 und 75 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, der günstige Erhaltungszustand der betreffenden Tierart erstens und zwangsläufig auf lokaler und nationaler Ebene bestehen und bewertet werden muss, so dass ein ungünstiger Erhaltungszustand im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats oder in einem Teil davon nicht durch eine auf grenzüberschreitender Ebene vorgenommene Bewertung verschleiert wird, aus der sich ergäbe, dass sich diese Art in einem günstigen Erhaltungszustand befinde.

58      Daher kann die Bewertung nur, wenn sich der Erhaltungszustand der betreffenden Tierart auf lokaler und nationaler Ebene als günstig erweist, zweitens, vorausgesetzt, die verfügbaren Daten lassen dies zu, grenzüberschreitend geprüft werden. Wie die Generalanwältin in Nr. 78 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, soll nämlich mit der Berücksichtigung des Erhaltungszustands auf dieser letzten Ebene verhindert werden, dass nach Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie eine Ausnahme zugunsten eines Mitgliedstaats gewährt wird, in dessen Gebiet der Erhaltungszustand dieser Art günstig wäre, obwohl dieser Erhaltungszustand auf grenzüberschreitender Ebene ungünstig wäre.

59      Diese Auslegung gilt auch für den zweiten Schritt der nach dieser Bestimmung vorzunehmenden Prüfung, wie er in Rn. 55 des vorliegenden Urteils genannt wird, nämlich die Bestimmung der Auswirkung einer solchen Ausnahme auf den Erhaltungszustand der betreffenden Tierart.

60      Folglich ist im Einklang mit der in den Rn. 55 und 56 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung davon auszugehen, dass die Bewertung der Auswirkungen einer nach Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie gewährten Ausnahme erstens auf lokaler und nationaler Ebene und, im Fall eines auf dieser Ebene günstigen Erhaltungszustands, sofern möglich, zweitens auf grenzüberschreitender Ebene vorzunehmen ist.

61      Diese Schlussfolgerung wird außerdem durch Punkt 3-64 des Leitfadens bestätigt, in dem die Kommission zum einen ausführt, dass die genannte Bewertung in Anbetracht u. a. des Wortlauts von Art. 16 der Habitatrichtlinie, der auf „Populationen der betroffenen Art“ verweist, „[i]n den meisten Fällen … auf einer niedrigeren Ebene [(z. B. auf der Ebene eines Standorts oder einer Population)] als auf der Stufe der biogeografischen Region [wird] erfolgen müssen, damit sie aus ökologischer Sicht aussagekräftig ist“ und spezifischen Problemen Rechnung trägt. Zum anderen wird dort klargestellt: „Anschließend müsste die auf einer niedrigeren Ebene vorgenommene Bewertung mit der Situation verglichen werden, wie sie sich in einem größeren Maßstab (z. B. biogeografisch, grenzüberschreitend oder national) darstellt, um ein Gesamtbild der Situation zu erhalten“.

62      Dagegen ist sodann darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass entgegen dem Vorbringen der Behörde der Teil des natürlichen Verbreitungsgebiets der betreffenden Population, der sich auf Teile des Hoheitsgebiets eines Drittstaats erstreckt, der nicht an die Verpflichtungen zum strengen Schutz der Arten von Interesse für die Europäische Union gebunden ist, bei dieser Beurteilung nicht berücksichtigt werden kann (Urteil vom 10. Oktober 2019, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola, C‑674/17, EU:C:2019:851, Rn. 60).

63      Im vorliegenden Fall könnten, wie die Tiroler Landesregierung und die österreichische Regierung hervorheben, die Gebiete der Schweizerischen Eidgenossenschaft und des Fürstentums Liechtenstein in dem in den Rn. 58 und 60 des vorliegenden Urteils genannten Fall und vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht im Rahmen der grenzüberschreitenden Bewertung der Auswirkungen der nach Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie gewährten Ausnahme auf den Erhaltungszustand des Wolfs berücksichtigt werden, da diese Drittstaaten der Einhaltung der Bestimmungen des am 19. September 1979 in Bern unterzeichneten Übereinkommens über die Erhaltung der europäischen wildlebenden Pflanzen und Tiere und ihrer natürlichen Lebensräume unterliegen.

64      Schließlich ist auch hervorzuheben, dass der Mitgliedstaat gemäß dem in Art. 191 Abs. 2 AEUV verankerten Vorsorgegrundsatz von dem Erlass oder der Durchführung einer solchen Ausnahmeregelung absehen muss, wenn nach der Prüfung der besten verfügbaren wissenschaftlichen Daten eine Ungewissheit darüber bestehen bleibt, ob der günstige Erhaltungszustand der Populationen einer vom Aussterben bedrohten Art trotz dieser Ausnahmeregelung gewahrt oder wiederhergestellt werden kann (Urteil vom 10. Oktober 2019, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola, C‑674/17, EU:C:2019:851, Rn. 66).

65      Daher ist es für die Zwecke der Anwendung von Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie Sache des vorlegenden Gerichts, insbesondere zu prüfen, ob sich die Wolfspopulation in einem günstigen Erhaltungszustand befindet, und zwar erstens auf der Ebene des Landes Tirol und auf nationaler Ebene und, gegebenenfalls unter Berücksichtigung der verfügbaren Daten, zweitens auf grenzüberschreitender Ebene.

66      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie dahin auszulegen ist, dass die dort aufgestellte Bedingung, wonach die Populationen der betroffenen Art in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet trotz der gemäß dieser Bestimmung gewährten Ausnahmeregelung ohne Beeinträchtigung in einem günstigen Erhaltungszustand verweilen müssen, nur dann unter Berücksichtigung der Ebene der biogeografischen Region, die über die nationalen Grenzen hinausgeht, anhand der verfügbaren Daten beurteilt werden darf, wenn vorab festgestellt worden ist, dass diese Populationen trotz dieser Ausnahmeregelung ohne Beeinträchtigung auf der Ebene des lokalen Gebiets und des nationalen Hoheitsgebiets des betreffenden Mitgliedstaats in einem günstigen Erhaltungszustand verweilen.

 Zu Frage 3

67      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Habitatrichtlinie dahin auszulegen ist, dass der in dieser Bestimmung enthaltene Begriff „ernste Schäden“ künftige mittelbare Schäden umfasst, die nicht auf das Exemplar der Tierart zurückzuführen sind, für das die nach dieser Bestimmung gewährte Ausnahme gilt.

68      Insbesondere stellt sich das vorlegende Gericht Fragen zu den mittelbaren Schäden, die nicht allein auf den Wolf zurückzuführen sind, der die Schafe im Hoheitsgebiet des Landes Tirol gerissen hat, und die sich aus den Betriebsauflassungen und der daraus resultierenden Reduktion des Gesamt-Nutztierbestands ergeben.

69      Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Habitatrichtlinie zur Verhütung ernster Schäden insbesondere an Kulturen und in der Tierhaltung sowie an Wäldern, Fischgründen und Gewässern sowie an sonstigen Formen von Eigentum von dem strengen Schutzsystem abweichen können.

70      Daher ergibt sich schon aus dem Wortlaut von Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Habitatrichtlinie, dass diese Bestimmung nicht verlangt, dass ein ernster Schaden abgewartet werden muss, bevor Ausnahmemaßnahmen erlassen werden (Urteil vom 14. Juni 2007, Kommission/Finnland, C‑342/05, EU:C:2007:341, Rn. 40). Da diese Bestimmung nämlich ernste Schäden verhindern soll, reicht die hohe Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts insoweit aus.

71      Wie die Kommission in Punkt 3-24 ihres Leitfadens im Wesentlichen ausführt, darf dieser künftige Schaden jedoch zum einen nicht rein hypothetisch sein, was durch Beweismittel nachgewiesen werden muss, und zum anderen muss er zumindest weitgehend der Tierart zuzuschreiben sein, auf die die Ausnahmeregelung abzielt.

72      Im vorliegenden Fall bezieht sich die vom vorlegenden Gericht im Rahmen der dritten Frage dargestellte Schadenskategorie, wie in Rn. 68 des vorliegenden Urteils ausgeführt, nicht auf spezifische wirtschaftliche Interessen, sondern auf mögliche langfristige makroökonomische Entwicklungen, so dass sie eher einem abstrakten Risiko ähnelt, dessen hohe Wahrscheinlichkeit nicht nachgewiesen ist.

73      Ließe man außerdem zu, dass solche Schäden, die nicht dem Exemplar der Wolfspopulation zuzurechnen sind, für das die Ausnahme nach Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Habitatrichtlinie gilt, und die ihren Ursprung in unterschiedlichen und vielfältigen Ursachen haben können, in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fallen können, liefe dies darauf hinaus, das in Rn. 71 des vorliegenden Urteils genannte Erfordernis eines Kausalzusammenhangs zwischen zum einen der Gewährung der Ausnahme und zum anderen dem von der Tierart, auf die sich diese Ausnahme bezieht, verursachten Schaden außer Acht zu lassen.

74      Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass der Begriff „ernste Schäden“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Habitatrichtlinie künftige mittelbare Schäden nicht erfasst, die nicht auf das Exemplar der Tierart zurückzuführen sind, für das die nach dieser Bestimmung gewährte Ausnahme gilt.

75      Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Habitatrichtlinie dahin auszulegen ist, dass der in dieser Bestimmung enthaltene Begriff „ernste Schäden“ künftige mittelbare Schäden, die nicht auf das Exemplar der Tierart zurückzuführen sind, für das die nach dieser Bestimmung gewährte Ausnahme gilt, nicht umfasst.

 Zu Frage 4

76      Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie dahin auszulegen ist, dass die zuständigen nationalen Behörden bei der Feststellung, ob eine „anderweitige zufriedenstellende Lösung“ im Sinne dieser Bestimmung vorliegt, nur die technische Durchführbarkeit der anderweitigen alternativen Maßnahmen zu beurteilen haben oder ob sie auch wirtschaftliche Kriterien zu berücksichtigen haben.

77      In diesem Zusammenhang fragt sich das vorlegende Gericht, ob Herdenschutzmaßnahmen, zu denen die Einrichtung von Zäunen, der Einsatz von Hirtenhunden oder die Begleitung der Herden durch Hirten gehören, eine im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie zufriedenstellende alternative Maßnahme zur Tötung des reißenden Wolfs darstellen, wenn die Durchführung solcher Maßnahmen mit besonders hohen Kosten verbunden ist.

78      Für die Beantwortung dieser Frage ist zunächst darauf hinzuweisen, dass eine Ausnahme nach Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie nur zulässig ist, wenn es an einer anderweitigen Maßnahme fehlt, mit der das verfolgte Ziel in zufriedenstellender Weise erreicht werden kann und die in der Richtlinie vorgesehenen Verbote beachtet werden (Urteil vom 10. Oktober 2019, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola, C‑674/17, EU:C:2019:851, Rn. 47).

79      Außerdem hat der Gerichtshof entschieden, dass diese Bestimmung die Mitgliedstaaten verpflichtet, eine genaue und angemessene Begründung für die Annahme darzutun, dass es keine anderweitige zufriedenstellende Lösung gibt, um die Ziele zu erreichen, auf die die fragliche Ausnahmeregelung gestützt wird. Daher obliegt es den zuständigen nationalen Behörden, nachzuweisen, dass es insbesondere unter Berücksichtigung der besten einschlägigen wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse sowie der Umstände des konkreten Falls keine anderweitige zufriedenstellende Lösung gibt, um das verfolgte Ziel zu erreichen (Urteil vom 10. Oktober 2019, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola, C‑674/17, EU:C:2019:851, Rn. 49 und 51).

80      Die Bedingung, dass es keine anderweitige zufriedenstellende Lösung geben darf, damit die Gewährung einer Ausnahme nach Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie gerechtfertigt ist, stellt somit einen spezifischen Ausdruck des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dar, der als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts verlangt, dass die Handlungen der Unionsorgane nicht über die Grenzen dessen hinausgehen, was zur Erreichung der mit der betreffenden Regelung verfolgten legitimen Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die dadurch bedingten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 340 und die dort angeführte Rechtsprechung).

81      Daraus folgt, dass die Beurteilung dieser Voraussetzung eine Abwägung sämtlicher betroffener Interessen und der zu berücksichtigenden Kriterien, wie etwa der ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Vor- und Nachteile, erfordert, um die optimale Lösung zu ermitteln. Zu diesem Zweck müssen die zuständigen nationalen Behörden, wie die Kommission in Punkt 3-51 ihres Leitfadens im Wesentlichen vorschlägt, die Möglichkeit prüfen, nicht tödliche vorbeugende Maßnahmen anzuwenden, die u. a. in der Durchführung von vorbeugenden Maßnahmen gegen Angriffe auf Herden, wie u. a. den in Rn. 77 des vorliegenden Urteils genannten, sowie dem Erlass von Maßnahmen zur weitestmöglichen Anpassung der den Konflikten zugrunde liegenden menschlichen Praktiken bestehen, um eine Kultur der Koexistenz zwischen der Wolfspopulation, den Herden und den Viehzüchtern zu fördern, deren Notwendigkeit die österreichische Regierung in der mündlichen Verhandlung anerkannt hat.

82      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 2 Abs. 3 der Habitatrichtlinie die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten Rechnung tragen, so dass die wirtschaftlichen Kosten einer technisch durchführbaren alternativen Maßnahme u. a. als eines der abzuwägenden Kriterien berücksichtigt werden dürfen, ohne jedoch ausschlaggebenden Charakter zu haben. Es kann nämlich nicht zugelassen werden, dass eine anderweitige zufriedenstellende Lösung von vornherein allein deshalb verworfen werden kann, weil die wirtschaftlichen Kosten ihrer Durchführung besonders hoch wären.

83      Insoweit ist klarzustellen, dass die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der alternativen Maßnahme in Bezug auf die wirtschaftlichen Kosten, wie die Generalanwältin in den Nrn. 108, 112 und 114 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, anhand der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zu erfolgen hat, nach Art. 12 der Habitatrichtlinie die für den strengen Schutz der betreffenden Tierart erforderlichen Systemmaßnahmen und ‑pläne zu erstellen, die Gegenstand von Finanzierungsprogrammen u. a. auf Unionsebene sein können. Insbesondere kann die Durchführung dieser Programme und Pläne Änderungen an den betreffenden landwirtschaftlichen Tätigkeiten wie den in Rn. 81 des vorliegenden Urteils genannten mit sich bringen, die zwangsläufig mit bestimmten Kosten verbunden sind und in Anbetracht der in Rn. 44 des vorliegenden Urteils angeführten Ziele der Habitatrichtlinie, nämlich einen günstigen Erhaltungszustand der natürlichen Lebensräume und wildlebenden Tier- und Pflanzenarten von Interesse für die Union zu bewahren oder wiederherzustellen, kein hinreichender Grund dafür sein können, nach Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Habitatrichtlinie eine Ausnahme von den in Art. 12 dieser Richtlinie vorgesehenen Verboten zu gestatten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. März 2012, Kommission/Polen, C‑46/11, EU:C:2012:146, Rn. 31).

84      Um die mit der Habitatrichtlinie verfolgten Ziele zu erreichen, müssen daher die wirtschaftlichen Kosten einer anderweitigen Maßnahme als der Entnahme eines Exemplars einer streng geschützten Tierart gegen die ökologischen Kosten dieser Entnahme abgewogen werden. Insoweit ist klarzustellen, dass im vorliegenden Fall die Tiroler Landesregierung in der mündlichen Verhandlung auf das Scheitern der Entnahmemaßnahme hingewiesen hat, die in der Tötung des Exemplars des fraglichen Wolfs bestanden habe.

85      Daher wird sich das vorlegende Gericht zu vergewissern haben, dass die Tiroler Landesregierung im Rahmen ihres Bescheids vom 29. Juli 2022 auf der Grundlage der besten verfügbaren wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse die denkbaren anderweitigen Lösungen, wie z. B. Almschutzmaßnahmen, zutreffend bewertet hat, indem sie insbesondere deren wirtschaftlichen Auswirkungen berücksichtigt hat, ohne dass diese ausschlaggebenden Charakter hätten, und sie gegen das allgemeine Ziel der Wahrung oder Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustands der Wolfspopulation in ihrem Gebiet abgewogen hat.

86      Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie dahin auszulegen ist, dass die zuständigen nationalen Behörden bei der Feststellung, ob eine „anderweitige zufriedenstellende Lösung“ im Sinne dieser Bestimmung vorliegt, verpflichtet sind, auf der Grundlage der besten verfügbaren wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse die denkbaren anderweitigen Lösungen zu beurteilen, wobei sie u. a. deren wirtschaftliche Implikationen berücksichtigen, ohne dass diese ausschlaggebenden Charakter hätten, und sie gegen das allgemeine Ziel der Wahrung oder Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustands der betreffenden Tierart abwägen.

 Kosten

87      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

1.      Die Prüfung der ersten Frage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen in der durch die Richtlinie 2013/17/EU des Rates vom 13. Mai 2013 geänderten Fassung in Verbindung mit Anhang IV der Richtlinie 92/43 in der durch die Richtlinie 2013/17 geänderten Fassung beeinträchtigen könnte.

2.      Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 92/43 in der durch die Richtlinie 2013/17 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die dort aufgestellte Bedingung, wonach die Populationen der betroffenen Art in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet trotz der gemäß dieser Bestimmung gewährten Ausnahmeregelung ohne Beeinträchtigung in einem günstigen Erhaltungszustand verweilen müssen, nur dann unter Berücksichtigung der Ebene der biogeografischen Region, die über die nationalen Grenzen hinausgeht, anhand der verfügbaren Daten beurteilt werden darf, wenn vorab festgestellt worden ist, dass diese Populationen trotz dieser Ausnahmeregelung ohne Beeinträchtigung auf der Ebene des lokalen Gebiets und des nationalen Hoheitsgebiets des betreffenden Mitgliedstaats in einem günstigen Erhaltungszustand verweilen.

3.      Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 92/43 in der durch die Richtlinie 2013/17 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass der in dieser Bestimmung enthaltene Begriff „ernste Schäden“ künftige mittelbare Schäden, die nicht auf das Exemplar der Tierart zurückzuführen sind, für das die nach dieser Bestimmung gewährte Ausnahme gilt, nicht umfasst.

4.      Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 92/43 in der durch die Richtlinie 2013/17 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die zuständigen nationalen Behörden bei der Feststellung, ob eine „anderweitige zufriedenstellende Lösung“ im Sinne dieser Bestimmung vorliegt, verpflichtet sind, auf der Grundlage der besten verfügbaren wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse die denkbaren anderweitigen Lösungen zu beurteilen, wobei sie u. a. deren wirtschaftliche Implikationen berücksichtigen, ohne dass diese ausschlaggebenden Charakter hätten, und sie gegen das allgemeine Ziel der Wahrung oder Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustands der betreffenden Tierart abwägen.

Arabadjiev

von Danwitz

Xuereb

Kumin

 

Ziemele

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 11. Juli 2024.

Der Kanzler

 

Der Kammerpräsident

A. Calot Escobar

 

A. Arabadjiev


*      Verfahrenssprache: Deutsch.