Language of document : ECLI:EU:T:2012:604

BESCHLUSS DES PRÄSIDENTEN DES GERICHTS

16. November 2012 (*)

„Vorläufiger Rechtsschutz – Wettbewerb – Veröffentlichung einer Entscheidung, mit der die Kommission eine Zuwiderhandlung gegen das Kartellverbot feststellt – Ablehnung des Antrags auf vertrauliche Behandlung von Informationen, die ein Kartellunternehmen der Kommission im Rahmen der Kronzeugenmitteilung übermittelt hat – Interessenabwägung – Dringlichkeit – Fumus boni iuris“

In der Rechtssache T‑341/12 R

Evonik Degussa GmbH mit Sitz in Essen (Deutschland),

Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte C. Steinle, M. Holm-Hadulla und C. v. Köckritz,

Antragstellerin,

gegen

Europäische Kommission, vertreten durch M. Kellerbauer, C. Giolito und G. Meessen als Bevollmächtigte,

Antragsgegnerin,

wegen Aussetzung des Vollzugs des Beschlusses C (2012) 3534 final der Kommission vom 24. Mai 2012 über die Ablehnung eines Antrags der Antragstellerin auf vertrauliche Behandlung bestimmter Angaben (Sache Nr. COMP/38.620 – Wasserstoffperoxid und Perborat) sowie einstweiliger Anordnung zwecks vertraulicher Behandlung von Angaben zur Antragstellerin anlässlich der Veröffentlichung einer erweiterten Fassung der Entscheidung 2006/903/EG der Kommission vom 3. Mai 2006 in einem Verfahren nach Art. 81 EG-Vertrag und Art. 53 EWR-Abkommen (Sache Nr. COMP/F/C.38.620 – Wasserstoffperoxid und Perborat) (ABl. L 353, S. 54)

erlässt

DER PRÄSIDENT DES GERICHTS

folgenden

Beschluss

 Sachverhalt und Verfahren

1        Gegenstand des vorliegenden Eilverfahrens ist der Beschluss C (2012) 3534 final der Europäischen Kommission vom 24. Mai 2012 über die Ablehnung eines Antrags der Evonik Degussa GmbH auf vertrauliche Behandlung nach Art. 8 des Beschlusses 2011/695/EU des Präsidenten der Kommission vom 13. Oktober 2011 über Funktion und Mandat des Anhörungsbeauftragten in bestimmten Wettbewerbsverfahren (Sache Nr. COMP/38.620 – Wasserstoffperoxid und Perborat) (im Folgenden: angefochtener Beschluss).

2        Mit dem angefochtenen Beschluss wurde der Antrag auf unveränderte Beibehaltung der im September 2007 auf der Internetseite der Generaldirektion Wettbewerb veröffentlichten nichtvertraulichen Fassung der Entscheidung 2006/903/EG der Kommission vom 3. Mai 2006 in einem Verfahren nach Art. 81 EG-Vertrag und Art. 53 EWR-Abkommen gegen Akzo Nobel NV, Akzo Nobel Chemicals Holding AB, Eka Chemicals AB, Degussa AG, Edison SpA, FMC Corporation, FMC Foret S.A., Kemira OYJ, L’Air Liquide SA, Chemoxal SA, Snia SpA, Caffaro Srl, Solvay SA/NV, Solvay Solexis SpA, Total SA, Elf Aquitaine SA und Arkema SA (Sache Nr. COMP/F/C.38.620 – Wasserstoffperoxid und Perborat) (vgl. Kurzfassung im ABl. L 353, S. 54; im Folgenden: Entscheidung von 2006) zurückgewiesen.

3        In der Entscheidung von 2006 hatte die Kommission einen Verstoß der Rechtsvorgängerin der Antragstellerin, Degussa, und sechzehn weiterer Unternehmen gegen Art. 81 EG-Vertrag auf dem EWR-Markt für Wasserstoffperoxid und Perborat von 1994 bis 2000 festgestellt. Die Kommission erklärte, dass Degussa sie im Dezember 2002 als erstes europäisches Unternehmen über das Bestehen eines Kartells in diesem Bereich informiert und dabei den Wunsch geäußert habe, im Rahmen der sogenannten Kronzeugenmitteilung (Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. 2002, C 45, S. 3) mit ihr zusammenzuarbeiten. Degussa habe uneingeschränkt und kontinuierlich kooperiert sowie alle verfügbaren Beweismittel übermittelt. Die Kommission habe daraufhin die Existenz des Kartells beweisen können. Die Kommission hat daher Degussa aufgrund der Kronzeugenmitteilung jegliche Geldbuße erlassen, während alle übrigen Kartellmitglieder mit Geldbußen belegt wurden.

4        Nachdem die Kommission die Adressaten der Entscheidung von 2006 aufgefordert hatte, die von ihnen als vertraulich angesehenen Entscheidungspassagen zu benennen, veröffentlichte sie im September 2007 auf ihrer Internetseite eine nichtvertrauliche Langfassung dieser Entscheidung. Die Antragstellerin hat diese Fassung nicht beanstandet.

5        Mit Schreiben vom 28. November 2011 teilte die Kommission der Antragstellerin mit, dass sie beabsichtige, eine neue, um 50 Seiten erweiterte nichtvertrauliche Langfassung der Entscheidung von 2006 (im Folgenden: geplante erweiterte Fassung) zu veröffentlichen. In ihrem Antwortschreiben sprach sich die Antragstellerin gegen dieses Vorhaben aus und machte geltend, die geplante erweiterte Fassung enthalte vertrauliche Angaben bzw. Geschäftsgeheimnisse, insbesondere die Namen von Degussa-Mitarbeitern und die Wiedergabe von Kronzeugenaussagen.

6        Mit Schreiben vom 15. März 2012 teilte die Kommission der Antragstellerin mit, dass sie ihren Bedenken insoweit Rechnung tragen werde, als die Namen von Degussa-Mitarbeitern und solche Angaben geschwärzt würden, die einen Schluss auf ihre Herkunft aus Erklärungen oder Dokumenten zuließen, die der Kommission im Rahmen der Zusammenarbeit nach der Kronzeugenmitteilung übermittelt worden seien. Im Übrigen werde sie den Bedenken jedoch nicht abhelfen. Für den Fall, dass die Antragstellerin mit der Veröffentlichung nicht einverstanden sei, wurde ihr anheimgestellt, sich gemäß dem Beschluss 2011/695/EU des Präsidenten der Kommission vom 13. Oktober 2011 über Funktion und Mandat des Anhörungsbeauftragten in bestimmten Wettbewerbsverfahren (ABl. L 275, S. 29) an den Anhörungsbeauftragten zu wenden.

7        Die Antragstellerin ersuchte daraufhin mit Schreiben vom 10. April 2012 den Anhörungsbeauftragten, die ursprüngliche nichtvertrauliche Fassung vom September 2007 beizubehalten. Sie rügte u. a. einen Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes, da sie mit der Kommission bereits eine nichtvertrauliche Fassung der Entscheidung von 2006 vereinbart habe und davon ausgegangen sei, dass die von ihr als Kronzeugin freiwillig übermittelten Informationen nicht offengelegt würden. Außerdem fielen derartige Angaben unter den Schutz des Berufsgeheimnisses nach Art. 339 AEUV. Durch ihre Veröffentlichung erhielten Schadenersatzkläger detaillierte Hinweise zur Existenz entsprechender Unterlagen, die sie in Zivilprozessen vor einzelstaatlichen Gerichten vorlegen könnten. Dadurch würde die Position der Antragstellerin in diesen Prozessen beeinträchtigt.

8        Mit dem „[f]ür die Kommission“ unterzeichneten angefochtenen Beschluss wies der Anhörungsbeauftragte das Vertraulichkeitsverlangen der Antragstellerin zurück. Er berief sich darauf, dass sein Tätigwerden darauf beschränkt sei, zu ermitteln, ob die in Rede stehenden Informationen offengelegt werden dürften, weil sie weder Geschäftsgeheimnisse noch sonstige vertrauliche Angaben enthielten oder weil ein übergeordnetes Interesse an der Offenlegung bestehe. Im vorliegenden Fall habe die Antragstellerin weder vorgetragen, dass die einzelnen Angaben als vertraulich zu qualifizieren seien, noch belegt, dass ihr durch deren Offenlegung ein ernsthafter Nachteil entstünde. Im Übrigen sei die Kommission auch dann berechtigt, derartige Angaben zu veröffentlichen, wenn diese im Rahmen von Schadenersatzklagen vor innerstaatlichen Gerichten voraussichtlich gegen die Antragstellerin verwendet würden.

9        Der angefochtene Beschluss wurde der Antragstellerin am 29. Mai 2012 zugestellt. Auf Nachfrage teilte die Kommission ihr mit E-Mail vom 1. Juni 2012 mit, dieser Beschluss sei „die einzige Entscheidung“ über ihren Antrag auf vertrauliche Behandlung und stelle „die endgültige Auffassung der Kommission“ dazu dar.

10      Mit Klageschrift, die am 2. August 2012 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Antragstellerin die Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses beantragt. Zur Begründung macht sie u. a. eine Verletzung des Berufsgeheimnisses nach Art. 339 AEUV und Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) sowie eine Verkennung der Vertraulichkeit der zu veröffentlichenden Angaben geltend.

11      Mit besonderem Schriftsatz, der am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Antragstellerin vorläufigen Rechtsschutz mit dem Ziel begehrt,

–        gemäß Art. 105 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts bis zur Entscheidung im vorliegenden Eilverfahren, jedenfalls aber bis zur Entscheidung zur Hauptsache

–        den Vollzug des angefochtenen Beschlusses auszusetzen und

–        der Kommission im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, eine nichtvertrauliche Fassung des vollständigen Wortlauts der Entscheidung von 2006 auf ihren Internetseiten oder an sonstiger Stelle zu veröffentlichen oder Dritten zugänglich zu machen, die weitergehende Angaben enthält als die derzeit verfügbare, im September 2007 auf der Internetseite ihrer Generaldirektion Wettbewerb veröffentlichte nichtvertrauliche Fassung (abrufbar unter http://ec.europa.eu/competition/antitrust/cases/dec_docs/38620/38620_380_4.pdf);

–        die Entscheidung über die Verfahrenskosten der Hauptsache vorzubehalten.

12      Mit Beschluss vom 8. August 2012 hat der Präsident des Gerichts sowohl dem Antrag auf Aussetzung des Vollzugs als auch dem Antrag auf einstweilige Anordnung gemäß Art. 105 § 2 der Verfahrensordnung stattgegeben.

13      In ihrer Stellungnahme zum Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz, die am 26. September 2012 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, beantragt die Kommission,

–        die Anträge insgesamt zurückzuweisen;

–        der Antragstellerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

 Gründe

14      Nach Art. 278 AEUV und Art. 279 AEUV in Verbindung mit Art. 256 Abs. 1 AEUV kann der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter, wenn er dies den Umständen nach für nötig hält, die Durchführung der vor dem Gericht angefochtenen Handlung aussetzen oder die erforderlichen einstweiligen Anordnungen treffen.

15      Gemäß Art. 104 § 2 der Verfahrensordnung müssen Anträge auf vorläufigen Rechtsschutz den Streitgegenstand bezeichnen und die Umstände anführen, aus denen sich die Dringlichkeit ergibt; ferner ist die Notwendigkeit der beantragten Anordnung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft zu machen. Der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter kann somit die Aussetzung des Vollzugs anordnen und einstweilige Anordnungen treffen, wenn glaubhaft gemacht ist, dass diese Anordnungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht notwendig (Fumus boni iuris) und dringlich in dem Sinne sind, dass es zur Verhinderung eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens für die Interessen des Antragstellers erforderlich ist, sie bereits vor der Entscheidung zur Hauptsache zu erlassen und wirksam werden zu lassen. Der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter nimmt gegebenenfalls auch eine Abwägung der bestehenden Interessen vor (Beschluss des Präsidenten des Gerichts vom 13. April 2011, Westfälische Drahtindustrie u. a./Kommission, T‑393/10 R, Slg. 2011, II‑1697, Randnr. 12 und die dort angeführte Rechtsprechung).

16      Im Übrigen verfügt der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter im Rahmen dieser Gesamtprüfung über ein weites Ermessen; er kann im Einzelfall die Art und Weise, in der diese verschiedenen Voraussetzungen zu prüfen sind, sowie die Reihenfolge dieser Prüfung frei bestimmen, da keine Vorschrift des Unionsrechts ihm ein feststehendes Prüfungsschema für die Beurteilung der Erforderlichkeit einer vorläufigen Entscheidung vorschreibt (Beschluss Westfälische Drahtindustrie u. a./Kommission, Randnr. 13 und die dort angeführte Rechtsprechung).

17      Die schriftlichen Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten enthalten alle für die Entscheidung über den Eilantrag erforderlichen Informationen. Es besteht somit kein Anlass zu einer mündlichen Anhörung.

18      Wegen der besonderen Umstände des vorliegenden Falles sind zunächst die widerstreitenden Interessen gegeneinander abzuwägen und die beantragten Eilmaßnahmen auf ihre Dringlichkeit hin zu prüfen.

 Zur Interessenabwägung und zur Dringlichkeit

19      Nach ständiger Rechtsprechung müssen im Verfahren der einstweiligen Anordnung die Risiken jeder der möglichen Lösungen gegeneinander abgewogen werden. Konkret bedeutet dies, dass insbesondere zu prüfen ist, ob das Interesse des Antragstellers an einer Aussetzung des Vollzugs des angefochtenen Rechtsakts schwerer wiegt als das Interesse an einem sofortigen Vollzug dieses Aktes. Dabei ist zu berücksichtigen, ob die Nichtigerklärung des angefochtenen Rechtsakts im Verfahren zur Hauptsache die Umkehrung der Lage erlauben würde, die durch den sofortigen Vollzug dieses Aktes entstünde, und inwieweit umgekehrt die Aussetzung des Vollzugs die Erreichung der mit dem angefochtenen Akt verfolgten Ziele behindern würde, falls die Klage abgewiesen würde (vgl. Beschluss des Präsidenten des Gerichts vom 18. März 2011, Westfälisch-Lippischer Sparkassen- und Giroverband/Kommission, T‑457/09 R, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).

20      Was speziell die erforderliche Umkehrbarkeit der durch eine einstweilige Anordnung geschaffenen Rechtslage betrifft, so ist zu berücksichtigen, dass der Zweck des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes allein darin besteht, die volle Wirksamkeit der künftigen Entscheidung zur Hauptsache zu gewährleisten (Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 27. September 2004, Kommission/Akzo und Acros, C‑7/04 P[R], Slg. 2004, I‑8739, Randnr. 36). Dieses Verfahren steht somit in einem akzessorischen Verhältnis zum Verfahren zur Hauptsache (Beschluss des Präsidenten des Gerichts vom 12. Februar 1996, Lehrfreund/Rat und Kommission, T‑228/95 R, Slg. 1996, II‑111, Randnr. 61), mit der Folge, dass die beantragte einstweilige Anordnung vorläufiger Natur sein muss und die Entscheidung zur Hauptsache weder vorwegnehmen noch ihr die praktische Wirksamkeit nehmen und sie dadurch sinnlos machen darf (Beschlüsse des Präsidenten des Gerichtshofs vom 17. Mai 1991, CIRFS u. a./Kommission, C‑313/90 R, Slg. 1991, I‑2557, Randnr. 24, und des Präsidenten des Gerichts vom 12. Dezember 1995, Connolly/Kommission, T‑203/95 R, Slg. 1995, II‑2919, Randnr. 16).

21      Daraus ergibt sich notwendig, dass das Interesse eines Verfahrensbeteiligten nicht schutzwürdig ist, soweit es darauf gerichtet ist, eine einstweilige Anordnung zu erwirken, die nicht nur vorläufiger Natur wäre, sondern die Entscheidung zur Hauptsache vorwegnehmen und ihr die praktische Wirksamkeit nehmen würde. Aus ebendiesem Grund wurde übrigens der auf „vorläufige“ Offenlegung angeblich vertraulicher Angaben der Kommission gerichtete Eilantrag eines Unternehmens als unzulässig zurückgewiesen, da eine dahin gehende einstweilige Anordnung die Entscheidung zur Hauptsache vorweggenommen hätte (Beschluss des Präsidenten des Gerichts vom 23. Januar 2012, Henkel und Henkel France/Kommission, T‑607/11 R, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 23 bis 25).

22      Im vorliegenden Fall wird das Gericht im Verfahren zur Hauptsache zu entscheiden haben, ob der angefochtene Beschluss – durch den die Kommission das Begehren der Antragstellerin zurückgewiesen hat, die Veröffentlichung der streitigen Angaben zu unterlassen – insbesondere wegen Verletzung des Berufsgeheimnisses der Antragstellerin nach Art. 339 AEUV und Art. 8 EMRK sowie wegen Verkennung der Vertraulichkeit der zu veröffentlichenden Angaben für nichtig zu erklären ist. Die praktische Wirksamkeit eines diesen Beschluss für nichtig erklärenden Urteils besteht für die Antragstellerin darin, die Kommission am Vollzug einer (rechtswidrigen) Veröffentlichung der streitigen Angaben zu hindern. Diese praktische Wirksamkeit eines künftigen Nichtigkeitsurteils wäre offensichtlich hinfällig, wenn der vorliegende Eilantrag zurückgewiesen und der Kommission folglich gestattet würde, die betreffenden Angaben bereits jetzt zu veröffentlichen. Eine Zurückweisung des Eilantrags würde somit de facto die Entscheidung zur Hauptsache im Sinne einer Klageabweisung vorwegnehmen.

23      Diesen Erwägungen steht nicht entgegen, dass der Antragstellerin auch nach einer erfolgten Veröffentlichung der streitigen Angaben voraussichtlich ein Rechtsschutzinteresse in Bezug auf die Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses im Verfahren zur Hauptsache zuerkannt würde. Der Grund hierfür liegt nämlich vor allem darin, dass die Kommission andernfalls durch die Schaffung vollendeter Tatsachen die Nichtigkeitsklage unzulässig machen und sich so der gerichtlichen Kontrolle entziehen könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 12. Oktober 2007, Pergan Hilfsstoffe für industrielle Prozesse/Kommission, T‑474/04, Slg. 2007, II‑4225, Randnrn. 39 bis 41, im Folgenden: Pergan). Dieses formal fortbestehende Rechtsschutzinteresse im Verfahren zur Hauptsache ändert jedenfalls nichts daran, dass ein Nichtigkeitsurteil nach erfolgter Veröffentlichung für die Antragstellerin keine praktische Wirksamkeit mehr hätte.

24      Das Interesse der Kommission an einer Abweisung des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz muss deshalb hinter dem Interesse der Antragstellerin zurücktreten, zumal der Erlass der beantragten Eilmaßnahmen lediglich auf eine Aufrechterhaltung des langjährigen Status quo für einen begrenzten Zeitraum hinausliefe (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 11. Mai 1989, RTE u. a./Kommission, 76/89 R, 77/89 R und 91/89 R, Slg. 1989, S. 1141, Randnr. 15; vgl. ebenfalls Beschluss des Präsidenten des Gerichts vom 16. November 2012, Akzo Nobel u. a./Kommission, T‑345/12 R, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 29).

25      Der Schutz des von der Antragstellerin verfolgten Interesses erscheint dringlich, wenn ihr bei Zurückweisung ihres Eilantrags ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden entstehen könnte. Insoweit trägt die Antragstellerin vor, die geplante erweiterte Fassung enthalte Angaben, die sie der Kommission als Kronzeugin geliefert habe. Diese fielen ihrem Wesen nach unter das Berufsgeheimnis gemäß Art. 339 AEUV; ihre Vertraulichkeit sei durch Art. 8 EMRK und Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. 2010, C 83, S. 389, im Folgenden: Grundrechtecharta) geschützt. Bei der Offenlegung vertraulicher Angaben gehe deren „Vertraulichkeitswert“ unwiederbringlich verloren, was somit definitionsgemäß zu einem ernsthaften Nachteil für den Betroffenen führe. Ein der Klage stattgebendes Nichtigkeitsurteil könnte die Veröffentlichung der erweiterten Fassung nicht mehr rückgängig machen und wäre damit für die Antragstellerin wirkungslos.

26      Dazu ist festzustellen, dass die Antragstellerin – falls sich im Verfahren zur Hauptsache herausstellen sollte, dass die von der Kommission geplante Veröffentlichung Angaben vertraulicher Natur enthält, deren Preisgabe gegen Art. 339 AEUV verstößt – einen grundrechtlich untermauerten Anspruch auf Unterlassung dieser Veröffentlichung hätte.

27      Wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 14. Februar 2008, Varec (C‑450/06, Slg. 2008, I‑581, Randnrn. 47 und 48) unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nämlich anerkannt hat, kann es zur Wahrung des Grundrechts eines Unternehmens auf Achtung des Privatlebens gemäß Art. 8 EMRK und Art. 7 Grundrechtecharta in der Tat erforderlich sein, bestimmte Informationen wegen ihrer Vertraulichkeit vor Veröffentlichung zu schützen, wobei der Begriff „Privatleben“ nicht dahin ausgelegt werden darf, dass die geschäftliche Tätigkeit einer juristischen Person hiervon ausgeschlossen wäre. Der Gerichtshof hat im Übrigen entschieden, dass dem betreffenden Unternehmen ein „außerordentlich schwerer Schaden“ entstehen könnte, wenn bestimmte Informationen zu Unrecht offengelegt würden (vgl. in diesem Sinne Urteil Varec, Randnr. 54).

28      Da die Kommission bei Zurückweisung des vorliegenden Eilantrags die streitige Veröffentlichung unverzüglich vornehmen könnte, wäre hinsichtlich der in Rede stehenden Angaben eine völlige Aushöhlung des Grundrechts der Antragstellerin auf Schutz ihres Berufsgeheimnisses gemäß Art. 339 AEUV, Art. 8 EMRK und Art. 7 Grundrechtecharta zu erwarten. Außerdem wäre das in Art. 6 EMRK und Art. 47 Grundrechtecharta verbürgte Grundrecht der Antragstellerin auf einen wirksamen Rechtsbehelf unwiederbringlich beeinträchtigt, wenn die Kommission diese Angaben vor einer Entscheidung zur Hauptsache veröffentlichen dürfte. Die Antragstellerin würde somit einen schweren und irreparablen Schaden in ihrer Grundrechtsposition erleiden. Vorbehaltlich der Prüfung eines etwaigen Fumus boni iuris (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Präsidenten des Gerichts vom 8 April 2008, Zypern/Kommission, T‑54/08 R, T‑87/08 R, T‑88/08 R und T‑91/08 R bis T‑93/08 R, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 56 und 57) erscheint daher der Erlass der beantragten einstweiligen Anordnungen dringend geboten (vgl. ebenfalls Beschluss Akzo Nobel u. a./Kommission, Randnrn. 31 bis 33).

 Zum Fumus boni iuris

29      Nach der Rechtsprechung ist ein Fumus boni iuris gegeben, wenn das Vorbringen des Antragstellers zumindest hinsichtlich eines einzigen Klagegrundes auf den ersten Blick erheblich und jedenfalls nicht ohne Grundlage erscheint. Hierfür reicht es aus, dass dieses Vorbringen komplexe und heikle Fragen aufwirft, die prima facie nicht für irrelevant erklärt werden können, sondern einer eingehenden Prüfung bedürfen, welche dem für die Entscheidung zur Hauptsache zuständigen Spruchkörper vorbehalten ist, bzw. dass im Verfahren zur Hauptsache ausweislich des Vorbringens der Verfahrensbeteiligten eine bedeutsame rechtliche Kontroverse besteht, deren Lösung sich nicht ohne weiteres aufdrängt (vgl. in diesem Sinne Beschluss Westfälische Drahtindustrie u. a./Kommission, Randnr. 54, sowie Beschluss des Präsidenten des Gerichts vom 19. September 2012, Griechenland/Kommission, T‑52/12 R, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 13 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30      Im vorliegenden Fall macht die Antragstellerin geltend, sie berufe sich auf die Vertraulichkeit aller Angaben, die die Kommission in der geplanten erweiterten Fassung erstmals veröffentlichen wolle. Diese Angaben stammten aus den Unternehmenserklärungen, die die Antragstellerin als Kronzeugin im Rahmen ihrer freiwilligen Zusammenarbeit mit der Kommission in einem Verfahrens nach der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Art. [101] und [102] [AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. L 1, S. 1) unter Inanspruchnahme der Kronzeugenmitteilung (Randnrn. 29 und 32) und im Vertrauen auf die ständige Praxis der Kommission, die Vertraulichkeit von Kronzeugen-Informationen zu schützen, abgegeben habe. Solche freiwillig übermittelten Angaben seien unabhängig von ihrem Inhalt wegen ihrer Herkunft als vertrauliche Informationen durch Art. 8 EMRK und Art. 7 Grundrechtecharta geschützt. Dies habe die Kommission selbst bekräftigt (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 28. Juni 2012, Kommission/Éditions Odile Jacob, C‑404/10 P, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 76, im Folgenden: Odile Jacob).

31      Nach Ansicht der Antragstellerin fallen die von Kronzeugen gelieferten Informationen ihrem Wesen nach auch unter das Berufsgeheimnis gemäß Art. 339 AEUV und Art. 4 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission (ABl. L 145, S. 43, im Folgenden: Transparenzverordnung). Dies habe die Kommission selbst anerkannt, als sie im September 2007 eine nichtvertrauliche Fassung der Entscheidung von 2006 ohne diese Informationen veröffentlicht und die damals vorgebrachten Schwärzungsanträge der Antragstellerin akzeptiert habe. Die geplante erweiterte Fassung verletze das berechtigte Vertrauen der Antragstellerin sowie den Grundsatz der Rechtssicherheit und beeinträchtige ihre geschäftlichen Interessen.

32      Zudem habe die Kommission das Urteil des Gerichts vom 30. Mai 2006, Bank Austria Creditanstalt/Kommission (T‑198/03, Slg. 2006, II‑1429, Randnr. 78, im Folgenden: Bank Austria), missverstanden, als sie den angeblichen Interessen der Öffentlichkeit und letztlich den Interessen der Kläger in anhängigen Schadensersatzprozessen einseitig den Vorzug vor dem Vertraulichkeitsinteresse der Antragstellerin gegeben habe. Tatsächlich betreffe dieses Urteil eine ganz andere, hier nicht relevante Situation, nämlich die Klage eines Unternehmens, das nicht mit der Kommission kooperiert habe und trotzdem die Veröffentlichung von Einzelheiten der festgestellten Zuwiderhandlung habe verhindern wollen, während sich im vorliegenden Fall ein „geständiger“ Kronzeuge gegen die Veröffentlichung von ihm freiwillig übermittelter Informationen wehre. Auf jeden Fall habe sich der Gerichtshof in dem Urteil vom 29. Juni 2010, Kommission/Technische Glaswerke Ilmenau (C‑139/07 P, Slg. 2010, I‑5885, im Folgenden: TGI), und in dem Urteil Odile Jacob (Randnrn. 144 bis 146) für die Schutzwürdigkeit der von Kronzeugen gelieferten Informationen ausgesprochen und insbesondere entschieden, dass das Interesse von Schadensersatzklägern am Zugang zu derartigen Informationen ein rein privates Interesse darstelle.

33      Die Kommission entgegnet, sie habe bereits in ihrem Schreiben vom 28. November 2011 (siehe oben, Randnr. 5) entschieden, dass die geplante erweiterte Fassung im Interesse der Transparenz zu veröffentlichen sei. Hätte die Antragstellerin die Rechtswidrigkeit dieser Entscheidung geltend machen wollen, so hätte sie innerhalb der Frist des Art. 263 Abs. 6 AEUV Klage erheben müssen. Dies habe sie jedoch unterlassen.

34      Im Übrigen genüge der Vortrag der Antragstellerin nicht, die Notwendigkeit der beantragten Eilmaßnahmen glaubhaft zu machen. Die von der Antragstellerin behaupteten schwierigen Rechtsfragen zum Verhältnis zwischen der Kronzeugenmitteilung, der Transparenzverordnung und der Verordnung Nr. 1/2003 bestünden nicht. Vielmehr sei die Rechtslage eindeutig. Die Regeln zur Veröffentlichung abschließender Kartellentscheidungen seien seit geraumer Zeit in der Gesetzgebung (Art. 30 der Verordnung Nr. 1/2003) verankert und in der Rechtsprechung, vor allem in den Urteilen Bank Austria und Pergan, geklärt. Danach sei die Kommission zur Veröffentlichung der Gesamtheit einer abschließenden Kartellentscheidung mit Ausnahme vertraulicher Informationen berechtigt.

35      Aus der jüngeren Rechtsprechung folge, dass die Beschränkungen des Akteneinsichtsrechts nach der Verordnung Nr. 1/2003 als lex specialis bei der Auslegung der Transparenzverordnung zu berücksichtigen seien (Urteil Odile Jacob, Randnrn. 122 ff). Daraus lasse sich aber nicht herleiten, dass umgekehrt die Transparenzverordnung bei der Auslegung der Verordnung Nr. 1/2003 dergestalt zu berücksichtigen wäre, dass sie zusätzliche Anforderungen an die Veröffentlichung von Informationen stellte. Eine Anwendung der Transparenzverordnung wäre auch deshalb zweckfremd, weil Art. 30 der Verordnung Nr. 1/2003 das (überwiegende) öffentliche Interesse an der Veröffentlichung des gesamten nichtvertraulichen Inhalts einer Kartellentscheidung der Kommission begründe (Urteil Bank Austria, Randnr. 78).

36      Genau aus diesem Grund sei die zur Transparenzverordnung ergangene Rechtsprechung (Urteile TGI und Odile Jacob sowie Urteil des Gerichts vom 15. Dezember 2011, CDC Hydrogene Peroxide/Kommission, T‑437/08, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, im Folgenden: CDC) vorliegend nicht anwendbar. Wo die spezialgesetzlichen Wettbewerbsregeln vorsähen, dass Informationen offengelegt werden könnten, stehe dieser Veröffentlichung die Transparenzverordnung nicht entgegen. Der angefochtene Beschluss stütze sich daher zu Recht auf das Urteil Bank Austria, dem zufolge für Kronzeugen-Informationen kein weiterreichender Schutz gelte als für sonstige der Kommission im Kartellverfahren übermittelte Informationen.

37      Die Behauptung, im Rahmen eines Kronzeugenantrags freiwillig übermittelte Informationen seien unabhängig von ihrem Inhalt als vertraulich anzusehen, finde weder in der Kronzeugenmitteilung noch in der ständigen Praxis der Kommission eine Stütze. Die in Randnr. 29 der Kronzeugenmitteilung genannten berechtigten Erwartungen bezögen sich nur auf die Zusage, unter gewissen Voraussetzungen von der Verhängung einer Geldbuße ganz oder teilweise abzusehen, während Randnr. 32 den Schutz übermittelter Unterlagen vor Offenlegung nur „im Allgemeinen“ in Aussicht stelle, falls dies „dem Schutz des Zwecks von Inspektions- und Untersuchungstätigkeiten im Sinne von Artikel 4 Abs. 2 der [Transparenzverordnung]“ diene; ein Schutz im privaten Interesse der Antragstellerin sei dagegen nicht vorgesehen. Randnr. 33 lasse im Übrigen keinen Zweifel daran zu, dass die übermittelten Informationen zum Zweck der Ermittlung und Sanktionierung des fraglichen Wettbewerbsverstoßes verwendet würden; die Durchsetzung des Kartellrechts im Wege von Schadensersatzklagen sei Teil dieses Verwendungszwecks.

38      Der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter stellt zunächst fest, dass die Kommission mit dem Hinweis auf die angebliche Entscheidungsqualität ihres Schreibens vom 28. November 2011 im Rahmen des Fumus boni iuris entweder die Unzulässigkeit der dem Eilantrag zugrunde liegenden Nichtigkeitsklage geltend macht (insoweit als der angefochtene Beschluss die bestandskräftig gewordene Entscheidung vom 28. November 2011 lediglich bestätige) oder aber der Antragstellerin die Befugnis abspricht, sich im vorliegenden Zusammenhang (angeblich verspätet) auf die Vertraulichkeit der von ihr als Kronzeugin übermittelten Informationen zu berufen. Auf jeden Fall ist das Vorbringen der Kommission prima facie zurückzuweisen. In ihrem Schreiben vom 15. März 2012 (siehe oben, Randnr. 6) hat sie sich nämlich nicht auf die Bestandskraft einer den Vertraulichkeitsantrag ablehnenden Entscheidung vom 28. November 2011 berufen, sondern die Antragstellerin im Gegenteil für den Fall, dass sie ihren Antrag weiter verfolgen wolle, auf den Anhörungsbeauftragten verwiesen. Außerdem hat die Kommission mit E-Mail vom 1. Juni 2012 (siehe oben, Randnr. 9) ausdrücklich bekräftigt, dass der angefochtene Beschluss „die einzige Entscheidung“ über den Antrag auf vertrauliche Behandlung sei und ihre „endgültige Auffassung“ dazu darstelle.

39      Einer vollständigen Prüfung des Fumus boni iuris der von der Antragstellerin erhobenen Nichtigkeitsklage steht daher nichts im Weg.

40      Wie im Rahmen der Interessenabwägung bereits dargelegt, wird die Entscheidung zur Hauptsache im Wesentlichen davon abhängen, ob der angefochtene Beschluss das Berufsgeheimnis der Antragstellerin nach Art. 339 AEUV, Art. 8 EMRK und Art. 7 Grundrechtecharta deshalb verletzt, weil die von der Kommission geplante Veröffentlichung Angaben enthält, die ihr von der Antragstellerin auf der Grundlage der Kronzeugenmitteilung übermittelt wurden und die somit wegen ihrer Herkunft als ihrem Wesen nach vertrauliche Informationen vor Veröffentlichung zu schützen sind.

41      Diese Frage lässt sich entgegen der Auffassung der Kommission keineswegs anhand der jüngeren Rechtsprechung leicht und eindeutig beantworten, sondern bedarf einer eingehenden Prüfung im Rahmen des Verfahrens zur Hauptsache, zumal die Kronzeugenproblematik weder in der Verordnung Nr. 1/2003 noch in der Transparenzverordnung ausdrücklich geregelt ist.

42      Keines der von den Verfahrensbeteiligten vorrangig erörterten Urteile in den Rechtssachen Bank Austria, Pergan, Odile Jacob und TGI ist nämlich zur Kronzeugenproblematik ergangen. Soweit das Gericht mit Urteil vom 22. Mai 2012, EnBW Energie Baden-Württemberg/Kommission (T‑344/08, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 8 und 148, im Folgenden: EnBW), entschieden hat, den durch ein Kartell geschädigten Personen könne nach der Transparenzverordnung der Zugang zu Kronzeugendokumenten nicht verweigert werden, weil das Interesse eines Kronzeugen an der Vermeidung von Schadensersatzklagen nicht schutzwürdig sei, genügt die Feststellung, dass dieses Urteil noch nicht rechtskräftig ist, da die Kommission Rechtsmittel zum Gerichtshof eingelegt hat (Rechtssache C‑365/12 P).

43      Im Übrigen hat sich der Gerichtshof in seinem Urteil vom 14. Juni 2011, Pfleiderer (C‑360/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 30), zur Frage des generellen Zugangs eines Kartellgeschädigten zu Kronzeugendokumenten im Besitz nationaler Kartellbehörden auf den Hinweis beschränkt, das nationale Gericht habe zwischen den Interessen, die die Übermittlung der vom Kronzeugen freiwillig vorgelegten Informationen rechtfertigten, und dem Schutz dieser Informationen abzuwägen, während Generalanwalt Mazák in seinen hierzu ergangenen Schlussanträgen vom 16. Dezember 2010 die Einsicht in freiwillige, von Kronzeugenantragstellern abgegebene Erklärungen, mit denen diese sich selbst belasten, grundsätzlich abgelehnt hat.

44      Die im Verfahren zur Hauptsache zu entscheidende Rechtsfrage ist somit höchstrichterlich noch nicht geklärt. Sie muss durch Auslegung aller einschlägigen Vorschriften, einschließlich der Kronzeugenmitteilung, beantwortet werden. Entgegen der Ansicht der Kommission dürfte hierbei auch die zur Transparenzverordnung ergangene Rechtsprechung eine Rolle spielen, zumal die Kommission in Randnr. 32 der Kronzeugenmitteilung und in ihrem Schreiben vom 28. November 2011 (siehe oben, Randnr. 5) selbst auf diese Verordnung verweist. Zumindest wird im Verfahren zur Hauptsache zu ermitteln sein, ob die Rechtsprechung zur Verordnung Nr. 1/2003 einerseits und zur Transparenzverordnung andererseits in Bezug auf die Kronzeugenproblematik möglicherweise Wertungswidersprüche erkennen lässt und, wenn ja, wie diese bereinigt werden könnten.

45      Im Verfahren zur Hauptsache wird auch die Stichhaltigkeit des Vorbringens der Kommission zu prüfen sein, das Geheimhaltungsinteresse der Antragstellerin sei deshalb nicht schutzwürdig, weil sie sich durch ihre Auskunftserteilung als Kronzeugin eine Geldbuße in Höhe von rund 130 Millionen Euro erspart habe, wie übrigens das Kronzeugenprogramm der Kommission mit dem in Aussicht gestellten Bußgelderlass generell einen hinreichenden Anreiz enthalte, so dass keine Notwendigkeit bestehe, Kronzeugen darüber hinaus zu privilegieren. Dieses Vorbringen verkennt möglicherweise, dass ein Kronzeuge das Risiko eingeht, trotz seines Geständnisses und der Übermittlung ihn selbst belastender Angaben keine (nennenswerte) Reduzierung seiner Geldbuße zu erlangen, wenn andere Kartellunternehmen ihm bei der Kommission als Informanten zuvorgekommen sind.

46      In diesem Zusammenhang wird gegebenenfalls das Urteil des Gerichtshofs vom 16. Juli 1992, Asociación Española de Banca Privada e. a. (C‑67/91, Slg. I‑4785, Randnrn. 52 und 53), zu berücksichtigen sein, dem zufolge die in der Freistellung von Geldbußen bestehende Vergünstigung für ein Unternehmen, das seine Mitwirkung an einem Kartell bei der Kommission angemeldet hat, den Ausgleich für das Risiko darstellt, das das Unternehmen dadurch eingeht, dass es selbst das Kartell anzeigt, indem es nämlich damit rechnen muss, dass die beantragte Freistellung abgelehnt und ihm für seine vor der Anmeldung vorgenommenen Handlungen eine Geldbuße auferlegt wird. Nach Auffassung des Gerichtshofs würde die dem betreffenden Unternehmen eingeräumte Vergünstigung erheblich geschmälert, wenn die in einer solchen Anmeldung enthaltenen Informationen von den Mitgliedstaaten als Beweise zur Begründung nationaler Sanktionen verwertet werden könnten. Der Gerichtshof hat daraus ein entsprechendes Verwertungsverbot hergeleitet.

47      Soweit die Kommission geltend macht, die streitgegenständlichen Informationen seien ausnahmslos älter als zehn Jahre, so dass sie auf jeden Fall ihre Vertraulichkeit eingebüßt hätten, kann sie sich in der Tat auf die Rechtsprechung zur vertraulichen Behandlung der einem Streithelfer in einem Gerichtsverfahren zu übermittelnden Schriftstücke gemäß Art. 116 § 2 der Verfahrensordnung berufen. Danach können unternehmensbezogene Angaben, die geheim und vertraulich waren, aber mindestens fünf Jahre alt sind, in der Regel nicht mehr als aktuell angesehen werden (vgl. Beschluss des Präsidenten der 4. Kammer des Gerichts vom 22 Februar 2005, Hynix Semiconductor/Rat, T‑383/03, Slg. 2005, II‑621, Randnr. 60), da sie ihren geschäftlichen Wert verloren haben. Im Verfahren zur Hauptsache wird jedoch zu prüfen sein, ob diese Erwägung, die namentlich auf in einer wirtschaftlichen Konkurrenzsituation befindliche Verfahrensbeteiligte abzustellen scheint, auch dem vorliegenden Fall gerecht wird, in dem es um die Veröffentlichung detaillierter Angaben zu einem Kartellverstoß geht, die unabhängig von ihrem Alter für Kartellgeschädigte bedeutsam sein können, da sie möglicherweise geeignet sind, ihnen in Schadensersatzprozessen gegen die Antragstellerin die Substantiierung der Schadenshöhe und der Kausalität zu erleichtern.

48      Im Verfahren zur Hauptsache dürfte auch die Frage eine wichtige Rolle spielen, ob die Antragstellerin im Dezember 2002, als sie der Kommission die in Rede stehenden Angaben im Rahmen der Kronzeugenmitteilung übermittelte, darauf vertrauen konnte, dass diese Angaben als ihrem Wesen nach vertrauliche Informationen einen dauerhaften Schutz vor Veröffentlichung genießen würden. In diesem Zusammenhang darf prima facie davon ausgegangen werden, dass die von der Kommission seinerzeit zur Kronzeugenproblematik vertretene Auffassung im Kern derjenigen entsprach, die sie in der Rechtssache CDC (vorgenanntes Urteil, Randnr. 31), übrigens mit Unterstützung der Antragstellerin, wie folgt vorgetragen hat: Das Risiko der Erhebung von Schadensersatzklagen sei ein ernsthafter Nachteil, der Kartellunternehmen in Zukunft dazu veranlassen könne, nicht mehr mit ihr zusammenzuarbeiten, weshalb es nicht angehen könne, dass der Schutz des Berufsgeheimnisses von Unternehmen, die mit ihr im Rahmen eines Kartellverfahrens kooperierten, durch einen allein auf privatrechtliche Interessen gestützten Antrag auf Zugang zu Dokumenten beeinträchtigt werde. Diese Rechtsauffassung hat die Kommission in der Rechtssache EnBW (vorgenanntes Urteil, Randnr. 70) auf Verfahren zur Durchführung der Verordnung Nr. 1/2003 in dem Sinne erstreckt, dass Kartellanten, die ihr freiwillig Informationen preisgäben, mit Recht darauf vertrauen dürften, dass sie die betreffenden Unterlagen nicht verbreite und dass diese nur für die Zwecke des wettbewerbsrechtlichen Verfahrens einschließlich der Überprüfung durch den Unionsrichter verwendet würden. Im Übrigen ist gerichtsbekannt, dass die Kommission noch im letzten Jahr entsprechenden Übermittlungswünschen von Gerichten aus Mitglied- und aus Drittstaaten mit ähnlicher Begründung entgegengetreten ist.

49      Der für die Hauptsache zuständige Spruchkörper wird zu prüfen haben, ob die Antragstellerin im Dezember 2002 davon ausgehen durfte, dass diese von der Kommission sehr nachdrücklich vertretene Rechtsauffassung zum Schutz von Kronzeugen-Informationen auch die Handhabung von Randnr. 32 der Kronzeugenmitteilung beeinflussen werde. Nach dieser Bestimmung schützt die Kommission „Unterlagen, die [sie] auf der Grundlage dieser Mitteilung erhalten hat“ vor Offenlegung im Rahmen der Transparenzverordnung. Es könnte unter dem Aspekt des grundrechtlich geschützten Berufsgeheimnisses in Verbindung mit Vertrauensschutzgesichtspunkten formalistisch erscheinen, diesen Schutz auf den Zugang zu „Unterlagen“ nach der Transparenzverordnung zu beschränken, obwohl der Schutzzweck in gleicher Weise die uneingeschränkte (wettbewerbsrechtliche) Veröffentlichung von Angaben und Textpassagen erfassen dürfte, die aus derartigen Unterlagen herrühren. Schließlich wird in diesem Zusammenhang zu prüfen sein, inwieweit die von der Kommission vorliegend geäußerte These, die Durchsetzung des Kartellrechts im Wege von Schadensersatzklagen gehöre zur Sanktionierung von Wettbewerbsverstößen im Sinne von Randnr. 33 der Kronzeugenmitteilung, mit der Auffassung vereinbar ist, die sie in den Rechtssachen CDC und EnBW vertreten hat.

50      Nach alledem ist festzustellen, dass der vorliegende Fall komplexe Rechtsfragen aufwirft, die prima facie nicht für irrelevant erklärt werden können, sondern einer eingehenden Prüfung bedürfen, welche im Verfahren zur Hauptsache vorzunehmen ist. Es ist daher ein Fumus boni iuris gegeben (vgl. ebenfalls Beschluss Akzo Nobel u. a./Kommission, Randnrn. 44 bis 56).

51      Da sämtliche Voraussetzungen für den Erlass der begehrten Eilmaßnahmen erfüllt sind, ist antragsgemäß zu entscheiden.

Aus diesen Gründen hat

DER PRÄSIDENT DES GERICHTS

beschlossen:

1)      Der Vollzug des Beschlusses der Kommission vom 24. Mai 2012 C (2012) 3534 final über die Ablehnung eines Antrags der Evonik Degussa GmbH auf vertrauliche Behandlung nach Art. 8 des Beschlusses 2011/695/EU des Präsidenten der Europäischen Kommission vom 13. Oktober 2011 über Funktion und Mandat des Anhörungsbeauftragten in bestimmten Wettbewerbsverfahren (Sache Nr. COMP/F/38.620 – Wasserstoffperoxid und Perborat) wird ausgesetzt.

2)      Der Kommission wird bis auf Weiteres untersagt, eine Fassung des vollständigen Wortlauts ihrer Entscheidung 2006/903/EG vom 3. Mai 2006 in einem Verfahren nach Art. 81 EG-Vertrag und Art. 53 EWR-Abkommen gegen Akzo Nobel NV, Akzo Nobel Chemicals Holding AB, Eka Chemicals AB, Degussa AG, Edison SpA, FMC Corporation, FMC Foret S.A., Kemira OYJ, L’Air Liquide SA, Chemoxal SA, Snia SpA, Caffaro Srl, Solvay SA/NV, Solvay Solexis SpA, Total SA, Elf Aquitaine SA und Arkema SA (Sache Nr. COMP/F/C.38.620 – Wasserstoffperoxid und Perborat) auf ihren Internetseiten oder an sonstiger Stelle zu veröffentlichen oder Dritten zugänglich zu machen, die in Bezug auf die Antragstellerin weitergehende Angaben enthält als die derzeit verfügbare, im September 2007 auf der Internetseite ihrer Generaldirektion Wettbewerb veröffentlichte und abrufbare Fassung der vorgenannten Entscheidung.

3)      Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.

Luxemburg, den 16. November 2012.

Der Kanzler

 

       Der Präsident

E. Coulon

 

       M. Jaeger


* Verfahrenssprache: Deutsch.