Language of document : ECLI:EU:C:2024:302

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ATHANASIOS RANTOS

vom 11. April 2024(1)

Rechtssache C792/22

Parchetul de pe lângă Judecătoria Rupea,

LV,

CRA,

LCM

Strafverfahren

gegen

MG,

Beteiligte:

SC Energotehnica SRL Sibiu

(Vorabentscheidungsersuchen der Curtea de Apel Braşov [Berufungsgericht Braşov (Kronstadt), Rumänien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Richtlinie 89/391/EWG – Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz – Grundsatz der Effektivität des Unionsrechts – Tod eines Arbeitnehmers bei einem Eingriff – Parallele Straf- und Verwaltungsverfahren vor den nationalen Gerichten – Rechtskräftiges Urteil des Verwaltungsgerichts, wonach dieser Eingriff keinen ‚Arbeitsunfall‘ darstellt – Nationale Regelung, die vorsieht, dass ein solches rechtskräftiges Urteil Rechtskraftwirkung vor dem Strafgericht hat – Möglichkeit für dieses Strafgericht, diesen Eingriff als ‚Arbeitsunfall‘ einzustufen und strafrechtliche und zivilrechtliche Sanktionen zu verhängen“






I.      Einleitung

1.        Nach dem Tod eines Elektrikers bei einem Eingriff an einer elektrischen Anlage wurde gegen die Gesellschaft, die das Opfer beschäftigte, ein Verwaltungsverfahren eingeleitet, und parallel dazu wurde ein Strafverfahren gegen den für diese Gesellschaft tätigen Elektriker und Vorarbeiter wegen Missachtung der gesetzlichen Vorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz sowie wegen fahrlässiger Tötung eingeleitet, dem sich die Familie des verstorbenen Elektrikers als Nebenkläger gegen diese Gesellschaft und den Vorarbeiter anschloss.

2.        Am Ende des Verwaltungsverfahrens entschied das Verwaltungsgericht mit rechtskräftigem Urteil, dass dieser Eingriff keinen „Arbeitsunfall“ dargestellt habe, mit der Folge, dass die gegen diese Gesellschaft verhängten Verwaltungssanktionen aufgehoben wurden. Außerdem sieht die nationale Regelung in ihrer Auslegung durch das Verfassungsgericht des betreffenden Mitgliedstaats vor, dass rechtskräftige Urteile anderer Gerichte als Strafgerichte über eine Vorfrage in einem Strafverfahren vor den Strafgerichten Rechtskraftwirkung haben. Die Einstufung dieses Eingriffs als „Arbeitsunfall“ stelle eine solche Vorfrage dar.

3.        Steht die Richtlinie 89/391/EWG(2), die die Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit bezweckt, einer solchen nationalen Regelung entgegen, die das angerufene Strafgericht daran hindert, zu prüfen, ob der besagte Eingriff als „Arbeitsunfall“ eingestuft werden kann, und damit strafrechtliche oder zivilrechtliche Sanktionen gegen den Vorarbeiter und den Arbeitgeber zu verhängen? Dies ist im Wesentlichen die Frage, die von der Curtea de Apel Braşov (Berufungsgericht Braşov [Kronstadt], Rumänien), dem Strafgericht im Ausgangsverfahren, gestellt worden ist.

4.        Die vorliegende Rechtssache, die eine neue Frage betrifft, gibt dem Gerichtshof die Gelegenheit, die Modalitäten des Zusammenspiels der nationalen Rechtsbehelfe zu präzisieren, damit im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie 89/391 die Wahrung des Grundsatzes der Effektivität des Unionsrechts für die Betroffenen und insbesondere der Schutz der Verteidigungsrechte gewährleistet werden.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

5.        Abschnitt I („Allgemeine Bestimmungen“) der Richtlinie 89/391 umfasst deren Art. 1 bis 4. Art. 1 („Ziel der Richtlinie“) dieser Richtlinie lautet:

„(1)      Ziel dieser Richtlinie ist die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz.

(2)      Sie enthält zu diesem Zweck allgemeine Grundsätze für die Verhütung berufsbedingter Gefahren, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz, die Ausschaltung von Risiko- und Unfallfaktoren, die Information, die Anhörung, die ausgewogene Beteiligung nach den nationalen Rechtsvorschriften bzw. Praktiken, die Unterweisung der Arbeitnehmer und ihrer Vertreter sowie allgemeine Regeln für die Durchführung dieser Grundsätze.

(3)      Diese Richtlinie berührt nicht bereits geltende oder künftige nationale und gemeinschaftliche Bestimmungen, die für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz günstiger sind.“

6.        Art. 4 dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Vorkehrungen, um zu gewährleisten, dass die Arbeitgeber, die Arbeitnehmer und die Arbeitnehmervertreter den für die Anwendung dieser Richtlinie erforderlichen Rechtsvorschriften unterliegen.

(2)      Die Mitgliedsta[a]ten tragen insbesondere für eine angemessene Kontrolle und Überwachung Sorge.“

7.        Art. 5 („Allgemeine Vorschrift“) in Abschnitt II („Pflichten des Arbeitgebers“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Der Arbeitgeber ist verpflichtet, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer in Bezug auf alle Aspekte, die die Arbeit betreffen, zu sorgen.

(3)      Die Pflichten der Arbeitnehmer in Fragen der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz berühren nicht den Grundsatz der Verantwortung des Arbeitgebers.

(4)      Diese Richtlinie steht nicht der Befugnis der Mitgliedstaaten entgegen, den Ausschluss oder die Einschränkung der Verantwortung des Arbeitgebers bei Vorkommnissen vorzusehen, die auf nicht von diesem zu vertretende anormale und unvorhersehbare Umstände oder auf außergewöhnliche Ereignisse zurückzuführen sind, deren Folgen trotz aller Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können.

Die Mitgliedstaaten sind nicht verpflichtet, von der in Unterabsatz 1 genannten Möglichkeit Gebrauch zu machen.“

B.      Rumänisches Recht

1.      Strafgesetzbuch

8.        Art. 192 („Fahrlässige Tötung“) der Legea nr. 286/2009, privind Codul penal (Gesetz Nr. 286/2009 über das Strafgesetzbuch) vom 17. Juli 2009(3) in seiner für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Fassung (im Folgenden: Strafgesetzbuch) bestimmt in seinem Abs. 2:

„Fahrlässige Tötung wegen Nichtbeachtung von Rechtsvorschriften oder Vorsichtsmaßnahmen, die für die Ausübung eines Berufs oder Handwerks oder für die Ausübung einer bestimmten Tätigkeit vorgesehen sind, wird mit Freiheitsstrafe von zwei bis sieben Jahren bestraft. Stellt der Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder Vorsichtsmaßnahmen als solcher eine Zuwiderhandlung dar, so gelten die Vorschriften über die Konkurrenz von Zuwiderhandlungen.“

9.        Art. 350 („Missachtung der gesetzlichen Vorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz“) des Strafgesetzbuchs sieht in den Abs. 1 und 3 vor:

„(1)      Die Nichtbeachtung der vorgesehenen Verpflichtungen und Maßnahmen im Bereich der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz durch eine Person wird, wenn dadurch eine unmittelbare Gefahr eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit entsteht, mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu drei Jahren oder mit Geldbuße bestraft.

(3)      Die in den Abs. 1 und 2 genannten Handlungen werden mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu einem Jahr oder mit Geldbuße bestraft, wenn sie fahrlässig begangen werden.“

2.      Strafprozessordnung

10.      Art. 52 („Vorfragen“) der Legea nr. 135/2010, privind Codul de procedură penală (Gesetz Nr. 135/2010 über die Strafprozessordnung) vom 1. Juli 2010(4) in seiner für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Fassung (im Folgenden: Strafprozessordnung) bestimmt:

„(1)      Das Strafgericht ist zuständig für alle in der Sache entscheidungserheblichen Vorfragen, auch wenn die Vorfrage ihrer Natur nach in die Zuständigkeit eines anderen Gerichts fällt, mit Ausnahme von Fällen, in denen keine gerichtliche Zuständigkeit besteht.

(2)      Die Vorfrage muss das Strafgericht anhand der einschlägigen Vorschriften und Beweismittel desjenigen Rechtsgebiets beurteilen, dem die Vorfrage zuzuordnen ist.

(3)      Die rechtskräftigen Urteile anderer rechtsprechender Organe als der Strafgerichte über eine Vorfrage in einem Strafverfahren binden das Strafgericht mit Ausnahme der die Strafbarkeit begründenden Umstände.“

3.      Gesetz Nr. 319/2006

11.      Die Legea nr. 319/2006 a securităţii şi sănătăţii în muncă (Gesetz Nr. 319/2006 zur Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz) vom 14. Juli 2006(5) (im Folgenden: Gesetz Nr. 319/2006) setzt die Richtlinie 89/391 in rumänisches Recht um. Art. 5 Buchst. g dieses Gesetzes lautet:

„Im Sinne dieses Gesetzes bedeutet

g)      Arbeitsunfall – Körperverletzung durch Gewalteinwirkung sowie eine akute berufliche Vergiftung, die bei der Arbeitsausführung oder Aufgabenerfüllung eintritt und eine vorübergehende Arbeitsunfähigkeit von mindestens drei Kalendertagen, die Invalidität oder den Tod zur Folge hat“.

12.      Art. 7 Abs. 4 Buchst. c dieses Gesetzes bestimmt:

„Unbeschadet der anderen Bestimmungen dieses Gesetzes hat der Arbeitgeber je nach Art der Tätigkeiten des Unternehmens bzw. Betriebs folgende Verpflichtungen:

c)      Berücksichtigung der Eignung der Arbeitnehmer in Bezug auf Sicherheit und Gesundheit bei Übertragung von Aufgaben an diese Arbeitnehmer“.

13.      Art. 20 Abs. 1 Buchst. b dieses Gesetzes sieht vor:

„Der Arbeitgeber muss dafür sorgen, dass jeder Arbeitnehmer eine ausreichende und angemessene Unterweisung über Sicherheit und Gesundheitsschutz, insbesondere in Form von Informationen und Anweisungen, die eigens auf seinen Arbeitsplatz oder seine Stelle ausgerichtet ist:

b)      bei einem Arbeitsplatzwechsel oder einer Versetzung erhält“.

14.      Art. 22 des Gesetzes Nr. 319/2006 bestimmt:

„Jeder Arbeitnehmer hat seine Arbeit entsprechend seiner Ausbildung und Vorbereitung sowie den Anweisungen seines Arbeitgebers auszuführen, so dass er weder sich selbst noch andere Personen, die von seinen Handlungen oder Unterlassungen im Rahmen seiner Arbeit betroffen sein könnten, der Gefahr eines Unfalls oder einer Berufskrankheit aussetzt.“

4.      Beschluss Nr. 1146/2006

15.      Anhang I der Hotărârea Guvernului nr. 1146/2006, privind cerințele minime de securitate și sănătate pentru utilizarea în muncă de către lucrători a echipamentelor de muncă (Regierungsbeschluss Nr. 1146/2006 zu den Mindestanforderungen an Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Verwendung von Arbeitsausrüstung durch Arbeitnehmer am Arbeitsplatz) vom 30. August 2006(6) (im Folgenden: Beschluss Nr. 1146/2006) lautet wie folgt:

„…

3.3.2.1.      Bei elektrischen Anlagen und Arbeitsmitteln wird der Schutz vor Stromschlägen durch direkte Kontakte durch technische Maßnahmen gewährleistet, die durch organisatorische Maßnahmen ergänzt werden.

3.3.2.3.      Der Schutz vor Stromschlag durch direkten Kontakt wird durch folgende organisatorische Maßnahmen gewährleistet:

a)      die Eingriffe an elektrischen Anlagen (Reparaturen, Instandsetzungen, Anschlüsse usw.) dürfen nur von qualifizierten, autorisierten und für die fraglichen Arbeiten ausgebildeten Elektrikern durchgeführt werden;

b)      die Eingriffe sind in einer der Arbeitsformen durchzuführen;

e)      für jeden Eingriff an elektrischen Anlagen sind Arbeitsanweisungen zu erstellen;

3.3.2.4.      Die Eingriffe an stromführenden Anlagen, Maschinen, Geräten und Einrichtungen sind nur auf der Grundlage folgender Arbeitsformen zulässig:

d)      mündliche Weisungen (MW);

3.3.23.1.      Bei Elektroinstallationen und elektrischen Arbeitsgeräten, an denen Arbeiten mit oder ohne Stromabschaltung durchgeführt werden, müssen stromisolierende Schutzeinrichtungen verwendet werden.

3.3.23.4.      Die Arbeiten an Elektroinstallationen und Elektrogeräten ohne Stromabschaltung müssen durch für Arbeiten unter Spannung autorisiertes Personal durchgeführt werden.

…“

III. Ausgangsrechtsstreit, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

16.      Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass am 5. September 2017 ein für Energotehnica arbeitender Elektriker (im Folgenden: Opfer) bei einem Eingriff, der darin bestand, eine externe Beleuchtungseinrichtung eines Niederspannungsmasts bei einem Gehöft in der Gemeinde Ticușu, Kreis Brașov (Rumänien), zu wechseln (im Folgenden: in Rede stehender Eingriff), an einem Stromschlag starb.

17.      Im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens führte das Inspectoratul Teritorial de Muncă Brașov (örtlich zuständige Arbeitsinspektion von Brașov, Rumänien, im Folgenden: ITM) eine Untersuchung durch, die die Anhörung von Zeugen sowie die Einholung einschlägiger Dokumente über die Sicherheit und den Gesundheitsschutz bei der Arbeit umfasste. Nach Abschluss dieser Untersuchung erstellte das ITM am 9. September 2019 ein Untersuchungsprotokoll (im Folgenden: Untersuchungsprotokoll), in dem es den in Rede stehenden Eingriff als „tödlichen Arbeitsunfall“ einstufte.

18.      Im Rahmen dieses Protokolls verhängte das ITM Geldbußen gegen Energotehnica, weil sie den Eingriff an einer in Betrieb befindlichen Anlage ohne Stromabschaltung durch nicht autorisiertes und nicht ausgebildetes Personal genehmigt und den Arbeitnehmer nicht über die den Gegenstand spezifischer Ausbildungsthemen bildende Ausrüstung informiert habe. Diese Sanktionen wurden aufgrund ihrer Aussetzung bis zum Abschluss des Strafverfahrens nicht tatsächlich angewandt. Es wurde keine verwaltungsrechtliche Sanktion gegen eine bei dieser Gesellschaft beschäftigte Person verhängt, da nach Art. 39 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 319/2006 nur die Handlungen von Arbeitgebern, die sich in einer der in diesem Gesetz vorgesehenen Situationen befinden, Verwaltungsübertretungen darstellen, nicht aber solche, die von den Arbeitnehmern begangen wurden.

19.      Energotehnica erhob beim Tribunalul Sibiu (Regionalgericht Sibiu [Hermannstadt], Rumänien) Verwaltungsklage gegen das ITM und beantragte die Nichtigerklärung des Untersuchungsprotokolls. Nur zwei Zeugen, Kollegen des Opfers, wurden vernommen. Mit Urteil vom 10. Februar 2021 gab dieses Gericht der Klage statt und erklärte dieses Protokoll hinsichtlich der Energotehnica betreffenden Feststellungen teilweise für nichtig. Insoweit stellte dieses Gericht zum einen fest, dass der in Rede stehende Eingriff außerhalb der Arbeitszeit erfolgt sei, und zum anderen, dass kein Beweis dafür vorliege, dass dem Opfer eine mündliche Weisung zur Durchführung dieses Eingriffs erteilt worden sei. Das ITM legte gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel bei der Curtea de Apel Alba Iulia (Berufungsgericht Alba Iulia, Rumänien) ein, die mit Urteil vom 14. Juni 2021 der von Energotehnica erhobenen Einrede der Nichtigkeit stattgab und das Rechtsmittel als unbegründet zurückwies.

20.      Parallel zum Verwaltungsverfahren wurde vom Staatsanwalt des Parchetul de pe lângă Judecătoria Rupea (Staatsanwaltschaft am Gericht erster Instanz Rupea, Rumänien) ein Strafverfahren eingeleitet. Mit Anklageschrift der Staatsanwaltschaft vom 31. Juli 2020 wurde MG als bei Energotehnica beschäftigter Elektriker und Vorarbeiter folgender Straftaten vor der Judecătoria Rupea (Gericht erster Instanz Rupea) beschuldigt: zum einen Missachtung der gesetzlichen Vorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz nach Art. 350 Abs. 1 und 3 des Strafgesetzbuchs und zum anderen fahrlässige Tötung nach Art. 192 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs unter Anwendung von Art. 38 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs, der die Realkonkurrenz von Straftaten betrifft. In dieser Anklageschrift wurde festgestellt, dass am 5. September 2017 gegen 18.00 Uhr am Ende der Arbeitszeit MG, der für den Arbeitsort Verantwortliche mit spezifischen Aufgaben der Arbeitsorganisation, der Ausbildung des ausführenden Personals und des Ergreifens von Maßnahmen zur Gewährleistung der in den spezifischen Anweisungen an jedem Arbeitsort vorgesehenen Arbeitssicherheitsvorrichtungen und Schutzausrüstungen, dem seiner Aufsicht unterstellten Opfer eine mündliche Arbeitsanweisung zur Durchführung des in Rede stehenden Eingriffs erteilt habe, ohne erforderliche Maßnahmen für den Gesundheitsschutz und die Sicherheit am Arbeitsplatz zu treffen (nämlich diese Aufgabe ausschließlich dem für den Elektrikerberuf qualifizierten Personal zu übertragen, das für die fragliche Arbeit autorisiert und ausgebildet ist, unter der Aufsicht eines Vorarbeiters), wobei dieser Eingriff unter Bedingungen durchgeführt worden sei, bei denen die in Betrieb befindliche elektrische Anlage nicht abgeschaltet worden sei und keine stromisolierenden Schutzhandschuhe verwendet worden seien.

21.      Im Rahmen dieses Strafverfahrens gegen MG wurden die Augenzeugen vernommen und die einschlägigen Dokumente betreffend den Gesundheitsschutz und die Sicherheit am Arbeitsplatz zu den Verfahrensakten genommen. Außerdem wurde die Untersuchungsakte über den in Rede stehenden Eingriff einschließlich des Untersuchungsprotokolls vorgelegt. Ebenfalls im Rahmen dieses Strafverfahrens traten LV, CRA und LCM, die Ehefrau, die Tochter bzw. der Sohn des Opfers, als Nebenkläger auf (im Folgenden: Nebenkläger) und beantragten, MG und Energotehnica zur Zahlung von Schadensersatz für den Tod des Opfers zu verurteilen. Es wurden keine strafrechtlichen Ermittlungen gegen Energotehnica durchgeführt, die lediglich haftpflichtige Partei in dem Sinne ist, dass sie nach rumänischem Zivilrecht gesetzlich oder vertraglich verpflichtet ist, den durch die Straftat verursachten Schaden ganz oder teilweise, allein oder gesamtschuldnerisch, zu ersetzen, und im Rahmen des Verfahrens haftbar gemacht wird.

22.      Mit Strafurteil vom 24. Dezember 2021 stellte die Judecătoria Rupea (Gericht erster Instanz Rupea) fest, dass MG von den Straftaten der Missachtung der gesetzlichen Vorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz sowie der fahrlässigen Tötung freizusprechen sei. Außerdem wies dieses Gericht die Zivilklage der Nebenkläger gegen MG und Energotehnica als unbegründet ab. Insoweit war das Tatsachengericht erstens der Ansicht, dass nicht ohne jeden vernünftigen Zweifel nachgewiesen sei, dass MG eine mündliche Arbeitsanweisung erteilt habe, da die einzige Aussage, die diese Arbeitsanweisung unmittelbar belege, die eines Augenzeugen sei, die jedoch durch keinen anderen unmittelbaren Beweis bestätigt werde, und da andere ebenfalls anwesende Arbeitnehmer verneint hätten, diese Arbeitsanweisung gehört zu haben. Dieses Gericht stellte zweitens fest, dass der in Rede stehende Eingriff gegen 18.30 bis 18.40 Uhr stattgefunden habe, d. h. nach dem Ende der Arbeitszeit (das zwischen 17 und 18 Uhr festgestellt worden sei), weshalb dieser Eingriff nicht als „Arbeitsunfall“ eingestuft werden könne.

23.      Der Staatsanwalt und die Nebenkläger legten gegen dieses Urteil Berufung bei der Curtea de Apel Brașov (Berufungsgericht Brașov), dem vorlegenden Gericht, ein. Vor diesem Gericht trug der Staatsanwalt vor, es gebe Beweise, die ohne jeden vernünftigen Zweifel die von MG an das Opfer erteilte mündliche Weisung zur Durchführung des in Rede stehenden Eingriffs belegten, und verwies auf die Aussage eines Augenzeugen, die durch die Aussagen anderer am Ort anwesender Arbeitnehmer bestätigt werde. Die Nebenkläger legten dar, dass es Beweise zur Stützung der Anklage gebe, und beriefen sich dabei auf die Aussage desselben Augenzeugen sowie auf das Untersuchungsprotokoll.

24.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass es, da es mit der Berufung im Strafverfahren gegen MG befasst sei, die Rechtssache unter allen rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkten zu prüfen habe, da es sich bei der Berufung um ein vollständig devolutives Rechtsmittel handele. Unter diesen Umständen könnte dieses Gericht die im ersten Rechtszug vorgelegten Beweise erneut prüfen und neue Beweise prüfen sowie eine neue Beweiswürdigung vornehmen. Das Tribunalul Sibiu (Regionalgericht Sibiu) habe jedoch bereits über den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens entschieden, indem es festgestellt habe, dass der in Rede stehende Eingriff keinen Arbeitsunfall darstelle. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass diese Feststellung für das vorlegende Gericht bindend sein könnte, da es sich bei dieser verfahrensrechtlichen Situation um eine „Vorfrage“ im Strafverfahren im Sinne von Art. 52 der Strafprozessordnung handele.

25.      Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof, Rumänien) mit Urteil Nr. 102/2021 vom 17. Februar 2021 einer Einrede der Verfassungswidrigkeit betreffend Art. 52 Abs. 3 der Strafprozessordnung, wonach die rechtskräftigen Urteile anderer rechtsprechender Organe als der Strafgerichte über eine Vorfrage in einem Strafverfahren das Strafgericht mit Ausnahme der die Strafbarkeit begründenden Umstände bänden, stattgegeben habe. Die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) habe daher festgestellt, dass die Passage „mit Ausnahme der die Strafbarkeit begründenden Umstände“ in dieser Bestimmung verfassungswidrig sei. In diesem Rahmen habe die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) u. a. entschieden, dass die Vorfragen Verfahrensbestandteile außerstrafrechtlicher Art seien, vor der Entscheidung der die strafrechtliche Hauptsache betreffenden Fragen beantwortet werden müssten und ein wesentliches Merkmal des Straftatbestands beträfen, etwa die Lage vor Begehung einer Straftat oder einen wesentlichen Bestandteil der Tat.

26.      Im vorliegenden Fall ist nach Ansicht des vorlegenden Gerichts die Einordnung des in Rede stehenden Eingriffs als Arbeitsunfall wesentliches Tatbestandsmerkmal der Straftaten und stellt eine sachliche oder rechtliche Voraussetzung dar, deren Bestehen geprüft werden müsse, um eine gerechte Entscheidung in der Strafsache treffen zu können, und die daher als eine „Vorfrage“ im Sinne von Art. 52 Abs. 3 der Strafprozessordnung angesehen werden könne.

27.      Das vorlegende Gericht weist auch darauf hin, dass im Ausgangsverfahren das Tribunalul Sibiu (Regionalgericht Sibiu) oder die Curtea de Apel Alba Iulia (Berufungsgericht Alba Iulia) in der Lage gewesen seien, die Aussetzung des Verfahrens auf der Grundlage verschiedener verfahrensrechtlicher Gründe anzuordnen, insbesondere in Anwendung der Regel, dass Zivilverfahren während eines Strafverfahrens nicht fortgeführt würden, wie sie in der rumänischen Zivilprozessordnung vorgesehen sei. Im vorliegenden Fall sei die Aussetzung des Verfahrens wegen des Bestehens eines anhängigen Strafverfahrens jedoch vor den Verwaltungsgerichten nicht geltend gemacht worden, ohne dass eine verfahrensrechtliche Sanktion vorgesehen sei, da die Aussetzung des Verfahrens für ein Zivilgericht nach den Bestimmungen der Zivilprozessordnung fakultativ sei.

28.      Das vorlegende Gericht fügt hinzu, dass es unter Umständen, unter denen die Nebenkläger im Strafverfahren nicht am Verwaltungsverfahren beteiligt gewesen seien und der Arbeitgeber in diesem Verfahren nur gegen die zuständige Verwaltungsbehörde (d. h. das ITM) obsiegt habe, MG von den Straftaten, derentwegen er angeklagt sei, freisprechen müsste, mit der Folge, dass die von den Nebenklägern erhobene Zivilklage als unbegründet abgewiesen werde, wenn es, wie es das Urteil Nr. 102/2021 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) verlange, der Entscheidung des Verwaltungsgerichts, mit der der in Rede stehende Eingriff als „außerhalb der Arbeit“ eingestuft werde, volle Rechtskraft verleihe. Eine solche Situation verstoße gegen den Grundsatz des Schutzes der Arbeitnehmer und gegen den Grundsatz der Verantwortung des Arbeitgebers, die in Art. 1 Abs. 1 und 2 sowie in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 89/391 im Licht von Art. 31 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankert seien.

29.      Unter diesen Umständen hat die Curtea de Apel Braşov (Berufungsgericht Braşov) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Stehen der Grundsatz des Schutzes der Arbeitnehmer und der Grundsatz der Verantwortung des Arbeitgebers nach Art. 1 Abs. 1 und 2 sowie Art. 5 der Richtlinie 89/391, umgesetzt in nationales Recht durch das Gesetz Nr. 319/2006, in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 der Charta einer Regelung wie derjenigen im Ausgangsverfahren entgegen, die vom nationalen Verfassungsgericht getroffen wurde und kraft deren ein Verwaltungsgericht auf Antrag des Arbeitgebers in einem Verfahren unter ausschließlicher Beteiligung der staatlichen Verwaltungsbehörde rechtskräftig entscheiden kann, dass ein Ereignis nicht als Arbeitsunfall im Sinne der Richtlinie einzustufen ist, und auf diese Weise das – sowohl von der Staatsanwaltschaft mittels Anklageerhebung gegen den verantwortlichen Arbeitnehmer als auch vom Nebenkläger mittels Zivilklage gegen den Arbeitgeber als im Strafverfahren haftpflichtige Partei sowie gegen dessen zuständigen Angestellten angerufene – Strafgericht daran hindern kann, eine andere Entscheidung hinsichtlich der Einstufung des Ereignisses als Arbeitsunfall zu treffen, der konstitutives Tatbestandsmerkmal der im Strafverfahren gegenständlichen Straftaten ist (ohne das weder eine strafrechtliche Verantwortlichkeit noch eine ergänzende zivilrechtliche Verantwortlichkeit festgestellt werden kann), da das Strafgericht die Rechtskraftwirkung des verwaltungsgerichtlichen Urteils beachten muss?

2.      Ist im Fall der Bejahung der ersten Frage der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, kraft deren die für die Anwendung des Unionsrechts zuständigen nationalen Gerichte an die Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts gebunden sind und aus diesem Grund die Rechtsprechung aus diesen Entscheidungen nicht von Amts wegen unangewendet lassen können, ohne Gefahr zu laufen, ein Disziplinarvergehen zu begehen, auch wenn sie vor dem Hintergrund eines Urteils des Gerichtshofs davon ausgehen, dass diese Rechtsprechung gegen Art. 1 Abs. 1 und 2 und Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 89/391, umgesetzt in nationales Recht durch das Gesetz Nr. 319/2006, in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 der Charta verstößt?

30.      Der Parchetul de pe lângă Judecătoria Rupea (Staatsanwaltschaft beim Gericht erster Instanz Rupea), die rumänische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht.

31.      Dem Ersuchen des Gerichtshofs folgend werden sich die vorliegenden Schlussanträge auf die Prüfung der ersten Vorlagefrage konzentrieren.

IV.    Würdigung

32.      Mit seiner ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 89/391 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Verwaltungsgericht durch ein rechtskräftiges Urteil, das vor dem Strafgericht Rechtskraftwirkung hat, entscheiden kann, dass ein Ereignis keinen „Arbeitsunfall“ darstellt, mit der Folge, dass das angerufene Strafgericht daran gehindert ist, gegen den für den Arbeitsort verantwortlichen Arbeitnehmer und den Arbeitgeber strafrechtliche oder zivilrechtliche Sanktionen zu verhängen.

A.      Zur Zulässigkeit der ersten Vorlagefrage

33.      In ihren schriftlichen Erklärungen hat die rumänische Regierung die Unzulässigkeit der ersten Vorlagefrage und folglich der zweiten Vorlagefrage mit der Begründung geltend gemacht, dass erstens die nationale Rechtsvorschrift, deren Vereinbarkeit mit der Richtlinie 89/391 in Rede stehe, nämlich Art. 52 der Strafprozessordnung, die Frage der Rechtskraft betreffe. Zweitens lege Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie die allgemeine Sicherheitspflicht des Arbeitgebers fest, ohne sich zu einer besonderen Form der Verantwortung zu äußern. Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits sei jedoch die Auslösung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eines Arbeitnehmers für den Tod eines anderen Arbeitnehmers, während diese Richtlinie, um deren Auslegung ersucht werde, die Verpflichtungen des Arbeitgebers gegenüber den Arbeitnehmern betreffe. Daher habe sich das vorlegende Gericht nicht zu einem Rechtsverhältnis zu äußern, das in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie falle.

34.      Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Familie des Opfers vor dem vorlegenden Gericht gegen MG und Energotehnica als Nebenkläger aufgetreten ist. Folglich ist dieses Gericht sehr wohl mit einer Klage gegen den Arbeitgeber befasst, dessen zivilrechtliche Haftung geltend gemacht werden kann, wenn der in Rede stehende Eingriff als „Arbeitsunfall“ eingestuft wird. Außerdem hängt die Frage der Verhängung zivilrechtlicher Sanktionen gegen den Arbeitgeber mit der Tragweite des Grundsatzes der Rechtskraft des vom Verwaltungsgericht erlassenen Urteils zusammen. Daher weisen die in der fraglichen nationalen Regelung vorgesehenen Modalitäten gerichtlicher Rechtsbehelfe einen Zusammenhang mit der Verantwortung des Arbeitgebers auf, wenn dieser, im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie 89/391 durch den betreffenden Mitgliedstaat, die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz nicht gewährleistet hat.

35.      Daher bin ich der Ansicht, dass die erste Vorlagefrage zulässig ist.

B.      Zur Beantwortung der ersten Vorlagefrage

36.      Es ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 89/391 auf der Grundlage von Art. 118a EG‑Vertrag (nach Änderung jetzt Art. 153 AEUV) erlassen wurde, wonach die Mitgliedstaaten sich bemühen, die Verbesserung der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer zu fördern, und sich die Harmonisierung der in diesem Bereich bestehenden Bedingungen bei gleichzeitigem Fortschritt zum Ziel setzen. Art. 1 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie bestimmt, dass das Ziel dieser Richtlinie die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz ist und dass sie zu diesem Zweck allgemeine Grundsätze für die Verhütung berufsbedingter Gefahren, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz, die Ausschaltung von Risiko- und Unfallfaktoren, die Information, die Anhörung, die ausgewogene Beteiligung nach den nationalen Rechtsvorschriften bzw. Praktiken, die Unterweisung der Arbeitnehmer und ihrer Vertreter sowie allgemeine Regeln für die Durchführung dieser Grundsätze enthält.

37.      Außerdem sieht Art. 4 dieser Richtlinie in Abs. 1 vor, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Vorkehrungen treffen, um zu gewährleisten, dass die Arbeitgeber, die Arbeitnehmer und die Arbeitnehmervertreter den für die Anwendung dieser Richtlinie erforderlichen Rechtsvorschriften unterliegen, und in Abs. 2, dass die Mitgliedstaaten insbesondere für eine angemessene Kontrolle und Überwachung Sorge tragen(7). Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 89/391 bestimmt ferner, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer in Bezug auf alle Aspekte, die die Arbeit betreffen, zu sorgen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs lässt sich nicht feststellen, dass dem Arbeitgeber allein aufgrund von Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie eine verschuldensunabhängige Haftung auferlegt werden muss, da diese Vorschrift nur eine allgemeine Pflicht des Arbeitgebers zur Gewährleistung der Sicherheit vorsieht, ohne eine Aussage darüber zu treffen, wie die Haftung aussehen soll(8).

38.      Art. 5 Abs. 3 und 4 stellt klar, dass die Pflichten der Arbeitnehmer in Fragen der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz nicht den Grundsatz der Verantwortung des Arbeitgebers berühren und dass diese Richtlinie nicht der Befugnis der Mitgliedstaaten entgegensteht, den Ausschluss oder die Einschränkung der Verantwortung des Arbeitgebers bei Vorkommnissen vorzusehen, die auf nicht von diesem zu vertretende anormale und unvorhersehbare Umstände oder auf außergewöhnliche Ereignisse zurückzuführen sind, deren Folgen trotz aller Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können.

39.      Aus dem Wortlaut der Richtlinie 89/391 geht hervor, dass diese zwar auf den Grundsatz der Verantwortung des Arbeitgebers verweist und allgemeine Verpflichtungen betreffend die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer in Bezug auf alle Aspekte, die die Arbeit betreffen, festlegt, aber keine spezifische Bestimmung über Sanktionen enthält, die die Mitgliedstaaten gegen Arbeitgeber verhängen, die diesen Verpflichtungen nicht nachgekommen sind. Darüber hinaus hat der Unionsgesetzgeber mehrere Einzelrichtlinien im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 89/391(9) erlassen, insbesondere die Richtlinien 89/654/EWG(10), 89/656/EWG(11) und 2009/104/EG(12). Diese Richtlinien enthalten jedoch auch keine spezifischen Bestimmungen über die Verhängung von Sanktionen gegen Arbeitgeber, die die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer nicht gewährleistet haben(13).

40.      Im Übrigen sieht Art. 31 („Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen“) der Charta in Abs. 1 vor, dass „[j]ede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer … das Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen [hat]“. Folglich betrifft diese Bestimmung, auf die das vorlegende Gericht in seiner ersten Vorlagefrage Bezug nimmt, nicht die Sanktionen, die verhängt werden können, wenn der Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer nicht gewährleistet ist.

41.      Was insbesondere den in Rede stehenden Eingriff betrifft, dessen Einstufung als „Arbeitsunfall“ Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist, weise ich darauf hin, dass die Union nach Art. 34 Abs. 1 der Charta das Recht auf Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit und zu den sozialen Diensten anerkennt und achtet, die in Fällen wie u. a. Arbeitsunfall Schutz gewährleisten. Dagegen regelt das Unionsrecht derzeit weder die Kriterien für die Einstufung eines Ereignisses als „Arbeitsunfall“ noch die Sanktionen, die gegen den Arbeitgeber infolge eines solchen Unfalls verhängt werden können, noch die Modalitäten der Bestimmung der dem Opfer zu gewährenden Entschädigung.

42.      Im vorliegenden Fall fragt sich das vorlegende Gericht, ob die in der nationalen Regelung vorgesehene Verfahrensmodalität, wonach das rechtskräftige Urteil des Verwaltungsgerichts, mit dem festgestellt wird, dass der in Rede stehende Eingriff keinen „Arbeitsunfall“ darstellt, vor ihm, d. h. einem Strafgericht, Rechtskraftwirkung hat, was es daran hindern würde, eine strafrechtliche Sanktion gegen MG sowie zivilrechtliche Sanktionen gegen MG und/oder gegen Energotehnica zu verhängen(14), mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

43.      Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass es mangels einer einschlägigen Unionsregelung nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der einzelnen Mitgliedstaaten ist, die Modalitäten für das Verwaltungsverfahren und das Gerichtsverfahren zu regeln, die ein hohes Schutzniveau der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen(15). Diese Modalitäten dürfen nicht weniger günstig ausgestaltet sein als die für entsprechende innerstaatliche Rechtsbehelfe (Grundsatz der Äquivalenz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität)(16). Was insbesondere die Rechtskraft anbelangt, ist es mangels einschlägiger unionsrechtlicher Vorschriften nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der Mitgliedstaaten, die Modalitäten für die Umsetzung des Grundsatzes der Rechtskraft festzulegen, wobei jedoch die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität gewahrt sein müssen(17).

44.      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Effektivitätsgrundsatz ist jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen. Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens(18).

45.      Mit anderen Worten müssen die Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Modalitäten gerichtlicher Rechtsbehelfe zum Schutz der durch die Richtlinie 89/391 eingeräumten Rechte die Beachtung des in Art. 47 der Charta, der den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes bekräftigt, verankerten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht gewährleisten(19).

46.      Folglich haben die Mitgliedstaaten bei der Wahl der Sanktionen den Effektivitätsgrundsatz zu beachten, der dazu verpflichtet, wirksame und abschreckende Sanktionen einzuführen, ohne dass jedoch diese Sanktionen grundsätzlich besondere Merkmale aufweisen müssen(20). Diese Sanktionen können somit strafrechtlichen und/oder zivilrechtlichen Charakter haben. Würden gegen einen Arbeitgeber, der die nationalen Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 89/391, im vorliegenden Fall das Gesetz Nr. 319/2006, nicht einhält, keine Sanktionen verhängt, würden die praktische Wirksamkeit und der wirksame Schutz der durch diese Richtlinie garantierten Rechte in Frage gestellt, obwohl Art. 153 Abs. 1 Buchst. a AEUV die Verbesserung der Arbeitsumwelt zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer bezweckt.

47.      Im Ausgangsverfahren geht es um die Möglichkeit, strafrechtliche und zivilrechtliche Sanktionen nicht im Zusammenhang mit dem Grundsatz ne bis in idem(21), sondern mit dem Grundsatz der Rechtskraft zu verhängen, da das Verwaltungsgericht bereits entschieden hat, dass der in Rede stehende Eingriff nicht als „Arbeitsunfall“ eingestuft werden kann. Insoweit weise ich darauf hin, dass nach der Anwendung des Grundsatzes „le pénal tient le civil en l’état“ (das Zivilverfahren wird während eines Strafverfahrens nicht fortgeführt) das Zivilgericht, wenn ein zivilrechtliches Verfahren und ein Strafverfahren wegen desselben Sachverhalts eingeleitet wurden, das bei ihm anhängige Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung in dem Strafverfahren auszusetzen hat(22). Im vorliegenden Fall wendet das rumänische Recht den umgekehrten Grundsatz an, nämlich dass das Strafverfahren während des Zivilverfahrens(23) nicht fortgeführt wird. Aus der Vorlageentscheidung geht nämlich hervor, dass das Verwaltungsgericht im Ausgangsverfahren das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Strafgerichts hätte aussetzen können, dass aber eine solche Aussetzung für ein Verwaltungsgericht fakultativ ist, was die Anwendung von Art. 52 Abs. 3 der Strafprozessordnung zur Folge hat, wonach die rechtskräftigen Urteile anderer rechtsprechender Organe als der Strafgerichte über eine Vorfrage in einem Strafverfahren das Strafgericht mit Ausnahme der die Strafbarkeit begründenden Umstände binden(24).

48.      In Anbetracht der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist festzustellen, dass eine solche Bestimmung nicht gegen das Unionsrecht verstößt, da sie es gestattet, zu vermeiden, dass einander widersprechende Entscheidungen ergehen, die geeignet sind, die Rechtssicherheit zu beeinträchtigen(25), sofern, wie in Nr. 43 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt, der Grundsatz der Effektivität des Unionsrechts gewahrt wird.

49.      Ich füge hinzu, dass, wenn ein Verwaltungsgericht eine Prüfung in der Sache vornimmt, indem es sämtliche Beweise für die Einstufung eines Ereignisses als „Arbeitsunfall“ eingehend beurteilt, die bloße Tatsache, dass das Verwaltungsgericht gegenüber dem Strafgericht ausschlaggebend ist, als solche nicht zu einer weniger geordneten Rechtspflege führen kann. Ein Strafverfahren kann nämlich definitionsgemäß nicht als für das Opfer und/oder die Nebenkläger günstiger angesehen werden als ein Verwaltungsverfahren, da, wie Art. 48 Abs. 1 der Charta bestimmt, dessen Inhalt Art. 6 Abs. 2 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten entspricht, jeder Angeklagte bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig gilt(26). Eine Person, die vor einem Strafgericht angeklagt ist, muss daher das Recht auf die Unschuldsvermutung haben.

50.      Im vorliegenden Fall weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass sich im Verwaltungsverfahren nur Energotehnica und das ITM gegenübergestanden hätten, ohne dass der Staatsanwalt und die Nebenkläger an diesem Verfahren beteiligt gewesen seien, während diese im Rahmen des Strafverfahrens vertreten seien.

51.      Insoweit geht aus der Vorlageentscheidung nicht klar hervor, ob die Nebenkläger tatsächlich die Möglichkeit hatten, sich am Verfahren vor dem Verwaltungsgericht zu beteiligen, um u. a. Beweise für die Einstufung des in Rede stehenden Eingriffs als „Arbeitsunfall“ vorzulegen. Sollte dies der Fall gewesen sein, steht die Richtlinie 89/391, selbst wenn die Nebenkläger sich tatsächlich nicht beteiligt haben, einer Regelung nicht entgegen, nach der ein Verwaltungsgericht durch eine Entscheidung, die vor dem Strafgericht Rechtskraftwirkung hat, endgültig entscheiden kann, dass ein Ereignis keinen Arbeitsunfall darstellt.

52.      Dagegen bin ich der Ansicht, dass in dem Fall, in dem die Nebenkläger keine Möglichkeit hatten, sich am Verfahren vor dem Verwaltungsgericht zu beteiligen, der Grundsatz der Effektivität des Unionsrechts nicht gewahrt ist. Wie in Nr. 44 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt, beinhaltet dieser Grundsatz nämlich die Wahrung der Verteidigungsrechte und insbesondere, dass die Beteiligten in die Lage versetzt wurden, ihren Standpunkt gebührend darzulegen. Insoweit kann es im vorliegenden Fall nicht sein, dass die Familie des Opfers nicht in den Genuss des in Art. 47 der Charta verankerten Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz kommt, d. h. dass ihr der Zugang zu den Gerichten verwehrt wird(27).

53.      In diesem Fall müssen die Nebenkläger daher, wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, die Gewähr haben, vor dem Strafgericht neue Beweise vorlegen zu können, die vor dem Verwaltungsgericht nicht erörtert werden konnten, insbesondere zur Frage der Einstufung des in Rede stehenden Eingriffs als „Arbeitsunfall“. Das rechtskräftige Urteil eines Verwaltungsgerichts kann dann vor dem Strafgericht keine Rechtskraftwirkung haben, und das Strafgericht muss den Nebenklägern die Möglichkeit geben, sich am Verfahren zu beteiligen, auch wenn sich diese Situation letztlich nur schwer mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit vereinbaren lässt, da eine solche Beteiligung zu einander widersprechenden Urteilen zwischen Verwaltungsgerichten und Strafgerichten führen kann. Ist dies der Fall, ist es Sache des betreffenden Mitgliedstaats, darüber zu befinden, welche Verfahrensmechanismen ihm am geeignetsten erscheinen, um einen Ausgleich zwischen solchen einander widersprechenden Urteilen zu ermöglichen(28).

54.      Nach alledem schlage ich vor, auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass die Richtlinie 89/391 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der ein Verwaltungsgericht durch ein rechtskräftiges Urteil, das vor dem Strafgericht Rechtskraftwirkung hat, entscheiden kann, dass ein Ereignis keinen „Arbeitsunfall“ darstellt, mit der Folge, dass das Strafgericht daran gehindert ist, gegen den für den Arbeitsort verantwortlichen Arbeitnehmer und den Arbeitgeber strafrechtliche oder zivilrechtliche Sanktionen zu verhängen, sofern die Wahrung des Grundsatzes der Effektivität des Unionsrechts gewährleistet ist, was bedeutet, dass die Nebenkläger tatsächlich die Möglichkeit haben müssen, Beweise für die Einstufung dieses Ereignisses als „Arbeitsunfall“ vor dem Strafgericht vorzulegen, wenn sie keine Möglichkeit hatten, diese vor dem Verwaltungsgericht vorzulegen.

V.      Ergebnis

55.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die erste Vorlagefrage der Curtea de Apel Braşov (Berufungsgericht Braşov, Rumänien) wie folgt zu antworten:

Die Richtlinie 89/391/EWG des Rates vom 12. Juni 1989 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit

ist dahin auszulegen, dass

sie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der ein Verwaltungsgericht durch ein rechtskräftiges Urteil, das vor dem Strafgericht Rechtskraftwirkung hat, entscheiden kann, dass ein Ereignis keinen „Arbeitsunfall“ darstellt, mit der Folge, dass das Strafgericht daran gehindert ist, gegen den für den Arbeitsort verantwortlichen Arbeitnehmer und den Arbeitgeber strafrechtliche oder zivilrechtliche Sanktionen zu verhängen, sofern die Wahrung des Grundsatzes der Effektivität des Unionsrechts gewährleistet ist, was bedeutet, dass die Nebenkläger tatsächlich die Möglichkeit haben müssen, Beweise für die Einstufung dieses Ereignisses als „Arbeitsunfall“ vor dem Strafgericht vorzulegen, wenn sie keine Möglichkeit hatten, diese vor dem Verwaltungsgericht vorzulegen.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Richtlinie des Rates vom 12. Juni 1989 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit (ABl. 1989, L 183, S. 1). Zum Erlass dieser Richtlinie, vgl. Walters, D., „The Framework Directive“, in Regulating Health and Safety Management in the European Union: A Study of the Dynamics of Change, P.I.E. Peter Lang S.A., Brüssel 2002, S. 39 bis 57.


3      Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 510 vom 24. Juli 2009.


4      Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 486 vom 15. Juli 2010.


5      Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 646 vom 26. Juli 2006.


6      Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 815 vom 3. Oktober 2006.


7      Auch wenn das vorlegende Gericht Art. 4 der Richtlinie 89/391 in seiner ersten Vorlagefrage nicht erwähnt hat, ist darauf hinzuweisen, dass sich der Gerichtshof im Rahmen des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Verfahrens der Zusammenarbeit veranlasst sehen kann, dem vorlegenden Gericht alle Kriterien für die Auslegung des Unionsrechts an die Hand zu geben, die für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei seiner Fragestellung darauf Bezug genommen hat oder nicht. Der Gerichtshof hat aus dem gesamten vom nationalen Gericht vorgelegten Material, insbesondere der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Ausgangsrechtsstreits einer Auslegung bedürfen (vgl. u. a. Urteil vom 16. November 2023, Ministerstvo vnútra Slovenskej republiky, C‑283/22, EU:C:2023:886, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).


8      Urteil vom 14. Juni 2007, Kommission/Vereinigtes Königreich (C‑127/05, EU:C:2007:338, Rn. 42).


9      In dieser Bestimmung heißt es, dass „[d]er Rat … auf der Grundlage eines auf Artikel 118a des Vertrages beruhenden Vorschlags der Kommission Einzelrichtlinien, unter anderem für die im Anhang aufgeführten Bereiche[, erlässt].


10      Richtlinie des Rates vom 30. November 1989 über Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz in Arbeitsstätten (Erste Einzelrichtlinie im Sinne des Artikels 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG) (ABl. 1989, L 393, S. 1).


11      Richtlinie des Rates vom 30. November 1989 über Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei Benutzung persönlicher Schutzausrüstungen durch Arbeitnehmer bei der Arbeit (Dritte Einzelrichtlinie im Sinne des Artikels 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG) (ABl. 1989, L 393, S. 18).


12      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei Benutzung von Arbeitsmitteln durch Arbeitnehmer bei der Arbeit (Zweite Einzelrichtlinie im Sinne des Artikels 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG) (ABl. 2009, L 260, S. 5).


13      Gleichzeitig enthalten andere Richtlinien zur Durchführung der Sozialpolitik der Union spezielle Bestimmungen über die anwendbaren Sanktionen, wie die Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16), deren Art. 17 bestimmt, dass „[d]ie Mitgliedstaaten … die Sanktionen fest[legen], die bei einem Verstoß gegen die einzelstaatlichen Vorschriften zur Anwendung dieser Richtlinie zu verhängen sind, und … alle erforderlichen Maßnahmen [treffen], um deren Durchführung zu gewährleisten. Die Sanktionen, die auch Schadenersatzleistungen an die Opfer umfassen können, müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.“


14      Ich erinnere daran, dass es Sache des vorlegenden Gerichts ist, zu prüfen, ob die Rechtskraft eines Urteils eines Verwaltungsgerichts nach innerstaatlichem Recht Aspekte der vorliegenden Rechtssache umfasst, und gegebenenfalls die nach diesem Recht vorgesehenen Folgen zu prüfen (vgl. entsprechend Urteil vom 7. April 2022, Avio Lucos, C‑116/20, EU:C:2022:273, Rn. 99 und die dort angeführte Rechtsprechung).


15      Urteil vom 12. Januar 2023, Nemzeti Adatvédelmi és Információszabadság Hatóság (C‑132/21, EU:C:2023:2, Rn. 45).


16      Urteil vom 12. Januar 2023, Nemzeti Adatvédelmi és Információszabadság Hatóság (C‑132/21, EU:C:2023:2, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung). Nach dem Äquivalenzgrundsatz dürfen die nationalen Verfahrensvorschriften, die dem Unionsrecht unterliegende Sachverhalte regeln, nicht ungünstiger sein als diejenigen, die gleichartige, dem innerstaatlichen Recht unterliegende Sachverhalte regeln (vgl. Urteil vom 3. Juni 2021, Bankia, C‑910/19, EU:C:2021:433, Rn. 46). Da die Beachtung dieses Grundsatzes vom vorlegenden Gericht nicht in Frage gestellt worden ist und der Gerichtshof über keinerlei Anhaltspunkte verfügt, die Zweifel an der Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung mit diesem Grundsatz hervorrufen könnten, wird dieser Grundsatz daher nicht weiter dargelegt.


17      Beschluss vom 7. März 2023, Willy Hermann Service (C‑561/22, EU:C:2023:167, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).


18      Vgl. Urteil vom 25. Januar 2024, Caixabank (Verjährung der Erstattung von Hypothekenkosten) (C‑810/21 bis C‑813/21, EU:C:2024:81, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).


19      Vgl. entsprechend Urteil vom 12. Januar 2023, Nemzeti Adatvédelmi és Információszabadság Hatóság (C‑132/21, EU:C:2023:2, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).


20      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. Mai 2018, Scialdone (C‑574/15, EU:C:2018:295, Rn. 33), und vom 17. Mai 2023, Cezam (C‑418/22, EU:C:2023:418, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).


21      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs verbietet der Grundsatz ne bis in idem eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat (Urteil vom 25. Januar 2024, Parchetul de pe lângă Curtea de Apel Craiova u. a., C‑58/22, EU:C:2024:70, Rn. 46 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Im vorliegenden Fall sind das Verwaltungs- und das Strafverfahren aber jedenfalls gegen verschiedene Personen gerichtet.


22      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Saugmandsgaard Øe in den verbundenen Rechtssachen CRPNPAC und Vueling Airlines (C‑370/17 und C‑37/18, EU:C:2019:592, Fn. 106).


23      Wie das vorlegende Gericht ausführt, ist das Verwaltungsgericht ein Zivilgericht im weiteren Sinne.


24      Siehe Nr. 27 der vorliegenden Schlussanträge.


25      Vgl. in diesem Sinne im Bereich der Mehrwertsteuer Urteil vom 24. Februar 2022, SC Cridar Cons (C‑582/20, EU:C:2022:114, Rn. 38).


26      Ich weise darauf hin, dass dieser Grundsatz nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs anwendbar ist, wenn es darum geht, die objektiven Tatbestandsmerkmale eines Verstoßes zu bestimmen, der zur Verhängung von Verwaltungssanktionen strafrechtlicher Natur führen kann (vgl. Urteil vom 10. November 2022, DELTA STROY 2003, C‑203/21, EU:C:2022:865, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).


27      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Januar 2024, Agentsia „Patna infrastruktura“ (Europäische Finanzierung von Straßeninfrastruktur) (C‑471/22, EU:C:2024:99, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).


28      Vgl. entsprechend Schlussanträge des Generalanwalts Richard de la Tour in der Rechtssache Nemzeti Adatvédelmi és Információszabadság Hatóság (C‑132/21, EU:C:2022:661, Nr. 67).