Language of document : ECLI:EU:T:2019:81

Rechtssache T201/17

Printeos, SA

gegen

Europäische Kommission

 Urteil des Gerichts (Dritte erweiterte Kammer) vom 12. Februar 2019

„Außervertragliche Haftung – Wettbewerb – Kartelle – Beschluss, mit dem eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV festgestellt wird – Geldbußen – Urteil, mit dem der Beschluss teilweise für nichtig erklärt wird – Erstattung des Hauptbetrags der Geldbuße – Verzugszinsen – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Kausalzusammenhang – Schaden – Art. 266 AEUV – Art. 90 Abs. 4 Buchst. a Satz 2 der Delegierten Verordnung (EU) Nr. 1268/2012“

1.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Schaden – Kausalzusammenhang – Kumulative Voraussetzungen

(Art. 340 Abs. 2 AEUV)

(vgl. Rn. 49)

2.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Ermessensspielraum des Organs bei Erlass des Rechtsakts

(Art. 340 Abs. 2 AEUV)

(vgl. Rn. 50, 51)

3.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Begriff – Nichtdurchführung eines Nichtigkeitsurteils – Verstoß der Kommission gegen ihre Pflicht zur Zahlung von Verzugszinsen auf den zurückgezahlten Betrag einer aufgehobenen Geldbuße – Vorenthaltung eines zu zahlenden Geldbetrags – Einbeziehung

(Art. 266 Abs. 1 und Art. 340 Abs. 2 AEUV)

(vgl. Rn. 55-59)

4.      Recht der Europäischen Union – Auslegung – Methoden – Auslegung eines Sekundärrechtsakts – Auslegung entgegen dem Wortlaut – Unzulässigkeit

(Art. 266 Abs. 1 AEUV; Verordnung Nr. 1268/2012 der Kommission, Art. 90 Abs. 4)

(vgl. Rn. 61)

5.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Verstoß der Kommission gegen ihre Pflicht zur Zahlung von Verzugszinsen auf den zurückgezahlten Betrag einer aufgehobenen Geldbuße – Verstoß gegen Art. 266 AEUV – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht

(Art. 266 Abs. 1 und Art. 340 Abs. 2 AEUV)

(vgl. Rn. 64-69)

6.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Kausalzusammenhang – Begriff – Verstoß der Kommission gegen ihre Pflicht zur Zahlung von Verzugszinsen auf den zurückgezahlten Betrag einer aufgehobenen Geldbuße – Verstoß gegen Art. 266 AEUV – Schaden durch Vorenthaltung eines zu zahlenden Geldbetrags – Bestehen eines unmittelbaren Kausalzusammenhangs

(Art. 266 Abs. 1 und Art. 340 Abs. 2 AEUV)

(vgl. Rn. 70, 71)

Zusammenfassung

Mit Urteil vom 12. Februar 2019, Printeos/Kommission (T‑201/17), hat das Gericht im Rahmen einer auf Art. 268 AEUV gestützten Klage aus außervertraglicher Haftung dem Antrag der Klägerin auf Ersatz des Schadens stattgegeben, der durch die Weigerung der Europäischen Kommission entstanden ist, ihr nach der Nichtigerklärung eines Beschlusses, mit dem ihr wegen Verstoßes gegen Art. 101 AEUV eine Geldbuße auferlegt worden war, Verzugszinsen auf den Hauptbetrag der zurückgezahlten Geldbuße zu zahlen.

In ihrem Beschluss C(2014) 9295 final vom 10. Dezember 2014 in einem Verfahren nach Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens (Sache AT.39780 – Umschläge) (im Folgenden: Beschluss vom 10. Dezember 2014) stellte die Kommission fest, dass die Klägerin, Printeos, gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) verstoßen habe, indem sie an der Bildung und Umsetzung eines Kartells auf dem europäischen Markt für Standardumschläge nach Katalog und bedruckte Spezialumschläge mitgewirkt habe. Die Kommission verhängte daher gegen die Klägerin als Gesamtschuldnerin gemeinsam mit einigen ihrer Tochtergesellschaften eine Geldbuße in Höhe von 4 729 000 Euro.

Mit Klageschrift, die am 20. Februar 2015 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob die Klägerin eine auf Art. 263 AEUV gestützte Klage, mit der sie in erster Linie die teilweise Nichtigerklärung des Beschlusses vom 10. Dezember 2014 begehrte. Am 9. März 2015 nahm die Klägerin die vorläufige Zahlung der ihr auferlegten Geldbuße vor. Mit Urteil vom 13. Dezember 2016, Printeos u. a./Kommission(1), gab das Gericht dem Antrag auf teilweise Nichtigerklärung des Beschlusses vom 10. Dezember 2014 statt. Die Kommission zahlte daraufhin die vorläufig gezahlte Geldbuße an die Klägerin zurück. Sie wies jedoch die Forderung der Klägerin, Zinsen auf den vorläufig gezahlten Hauptbetrag zu zahlen, nach Art. 90 Abs. 4 Buchst. a Satz 2 der Delegierten Verordnung (EU) Nr. 1268/2012 der Kommission(2) (im Folgenden: streitige Vorschrift) zurück, da die Rendite ihrer Investition in Finanzanlagen negativ gewesen sei. Gemäß der streitigen Vorschrift müssen nämlich im Fall der Aufhebung oder Verringerung der Geldbuße – nach Ausschöpfung des Rechtswegs – die unrechtmäßigen Beträge dem betreffenden Dritten einschließlich der aufgelaufenen Zinsen zurückgezahlt werden, wobei, falls der Ertrag einer vorläufig gezahlten, in Finanzanlagen investierten Geldbuße über den betreffenden Zeitraum insgesamt negativ war, nur der Nettobetrag der unrechtmäßigen Geldbuße zurückgezahlt wird.

Das Gericht weist zunächst auf die Voraussetzungen für die Auslösung der außervertraglichen Haftung der Union hin. Sodann hält es fest, dass die Klägerin insbesondere einen Verstoß gegen Art. 266 AEUV geltend macht, und prüft, ob ein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen diese Bestimmung vorliegt. Es stellt im vorliegenden Fall fest, dass Art. 266 AEUV eine Rechtsnorm ist, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, indem sie eine absolute und unbedingte Pflicht des Organs, dem das für nichtig erklärte Handeln zur Last fällt, vorsieht, im Interesse des erfolgreichen Klägers die sich aus dem Nichtigkeitsurteil ergebenden Maßnahmen zu ergreifen, der ein Recht des Klägers auf vollständige Erfüllung dieser Pflicht entspricht. In der Rechtsprechung ist, wenn ein Beschluss, mit dem eine Geldbuße verhängt wird, für nichtig erklärt wird, das Recht des Klägers auf Wiedereinsetzung in den Stand, in dem er sich vor diesem Beschluss befand, anerkannt, was insbesondere bedeutet, dass der aufgrund des für nichtig erklärten Beschlusses rechtsgrundlos gezahlte Hauptbetrag zurückgezahlt wird und Verzugszinsen gezahlt werden. Denn im Unterschied zur Zahlung von Ausgleichszinsen stellt die Zahlung von Verzugszinsen insofern eine Maßnahme im Sinne von Art. 266 Abs. 1 AEUV zur Durchführung eines Urteils, mit dem eine Geldbuße für nichtig erklärt wird, dar, als mit ihr die Vorenthaltung eines zu zahlenden Geldbetrags pauschal ausgeglichen und der Schuldner veranlasst werden soll, das Nichtigkeitsurteil so schnell wie möglich durchzuführen (Urteil vom 12. Februar 2015, Kommission/IPK International, C‑336/13 P, EU:C:2015:83, Rn. 29 und 30; Beschluss vom 21. März 2006, Holcim [France]/Kommission, T‑86/03, nicht veröffentlicht, EU:T:2006:90, Rn. 30 und 31; Urteil vom 10. Oktober 2001, Corus UK/Kommission, T‑171/99, EU:T:2001:249, Rn. 50, 52 und 53).

Das Gericht weist ferner darauf hin, dass die streitige Vorschrift angesichts ihres Regelungszusammenhangs, ihres klaren Wortlauts sowie ihrer ausdrücklichen Bezugnahme auf den Rechtsweg und auf die Nichtigerklärung eines Beschlusses, mit dem eine Geldbuße verhängt wurde, dazu bestimmt ist, die in Art. 266 Abs. 1 AEUV vorgesehenen Anforderungen umzusetzen, und daher im Licht dieser Bestimmung auszulegen ist. Das Gericht stellt in diesem Zusammenhang insbesondere fest, dass die Delegierte Verordnung Nr. 1268/2012 der Kommission weder die Wendung „einschließlich der aufgelaufenen Zinsen“ erläutert noch die Zinsen als „Verzugszinsen“ oder Verspätungszinsen einstuft. Da die sich unmittelbar aus Art. 266 Abs. 1 AEUV ergebende Pflicht das Ziel verfolgt, die Vorenthaltung eines zu zahlenden Geldbetrags pauschal auszugleichen, um dem Grundsatz der restitutio in integrum Genüge zu tun, befand sich die Kommission in Anbetracht dessen, dass der Beschluss vom 10. Dezember 2014 rückwirkend für nichtig erklärt wurde, zwangsläufig ab der vorläufigen Zahlung der Geldbuße mit deren Rückzahlung in Verzug.

Daraus zieht das Gericht den Schluss, dass die Kommission nach Art. 266 Abs. 1 AEUV verpflichtet war, als Maßnahmen zur Durchführung des Urteils in der Rechtssache T‑95/15 nicht nur den Hauptbetrag der Geldbuße zurückzuzahlen, sondern auch Verzugszinsen zu zahlen, um die Vorenthaltung dieses Betrags während des Referenzzeitraums pauschal auszugleichen, und insoweit über kein Ermessen verfügte. Die Nichterfüllung dieser absoluten und unbedingten Pflicht stellt einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen diese Bestimmung dar, der die außervertragliche Haftung der Union auslösen kann.

Außerdem stellt das Gericht fest, dass zwischen der Nichterfüllung der Pflicht, Verzugszinsen nach Art. 266 Abs. 1 AEUV zu zahlen, durch die Kommission und dem der Klägerin entstandenen Schaden ein hinreichend unmittelbarer ursächlicher Zusammenhang besteht. Dieser Schaden entspricht dem Verlust dieser Verzugszinsen während des Referenzzeitraums, die die pauschale Entschädigung für die Vorenthaltung des Hauptbetrags der Geldbuße während dieses Zeitraums darstellen und dem anwendbaren Refinanzierungszinssatz der Europäischen Zentralbank (EZB) zuzüglich der von der Klägerin verlangten 2 Prozentpunkte entsprechen.

Das Gericht verurteilt die Europäische Union, vertreten durch die Kommission, daher zum Ersatz des Schadens, der der Klägerin dadurch entstanden ist, dass ihr die für die Zeit vom 9. März 2015 bis zum 1. Februar 2017 geschuldeten Verzugszinsen in Höhe von 184 592,95 Euro nicht gezahlt wurden. Zusätzlich sind ab Verkündung des vorliegenden Urteils bis zur vollständigen Zahlung Verzugszinsen in Höhe des von der EZB für ihre wesentlichen Refinanzierungsgeschäfte festgesetzten Zinssatzes zuzüglich 3,5 Prozentpunkten zu zahlen.


1      Urteil des Gerichts vom 13. Dezember 2016, Printeos u. a./Kommission (T‑95/15, EU:T:2016:722).


2      Delegierte Verordnung (EU) Nr. 1268/2012 der Kommission vom 29. Oktober 2012 über die Anwendungsbestimmungen für die Verordnung (EU, Euratom) Nr. 966/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union (ABl. 2012, L 362, S. 1).