Language of document : ECLI:EU:C:2017:610

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PAOLO MENGOZZI

vom 26. Juli 2017(1)

Rechtssache C355/16

Christian Picart

gegen

Ministre des Finances et des Comptes publics

(Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d’État [Staatsrat, Frankreich])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit – Niederlassungsrecht – Selbständiger – Art. 12 und 15 des Anhangs I des Abkommens – Steuerrecht – Besteuerung nicht realisierter Wertzuwächse von Wertpapieren – Verlegung des steuerlichen Wohnsitzes aus dem betroffenen Mitgliedstaat“






I.      Einleitung

1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) betrifft die Auslegung des am 21. Juni 1999 in Luxemburg unterzeichneten und am 1. Juni 2002 in Kraft getretenen Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit(2) (im Folgenden: FZA).

2.        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Christian Picart, einem französischen Staatsangehörigen, und der französischen Finanzverwaltung über deren Entscheidung, den Betrag des nicht realisierten Wertzuwachses der von ihm gehaltenen und bei der Verlegung seines steuerlichen Wohnsitzes von Frankreich in die Schweiz angegebenen Wertpapiere anzuheben und gegen ihn zusätzliche Einkommensteuer und Sozialabgaben sowie Strafzuschläge festzusetzen.

3.        Die vorliegende Rechtssache gibt dem Gerichtshof die Gelegenheit, zu präzisieren, ob sich – wie er bereits hinsichtlich der Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit entschieden hat – der Anwendungsbereich der Bestimmungen des FZA über das Recht auf Niederlassung und über das Diskriminierungsverbot auf eine steuerliche Maßnahme erstreckt, die in der Besteuerung der nicht realisierten Wertzuwächse „beim Wegzug“ aus dem nationalen Hoheitsgebiet besteht und vom Herkunftsstaat eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats erlassen wurde, als dieser seinen steuerlichen Wohnsitz in die Schweiz verlegte.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      FZA

4.        Nach dem Wortlaut der Präambel des FZA sind die Vertragsparteien „entschlossen, [die] Freizügigkeit zwischen [den Hoheitsgebieten der Vertragsparteien] auf der Grundlage der in der Europäischen Gemeinschaft geltenden Bestimmungen zu verwirklichen“.

5.        Nach Art. 1 Buchst. a des FZA dient dieses Abkommen dem Ziel, zugunsten der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und der Schweiz ein Recht auf Einreise, Aufenthalt, Zugang zu einer unselbständigen Erwerbstätigkeit und Niederlassung als Selbständiger sowie das Recht auf Verbleib im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien einzuräumen.

6.        Art. 2 („Nichtdiskriminierung“) des FZA bestimmt, dass die Staatsangehörigen einer Vertragspartei, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei aufhalten, bei der Anwendung dieses Abkommens gemäß den Anhängen I, II und III nicht aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert werden.

7.        Nach Art. 4 („Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit“) des FZA wird das Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit nach Maßgabe des Anhangs I eingeräumt.

8.        Art. 16 („Bezugnahme auf das Gemeinschaftsrecht“) des FZA bestimmt in seinem Abs. 2, dass, soweit für die Anwendung des FZA Begriffe des Gemeinschaftsrechts herangezogen werden, hierfür die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union vor dem Zeitpunkt der Unterzeichnung berücksichtigt wird. Über die Rechtsprechung nach dem Zeitpunkt der Unterzeichnung des FZA wird die Schweiz unterrichtet. Um das ordnungsgemäße Funktionieren dieses Abkommens sicherzustellen, stellt der Gemischte Ausschuss auf Antrag einer Vertragspartei die Auswirkungen dieser Rechtsprechung fest.

9.        Anhang I des FZA ist der Freizügigkeit gewidmet. Art. 9 („Gleichbehandlung“) dieses Anhangs bestimmt:

„1.      Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger einer Vertragspartei ist, darf aufgrund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, falls er arbeitslos geworden ist, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer.

2.      Ein Arbeitnehmer und seine in Artikel 3 dieses Anhangs genannten Familienangehörigen genießen dort die gleichen steuerlichen und sozialen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen.

…“

10.      Kapitel III des Anhangs I des FZA enthält die Bestimmungen über Selbständige. Sein Art. 12 Abs. 1 und 2 lautet:

„1.      Ein Staatsangehöriger einer Vertragspartei, der sich zwecks Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei niederlassen will (im Folgenden ‚e‘ genannt), erhält eine Aufenthaltserlaubnis mit einer Gültigkeitsdauer von mindestens fünf Jahren, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Erteilung, sofern er den zuständigen nationalen Behörden nachweist, dass er zu diesem Zweck niedergelassen ist oder sich niederlassen will.

2.      Die Aufenthaltserlaubnis wird automatisch um mindestens fünf Jahre verlängert, sofern der Selbständige den zuständigen nationalen Behörden nachweist, dass er eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt.“

11.      Art. 15 („Gleichbehandlung“) Abs. 1 und 2 des Anhangs I des FZA sieht vor:

„1.      Dem Selbständigen wird im Aufnahmestaat hinsichtlich des Zugangs zu einer selbständigen Erwerbstätigkeit und deren Ausübung eine Behandlung gewährt, die nicht weniger günstig ist als die den eigenen Staatsangehörigen gewährte Behandlung.

2.      Artikel 9 dieses Anhangs gilt sinngemäß für die in diesem Kapitel genannten Selbständigen.“

12.      Art. 21 („Beziehung zu den bilateralen Doppelbesteuerungsabkommen“) des FZA sieht in seinem Abs. 3 vor, dass „[k]eine Bestimmung dieses Abkommens … die Vertragsparteien daran [hindert], Maßnahmen zu beschließen oder anzuwenden, um nach Maßgabe der Bestimmungen der nationalen Steuergesetzgebung einer Vertragspartei oder der zwischen der Schweiz einerseits und einem oder mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft andererseits geschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen oder sonstiger steuerrechtlicher Vereinbarungen die Besteuerung sowie die Zahlung und die tatsächliche Erhebung der Steuern zu gewährleisten oder die Steuerflucht zu verhindern“.

13.      Kapitel V des Anhangs I des FZA ist „Personen, die keine Erwerbstätigkeit ausüben“, gewidmet. Art. 24 („Aufenthaltsregelung“) des Anhangs I des FZA bestimmt in seinem Abs. 1 insbesondere, dass eine Person, die die Staatsangehörigkeit einer Vertragspartei besitzt und keine Erwerbstätigkeit im Aufenthaltsstaat ausübt und dort kein Aufenthaltsrecht aufgrund anderer Bestimmungen dieses Abkommens hat, eine Aufenthaltserlaubnis mit einer Gültigkeitsdauer von mindestens fünf Jahren erhält, sofern sie den zuständigen nationalen Behörden den Nachweis dafür erbringt, dass sie für sich selbst und ihre Familienangehörigen über ausreichende finanzielle Mittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen, und über einen Krankenversicherungsschutz verfügt, der sämtliche Risiken abdeckt.

B.      Französisches Steuerrecht

14.      Art. 167bis des französischen Code général des impôts (Allgemeines Steuergesetzbuch, im Folgenden: CGI) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits anwendbaren Fassung lautete:

„I. – 1.      Steuerpflichtige, die ihren steuerlichen Wohnsitz während der letzten zehn Jahre mindestens sechs Jahre in Frankreich hatten, werden zu dem Zeitpunkt, zu dem sie ihren Wohnsitz ins Ausland verlegen, hinsichtlich der Wertsteigerungen besteuert, die für die [einen Anteil von 25 % am Kapital einer Gesellschaft übersteigenden] Gesellschaftsrechte festgestellt wurden.

II. – 1.      Die Zahlung der auf die festgestellte Wertsteigerung anfallenden Steuer kann bis zum Zeitpunkt der Übertragung, des Rückkaufs, der Einlösung oder der Kraftloserklärung der betreffenden Gesellschaftsrechte aufgeschoben werden.

Der Zahlungsaufschub setzt voraus, dass der Steuerpflichtige den Betrag der nach [Abschnitt] I festgestellten Wertsteigerung erklärt, einen Antrag auf Zahlungsaufschub stellt, einen in Frankreich ansässigen Bevollmächtigten benennt, der zum Empfang von Mitteilungen in Bezug auf Besteuerungsgrundlage, Steuererhebung sowie steuerrechtliche Rechtsstreitigkeiten ermächtigt ist, und vor seinem Wegzug dem für die Steuererhebung zuständigen Finanzbeamten Sicherheiten leistet, die geeignet sind, die Einziehung der Steuerforderung der Finanzverwaltung zu gewährleisten.

2.      Die Steuerpflichtigen, denen der Zahlungsaufschub nach diesem Artikel gewährt wird, sind zur Erklärung nach [Art. 170 Abs. 1 CGI] verpflichtet. In dieser Erklärung ist der kumulierte Betrag der Steuern anzugeben, für die ein Zahlungsaufschub gewährt wurde. Ihr ist auf einem beim Finanzamt erhältlichen Formular eine Aufstellung beizufügen, aus der sich der Betrag der Steuern für die betreffenden Wertpapiere ergibt, für die der Zahlungsaufschub noch nicht abgelaufen ist, sowie gegebenenfalls die Art und der Zeitpunkt der den Zahlungsaufschub beendenden Ereignisse.

Die vom Steuerpflichtigen im Ausland auf die dort tatsächlich realisierte Wertsteigerung gezahlte Steuer ist auf die in Frankreich festgesetzte Einkommensteuer anzurechnen, sofern sie mit dieser vergleichbar ist.

4.      Werden die Erklärung und die Aufstellung nach [Abs.] 2 nicht vorgelegt oder die Auskünfte, die in diesen enthalten sein müssen, ganz oder teilweise nicht erteilt, so wird die Steuer, für die Zahlungsaufschub gewährt wurde, sofort fällig.“

III. Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

15.      Am 7. Juni 2002 verlegte Herr Picart seinen Wohnsitz aus Frankreich in die Schweiz. Zu diesem Zeitpunkt hielt er wesentliche Anteile am Kapital mehrerer französischer Gesellschaften.

16.      Anlässlich der Verlegung seines steuerlichen Wohnsitzes erklärte Herr Picart gemäß Art. 167bis CGI einen nicht realisierten Wertzuwachs dieser Beteiligungen, benannte, um einen Aufschub der Zahlung der entsprechenden Steuerschuld zu erreichen, einen steuerlichen Vertreter in Frankreich und stellte eine Bankbürgschaft, um die Beitreibung der Forderung der französischen Staatskasse zu sichern.

17.      2005 veräußerte Herr Picart seine Anteile, was den Aufschub der Besteuerung beendete. Im Anschluss an die Prüfung seiner persönlichen steuerlichen Situation im Zeitraum vom 1. Januar 2002 bis zum 31. Dezember 2004 nahm die Finanzverwaltung eine Neubewertung des betreffenden Wertzuwachses vor und setzte gegen Herrn Picart zusätzliche Einkommensteuerbeträge fest.

18.      Um einen Erlass dieser zusätzlichen Besteuerung zu erreichen, legte Herr Picart Einspruch ein, der von der Steuerverwaltung zurückgewiesen wurde. Daraufhin rief Herr Picart das Tribunal administratif de Montreuil (Verwaltungsgericht Montreuil, Frankreich) an. Zur Begründung seiner Klage trug er vor, Art. 167bis CGI sei mit dem FZA unvereinbar. Insoweit machte er geltend, dieses Abkommen garantiere die Niederlassungsfreiheit, auf die er sich als Selbständiger berufen könne, weil er sich in der Schweiz niedergelassen habe, um dort eine Erwerbstätigkeit auszuüben, die darin bestehe, seine verschiedenen direkten oder indirekten Beteiligungen an mehreren von ihm beherrschten Gesellschaften zu verwalten. Diese Klage wurde mit Urteil vom 10. März 2011 abgewiesen. Nach Zurückweisung seiner Berufung gegen dieses Urteil durch die Cour administrative d’appel de Versailles (Verwaltungsberufungsgericht Versailles, Frankreich) legte Herr Picart Kassationsbeschwerde beim Conseil d’État (Staatsrat) ein.

19.      Das vorlegende Gericht möchte zum einen wissen, ob das Recht auf Niederlassung als Selbständiger, wie es im FZA definiert ist, als gleichwertig mit der Niederlassungsfreiheit angesehen werden kann, die Art. 49 AEUV den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten garantiert, und zum anderen, ob das Urteil vom 7. September 2006, N (C‑470/04, EU:C:2006:525), das nach der Unterzeichnung dieses Abkommens ergangen ist, auf dieses Abkommen angewendet werden kann.

20.      Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Kann das Recht auf Niederlassung als Selbständiger, wie es in den Art. 1 und 4 des FZA und in Art. 12 von dessen Anhang I definiert ist, als gleichwertig mit der Niederlassungsfreiheit angesehen werden, die Personen, die eine selbständige Erwerbstätigkeit ausüben, mit Art. 49 AEUV gewährleistet wird?

2.      Wäre dann angesichts der Bestimmungen von Art. 16 des FZA die auf das Urteil vom 7. September 2006, N (C‑470/04, EU:C:2006:525), zurückgehende und damit nach diesem Abkommen ergangene Rechtsprechung im Fall eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats anzuwenden, der seinen Wohnsitz in die Schweiz verlegt hat und sich darauf beschränkt, die Beteiligungen zu behalten, die er an dem Recht dieses Mitgliedstaats unterliegenden Gesellschaften hielt und die ihm einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen dieser Gesellschaften verleihen und es ihm ermöglichen, deren Tätigkeiten zu bestimmen, ohne indessen zu beabsichtigen, in der Schweiz eine andere selbständige Erwerbstätigkeit als die auszuüben, die er in dem Mitgliedstaat ausgeübt hat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und die in der Verwaltung dieser Beteiligungen besteht?

3.      Sollte dieses Recht nicht gleichwertig mit der Niederlassungsfreiheit sein, wäre es dann so auszulegen, wie es der Gerichtshof der Europäischen Union in seinem Urteil vom 7. September 2006, N (C‑470/04, EU:C:2006:525), für die Niederlassungsfreiheit getan hat?

21.      Zu diesen Fragen haben Herr Picart, die französische Regierung und die Europäische Kommission schriftliche Erklärungen abgegeben. Die genannten Beteiligten und die deutsche Regierung haben in der Sitzung vom 16. Februar 2017 mündliche Ausführungen gemacht.

IV.    Würdigung

A.      Vorüberlegungen

22.      Bis zum 31. Dezember 2004 sah Art. 167bis CGI grundsätzlich eine sofortige Besteuerung der Wertzuwächse bestimmter Wertpapiere und Gesellschaftsanteile vor, wenn ein Steuerpflichtiger, der in den vorausgegangenen zehn Jahren mindestens sechs Jahre lang in Frankreich steueransässig war, seinen steuerlichen Wohnsitz ins Ausland verlegte. Dieser Besteuerung unterlagen nur Steuerpflichtige, die in den letzten fünf Jahren vor der Verlegung des steuerlichen Wohnsitzes mit mehr als 25 % am Kapital einer Gesellschaft beteiligt waren. Bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen, zu denen die Stellung einer Bankbürgschaft gehörte, konnte der Steuerpflichtige – wie Herr Picart im Ausgangsfall – einen Zahlungsaufschub u. a. bis zum Zeitpunkt der Veräußerung der betroffenen Wertpapiere oder Gesellschaftsanteile beantragen.

23.      Diese Möglichkeit der sofortigen Besteuerung der zum Zeitpunkt der Verlegung des steuerlichen Wohnsitzes festgestellten nicht realisierten Wertzuwächse, verbunden mit einem an strenge Voraussetzungen geknüpften Zahlungsaufschub, wurde im Urteil vom 11. März 2004, de Lasteyrie du Saillant (C‑9/02, EU:C:2004:138), als Einschränkung der Ausübung der in Art. 52 EG-Vertrag (nach Änderung zunächst Art. 43 EG, jetzt Art. 49 AEUV) vorgesehenen Niederlassungsfreiheit angesehen.

24.      Genauer gesagt hat der Gerichtshof in den Rn. 46 und 47 dieses Urteils festgestellt, dass die Anwendung des Art. 167bis CGI Steuerpflichtige, die ihren Wohnsitz ins Ausland verlegen möchten, gegenüber einer Person, die ihren Wohnsitz in Frankreich beibehält, benachteiligt, was durch eine Prüfung der Voraussetzungen für die Gewährung des Zahlungsaufschubs, zu denen die Stellung einer Bankbürgschaft gehört, bestätigt wird. Nachdem der Gerichtshof die legitimen Ziele von allgemeinem Interesse, die die am Verfahren beteiligten Regierungen als mögliche Rechtfertigung der Beschränkung der Niederlassungsfreiheit angeführt hatten, nämlich der Steuerflucht vorzubeugen, die Kohärenz des nationalen Steuersystems zu wahren und die Besteuerungsrechte zwischen den Mitgliedstaaten aufzuteilen(3), nacheinander geprüft und verworfen hatte, entschied er, dass der in Art. 52 EG-Vertrag (nach Änderung zunächst Art. 43 EG, jetzt Art. 49 AEUV) verankerte Grundsatz der Niederlassungsfreiheit es einem Mitgliedstaat verwehrt, zur Vorbeugung gegen die Steuerflucht eine Regelung wie die in Artikel 167bis CGI vorgesehene einzuführen, wonach noch nicht realisierte Wertsteigerungen besteuert werden, wenn ein Steuerpflichtiger seinen steuerlichen Wohnsitz ins Ausland verlegt(4).

25.      Der Gerichtshof ist der Lösung, die er bezüglich der in Art. 167bis CGI in dessen bis zum 31. Dezember 2004 gültigen Fassung vorgesehenen Besteuerung der nicht realisierten Wertzuwächse „beim Wegzug“ (sogenannte „exit tax“) entwickelt hat, auch in dem vom vorlegenden Gericht erwähnten Urteil vom 7. September 2006, N (C‑470/04, EU:C:2006:525), bezüglich der niederländischen Regelung der Wegzugsbesteuerung gefolgt, die die Bewilligung des Aufschubs der Zahlung der Steuer auf die nicht realisierten Wertzuwächse ebenfalls davon abhängig machte, dass der Steuerpflichtige, der seinen steuerlichen Wohnsitz aus einem Mitgliedstaat in einen anderen verlegt, eine Bankbürgschaft stellt.

26.      Lassen sich die Erkenntnisse dieser Urteile zur Reichweite und Auslegung der Niederlassungsfreiheit zugunsten von Staatsangehörigen, die ihren steuerlichen Wohnsitz von einem Mitgliedstaat in einen anderen verlegen, auf die Auslegung des zwischen der Union und der Schweizerischen Eidgenossenschaft geschlossenen FZA übertragen?(5)

27.      Wie sich aus den Gründen des Vorlagebeschlusses ergibt, hatte Herr Picart seine Auffassung, dass diese Frage zu bejahen sei, bereits vor den französischen Verwaltungsgerichten im Rahmen seiner Rechtsbehelfe vertreten, die sich gegen die anfängliche Besteuerung (vom vorlegenden Gericht als „ursprüngliche“ Besteuerung eingestuft) richteten, der er hinsichtlich der auf den maßgeblichen Zeitraum entfallenden nicht realisierten Wertzuwächse ausgesetzt war. Dieses Vorbringen hat der Conseil d’État (Staatsrat) jedoch mit Urteil vom 29. April 2013 im Wesentlichen mit der Begründung zurückgewiesen, dass der Betroffene nicht behauptet und erst recht nicht nachgewiesen habe, dass er seinen steuerlichen Wohnsitz in die Schweiz verlegt habe, um dort eine Erwerbstätigkeit auszuüben(6).

28.      Im Licht dieses Urteils des Conseil d’État (Staatsrat) und im Anschluss an die 2005 anlässlich der Veräußerung seiner Anteile von der französischen Steuerverwaltung vorgenommene Neubewertung und höhere Festsetzung des Betrags der ihm zugerechneten Wertzuwächse hat Herr Picart daher den Standpunkt vertreten, die in der Schweiz wahrgenommene Verwaltung seiner wesentlichen Beteiligungen an in Frankreich ansässigen Gesellschaften stelle eine „selbständige“ Tätigkeit im Sinne des FZA dar, die ein der in Art. 49 AEUV verankerten Niederlassungsfreiheit entsprechendes Recht auf Niederlassung vorsähen, das der Anwendung einer Maßnahme wie der des Art. 167bis CGI (in seiner bis zum 31. Dezember 2004 gültigen Fassung) entgegenstehe.

29.      Die Kommission schließt sich in ihren Erklärungen dieser Auffassung von Herrn Picart im Wesentlichen an. Sie ist der Ansicht, das Recht auf Niederlassung, welches das FZA natürlichen Personen gewähre, könne als gleichwertig mit der in Art. 49 AEUV verankerten Niederlassungsfreiheit angesehen werden, die selbständig tätigen Personen zustehe. Nach Auffassung der Kommission steht dieses Recht einer Regelung wie der durch Art. 167bis CGI eingeführten entgegen, insbesondere im Licht der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung der Niederlassungsfreiheit.

30.      Die französische und die deutsche Regierung sind gegenteiliger Ansicht. Sie machen im Wesentlichen geltend, das FZA regele nicht die steuerlichen Beschränkungen, die der Herkunftsstaat eines Staatsangehörigen, der sich auf die Bestimmungen dieses Abkommens berufen wolle, eingeführt habe. Die deutsche Regierung weist darauf hin, dass steuerliche Maßnahmen gemäß Art. 21 Abs. 3 FZA vom Anwendungsbereich dieses Abkommens ausgenommen seien. Schließlich vertreten diese beiden Regierungen den Standpunkt, dass Herr Picart keine Tätigkeit ausübe, die unter den Begriff „selbständig“ falle. Er könne sich daher nicht auf das Niederlassungsrecht berufen.

31.      Obwohl das vorlegende Gericht den Gerichtshof nicht um Auslegung des Art. 21 Abs. 3 FZA ersucht, wäre es – sofern diese Bestimmung so zu verstehen wäre, wie es die deutsche Regierung vorschlägt – denkbar oder sogar naheliegend, dass die Vorlagefragen nicht mehr beantwortet zu werden brauchen. Als Maßnahme, die die Besteuerung, Zahlung und tatsächliche Erhebung der Steuern gewährleisten oder die Steuerflucht verhindern soll, würde Art. 167bis CGI demnach nicht in den Anwendungsbereich der grundlegenden Bestimmungen des FZA über die Freizügigkeit fallen. Daher ist zunächst die Tragweite von Art. 21 Abs. 3 FZA zu untersuchen. Im Anschluss daran werde ich die Tragweite des vom FZA garantierten Rechts auf Niederlassung prüfen.

B.      Tragweite von Art. 21 Abs. 3 FZA

32.      Art. 21 FZA, der Teil der „allgemeinen und Schlussbestimmungen“ dieses Abkommens ist, reicht weiter als seine Überschrift erwarten lässt, die lediglich die „Beziehung [des FZA] zu den bilateralen Doppelbesteuerungsabkommen“ erwähnt. Die drei Absätze, in die dieser Artikel sich gliedert, betreffen nämlich Situationen und Maßnahmen verschiedener Art, die nicht auf die Beziehungen zwischen dem FZA und den bilateralen Doppelbesteuerungsabkommen beschränkt sind.

33.      Zwar bestimmt Art. 21 Abs. 1 FZA, dass solche Doppelbesteuerungsabkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und den Mitgliedstaaten von den Bestimmungen dieses Abkommens unberührt bleiben.

34.      Abs. 2 dieses Artikels enthält jedoch eine allgemeine Auslegungsregel, nach der keine Bestimmung des FZA so auszulegen ist, dass sie die Vertragsparteien daran hindert, bei der Anwendung ihrer Steuervorschriften eine Unterscheidung zwischen Steuerpflichtigen zu machen, die sich nicht in vergleichbaren Situationen befinden. Dieser Absatz beschränkt sich somit nicht auf die Beziehungen zwischen dem FZA und den bilateralen Doppelbesteuerungsabkommen.

35.      Noch weiter reichend stellt Art. 21 Abs. 3 FZA klar, dass „[k]eine Bestimmung dieses Abkommens … die Vertragsparteien daran [hindert], Maßnahmen zu beschließen oder anzuwenden, um nach Maßgabe der Bestimmungen der nationalen Steuergesetzgebung einer Vertragspartei … die Besteuerung sowie die Zahlung und die tatsächliche Erhebung der Steuern zu gewährleisten oder die Steuerflucht zu verhindern“(7).

36.      Bedeutet Art. 21 Abs. 3 FZA angesichts seines Wortlauts somit, dass sämtliche von den Vertragsparteien erlassenen und angewandten steuerlichen Maßnahmen vom Anwendungsbereich dieses Abkommens ausgenommen sind, wie die deutsche Regierung in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof vorgetragen hat?

37.      Meiner Ansicht nach ist dies nicht der Fall.

38.      Art. 21 Abs. 3 FZA ist – wie die Bestimmungen jeder für die Union verbindlichen internationalen Übereinkunft – im Einklang mit Art. 31 des Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge(8) in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Licht des Ziels und Zwecks des Abkommens auszulegen(9).

39.      Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass, wie aus der Präambel sowie Art. 1 Buchst. d und Art. 16 Abs. 2 FZA hervorgeht, dessen Ziel darin besteht, im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien dieses Abkommens die Freizügigkeit zugunsten der Staatsangehörigen der Union und denen der Schweizerischen Eidgenossenschaft auf der Grundlage der in der Union geltenden Bestimmungen zu verwirklichen, deren Begriffe im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs ausgelegt werden müssen(10).

40.      Desgleichen geht sowohl aus dem Urteil vom 28. Februar 2013, Ettwein (C‑425/11, EU:C:2013:121, Rn. 44 und 45), als auch aus dem Urteil vom 19. November 2015, Bukovansky (C‑241/14, EU:C:2015:766, Rn. 41), hervor, dass keiner der ersten beiden Absätze des Art. 21 FZA dahin ausgelegt wurde, dass er grundsätzlich die von den Vertragsparteien erlassenen steuerlichen Maßnahmen vom Anwendungsbereich der grundlegenden Bestimmungen dieses Abkommens ausschließe, die sich in Übereinstimmung mit dem Ziel dieses Abkommens auf die Freizügigkeit beziehen(11).

41.      Insbesondere im Urteil vom 19. November 2015, Bukovansky (C‑241/14, EU:C:2015:766, Rn. 41), das u. a. das Zusammenspiel zwischen Art. 21 Abs. 1 FZA und Art. 9 Abs. 2 des Anhangs I dieses Abkommens betraf, der die Gleichbehandlung von Arbeitnehmern hinsichtlich des Zugangs zu steuerlichen und sozialen Vergünstigungen vorsieht, hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 21 FZA in seiner Tragweite nicht mit den Grundsätzen kollidieren darf, die dem Abkommen, zu dem dieser Artikel gehört, zugrunde liegen. Der Gerichtshof hat daraus geschlossen, dass „[d]ieser Artikel … daher nicht in dem Sinne verstanden werden [kann], dass er es den Unionsmitgliedstaaten und der Schweizerischen Eidgenossenschaft gestatte, die Verwirklichung der Freizügigkeit dadurch zu beeinträchtigen, dass sie in Ausübung der entsprechend ihren bilateralen Doppelbesteuerungsabkommen aufgeteilten Steuerhoheit Art. 9 Abs. 2 des Anhangs I des Abkommens … die praktische Wirksamkeit nehmen“.

42.      Art. 21 Abs. 1 und 2 FZA hat somit eine relative Tragweite.

43.      Ich vermag nicht zu erkennen, aus welchen – im Übrigen von der deutschen Regierung nicht dargelegten – Gründen für Art. 21 Abs. 3 FZA etwas anderes gelten sollte.

44.      Würde Art. 21 Abs. 3 FZA dahin ausgelegt, dass jede steuerliche Maßnahme vom Anwendungsbereich dieses Abkommens ausgenommen sei, wäre es überflüssig gewesen, die beiden vorausgehenden Absätze dieses Artikels in das FZA aufzunehmen. Noch schwerer wiegt, dass mit einer solchen Auslegung dieser Vorschrift auch Art. 9 Abs. 2 und Art. 15 Abs. 2 des Anhangs I des FZA – die jeweils u. a. vorsehen, dass Arbeitnehmer bzw. Selbständige, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit nach dem FZA Gebrauch gemacht haben, im Aufnahmestaat die gleichen steuerlichen Vergünstigungen genießen wie die inländischen Arbeitnehmer und Selbständigen – die praktische Wirksamkeit genommen würde. Die Gewährung einer steuerlichen Vergünstigung setzt nämlich voraus, dass die Einkünfte des betroffenen Arbeitnehmers oder Selbständigen im Hoheitsgebiet des Vertragsstaats im Rahmen der Ausübung seiner Steuerhoheit Gegenstand einer – wenn auch beschränkten – steuerlichen Belastung sind(12).

45.      Folglich kann Art. 21 Abs. 3 FZA im Gegensatz zum Vorbringen der deutschen Regierung nicht dahin ausgelegt werden, dass er die Vertragsparteien – und sei es auch nur in Steuersachen – von der Verpflichtung entbindet, die grundlegenden Bestimmungen dieses Abkommens zu beachten, die im Einklang mit dessen Ziel die Freizügigkeit zwischen diesen Parteien gewährleisten.

46.      Art. 21 Abs. 3 FZA ist daher dahin auszulegen, dass er den Vertragsparteien gestattet, alle Maßnahmen zu beschließen oder anzuwenden, die die Besteuerung, Zahlung und tatsächliche Erhebung der Steuern gewährleisten oder die Steuerflucht verhindern sollen, sofern die auf diese Weise vorbehaltene Steuerhoheit unter Beachtung des Ziels des FZA und seiner im Einklang mit diesem Ziel stehenden Bestimmungen über die Freizügigkeit ausgeübt wird. Diese Auslegung der Tragweite von Art. 21 Abs. 3 FZA steht im Einklang mit der vor dem Tag der Unterzeichnung des FZA, dem 21. Juni 1999, entwickelten Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass zwar der Bereich der direkten Steuern als solcher beim gegenwärtigen Stand des Rechts der Union nicht in deren Zuständigkeit fällt, die Mitgliedstaaten die ihnen verbliebenen Befugnisse jedoch unter Wahrung dieses Rechts ausüben müssen(13).

47.      Ich weise ferner darauf hin, dass die französische Regierung in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof selbst eingeräumt hat, dass Art. 21 Abs. 3 FZA den Vertragsparteien nur gestattet, steuerliche Maßnahmen zu erlassen, die den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit(14) und das vom FZA verfolgte Ziel beachten.

48.      Daraus folgt, dass eine Maßnahme wie die des Art. 167bis CGI nicht schon deshalb außerhalb des Anwendungsbereichs der grundlegenden Bestimmungen des FZA liegt, weil es sich um eine Maßnahme handelt, die die Besteuerung, Zahlung und tatsächliche Erhebung der Steuern gewährleisten oder die Steuerflucht verhindern soll.

C.      Tragweite des vom FZA garantierten Rechts auf Niederlassung

49.      Nach der Rechtsprechung kann, da die Schweizerische Eidgenossenschaft nicht dem Binnenmarkt der Union beigetreten ist, die den unionsrechtlichen Bestimmungen über den Binnenmarkt gegebene Auslegung nicht automatisch auf die Auslegung des Abkommens übertragen werden, sofern dies nicht im Abkommen selbst ausdrücklich vorgesehen ist(15).

50.      Gemäß Art. 1 FZA ist es u. a. Ziel dieses Abkommens, den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenossenschaft ein „[Recht] auf … Niederlassung als Selbständiger“ im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien einzuräumen.

51.      Art. 4 FZA gewährleistet das Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit nach Maßgabe des Anhangs I dieses Abkommens.

52.      Nach Art. 12 Abs. 1 des Anhangs I des FZA bezeichnet der Begriff „Selbständiger“ einen Staatsangehörigen einer Vertragspartei, der sich zwecks Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei niederlassen will. Zu diesem Zweck wird diesem Staatsangehörigen gemäß diesem Artikel eine Aufenthaltserlaubnis mit einer Gültigkeitsdauer von mindestens fünf Jahren ausgestellt.

53.      Das durch diese Bestimmungen eingeräumte Recht auf Niederlassung ist somit natürlichen Personen vorbehalten, die Staatsangehörige einer Vertragspartei sind, um ihnen die Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei zu ermöglichen(16).

54.      Im Ausgangsrechtsstreit ist unstreitig, dass Herr Picart, ein französischer Staatsangehöriger, nicht beabsichtigt, einer selbständigen Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet der Schweizerischen Eidgenossenschaft nachzugehen, sondern eine Tätigkeit beizubehalten, deren wirtschaftliche Natur zumindest implizit Gegenstand der zweiten vom vorlegenden Gericht gestellten Frage ist und darin besteht, seine wesentlichen Kapitalanteile an in Frankreich ansässigen Gesellschaften zu verwalten.

55.      Die Situation von Herrn Picart dürfte daher nicht in den Anwendungsbereich von Art. 12 Abs. 1 des Anhangs I des FZA fallen.

56.      Der Gerichtshof hat zwar sowohl in seinem Urteil vom 28. Februar 2013, Ettwein (C‑425/11, EU:C:2013:121), als auch in seinem Urteil vom 21. September 2016, Radgen (C‑478/15, EU:C:2016:705), anerkannt, dass die Staatsangehörigen einer Vertragspartei die Rechte, die ihnen das FZA verleiht, auch gegenüber ihrem eigenen Land geltend machen können.

57.      Allerdings wurde diese Feststellung unter anderen Umständen als denen der vorliegenden Rechtssache getroffen.

58.      So ging es im Urteil vom 28. Februar 2013, Ettwein (C‑425/11, EU:C:2013:121), um die Situation von „selbständigen Grenzgängern“, hinsichtlich deren der Gerichtshof klargestellt hat, dass für diese Kategorie von Personen Vorschriften gelten, die Unterschiede zu dem in Art. 12 Abs. 1 des Anhangs I des FZA definierten Begriff „Selbständiger“ aufweisen(17). Insbesondere ergibt sich, wie der Gerichtshof in Rn. 34 des Urteils vom 28. Februar 2013, Ettwein (C‑425/11, EU:C:2013:121), ausgeführt hat, aus Art. 13 Abs. 1 des Anhangs I des FZA, dass ein selbständiger Grenzgänger „ein Staatsangehöriger einer Vertragspartei mit Wohnsitz im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei [ist], der eine selbständige Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei ausübt und in der Regel täglich oder mindestens einmal in der Woche an seinen Wohnort zurückkehrt“.

59.      Speziell auf der Grundlage des „Wortlaut[s]“ von Art. 13 Abs. 1 des Anhangs I des FZA hat der Gerichtshof im Urteil vom 28. Februar 2013, Ettwein (C‑425/11, EU:C:2013:121, Rn. 34 und 35), anerkannt, dass deutsche Staatsangehörige, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet der Schweizerischen Eidgenossenschaft haben und eine selbständige Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland ausüben, sich aufgrund der in diesem Artikel getroffenen Unterscheidung zwischen dem Wohnort der Betroffenen und dem Ort der Ausübung ihrer selbständigen Tätigkeit auf diese Bestimmung berufen können, um gegenüber ihrem Herkunftsmitgliedstaat eine steuerliche Vergünstigung zu verlangen. In Art. 13 Abs. 1 des Anhangs I des FZA wird nämlich, „ungeachtet der Staatsangehörigkeit der Betroffenen zwischen dem Wohnort im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei und dem Ort unterschieden, an dem eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt wird, der im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei liegen muss“(18).

60.      Der Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 des Anhangs I unterscheidet sich jedoch von dem des Art. 13 Abs. 1 dieses Anhangs, indem er voraussetzt, dass die selbständige Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei als derjenigen, deren Staatsangehöriger der Betreffende ist, ausgeübt wird (und für die der Betreffende eine Aufenthaltserlaubnis mit einer Gültigkeitsdauer von mindestens fünf Jahren erhält). Diese Voraussetzung ist im Fall von Herrn Picart, der seine Tätigkeit im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats seiner Staatsangehörigkeit beibehält, nicht erfüllt.

61.      Der Sachverhalt des Urteils vom 21. September 2016, Radgen (C‑478/15, EU:C:2016:705), unterscheidet sich ebenfalls von der vorliegenden Rechtssache, weil Herr Radgen, ein deutscher Staatsangehöriger, sich auf sein Recht auf Freizügigkeit berufen hatte, um eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer im Hoheitsgebiet der Schweizerischen Eidgenossenschaft auszuüben.

62.      Zwar trifft es zu, wie das vorlegende Gericht und Herr Picart angeführt haben, dass der Gerichtshof im Zusammenhang mit der Auslegung der Niederlassungsfreiheit nach Art. 43 EG (jetzt Art. 49 AEUV) in den Rn. 27 und 28 des Urteils vom 7. September 2006, N (C‑470/04, EU:C:2006:525), anerkannt hat, dass ein niederländischer Staatsangehöriger, der eine Beteiligung an einer Gesellschaft niederländischen Rechts hielt, die ihm einen solchen Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft verlieh, dass er deren Tätigkeiten bestimmen konnte, in den Anwendungsbereich dieser Niederlassungsfreiheit fiel, weil er seinen Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat, nämlich das Vereinigte Königreich, verlegt hatte. Auch trifft es zu, dass aus diesem Urteil nicht hervorgeht, dass Herr N. nach der Verlegung seines Wohnsitzes in das Vereinigte Königreich eine andere Tätigkeit als die der Verwaltung seiner wesentlichen Beteiligungen am Kapital der betreffenden Gesellschaften niederländischen Rechts ausübte, so dass diese Situation eine unbestreitbare Ähnlichkeit zu der von Herrn Picart aufweist.

63.      Das Urteil vom 7. September 2006, N (C‑470/04, EU:C:2006:525), zeigt, dass die Niederlassungsfreiheit im Anwendungsbereich des AEU–Vertrags auf einen Fall anwendbar sein kann, in dem die natürliche Person, die sich auf diese Freiheit beruft, eine Mehrheitsbeteiligung an einer Gesellschaft verwaltet, die ihren Sitz nicht in dem Mitgliedstaat hat, in den diese Person sich begeben hat, sondern in deren Herkunftsmitgliedstaat.

64.      Diese Rechtsprechung beruht jedoch auf zwei für die innerhalb der Union garantierte Niederlassungsfreiheit charakteristischen Merkmalen, die im Wortlaut der Bestimmungen des FZA über das Recht auf Niederlassung nicht enthalten sind.

65.      Erstens beschränken sich Art. 1 Buchst. a des FZA und Art. 12 Abs. 1 des Anhangs I dieses Abkommens – im Gegensatz zu Art. 43 Abs. 2 EG und Art. 49 Abs. 2 AEUV – darauf, das Recht auf Niederlassung „Selbständigen“ einzuräumen, ohne die Gründung und Leitung von Unternehmen zu erwähnen, und dies auch ausschließlich zugunsten natürlicher Personen.

66.      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Rn 27 des Urteils vom 7. September 2006, N (C‑470/04, EU:C:2006:525), sich ausdrücklich auf Rn. 22 des Urteils vom 13. April 2000, Baars (C‑251/98, EU:C:2000:205), stützt. In Rn. 22 des zuletzt genannten Urteils hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die zwischen den Mitgliedstaaten garantierte Niederlassungsfreiheit „die Gründung und Leitung von Unternehmen, insbesondere von Gesellschaften, in einem Mitgliedstaat durch einen Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats umfasst. Somit macht ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, der eine Beteiligung an einer Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hält, die ihm einen solchen Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft verleiht, dass er deren Tätigkeiten bestimmen kann, von seiner Niederlassungsfreiheit Gebrauch.“(19)

67.      Daher ist es die ausdrückliche Einbeziehung der „Gründung und Leitung von Unternehmen“ in den Anwendungsbereich des Art. 43 Abs. 2 EG (jetzt Art. 49 Abs. 2 AEUV), parallel zur Aufnahme selbständiger Erwerbstätigkeiten, die die aus den Urteilen vom 13. April 2000, Baars (C‑251/98, EU:C:2000:205), und vom 7. September 2006, N (C‑470/04, EU:C:2006:525), hervorgegangene Rechtsprechung rechtfertigt.

68.      Folglich fällt die Verwaltung einer Mehrheitsbeteiligung an einer in der Union ansässigen Gesellschaft durch einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats offensichtlich unter die durch Art. 43 Abs. 2 EG garantierte Niederlassungsfreiheit, weil diese Vorschrift die „Leitung von Unternehmen“ ausdrücklich erwähnt.

69.      Wie bereits erwähnt, geht aus Art. 12 Abs. 1 des Anhangs I des FZA hervor, dass der Begriff „Selbständiger“ mit der Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit zusammenfällt. Im Übrigen geht aus dem Kontext und dem Zweck des FZA in keiner Weise hervor, dass die Vertragsparteien diesem Begriff eine andere Bedeutung hätten beilegen wollen als die gewöhnliche, nämlich die einer selbständigen Erwerbstätigkeit(20), d. h. einer Erwerbstätigkeit, die jemand nicht im Rahmen eines Unterordnungsverhältnisses, was die Arbeitsbedingungen und das Entgelt angeht, und in eigener Verantwortung ausübt(21).

70.      Während somit die Niederlassungsfreiheit innerhalb der Union sowohl die Aufnahme selbständiger Erwerbstätigkeiten als auch die Gründung und Leitung von Unternehmen umfasst, was es rechtfertigt, diese Freiheit als einen „sehr weite[n] Begriff“ zu bezeichnen(22), umfasst das in Art. 1 Buchst. a FZA und in Art. 12 Abs. 1 des Anhangs I dieses Abkommens vorgesehene Recht auf Niederlassung ausschließlich die Aufnahme und Ausübung einer Erwerbstätigkeit als Selbständiger, d. h. einer selbständigen Tätigkeit.

71.      Soweit Herr Picart, ein französischer Staatsangehöriger, sich darauf beschränkt, vom Hoheitsgebiet der Schweizerischen Eidgenossenschaft aus die wesentlichen Beteiligungen zu verwalten, die er an in Frankreich ansässigen Gesellschaften hält, fällt er folglich meines Erachtens nicht unter den Begriff des „Selbständigen“ im Sinne von Art. 1 Buchst. a FZA und von Art. 12 Abs. 1 des Anhangs I dieses Abkommens.

72.      Zweitens untersagt Art. 15 Abs. 1 des Anhangs I des FZA im Gegensatz zu Art. 43 EG und jetzt zu Art. 49 AEUV, die „Beschränkungen“ der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats verbieten(23), in Bezug auf Selbständige nur Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit.

73.      Das Verbot solcher „Beschränkungen“ der Niederlassungsfreiheit in der Union hat dem Gerichtshof Anlass gegeben, insbesondere in seinem Urteil vom 11. März 2004, de Lasteyrie du Saillant (C‑9/02, EU:C:2004:138, Rn. 42), zu bekräftigen, dass die diese Freiheit betreffenden Vorschriften trotz ihres Wortlauts, nach dem sie die Inländerbehandlung im Aufnahmestaat sicherstellen sollen, es auch verbieten, dass der Herkunftsmitgliedstaat die Niederlassung seiner Staatsangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat behindert(24).

74.      Eine entsprechende Überlegung findet jedoch im Wortlaut von Art. 15 Abs. 1 des Anhangs I des FZA keine Stütze. Diese Bestimmung beschränkt sich darauf, im Bereich der Freizügigkeit Selbständiger die Anwendung des Diskriminierungsverbots des Art. 2 dieses Abkommens zu gewährleisten(25). Dieses Verbot bedeutet allein, dass den Selbständigen im Aufnahmestaat die Inländerbehandlung garantiert wird, was das Verbot offensichtlicher und versteckter Formen der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit umfasst(26).

75.      Das vom FZA für Selbständige vorgesehene Recht auf Niederlassung hat daher eine geringere Tragweite als das Verbot des Art. 43 EG (jetzt Art. 49 AEUV). Daraus folgt meines Erachtens, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats durch deren Herkunftsmitgliedstaat, auch wenn sie schon vor dem Tag der Unterzeichnung des FZA, dem 21. Juni 1999, bestand, nicht auf das Verbot des Art. 15 Abs. 1 des Anhangs I des FZA übertragen werden kann.

76.      Angesichts der Unterschiede zwischen Art. 49 AEUV und dem in Art. 15 Abs. 1 des Anhangs I des FZA in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 dieses Anhangs enthaltenen Verbot umfasst dieses daher nicht die von einer Vertragspartei ausgehenden Beschränkungen oder Behinderungen des Rechts auf Niederlassung eines ihrer eigenen Staatsangehörigen.

77.      Ich verkenne zwar nicht, dass der Gerichtshof, wie im Übrigen bereits erwähnt, in seinen Urteilen vom 15. Dezember 2011, Bergström (C‑257/10, EU:C:2011:839), vom 28. Februar 2013, Ettwein (C‑425/11, EU:C:2013:121), vom 19. November 2015, Bukovansky (C‑241/14, EU:C:2015:766), sowie vom 21. September 2016, Radgen (C‑478/15, EU:C:2016:705), anerkannt hat, dass Staatsangehörige einer Vertragspartei, die ihr Freizügigkeitsrecht ausgeübt haben, aus dem FZA abgeleitete Rechte auch gegenüber ihrem eigenen Land geltend machen können.

78.      In seinen Urteilen vom 15. Dezember 2011, Bergström (C‑257/10, EU:C:2011:839, Rn. 27 bis 34), und vom 28. Februar 2013, Ettwein (C‑425/11, EU:C:2013:121, Rn. 33), hat der Gerichtshof diese Möglichkeit aber von „bestimmten Umständen und nach Maßgabe der anwendbaren Bestimmungen“ des FZA abhängig gemacht.

79.      Trotz seiner Bezugnahme auf diese Rechtsprechung hat der Gerichtshof diese Klarstellung in seinen Urteilen vom 19. November 2015, Bukovansky (C‑241/14, EU:C:2015:766, Rn. 36), und vom 21. September 2016, Radgen (C‑478/15, EU:C:2016:705, Rn. 40), nicht ausdrücklich wiederholt. Das bedeutet allerdings nicht, dass er sie aufgegeben hätte.

80.      Ich stelle allerdings fest, dass keine dieser vier Rechtssachen einen „Selbständigen“ im Sinne von Art. 12 Abs. 1 des Anhangs I des FZA betraf.

81.      Man kann zwar die Ansicht vertreten, dass der dem Urteil vom 28. Februar 2013, Ettwein (C‑425/11, EU:C:2013:121), zugrunde liegende Sachverhalt, der, wie bereits ausgeführt, „selbständige Grenzgänger“ im Sinne von Art. 13 Abs. 1 des Anhangs I des FZA betraf, nicht sehr weit von der Situation eines Selbständigen entfernt ist, wie Herr Picart geltend macht. Die Eheleute Ettwein waren nämlich beide Staatsangehörige eines Mitgliedstaats (der Bundesrepublik Deutschland), die ihre selbständige Erwerbstätigkeit in diesem Mitgliedstaat ausübten, ihren Wohnsitz aber in die Schweiz verlegt hatten.

82.      Das Gericht hat anerkannt, dass diese Staatsangehörigen der – allein mit der Verlegung ihres Wohnsitzes in die Schweiz begründeten – Weigerung der deutschen Behörden, ihnen eine steuerliche Vergünstigung zu gewähren, Art. 13 Abs. 1 und Art. 15 Abs. 2 des Anhangs I des FZA entgegenhalten konnten.

83.      Wie ich bereits ausgeführt habe, ist der im Urteil vom 28. Februar 2013, Ettwein (C‑425/11, EU:C:2013:121), gewählte Ansatz aber meines Erachtens auf den – im Übrigen vom Gerichtshof in den Rn. 35 bis 37 dieses Urteils erläuterten – Umstand zurückzuführen, dass im Gegensatz zu Art. 12 Abs. 1 des Anhangs I des FZA, der „Selbständige“ als Staatsangehörige einer Vertragspartei definiert, die eine selbständige Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei ausüben, in Art. 13 Abs. 1 dieses Anhangs ungeachtet der Staatsangehörigkeit der Betroffenen zwischen dem Wohnort im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei und dem Ort unterschieden wird, an dem eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt wird und der im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei liegen muss.

84.      Während für selbständige Grenzgänger der „Aufnahmestaat“ im Sinne von Art. 15 Abs. 1 des Anhangs I des FZA folglich ohne Weiteres zugleich deren Herkunftsstaat sein kann, wie dies in der Rechtssache der Fall war, in der das Urteil vom 28. Februar 2013, Ettwein (C‑425/11, EU:C:2013:121), ergangen ist, muss der Aufnahmestaat, soweit es sich um „Selbständige“ im Sinne von Art. 12 Abs. 1 dieses Anhangs handelt, hingegen eine Vertragspartei sein, deren Staatsangehörigkeit der Selbständige nicht besitzt. Andernfalls wäre die ebenfalls in Art. 12 Abs. 1 des Anhangs I des FZA vorgesehene Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis mit einer Gültigkeitsdauer von mindestens fünf Jahren für die Ausübung dieser Tätigkeit überflüssig.

85.      Zusammenfassend bin ich der Auffassung, dass die Bestimmungen des FZA über das Niederlassungsrecht Selbständiger dahin auszulegen sind, dass sie nur natürlichen Personen zugutekommen, die eine selbständige Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei als derjenigen ausüben oder ausüben wollen, deren Staatsangehörige sie sind, einem Hoheitsgebiet, in dem ihnen Inländerbehandlung gewährt werden muss, d. h. offensichtliche und versteckte Formen der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit verboten sind. In Anbetracht der Angaben des vorlegenden Gerichts dürfte Herr Picart nicht in den Anwendungsbereich dieser Bestimmungen fallen.

86.      Meines Erachtens ermöglichen diese Erwägungen die Beantwortung der drei Fragen des vorlegenden Gerichts.

87.      Ich möchte hinzufügen, dass es in Anbetracht des Kontexts und des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits nicht Aufgabe des Gerichtshofs ist, zu prüfen, ob Herr Picart sich gegebenenfalls auf die Bestimmungen des FZA über Nichterwerbstätige berufen könnte.

88.      Zwar räumt Art. 6 FZA Personen, die keine Erwerbstätigkeit ausüben, ein Aufenthaltsrecht im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei gemäß den Bestimmungen des Anhangs I über Nichterwerbstätige ein. Gemäß Art. 24 Abs. 1 des Anhangs I des FZA erhalten diese Personen eine Aufenthaltserlaubnis mit einer Gültigkeitsdauer von mindestens fünf Jahren, sofern sie erstens über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen, und zweitens über einen Krankenversicherungsschutz, der sämtliche Risiken abdeckt. Ferner erstreckt sich das in Art. 2 FZA vorgesehene Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit auch auf nicht erwerbstätige Staatsangehörige einer Vertragspartei, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei aufhalten.

89.      Abgesehen davon, dass diese Bestimmungen des FZA meines Erachtens nicht mehr Rechte gewähren als die Bestimmungen über Selbständige, hat das vorlegende Gericht den Gerichtshof aber nicht nach diesen Bestimmungen gefragt. Wie ich in Nr. 28 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, hat der Conseil d’État (Staatsrat) nämlich in seinem Urteil vom 29. April 2013 über die Frage, ob Herr Picart sich in dem Rechtsstreit zwischen ihm und den französischen Steuerbehörden auf die Bestimmungen über Nichterwerbstätige berufen könne, im negativen Sinne entschieden. Dieses Urteil ist rechtskräftig. Dem Grundsatz der Rechtskraft kommt auch in der Unionsrechtsordnung große Bedeutung zu, um sowohl den Rechtsfrieden und die Beständigkeit rechtlicher Beziehungen als auch eine geordnete Rechtspflege zu gewährleisten. Hierzu hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass das Unionsrecht es einem nationalen Gericht nicht gebietet, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Entscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch ein Verstoß dieser Entscheidung gegen Unionsrecht abgestellt werden könnte, vorausgesetzt, dass die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität gewahrt werden(27).

90.      Es ist sicherlich zu bedauern, dass der Conseil d’État (Staatsrat) als letztinstanzliches Gericht im Rahmen des Rechtsstreits, in dem schließlich das Urteil vom 29. April 2013 ergangen ist, den Gerichtshof nicht zuvor um Vorabentscheidung über die Auslegung der Art. 2 und 6 FZA sowie von Art. 24 Abs. 1 des Anhangs I dieses Abkommens ersucht hat, insbesondere mit Rücksicht darauf, dass zum Zusammenspiel dieser Bestimmungen keine Rechtsprechung des Gerichtshofs vorliegt.

91.      Jedenfalls liegt auf der Hand, dass das vorlegende Gericht in dieser Rechtssache nicht um Auslegung dieser Bestimmungen ersucht, und zwar wegen des Zusammenwirkens der Verkündung des Urteils des Conseil d’État (Staatsrat) vom 29. April 2013, das in Rechtskraft erwachsen ist, und der Begrenzung des Ausgangsrechtsstreits, dessen Schwerpunkt in der Auslegung des Rechts auf Niederlassung liegt, welches das FZA Selbständigen gewährt.

92.      Unter diesen Umständen und auch in Anbetracht der Tatsache, dass keiner der Beteiligten in der vorliegenden Rechtssache zur Auslegung von Art. 6 FZA und von Art. 24 Abs. 1 des Anhangs I dieses Abkommens Stellung genommen hat, bin ich der Ansicht, dass der Gerichtshof davon absehen sollte, die Auslegung dieser Artikel von Amts wegen zu prüfen. Ein gegenteiliges Vorgehen, nämlich die Beantwortung einer bewusst nicht gestellten Frage, hieße, die Grenzen des Streitgegenstands des Ausgangsrechtsstreits, so wie dieser vom vorlegenden Gericht definiert worden ist, zu verkennen(28).

93.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, auf die Fragen des vorlegenden Gerichts wie folgt zu antworten: Das Niederlassungsrecht eines Selbständigen, wie es sich aus den Art. 1 und 4 FZA sowie aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 15 Abs. 1 des Anhangs I des FZA ergibt, ist dahin auszulegen, dass es nur zugunsten einer natürlichen Person besteht, die eine selbständige Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei als derjenigen, deren Staatsangehörige sie ist, ausüben möchte oder ausübt und in dem dieser Person ein Anspruch auf Inländerbehandlung, d. h. auf das Verbot jeder offensichtlichen oder verdeckten diskriminierenden Maßnahme aus Gründen der Staatsangehörigkeit, zustehen muss. In Anbetracht der Angaben des vorlegenden Gerichts dürfte der Kläger des Ausgangsrechtsstreits nicht in den Anwendungsbereich der genannten Bestimmungen des FZA fallen.

94.      Für den Fall, dass der Gerichtshof der vorstehenden Würdigung und Antwort nicht zustimmen und der Auffassung sein sollte, dass die Tragweite der Bestimmungen des FZA über das Niederlassungsrecht Selbständiger sich wie Art. 43 EG (jetzt Art. 49 AEUV) auf jede von einer Vertragspartei ausgehende Beschränkung der Niederlassung ihrer Staatsangehörigen im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei erstreckt, insbesondere auf der Grundlage von Erwägungen, die sich an diejenigen der Urteile vom 11. März 2004, de Lasteyrie du Saillant (C‑9/02, EU:C:2004:138), und vom 7. September 2006, N (C‑470/04, EU:C:2006:525), anlehnen, wäre es meines Erachtens seine Aufgabe, dem vorlegenden Gericht Hinweise zur Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme zur Besteuerung nicht realisierter Wertzuwächse wie der des Art. 167bis CGI im Fall der Verlegung des steuerlichen Wohnsitzes eines französischen Steuerpflichtigen in die Schweiz zu geben. Auf diesen Punkt werde ich hilfsweise im Folgenden eingehen.

D.      Hilfsweise: Verhältnismäßigkeit einer steuerlichen Maßnahme wie der des Art. 167bis CGI

95.      Wie bereits ausgeführt, beruhte Art. 167bis CGI in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits anwendbaren Fassung auf dem Grundsatz der sofortigen Besteuerung nicht realisierter Wertzuwächse beim Wegzug des Steuerpflichtigen aus Frankreich. Auf Antrag des Steuerpflichtigen konnte diese Besteuerung jedoch durch eine bis zur Realisierung der Wertzuwächse aufgeschobene Zahlung ersetzt werden, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt waren, zu denen die Verpflichtung gehörte, den Betrag des Wertzuwachses innerhalb einer bestimmten Frist zu erklären und Sicherheiten zu leisten, die geeignet waren, die Einziehung der Steuer zu gewährleisten.

96.      Es ist unstreitig, dass Herr Picart diese Voraussetzungen anlässlich der Verlegung seines steuerlichen Wohnsitzes erfüllt und bis zur Veräußerung seiner Anteile im Jahr 2005 einen Aufschub der Steuereinziehung erlangt hatte.

97.      Aus den Akten geht nicht eindeutig hervor, ob Herr Picart die in Art. 167bis CGI vorgesehene Regelung der Besteuerung nicht realisierter Wertzuwächse insgesamt angreift oder nur die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um den Zahlungsaufschub zu erlangen. Da das Urteil vom 7. September 2006, N (C‑470/04, EU:C:2006:525), auf welches das vorlegende Gericht in seiner zweiten und dritten Frage Bezug nimmt, sich mit diesen beiden Punkten befasst hat, ist davon auszugehen, dass die gesamte in Art. 167bis CGI vorgesehene Regelung im Hinblick auf die Bestimmungen des FZA über das Niederlassungsrecht in Frage gestellt wird.

98.      Wie ich bereits erwähnt habe, hat der Gerichtshof im Urteil vom 11. März 2004, de Lasteyrie du Saillant (C‑9/02, EU:C:2004:138), entschieden, dass die in Art. 167bis CGI vorgesehene und zur Vorbeugung gegen die Steuerflucht eingeführte Regelung mit der in Art. 52 EG-Vertrag (nach Änderung zunächst Art. 43 EG, jetzt Art. 49 AEUV) vorgesehenen Niederlassungsfreiheit unvereinbar war.

99.      Insbesondere hat der Gerichtshof ausgeführt, dass Art. 167bis CGI weit über das hinausging, was zur Vorbeugung gegen die Steuerflucht erforderlich war, weil er auf der Unterstellung beruhte, dass jeder Steuerpflichtige, der seinen steuerlichen Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, das französische Steuerrecht zu umgehen beabsichtigt(29).

100. Im Rahmen der Prüfung der Durchführungsbestimmungen zu Art. 167bis CGI, d. h. der Voraussetzungen für den Zahlungsaufschub, hat der Gerichtshof außerdem darauf hingewiesen, dass dieser Aufschub nicht automatisch erfolgte, sondern an die Erfüllung strenger Voraussetzungen geknüpft war, zu denen es gehörte, zur Sicherstellung der Steuererhebung geeignete Sicherheiten zu stellen, die ihrerseits eine die Ausübung des Niederlassungsrechts beschränkende Wirkung hatten. Soweit diese Voraussetzungen der Durchführung der in Art. 167bis CGI vorgesehenen Besteuerungsregelung dienten, die mit dem Ziel, der Steuerflucht vorzubeugen, nicht zu rechtfertigen waren, konnte dieses Ziel auch nicht zur Rechtfertigung dieser Voraussetzungen angeführt werden(30).

101. In seinem Urteil vom 7. September 2006, N (C‑470/04, EU:C:2006:525, Rn. 49 bis 51), das, wie erwähnt, die Anwendung der niederländischen Regelung der „exit tax“ auf eine andere natürliche Person betraf, hat der Gerichtshof zum einen festgestellt, dass die Verpflichtung, zum Zeitpunkt der Verlegung des steuerlichen Wohnsitzes eine Steuererklärung abzugeben, im Hinblick auf das Ziel der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten verhältnismäßig war, zum anderen aber bekräftigt, dass die Verpflichtung zur Stellung von Sicherheiten, von deren Erfüllung die Bewilligung eines Aufschubs der beim Wegzug aus dem Hoheitsgebiet normalerweise sofort fälligen Steuerzahlung abhängt, unverhältnismäßig war.

102. In diesem Stadium der Prüfung kommt es darauf an, ob die Gründe dieser Urteile, die die Verhältnismäßigkeit der Besteuerung der nicht realisierten Wertzuwächse einschließlich der Voraussetzungen betreffend den Zahlungsaufschub betreffen, im Rahmen der Auslegung der Bestimmungen des FZA berücksichtigt werden können.

103. Aus Art. 16 Abs. 2 FZA ergibt sich, dass die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs vor dem Zeitpunkt der Unterzeichnung dieses Abkommens, d. h. vor dem 21. Juni 1999, berücksichtigt wird, soweit für die Anwendung dieses Abkommens Begriffe des Gemeinschaftsrechts herangezogen werden. Ferner bestimmt dieser Artikel, dass die Schweizerische Eidgenossenschaft über die Rechtsprechung nach dem Zeitpunkt der Unterzeichnung dieses Abkommens unterrichtet wird und dass, um das ordnungsgemäße Funktionieren des Abkommens sicherzustellen, der Gemischte Ausschuss auf Antrag einer Vertragspartei die Auswirkungen dieser Rechtsprechung feststellt.

104. Der Verweis auf den Ausdruck „Begriffe des Gemeinschaftsrechts“, der zusammen mit der zeitlichen Abgrenzung durch den Zeitpunkt der Unterzeichnung des FZA wie eine materielle Abgrenzung der relevanten Rechtsprechung des Gerichtshofs zu wirken scheint, ist relativ vage.

105. Allerdings erkennt der Gerichtshof an, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung, der „ein Begriff des Unionsrechts“ ist, unter diesen Ausdruck fällt(31).

106. Er leitet daraus ab, dass zur Feststellung, ob im Rahmen des FZA eine Ungleichbehandlung der Steuerpflichtigen der Vertragsparteien vorliegt, auf die schon vor dem 21. Juni 1999 in der Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelten und später bestätigten Grundsätze abzustellen ist, die die Vergleichbarkeit der Situation dieser Steuerpflichtigen und die Rechtfertigung einer gegebenenfalls unterschiedlichen Behandlung aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses betreffen, soweit diese unterschiedliche Behandlung geeignet ist, die Verwirklichung des verfolgten Zwecks zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zu seiner Erreichung erforderlich ist(32).

107. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wie er im Rahmen der in der Union garantierten Freizügigkeit ausgelegt wird, ist somit ebenfalls ein Begriff des Unionsrechts. Die vor dem 21. Juni 1999 entwickelte und nach diesem Zeitpunkt bestätigte Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung dieses Grundsatzes dürfte daher auch für die Auslegung des FZA relevant sein.

108. Sollte der Gerichtshof der Ansicht sein, dass gemäß Art. 16 Abs. 2 FZA zur Auslegung des den Selbständigen im FZA garantierten Niederlassungsrechts die Urteile vom 11. März 2004, de Lasteyrie du Saillant (C‑9/02, EU:C:2004:138), und vom 7. September 2006, N (C‑470/04, EU:C:2006:525), heranzuziehen sind, müsste er grundsätzlich auch die diesen Urteilen nachfolgende – und ebenfalls nach dem 21. Juni 1999 entwickelte – Rechtsprechung zur Auslegung der Tragweite des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit berücksichtigen.

109. Diese Argumentationslinie bringt allerdings einige Schwierigkeiten bei der Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf die Regelungen der Besteuerung nicht realisierter Wertzuwächse „beim Wegzug“ mit sich.

110. Im Kontext der Rechtsprechung, die nach dem Erlass der Urteile vom 11. März 2004, de Lasteyrie du Saillant (C‑9/02, EU:C:2004:138), und vom 7. September 2006, N (C‑470/04, EU:C:2006:525), ergangen ist, hat der Gerichtshof entschieden, dass eine Regelung eines Mitgliedstaats, die die sofortige Einziehung der Steuer auf die nicht realisierten Wertzuwächse bei den Vermögensgegenständen einer Gesellschaft, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, zum Zeitpunkt dieser Verlegung vorschreibt, unverhältnismäßig ist. Der Gerichtshof war der Auffassung, dass es die Niederlassungsfreiheit weniger stark beeinträchtigt, dem Steuerpflichtigen die Wahl zwischen der sofortigen Zahlung dieser Steuer oder dem Aufschub ihrer Zahlung, gegebenenfalls zuzüglich Zinsen entsprechend der anwendbaren nationalen Regelung, zu lassen(33).

111. Im Rahmen der Ausübung der zweiten Option hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 29. November 2011, National Grid Indus (C‑371/10, EU:C:2011:785, Rn. 74), anerkannt, dass es dem betreffenden Mitgliedstaat freisteht, das Risiko der Nichteinziehung der Steuer, das sich mit der Zeit erhöht, im Rahmen seiner für aufgeschobene Zahlungen von Steuerschulden geltenden nationalen Regelung durch Maßnahmen wie die Stellung einer Bankgarantie zu berücksichtigen(34).

112. In früheren Schlussanträgen habe ich mich gefragt, in welchem Verhältnis die in Rn. 74 des Urteils vom 29. November 2011, National Grid Indus (C‑371/10, EU:C:2011:785), vorgenommene Beurteilung zu den Passagen der Urteile vom 11. März 2004, de Lasteyrie du Saillant (C‑9/02, EU:C:2004:138), und vom 7. September 2006, N (C‑470/04, EU:C:2006:525), steht, in denen festgestellt wurde, dass die dem Steuerpflichtigen als Voraussetzung für einen Aufschub der Steuerzahlung auferlegte Pflicht zur Stellung einer Bankgarantie unverhältnismäßig ist(35).

113. Ich hatte dabei vorgeschlagen, zur Wahrung der Kohärenz dieser Urteile das Erfordernis der Stellung einer Bankgarantie, mit der die Option der aufgeschobenen Einziehung der Steuerschuld verbunden werden kann, eng auszulegen. Insoweit hatte ich die Auffassung vertreten, dass eine solche Garantie nur gefordert werden kann, wenn eine reale und ernsthafte Gefahr einer Nichteinziehung der Steuerforderung besteht(36).

114. Der Gerichtshof scheint diese Bedenken und diesen Vorschlag in seinem Urteil vom 23. Januar 2014, DMC (C‑164/12, EU:C:2014:20), aufgegriffen zu haben. Nach einem Hinweis auf die einschlägigen Passagen der drei zuvor genannten Urteile hat er nämlich in Rn. 67 dieses Urteils ausgeführt, dass das „Erfordernis [der Stellung von Sicherheiten] … nicht grundsätzlich ohne vorherige Bewertung des Nichteinbringungsrisikos aufgestellt werden [kann]“, und in Rn. 69 dieses Urteils präzisiert, dass dieses Risiko „tatsächlich“ bestehen muss.

115. Unlängst hat der Gerichtshof im Urteil vom 21. Dezember 2016, Kommission/Portugal (C‑503/14, EU:C:2016:979, Rn. 53 bis 56), entschieden, dass die im Urteil vom 29. November 2011, National Grid Indus (C‑371/10, EU:C:2011:785), aufgestellten Grundsätze auch auf den Kontext der Besteuerung nicht realisierter Wertzuwächse bei natürlichen Personen übertragen werden können. So hat er auf die Rn. 73 und 74 des zuletzt genannten Urteils hingewiesen(37) und dabei von jeder Bezugnahme auf den meines Erachtens nuancierteren Ansatz abgesehen, der sich aus den Rn. 67 und 69 des Urteils vom 23. Januar 2014, DMC (C‑164/12, EU:C:2014:20), im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit des Erfordernisses ergibt, eine Bankgarantie zu stellen, um den Aufschub der Besteuerung der latenten Wertsteigerungen zu ermöglichen.

116. Diese kurze Analyse soll aufzeigen, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Verhältnismäßigkeit der Mechanismen der Besteuerung nicht realisierter Wertzuwächse „beim Wegzug“ erst in den letzten Jahren entwickelt worden ist, ohne sich auf eine gefestigte Rechtsprechung zu stützen, die sich bereits vor dem Zeitpunkt der Unterzeichnung des FZA herausgebildet hätte. Diese nach dem 21. Juni 1999 ergangene Rechtsprechung weist im Übrigen nach meiner Auffassung Unstimmigkeiten auf, soweit es um die Frage geht, ob ein Mitgliedstaat von einem Steuerpflichtigen, der sich für die aufgeschobene Zahlung der Steuern auf die nicht realisierten Wertzuwächse entscheidet, die Stellung einer Bankgarantie verlangen kann oder nicht.

117. Es kann daher kaum gesagt werden, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Verhältnismäßigkeit der Regelungen über die Besteuerung nicht realisierter Wertzuwächse „beim Wegzug“ eine vor dem 21. Juni 1999 ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs, die bei der Auslegung der Bestimmungen des FZA über das Recht auf Niederlassung Selbständiger zu berücksichtigen wäre, bestätigt oder festigt.

118. Im Zweifel sollte meines Erachtens der Wille der Vertragsparteien berücksichtigt werden, die nach dem 21. Juni 1999 entwickelte Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht auf die Auslegung des FZA zu erstrecken, ohne dass der Gemischte Ausschuss gemäß Art. 16 Abs. 2 Satz 3 FZA „die Auswirkungen dieser Rechtsprechung fest[gestellt]“ hat.

119. Der in Art. 167bis CGI vorgesehene Mechanismus gewährt eindeutig kein Wahlrecht zwischen der sofortigen Einziehung der Steuer und dem Aufschub ihrer Zahlung. Im Hinblick auf die Urteile vom 29. November 2011, National Grid Indus (C‑371/10, EU:C:2011:785, Rn. 73), und vom 21. Dezember 2016, Kommission/Portugal (C‑503/14, EU:C:2016:979, Rn. 58 und 59), müsste diese Regelung als unverhältnismäßig angesehen werden.

120. Im Ausgangsrechtsstreit ist es allerdings schwer vorstellbar, dass Herr Picart – unterstellt, dieser Mechanismus hätte ein solches Wahlrecht gewährt – sich für die sofortige Besteuerung bei der Verlegung seines steuerlichen Wohnsitzes in die Schweiz entschieden hätte, insbesondere in Anbetracht des Umfangs der fraglichen nicht realisierten Wertzuwächse und der Höhe der geforderten Steuer. Wahrscheinlicher ist, dass er für den Aufschub der Zahlung bis zur Realisierung der Wertzuwächse optiert hätte, den die französischen Steuerbehörden ihm auf seinen Antrag und auf der Grundlage der durch Art. 167bis CGI eröffneten Möglichkeit tatsächlich gewährt haben.

121. Was die Pflicht zur Stellung einer Sicherheit betrifft, von der die Gewährung eines solchen Zahlungsaufschubs abhängig ist, bietet die Rechtsprechung des Gerichtshofs, wie bereits ausgeführt, keine eindeutige Lösung, und zwar auch dann nicht, wenn die Situation von Herrn Picart (was nicht der Fall ist) ausschließlich unter Art. 49 AEUV fiele.

122. Somit wäre ein solches Erfordernis als unverhältnismäßig anzusehen, wenn man dem Gedankengang der Urteile vom 11. März 2004, de Lasteyrie du Saillant (C‑9/02, EU:C:2004:138), vom 7. September 2006, N (C‑470/04, EU:C:2006:525), und vom 23. Januar 2014, DMC (C‑164/12, EU:C:2014:20), folgte. Wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, verblieben Herrn Picart nämlich, obwohl er seinen Wohnsitz im Juni 2002 in die Schweiz verlegte, genügend Aktiva und Vermögenswerte in Frankreich – darunter insbesondere die Gesellschaften, an denen er wesentliche Beteiligungen hielt –, um es den französischen Steuerbehörden im Fall mangelnder Kooperation dieses Steuerpflichtigen zu ermöglichen, Maßnahmen zur Sicherung der Beitreibung der Steuerforderungen zu ergreifen. Ein tatsächliches Risiko der Nichteinbringung der Steuerschuld im Sinne des Urteils vom 23. Januar 2014, DMC (C‑164/12, EU:C:2014:20, Rn. 69), bestand daher offenbar nicht.

123. Hingegen wäre die Pflicht des Steuerpflichtigen, Sicherheit zu leisten, um einen Aufschub der Steuereinziehung zu erreichen, aller Wahrscheinlichkeit nach verhältnismäßig, wenn man den zuletzt im Urteil vom 21. Dezember 2016, Kommission/Portugal (C‑503/14, EU:C:2016:979, Rn. 59), bestätigten Erwägungen des Gerichtshofs im Urteil vom 29. November 2011, National Grid Indus (C‑371/10, EU:C:2011:785, Rn. 73), folgte.

124. In Anbetracht der Umstände des Ausgangsrechtsstreits, der vorstehend untersuchten, nicht eindeutigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf die Besteuerung nicht realisierter Wertzuwächse „beim Wegzug“ sowie des Willens der Vertragsparteien, wie er in Art. 16 Abs. 2 Satz 3 FZA zum Ausdruck kommt, vertrete ich daher hilfsweise die Auffassung, dass der Gerichtshof feststellen sollte, dass die Bestimmungen des FZA über das Niederlassungsrecht Selbständiger einer steuerlichen Maßnahme, wie Art. 167bis CGI sie vorsieht, nicht entgegenstehen.

V.      Ergebnis

125. In Anbetracht der vorstehenden, in erster Linie angestellten Überlegungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

Das Niederlassungsrecht eines Selbständigen, wie es sich aus den Art. 1 und 4 des am 21. Juni 1999 in Luxemburg unterzeichneten Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit (FZA) sowie aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 15 Abs. 1 des Anhangs I dieses Abkommens ergibt, ist dahin auszulegen, dass es nur zugunsten einer natürlichen Person besteht, die eine selbständige Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei als derjenigen, deren Staatsangehörige sie ist, ausüben möchte oder ausübt und in dem dieser Person ein Anspruch auf Inländerbehandlung, d. h. auf das Verbot jeder offensichtlichen oder verdeckten diskriminierenden Maßnahme aus Gründen der Staatsangehörigkeit, zustehen muss. In Anbetracht der Angaben des vorlegenden Gerichts dürfte der Kläger des Ausgangsrechtsstreits nicht in den Anwendungsbereich der genannten Bestimmungen des Abkommens fallen.


1      Originalsprache: Französisch.


2      ABl. 2002, L 114, S. 6.


3      Urteil vom 11. März 2004, de Lasteyrie du Saillant (C‑9/02, EU:C:2004:138, Rn. 50 bis 68). Es ist darauf hinzuweisen, dass das von der dänischen Regierung vorgebrachte Ziel, die Aushöhlung der Besteuerungsgrundlage des betroffenen Mitgliedstaats zu verhindern, nicht als zwingender Grund des Allgemeininteresses angesehen wurde.


4      Urteil vom 11. März 2004, de Lasteyrie du Saillant (C‑9/02, EU:C:2004:138, Rn. 69 und Tenor).


5      Es liegt auf der Hand, dass – wovon das vorlegende Gericht stillschweigend ausgeht – Art. 43 EG (oder nunmehr Art. 49 AEUV) nicht unmittelbar und als solcher auf die Beziehungen zwischen einem Mitgliedstaat der Union und einem Drittstaat wie etwa der Schweizerischen Eidgenossenschaft angewandt werden kann; vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2010, Hengartner und Gasser (C‑70/09, EU:C:2010:430, Rn. 25 und 26).


6      Vgl. Conseil d’État (Staatsrat), Urteil vom 29. April 2013, Picart, Nr. 357576. Für eine Besprechung dieses Urteils vgl. u. a. Le Mentec, F., „Exit tax (rég. anc.) et transfert du domicile fiscal en Suisse“, Revue de droit fiscal, Nr. 27, 4. Juli 2013, comm. 361.


7      Hervorhebung nur hier.


8      United Nations Treaty Series, Bd. 1155, S. 331.


9      Vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 15. Juli 2010, Hengartner und Gasser (C‑70/09, EU:C:2010:430, Rn. 36), und vom 24. November 2016, SECIL (C‑464/14, EU:C:2016:896, Rn. 94).


10      Vgl. Urteile vom 19. November 2015, Bukovansky (C‑241/14, EU:C:2015:766, Rn. 40), und vom 21. September 2016, Radgen (C‑478/15, EU:C:2016:705, Rn. 36).


11      Vgl. auch zu Art. 21 Abs. 2 FZA Urteil vom 21. September 2016, Radgen (C‑478/15, EU:C:2016:705, Rn. 45 und 48).


12      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. Februar 2013, Ettwein (C‑425/11, EU:C:2013:121, Rn. 33), vom 19. November 2015, Bukovansky (C‑241/14, EU:C:2015:766, Rn. 36), sowie vom 21. September 2016, Radgen (C‑478/15, EU:C:2016:705, Rn. 40).


13      Vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 14. Februar 1995, Schumacker (C‑279/93, EU:C:1995:31, Rn. 21), vom 11. August 1995, Wielockx (C‑80/94, EU:C:1995:271, Rn. 16), sowie vom 16. Juli 1998, ICI (C‑264/96, EU:C:1998:370, Rn. 19).


14      Ein großer Teil des Schrifttums scheint ebenfalls dieser Ansicht zu sein: vgl. u. a. Hinny, P., Das Diskriminierungsverbot des Personenverkehrsabkommens im Schweizer Steuerrecht, IFF Forum für Steuerrecht, 2004, S. 185, Cadosch, R. M., „Switzerland: Taxation of Employment Income – Compliance of Swiss Tax Law with EC‑Swiss Sectoral Agreement on Free Movement of Persons“, Intertax, 2004, S. 599, Borghi, A., La Libre Circulation des personnes entre la Suisse et l’UE, commentaire article par article de l’accord du 21 juin 1999, Edis, Genf, 2010, S. 373, und Moshek, V., „L’impact de l’ALCP sur l’impôt à la source – Analyse à la lumière de l’arrêt du Tribunal fédéral du 26 janvier 2010“, Archiv für schweizerisches Abgaberecht, 79, 2010‑2011, S. 324.


15      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. November 2009, Grimme (C‑351/08, EU:C:2009:697, Rn. 27 und 29), und vom 11. Februar 2010, Fokus Invest (C‑541/08, EU:C:2010:74, Rn. 28).


16      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. November 2009, Grimme (C‑351/08, EU:C:2009:697, Rn. 36), und vom 11. Februar 2010, Fokus Invest (C‑541/08, EU:C:2010:74, Rn. 31). Den Ausschluss juristischer Personen vom Anwendungsbereich des vom FZA eingeräumten Rechts auf Niederlassung hat der Gerichtshof in den Rn. 37 und 39 des Urteils vom 12. November 2009, Grimme (C‑351/08, EU:C:2009:697), bestätigt.


17      In der vorliegenden Rechtssache enthalten die Akten keinen Anhaltspunkt dafür, dass Herr Picart als „selbständiger Grenzgänger“ im Sinne von Art. 13 Abs. 1 des Anhangs I des FZA einzustufen sein könnte.


18      Urteil vom 28. Februar 2013, Ettwein (C‑425/11, EU:C:2013:121, Rn. 35). Hervorhebung nur hier.


19      Hervorhebung nur hier.


20      Vgl. u. a. Urteile vom 22. Dezember 2008, Stamm und Hauser (C‑13/08, EU:C:2008:774, Rn. 33), und vom 28. Februar 2013, Ettwein (C‑425/11, EU:C:2013:121, Rn. 36).


21      Vgl. entsprechend Urteil vom 20. November 2001, Jany u. a. (C‑268/99, EU:C:2001:616, Rn. 34, 37 und 38). Dieses Urteil bezieht sich u. a. auf das Urteil vom 27. Juni 1996, Asscher (C‑107/94, EU:C:1996:251, Rn. 25 und 26).


22      Vgl. u. a. Urteil vom 7. September 2006, N (C‑470/04, EU:C:2006:525, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).


23      Ich weise darauf hin, dass als Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit alle Maßnahmen anzusehen sind, die die Ausübung dieser Freiheit unterbinden, behindern oder weniger attraktiv machen (vgl. u. a. Urteile vom 30. November 1995, Gebhard, C‑55/94, EU:C:1995:411, Rn. 37, und vom 6. September 2012, Kommission/Portugal, C‑38/10, EU:C:2012:521, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).


24      Vgl. zur vorhergehenden Rechtsprechung u. a. Urteile vom 27. September 1988, Daily Mail and General Trust (81/87, EU:C:1988:456, Rn. 16), und vom 16. Juli 1998, ICI (C‑264/96, EU:C:1998:370, Rn. 21).


25      Vgl. Urteil vom 28. Februar 2013, Ettwein (C‑425/11, EU:C:2013:121, Rn. 41 bis 43).


26      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2011, Graf und Engel (C‑506/10, EU:C:2011:643, Rn. 26).


27      Vgl. u. a. Urteile vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub (C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 23 und 24), und vom 11. November 2015, Klausner Holz Niedersachsen (C‑505/14, EU:C:2015:742, Rn. 39 und 40).


28      Diese Situation ist daher meines Erachtens derjenigen ähnlich, in der ein vorlegendes Gericht es implizit oder ausdrücklich ablehnt, im Rahmen seines Vorabentscheidungsersuchens eine zusätzliche Frage nach der Auslegung des Unionsrechts zu unterbreiten. Gerade in einem solchen Fall sieht der Gerichtshof aber davon ab, seine Rechtsprechung anzuwenden, die darin besteht, Vorlagefragen neu zu formulieren, um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben: vgl. zu dieser Frage meine Schlussanträge vom 1. April 2014 in der Rechtssache Fonnship und Svenska Transportabetareförbundet (C‑83/13, EU:C:2014:201, Nrn. 13 bis 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).


29      Urteil vom 11. März 2004, de Lasteyrie du Saillant (C‑9/02, EU:C:2004:138, Rn. 52 bis 54).


30      Urteil vom 11. März 2004, de Lasteyrie du Saillant (C‑9/02, EU:C:2004:138, Rn. 55 bis 57).


31      Vgl. Urteile vom 6. Oktober 2011, Graf und Engel (C‑506/10, EU:C:2011:643, Rn. 26), und vom 21. September 2016, Radgen (C‑478/15, EU:C:2016:705, Rn. 47).


32      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. September 2016, Radgen (C‑478/15, EU:C:2016:705, Rn. 46 und 47). Rn. 46 dieses Urteils verweist auf das Urteil vom 31. März 1993, Kraus (C‑19/92, EU:C:1993:125, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie auf das Urteil vom 16. März 2010, Olympique Lyonnais (C‑325/08, EU:C:2010:143, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).


33      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. November 2011, National Grid Indus (C‑371/10, EU:C:2011:785, Rn. 73 und 85), vom 6. September 2012, Kommission/Portugal (C‑38/10, EU:C:2012:521, Rn. 31 und 32), vom 23. Januar 2014, DMC (C‑164/12, EU:C:2014:20, Rn. 61), sowie vom 16. April 2015, Kommission/Deutschland (C‑591/13, EU:C:2015:230, Rn. 67).


34      Vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 23. Januar 2014, DMC (C‑164/12, EU:C:2014:20, Rn. 65).


35      Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Kommission/Portugal (C‑38/10, EU:C:2012:391, Nrn. 78 bis 82).


36      Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Kommission/Portugal (C‑38/10, EU:C:2012:391, Nrn. 81 und 82).


37      Urteil vom 21. Dezember 2016, Kommission/Portugal (C‑503/14, EU:C:2016:979, Rn. 58 bis 60).