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Rechtssache T244/23

Eugen Tomac

gegen

Rat der Europäischen Union

 Beschluss des Gerichts (Vierte Kammer) vom 26. Oktober 2023

„Untätigkeitsklage – Institutionelles Recht – Vollständige Anwendung der Bestimmungen des Schengen-Besitzstands in Rumänien – Pflicht zum Erlass eines Beschlusses nach Art. 4 des Protokolls über die Bedingungen und Einzelheiten der Aufnahme der Republik Bulgarien und Rumäniens in die Europäische Union – Eigenschaft eines privilegierten Klägers – Offensichtlich jeder rechtlichen Grundlage entbehrende Klage“

Untätigkeitsklage – Pflicht des Rates zum Tätigwerden – Pflicht zum Erlass eines Beschlusses über die vollständige Anwendung der Bestimmungen des Schengen-Besitzstands in einem Mitgliedstaat im Falle fehlender Einstimmigkeit der Mitglieder des Rates bei der Abstimmung – Fehlen – Offensichtlich jeder rechtlichen Grundlage entbehrende Klage

(Art. 265 Abs. 3 AEUV)

(vgl. Rn. 28-36)

Zusammenfassung

Der Schengen-Besitzstand(1) ist ein Regelwerk, das auf den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen der Mitgliedstaaten des Schengen-Raums abzielt.

In Bezug auf Rumänien bestimmt Art. 4 Abs. 1 und 2 des Protokolls zur Akte über den Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union(2) im Wesentlichen, dass die Bestimmungen des Schengen-Besitzstands und die darauf aufbauenden oder anderweitig damit zusammenhängenden Rechtsakte, die in Anhang II aufgeführt sind, ab dem Tag des Beitritts für Bulgarien und Rumänien bindend und in diesen Staaten anzuwenden sind. In Abs. 2 wird klargestellt, dass die Bestimmungen und Rechtsakte, die nicht in Abs. 1 genannt sind, zwar bindend bleiben, aber in Bulgarien und Rumänien nur nach einem entsprechenden Beschluss des Rates der Europäischen Union anzuwenden sind, der nach einer Prüfung der Frage, ob die erforderlichen Voraussetzungen für die Anwendung aller Teile des betreffenden Besitzstands in dem jeweiligen Staat gegeben sind, erlassen wird. Der Rat beschließt dann nach Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig mit den Stimmen der Mitglieder, die die Regierungen der Mitgliedstaaten vertreten, für die die Bestimmungen des Schengen-Besitzstands bereits in Kraft gesetzt worden sind, und des Vertreters der Regierung des Mitgliedstaats, für den diese Bestimmungen in Kraft gesetzt werden sollen.

Nach seinem Beitritt zur Union am 1. Januar 2007 unternahm Rumänien zwischen 2009 und 2011 eine Reihe von Schritten im Rahmen der Schengen-Evaluierungsverfahren, um die für die vollständige Anwendung der Bestimmungen des Schengen-Besitzstands erforderlichen Kriterien zu erfüllen.

In den Schlussfolgerungen vom 9. Juni 2011 über den Abschluss der Bewertung des Stands der Vorbereitung Rumäniens in Bezug auf die Umsetzung aller Bestimmungen des Schengen-Besitzstands nahm die Gruppe „Schengen-Angelegenheiten“ (Schengen-Bewertung) des Rates zur Kenntnis, dass die Schengen-Bewertungsverfahren in Bezug auf Rumänien abgeschlossen waren. Sie stellte fest, dass Rumänien die Voraussetzungen des Schengen-Besitzstands auf allen Gebieten erfülle, und kam zu dem Schluss, dass der Rat den in Art. 4 Abs. 2 des Protokolls zur Akte über den Beitritt Rumäniens zur Union genannten Beschluss fassen könne.

In der Folge bestätigte die Europäische Kommission, dass Rumänien die Voraussetzungen dafür erfülle, dass die Bestimmungen des Schengen-Besitzstands als in diesem Staat anwendbar anerkannt würden, und forderte den Rat auf, die hierfür erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Am 21. Oktober 2022 bestätigte ein Expertenbericht, der unter der Aufsicht der Kommission erstellt wurde, die Schlussfolgerungen der in 2011 abgeschlossenen Bewertungsverfahren. In diesem Bericht wurde auch dargelegt, dass Rumänien den Besitzstand und seine Instrumente umgesetzt und sogar seine Anwendung in allen Gebieten verstärkt habe. Die Kommission erneuerte ihre Aufforderung an den Rat, den Beitritt Rumäniens zum Schengen-Raum zuzulassen.

Am 29. November 2022 erstellte der Vorsitz des Rates auf der Grundlage von Art. 4 Abs. 2 des Protokolls zur Akte über den Beitritt Rumäniens zur Union den Entwurf Nr. 15218/22 eines Beschlusses des Rates über die vollständige Anwendung der Bestimmungen des Schengen-Besitzstands in Rumänien. In der Sitzung der Formation „Justiz und Inneres“ (JAI) des Rates am 8. Dezember 2022 wurde der Entwurf Nr. 15218/22 mangels Einstimmigkeit der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten nicht angenommen.

Am 15. Dezember 2022 ersuchte der Kläger, ein Europaabgeordneter mit rumänischer Staatsangehörigkeit, das Generalsekretariat des Rates, ihm die Ergebnisse der Abstimmung über die vollständige Anwendung des Schengen-Besitzstands in Rumänien sowie das Protokoll oder den Bericht dieser Sitzung zukommen zu lassen. Am 16. Dezember 2022 antwortete das Generalsekretariat des Rates dem Kläger, dass der Entwurf Nr. 15218/22 in dieser Sitzung tatsächlich nicht angenommen worden sei und dass gemäß der Geschäftsordnung des Rates die Abstimmungsergebnisse nicht veröffentlicht würden, weil es sich um nicht öffentliche Beratungen über einen Rechtsakt ohne Gesetzescharakter gehandelt habe. Gleiches gelte für das Protokoll über dieses Verfahren.

Am 6. Februar 2023 hat der Kläger beim Gericht Klage u. a. auf Nichtigerklärung des „Beschlusses“ des Rates vom 8. Dezember 2022, mit dem der Entwurf Nr. 15218/22 nicht angenommen wurde, erhoben (Rechtssache T‑48/23).

Am selben Tag übermittelte der Kläger einem Minister, der Mitglied der JAI-Formation des Rates war, eine an den Rat gerichtete Aufforderung zum Tätigwerden gemäß Art. 265 Abs. 2 AEUV, um mit Blick auf Art. 4 Abs. 2 des Protokolls zur Akte über den Beitritt Rumäniens zur Union einen Beschluss über die vollständige Anwendung der Bestimmungen des Schengen-Besitzstands in Rumänien herbeizuführen. Am 13. April 2023 antwortete der für die allgemeine und institutionelle Politik (GIP) zuständige Generaldirektor des Rates dem Kläger und wies darauf hin, dass der Entwurf Nr. 15218/22 nicht die einstimmige Unterstützung der Vertreter der betroffenen Mitgliedstaaten erhalten habe und dass die Verhandlungen fortgeführt würden, bis die nach dem Protokoll zur Akte über den Beitritt Rumäniens zur Union erforderliche Einstimmigkeit erreicht werde.

Der Kläger hat daraufhin beim Gericht eine Untätigkeitsklage erhoben, mit der er u. a. die Feststellung begehrt, dass der Rat es schuldhaft unterlassen habe, alle Schritte zur Herbeiführung eines Beschlusses über die vollständige Anwendung der Bestimmungen des Schengen-Besitzstands in Rumänien nach Art. 4 Abs. 2 des Protokolls zur Akte über den Beitritt Rumäniens zur Union zu unternehmen (Rechtssache T‑244/23).

Mit zwei Beschlüssen weist das Gericht die beiden Klagen ab: die erste Klage als teils offensichtlich unzulässig und teils aufgrund offensichtlicher Unzuständigkeit (Rechtssache T‑48/23) und die zweite Klage als offensichtlich jeder rechtlichen Grundlage entbehrend (Rechtssache T‑244/23). Die Bedeutung dieser beiden Rechtssachen hängt mit der Bedeutung des Gegenstands des Rechtsstreits zusammen, der die Annahme eines Beschlusses des Rates über die vollständige Anwendung der Bestimmungen des Schengen-Besitzstands in Rumänien betrifft. Außerdem bieten diese beiden Rechtssachen dem Gericht erstmals Gelegenheit, Art. 4 Abs. 2 des Protokolls zur Akte über den Beitritt Rumäniens zur Union im Rahmen einer Nichtigkeitsklage und einer Untätigkeitsklage auszulegen.

Würdigung durch das Gericht

In Bezug auf die Nichtigkeitsklage (T‑48/23) prüft das Gericht, ob im vorliegenden Fall die Nichtannahme des Entwurfs Nr. 15218/22 durch den Rat eine anfechtbare Handlung im Sinne von Art. 263 AEUV darstellt. Insoweit stellt das Gericht zu einem Beschluss des Rates über die vollständige Anwendung der Bestimmungen des Schengen-Besitzstands in Rumänien im Sinne von Art. 4 Abs. 2 des Protokolls zur Akte über den Beitritt Rumäniens zur Union klar, dass der Abschluss der Schengen-Evaluierungsverfahren nur ein von diesem Artikel vorgesehener Verfahrensschritt ist. Dieser Schritt geht mit einer Anhörung des Parlaments einher, auf die die Beschlussfassung des Rates folgt. Vor allem aber ergibt sich aus Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 des Protokolls zur Akte über den Beitritt Rumäniens zur Union, dass ein solcher Beschluss des Rates nur dann gegeben sein und damit für den Kläger verbindliche Rechtswirkungen erzeugen kann, wenn er einstimmig mit den Stimmen der Mitglieder des Rates, die die Regierungen der Mitgliedstaaten vertreten, für die die Bestimmungen des Schengen-Besitzstands bereits in Kraft gesetzt worden sind, und des Vertreters der Regierung Rumäniens, für das diese Bestimmungen in Kraft gesetzt werden sollen, gefasst wird.

Das Gericht weist darauf hin, dass die erforderliche Einstimmigkeit bei der Abstimmung dieser Vertreter über den Entwurf Nr. 15218/22 jedoch nicht erreicht wurde. Außerdem stellt es fest, dass Art. 4 Abs. 2 des Protokolls zur Akte über den Beitritt Rumäniens zur Union keine Frist festlegt, nach deren Ablauf der Beschluss des Rates ergehen muss oder als ergangen gilt. Somit kann das Ergebnis der anderen in diesem Artikel vorgesehenen Schritte oder eine andere Stellungnahme von Organen der Union für diese Vertreter nicht bindend sein oder eine Vermutung für eine Stellungnahme ihrerseits begründen, bevor eine förmliche Beschlussfassung unter den oben genannten Voraussetzungen erfolgt. Außerdem bedeutet die Abstimmung über den Entwurf Nr. 15218/22 nicht, dass der Abschluss der vorangegangenen Schritte rückgängig gemacht wird und dass das gesamte vorgesehene Verfahren von vorne beginnt.

Das Gericht stellt fest, dass mangels der erforderlichen Einstimmigkeit kein Beschluss des Rates im Sinne von Art. 4 Abs. 2 des Protokolls zur Akte über den Beitritt Rumäniens zur Union erlassen wurde und die Abstimmung, mit der der Entwurf Nr. 15218/22 nicht angenommen wurde, nicht einer Weigerung des Rates gleichkommt, einen solchen Beschluss zu einem späteren Zeitpunkt zu erlassen. Somit hat diese Nichtannahme des Entwurfs Nr. 15218/22 nicht zu einer anfechtbaren Handlung im Sinne von Art. 263 AEUV geführt(3). Eine solche Schlussfolgerung verstößt nicht gegen das in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, denn diese Bestimmung zielt nicht darauf ab, das in den Verträgen vorgesehene Rechtsschutzsystem und insbesondere die Bestimmungen über die Zulässigkeit direkter Klagen bei den Gerichten der Union zu ändern.

Das Gericht weist daher die Klage als offensichtlich unzulässig ab, soweit sie auf die Nichtigerklärung der Nichtannahme des Entwurfs Nr. 15218/22 bei der Abstimmung des Rates gerichtet ist.

Zur Untätigkeitsklage (T‑244/23) weist das Gericht zunächst auf die Rechtsprechung hin, wonach eine Untätigkeitsklage eine Pflicht des betroffenen Organs zum Tätigwerden voraussetzt, so dass die geltend gemachte Untätigkeit dem Vertrag zuwiderläuft, und darauf, dass eine natürliche oder juristische Person die Unionsgerichte nach Art. 265 Abs. 3 AEUV nur anrufen kann, um feststellen zu lassen, dass ein Organ, eine Einrichtung oder eine sonstige Stelle der Union es unter Verletzung des Vertrags unterlassen hat, einen anderen Akt als eine Empfehlung oder eine Stellungnahme zu erlassen, dessen Adressat sie sein oder den sie mit einer Nichtigkeitsklage anfechten könnte.

Somit prüft das Gericht, ob im vorliegenden Fall zum Zeitpunkt der an den Rat gerichteten Aufforderung zum Tätigwerden diesem eine Pflicht oblag, in dem vom Kläger befürworteten Sinn tätig zu werden. Hierzu stellt das Gericht fest, dass Art. 4 Abs. 2 des Protokolls zur Akte über den Beitritt Rumäniens zur Union keine Frist festlegt, nach deren Ablauf ein Beschluss des Rates im Sinne dieses Artikels ergehen muss oder als ergangen gilt. Außerdem sind, da dieser Artikel die Einstimmigkeit der Vertreter der Regierungen der betroffenen Mitgliedstaaten verlangt, diese nicht verpflichtet, unter allen Umständen einen Beschluss zu erlassen. Sie verfügen vielmehr über ein Ermessen, das ein Recht Einzelner, von ihnen und damit vom Rat im Zeitpunkt der Beratungen über einen Beschlussentwurf eine Stellungnahme in einem bestimmten Sinn zu verlangen, ausschließt. Unter diesen Umständen durfte sich der Rat in Beantwortung der Aufforderung zum Tätigwerden des Klägers nicht über die fehlende Einstimmigkeit der Vertreter der betroffenen Mitgliedstaaten bei der Abstimmung über den Entwurf Nr. 15218/22 hinwegsetzen, weil er andernfalls die in Art. 4 Abs. 2 des Protokolls zur Akte über den Beitritt Rumäniens zur Union festgelegten Voraussetzungen missachtet hätte.

Somit oblag dem Rat zum Zeitpunkt der an ihn gerichteten Aufforderung des Klägers zum Tätigwerden keine Pflicht, einen Beschluss nach Art. 4 des Protokolls zur Akte über den Beitritt Rumäniens zur Union zu erlassen. Der Rat muss vielmehr unter Einhaltung der in diesem Artikel ausdrücklich vorgesehenen Einstimmigkeitsvoraussetzung handeln und hat es daher im vorliegenden Fall nicht im Sinne von Art. 265 AEUV rechtsfehlerhaft unterlassen, einen Beschluss zu fassen.

Daher weist das Gericht die Klage als offensichtlich jeder rechtlichen Grundlage entbehrend ab, soweit sie auf die Feststellung der Untätigkeit des Rates im Hinblick auf seine Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 2 des Protokolls zur Akte über den Beitritt Rumäniens zur Union gerichtet ist.


1      Im Sinne des auf Anhang A verweisenden Art. 1 des Beschlusses 1999/435/EG des Rates vom 20. Mai 1999 zur Bestimmung des Schengen-Besitzstands zwecks Festlegung der Rechtsgrundlagen für jede Bestimmung und jeden Beschluss, die diesen Besitzstand bilden, nach Maßgabe der einschlägigen Bestimmungen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und des Vertrags über die Europäische Union (ABl. 1999, L 176, S. 1).


2      Protokoll über die Bedingungen und Einzelheiten der Aufnahme der Republik Bulgarien und Rumäniens in die Europäische Union (ABl. 2005, L 157, S. 29, im Folgenden: Protokoll zur Akte über den Beitritt Rumäniens zur Union) zur Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Bulgarien und Rumäniens und die Anpassungen der Verträge, auf denen die Europäische Union beruht (ABl. 2005, L 157, S. 203).


3      Vgl. entsprechend Urteil vom 13. Juli 2004, Kommission/Rat (C‑27/04, EU:C:2004:436, Rn. 34).