Language of document : ECLI:EU:T:2014:123

Rechtssache T‑306/11

Schwenk Zement KG

gegen

Europäische Kommission

„Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Auskunftsbeschluss – Erforderlichkeit der verlangten Auskünfte – Begründungspflicht – Verhältnismäßigkeit“

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 14. März 2014

1.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Auskunftsverlangen – Angabe der Rechtsgrundlagen und des Zwecks des Verlangens – Reichweite – Verletzung der Begründungspflicht – Fehlen

(Art. 101 AEUV; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 18 Abs. 3)

2.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Wahrung der Verteidigungsrechte – Möglichkeit des betroffenen Unternehmens, nach der Mitteilung der Beschwerdepunkte diese Rechte umfassend geltend zu machen

(Art. 101 AEUV; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates)

3.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Auskunftsverlangen – Angabe der Rechtsgrundlagen und des Zwecks des Verlangens – Erfordernis eines Zusammenhangs zwischen den verlangten Auskünften und der untersuchten Zuwiderhandlung – Entscheidungsspielraum der Kommission – Gerichtliche Nachprüfung – Umfang

(Art. 101 AEUV; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 18 Abs. 3)

4.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Auskunftsverlangen – Umstände – Zwischen einem einfachen Auskunftsverlangen und einem Beschluss zu treffende Wahl – Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – Gerichtliche Nachprüfung

(Art. 101 AEUV; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 18 Abs. 3)

5.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Auskunftsverlangen – Verteidigungsrechte – Allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der einen Schutz gegen willkürliche oder unverhältnismäßige Eingriffe vorschreibt – Reichweite

(Art. 101 AEUV; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 18 Abs. 3)

6.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Auskunftsverlangen – Befugnisse der Kommission – Grenze – Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – Dem Unternehmen gesetzte Frist zur Beantwortung – Beurteilung der Verhältnismäßigkeit

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 18 Abs. 3)

7.      Nichtigkeitsklage – Anfechtbare Handlungen – Entscheidung, mit der die Erteilung von Auskünften nach Art. 18 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 angeordnet wird – Rechtsschutzinteresse – Umstand, dass die angefochtene Entscheidung befolgt worden ist – Keine Auswirkung

(Art. 263 Abs. 4 AEUV; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 18 Abs. 3)

1.      Art. 18 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 regelt selbst die wesentlichen Bestandteile der Begründung eines Auskunftsbeschlusses. Diese Bestimmung sieht vor, dass die Kommission die Rechtsgrundlage, den Zweck des Auskunftsverlangens und die geforderten Auskünfte angibt und die Frist für die Erteilung der Auskünfte festlegt. In Art. 18 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 wird außerdem ausgeführt, dass die Kommission ferner einen Hinweis auf die in Art. 23 vorgesehenen Sanktionen gibt, entweder auf die in Art. 24 vorgesehenen Sanktionen hinweist oder diese auferlegt sowie auf das Recht hinweist, vor dem Gerichtshof gegen die Entscheidung Klage zu erheben. Insoweit braucht die Kommission weder dem Adressaten einer solchen Entscheidung alle ihr vorliegenden Informationen über mutmaßliche Zuwiderhandlungen zu übermitteln, noch muss sie eine strenge rechtliche Qualifizierung dieser Zuwiderhandlungen vornehmen; sie hat aber klar anzugeben, welchen Vermutungen sie nachzugehen beabsichtigt.

Demnach ist zwar die Begründung eines Beschlusses, die aus einer sehr allgemein gehaltenen Formulierung besteht, deren Präzisierung angebracht gewesen wäre, zu beanstanden; gleichwohl kann aber davon ausgegangen werden, dass die Bezugnahme auf die mutmaßliche Zuwiderhandlungen in Verbindung mit dem Beschluss über die Einleitung des Verfahrens dem Mindestmaß an Klarheit entspricht, das es erlaubt, die Einhaltung der Vorschriften von Art. 18 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 zu bejahen.

(vgl. Rn. 21, 24, 31, 37)

2.      Im Rahmen des Verwaltungsverfahrens nach der Verordnung Nr. 1/2003 kann das betroffene Unternehmen erst nach Mitteilung der Beschwerdepunkte seine Verteidigungsrechte umfassend geltend machen. Durch die Erstreckung dieser Rechte auf den Zeitraum vor Übersendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte würde nämlich die Wirksamkeit der von der Kommission durchgeführten Untersuchung beeinträchtigt, da das betroffene Unternehmen schon im Abschnitt der Voruntersuchung erfahren würde, welche Informationen der Kommission bekannt sind und welche damit noch vor ihr verborgen werden können.

Die von der Kommission im Abschnitt der Voruntersuchung ergriffenen Ermittlungsmaßnahmen, insbesondere die Nachprüfungsmaßnahmen und die Auskunftsverlangen, implizieren jedoch naturgemäß den Vorwurf einer Zuwiderhandlung und können erhebliche Auswirkungen auf die Situation der unter Verdacht stehenden Unternehmen haben. Folglich muss verhindert werden, dass die Verteidigungsrechte in diesem Abschnitt des Verwaltungsverfahrens in nicht wiedergutzumachender Weise beeinträchtigt werden könnten, da die getroffenen Ermittlungsmaßnahmen zur Erbringung von Beweisen für rechtswidrige Verhaltensweisen von Unternehmen, die geeignet sind, deren Haftung auszulösen, von entscheidender Bedeutung sein können.

Von der Kommission kann jedoch nicht verlangt werden, im Stadium des Abschnitts der Voruntersuchung außer den mutmaßlichen Zuwiderhandlungen, denen sie nachzugehen beabsichtigt, auch die Indizien anzugeben, d. h. die Gesichtspunkte, aufgrund deren sie die Möglichkeit eines Verstoßes gegen Art. 101 AEUV in Betracht zieht. Eine solche Verpflichtung würde nämlich das durch die Rechtsprechung geschaffene Gleichgewicht zwischen dem Schutz der Wirksamkeit der Untersuchung und dem Schutz der Verteidigungsrechte des betroffenen Unternehmens in Frage stellen.

(vgl. Rn. 27, 28, 32)

3.      Die der Kommission obliegende Verpflichtung zur Angabe der Rechtsgrundlage und des Zwecks eines Auskunftsverlangens stellt ein grundlegendes Erfordernis dar, da dadurch die Berechtigung des Ersuchens um Auskünfte der betreffenden Unternehmen aufgezeigt werden soll, diese aber auch in die Lage versetzt werden sollen, den Umfang ihrer Mitwirkungspflicht zu erkennen und zugleich ihre Verteidigungsrechte zu wahren. Daraus folgt, dass die Kommission nur Auskünfte verlangen darf, die ihr die Prüfung der die Durchführung der Untersuchung rechtfertigenden und im Auskunftsverlangen angegebenen mutmaßlichen Zuwiderhandlungen ermöglichen können.

In Anbetracht der weitgehenden Ermittlungs- und Nachprüfungsbefugnisse der Kommission ist es ihre Sache, die Erforderlichkeit der Auskünfte zu beurteilen, die sie von den betroffenen Unternehmen verlangt. Was die vom Gericht ausgeübte Kontrolle dieser Beurteilung der Kommission angeht, ist bei der Auslegung des Begriffs der erforderlichen Auskünfte auf den Zweck abzustellen ist, zu dem der Kommission die fraglichen Untersuchungsbefugnisse übertragen wurden. Das Erfordernis eines Zusammenhangs zwischen dem Auskunftsverlangen und der mutmaßlichen Zuwiderhandlung ist daher erfüllt, wenn in diesem Stadium des Verfahrens Grund zu der Annahme besteht, dass das Verlangen insofern in Beziehung zu der mutmaßlichen Zuwiderhandlung steht, als die Kommission vernünftigerweise davon ausgehen kann, dass ihr das Dokument bei der Ermittlung des Vorliegens der gerügten Zuwiderhandlung helfen wird.

(vgl. Rn. 29, 59, 60)

4.      Der zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehörende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die Handlungen der Organe nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürfen Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehört, dürfen die Handlungen der Gemeinschaftsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei zu beachten ist, dass dann, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und dass die verursachten Nachteile nicht gegenüber den angestrebten Zielen unangemessen sein dürfen.

Nach Art. 18 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 ist die Kommission berechtigt, Auskünfte „durch einfaches Auskunftsverlangen oder durch Entscheidung“ zu verlangen, ohne dass diese Bestimmung den Erlass einer Entscheidung an ein vorheriges „einfaches Auskunftsverlangen“ knüpft. Die von ihr zu treffende Wahl zwischen einem einfachen Auskunftsverlangen nach Art. 18 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 und einem Auskunftsbeschluss nach deren Art. 18 Abs. 3 unterliegt der vom Unionsrichter vorzunehmenden Kontrolle anhand des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Eine solche Kontrolle muss von den Erfordernissen einer den Besonderheiten des Einzelfalls angemessenen Untersuchung abhängen.

(vgl. Rn. 47-50)

5.      Das Erfordernis eines Schutzes gegen willkürliche oder unverhältnismäßige Eingriffe der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung jeder – natürlichen oder juristischen – Person stellt einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar. Zur Wahrung dieses allgemeinen Grundsatzes muss ein Auskunftsbeschluss auf die Erlangung von Unterlagen gerichtet sein, die erforderlich sind, um die Richtigkeit und die Tragweite einer bestimmten Sach- und Rechtslage zu überprüfen, in Bezug auf die die Kommission bereits über Erkenntnisse verfügt.

Gleichwohl kann zum Nachweis der etwaigen Willkürlichkeit des Auskunftsbeschlusses nicht auf den Umfang des Auskunftsverlangens abgestellt werden, da die Kommission zur Durchführung einer weitreichenden Untersuchung berechtigt sein kann, wenn sie über hinreichend gewichtige Indizien für die Beteiligung des Unternehmens an den verschiedenen mutmaßlichen Zuwiderhandlungen verfügt, denen sie nachzugehen beabsichtigt.

(vgl. Rn. 64-66)

6.      Die von der Kommission an ein Unternehmen gerichteten Auskunftsverlangen müssen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen, und die einem Unternehmen auferlegte Pflicht zur Auskunftserteilung darf für das Unternehmen keine Belastung darstellen, die zu den Erfordernissen der Untersuchung außer Verhältnis steht.

Bei der Beurteilung der Frage, ob die mit der Pflicht, die Fragen binnen der von der Kommission gesetzten Frist zu beantworten, verbundene Belastung unverhältnismäßig sein könnte, ist zu berücksichtigen, dass das Unternehmen als Adressat eines Auskunftsbeschlusses nach Art. 18 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 nicht nur Gefahr läuft, dass ihm eine Geldbuße oder ein Zwangsgeld nach Art. 23 Abs. 1 Buchst. b oder Art. 24 Abs. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 1/2003 auferlegt wird, falls es die Auskünfte unvollständig, verspätet oder gar nicht erteilt, sondern auch, dass ihm eine Geldbuße nach Art. 23 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung auferlegt wird, falls die Kommission eine erteilte Auskunft als unrichtig oder irreführend einstuft.

Der Prüfung, ob die durch einen Auskunftsbeschluss auferlegte Frist angemessen ist, kommt somit besondere Bedeutung zu. Diese Frist muss es dem Adressaten nämlich nicht nur ermöglichen, tatsächlich zu antworten, sondern auch, sich zu vergewissern, dass die erteilten Auskünfte vollständig, richtig und nicht irreführend sind.

(vgl. Rn. 71-73)

7.      Das Rechtsschutzinteresse an der Anfechtung einer Entscheidung, mit der die Erteilung von Auskünften angeordnet wird, bleibt auch dann bestehen, wenn ihr Adressat ihr bereits nachgekommen ist. Die Nichtigerklärung einer solchen Entscheidung kann nämlich als solche insbesondere dadurch Rechtswirkungen erzeugen, dass die Kommission verpflichtet wird, die sich aus dem Urteil des Gerichts ergebenden Maßnahmen zu ergreifen, und dass verhindert wird, dass die Kommission erneut so vorgeht.

Folglich hat das Unternehmen ein Rechtsschutzinteresse an der Anfechtung des Auskunftsbeschlusses und ist berechtigt, die Klagegründe geltend zu machen, die das Gericht seines Erachtens veranlassen können, seinen Anträgen stattzugeben.

(vgl. Rn. 75, 76)