Language of document : ECLI:EU:T:2010:376

Rechtssache T‑74/08

Now Pharm AG

gegen

Europäische Kommission

„Humanarzneimittel – Verfahren der Ausweisung als Arzneimittel für seltene Leiden – Antrag auf Ausweisung des Arzneimittels ‚Spezieller flüssiger Schöllkrautwurzelextrakt‘ (‚Ukrain‘) als Arzneimittel für seltene Leiden – Entscheidung der Kommission, mit der die Ausweisung als Arzneimittel für seltene Leiden abgelehnt wurde“

Leitsätze des Urteils

1.      Rechtsangleichung – Einheitliche Rechtsvorschriften – Humanarzneimittel – Arzneimittel für seltene Leiden – Verfahren der Ausweisung eines Arzneimittels als Arzneimittel für seltene Leiden

(Verordnung Nr. 141/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 3 Abs. 1; Verordnung Nr. 847/2000 der Kommission, Art. 3 Abs. 2)

2.      Rechtsangleichung – Einheitliche Rechtsvorschriften – Humanarzneimittel – Arzneimittel für seltene Leiden – Verfahren der Ausweisung eines Arzneimittels als Arzneimittel für seltene Leiden

(Verordnung Nr. 141/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4)

3.      Rechtsangleichung – Einheitliche Rechtsvorschriften – Humanarzneimittel – Arzneimittel für seltene Leiden – Verfahren der Ausweisung eines Arzneimittels als Arzneimittel für seltene Leiden

(Verordnung Nr. 141/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 5)

1.      Nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. a erster Halbsatz und Buchst. b der Verordnung Nr. 141/2000 über Arzneimittel für seltene Leiden muss der Investor eines Arzneimittels, für das die Ausweisung als Arzneimittel für seltene Leiden beantragt wird, nachweisen, dass es für die Diagnose, Verhütung oder Behandlung eines seltenen Leidens bestimmt ist und noch keine zufriedenstellende Methode für die Diagnose, Verhütung oder Behandlung des betreffenden Leidens zugelassen wurde. Demgegenüber muss der Investor eines potenziellen Arzneimittels, mit dem ein seltenes Leiden behandelt werden soll, für dessen Diagnose, Verhütung oder Behandlung eine solche zufriedenstellende Methode bereits existiert, nicht nur nach diesem Art. 3 Abs. 1 Buchst. a erster Halbsatz nachweisen, dass das fragliche Arzneimittel tatsächlich für die Diagnose, Verhütung oder Behandlung des seltenen Leidens bestimmt ist, sondern gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. b auch, dass das potenzielle Arzneimittel für die von diesem Leiden betroffenen Patienten von erheblichem Nutzen sein wird.

Die Feststellung des erheblichen Nutzens ist daher in eine vergleichende Untersuchung in Bezug auf eine bereits existierende und zugelassene Methode oder ein entsprechendes Arzneimittel eingebettet. Der klinisch relevante Vorteil und der bedeutende Beitrag zur Behandlung von Patienten, die nach der Definition des erheblichen Nutzens in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 847/2000 zur Festlegung von Bestimmungen für die Anwendung der Kriterien für die Ausweisung eines Arzneimittels als Arzneimittel für seltene Leiden und von Definitionen für die Begriffe „ähnliches Arzneimittel“ und „klinische Überlegenheit“ dem potenziellen Arzneimittel für seltene Leiden die Eigenschaft des erheblichen Nutzens verleihen, können nur im Vergleich mit den bereits zugelassenen Behandlungen festgestellt werden.

Insofern, als mit dem potenziellen Arzneimittel, für das der Antrag auf Ausweisung als Arzneimittel für seltene Leiden gestellt wird, unter Umständen wenig oder keine klinische Erfahrung vorliegt, ist von dem vom Antragsteller angenommenen Nutzen auszugehen, wobei diese Annahmen durch die verfügbaren Daten bzw. die vom Antragsteller eingereichten Nachweise bestätigt werden müssen. Einschlägig sind nur die Bestimmungen der Union, die Kriterien zur Ausweisung von Arzneimitteln für seltene Leiden vorsehen, weshalb der Umstand, dass ein Arzneimittel in anderen Ländern die Kriterien für die Ausweisung als Arzneimittel für seltene Leiden angeblich erfüllt, insoweit ohne Bedeutung ist.

(vgl. Randnrn. 41-43, 49, 57)

2.      Bei dem in der Verordnung Nr. 141/2000 über Arzneimittel für seltene Leiden vorgesehenen Verfahren der Ausweisung von Arzneimitteln für seltene Leiden handelt es sich um ein Verwaltungsverfahren, das mit komplexen wissenschaftlichen Bewertungen verbunden ist, für die die Kommission über ein weites Ermessen verfügt. Umso genauer sind daher die Garantien zu beachten, die die Gemeinschaftsrechtsordnung in den Verwaltungsverfahren gewährt, darunter die Verpflichtung, sorgfältig und unvoreingenommen alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen. Einer solchen Verpflichtung kann nicht wirksam nachgekommen werden, wenn das Gutachten des Ausschusses, auf das sich die Kommission stützt, von befangenen Sachverständigen erstellt wird. Das Erfordernis der Unvoreingenommenheit, dem die Gemeinschaftsorgane unterliegen, gilt auch für die insoweit hinzugezogenen Sachverständigen. Insbesondere muss ein Sachverständiger, der um Erstellung eines Gutachtens über die Wirkungen eines potenziellen Arzneimittels gebeten wird, seine Aufgabe absolut unvoreingenommen erfüllen. Aus der Verpflichtung zur Unvoreingenommenheit lässt sich jedoch nicht ableiten, dass ein Sachverständiger allein deswegen rechtlich daran gehindert wäre, im Rahmen eines Verfahrens der Ausweisung eines Arzneimittels als Arzneimittel für seltene Leiden hinzugezogen zu werden, weil er bereits ein Gutachten zu demselben Arzneimittel im Rahmen eines in einem Mitgliedstaat der Union durchgeführten anderen, nationalen Verfahrens erstellt hat.

(vgl. Randnrn. 77, 88, 93)

3.      Das in Art. 5 der Verordnung Nr. 141/2000 über Arzneimittel für seltene Leiden geschaffene Verfahren ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihm einer objektiven und eingehenden wissenschaftlichen Beurteilung der betreffenden potenziellen Arzneimittel durch den Ausschuss für Arzneimittel für seltene Leiden die tragende Rolle zukomme. Da die Kommission die Wirksamkeit und/oder Schädlichkeit eines Arzneimittels im Rahmen des Verfahrens betreffend den Antrag auf Ausweisung eines Arzneimittels als Arzneimittel für seltene Leiden nicht selbst wissenschaftlich beurteilen kann, soll die zwingende Konsultation des betreffenden Ausschusses dazu dienen, ihr die für diese Beurteilung unerlässlichen wissenschaftlichen Gesichtspunkte zu liefern, damit sie in voller Sachkenntnis die zur Gewährleistung eines Schutzes der öffentlichen Gesundheit auf hohem Niveau geeigneten Maßnahmen ergreifen kann. Selbst wenn das Gutachten des Ausschusses die Kommission nicht bindet, ist es demnach gleichwohl von entscheidender Bedeutung. Art. 5 Abs. 8 der Verordnung Nr. 141/2000 ist nämlich zu entnehmen, dass eine Entscheidung, die nicht mit dem Gutachten des Ausschusses in Einklang steht, als Ausnahmefall betrachtet wurde.

In diesem Zusammenhang muss der Gemeinschaftsrichter im Rahmen seiner gerichtlichen Kontrolle der Rechtmäßigkeit einer Entscheidung der Kommission, mit der die Ausweisung eines Medikaments als Arzneimittel für seltene Leiden abgelehnt wird, feststellen, ob die Verfahrensvorschriften eingehalten worden sind, ob der Sachverhalt von der Kommission zutreffend festgestellt worden ist und ob keine offensichtlich fehlerhafte Würdigung dieses Sachverhalts und kein Ermessensmissbrauch vorliegen.

(vgl. Randnrn. 111-112)