Language of document : ECLI:EU:C:2004:67

Conclusions

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
JULIANE KOKOTT
vom 29. Januar 2004(1)



Rechtssache C-1/03



Ministère public

gegen

Paul Van de Walle u. a.


(Vorabentscheidungsersuchen der Cour d'appel Brüssel)


„Richtlinie 75/442/EWG über Abfälle – Begriffe ‚Abfall', ‚Erzeuger von Abfall' und ‚Besitzer von Abfall' – Erdreich, das durch das Ausfließen von Kraftstoffen verunreinigt ist“






I – Einführung

1.       Der vorliegende Fall betrifft die Auslegung der Richtlinie 75/442/EWG des Rates vom 15. Juli 1975 über Abfälle (2) in der Fassung der Richtlinie 91/156/EWG des Rates vom 18. März 1991 (3) (im Folgenden: Abfallrahmenrichtlinie) im Hinblick auf Kraftstoffe, die aus einer undichten Tankanlage ausgetreten sind und das umliegende Erdreich verunreinigt haben. Die Cour d’appel Brüssel möchte wissen, ob es sich bei diesen Kraftstoffen und dem verunreinigten Erdreich um Abfall handelt, und ob man das Mineralölunternehmen, das die Tankstelle gepachtet, mit dem Betreiber eine Bewirtschaftungsvereinbarung geschlossen und ihm die Kraftstoffe geliefert hat, als Erzeuger oder Besitzer dieser Abfälle ansehen kann.

II – Rechtlicher Rahmen

2.       Artikel 1 der Abfallrahmenrichtlinie enthält die folgenden Definitionen:

„Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet:

a)
‚Abfall‘: alle Stoffe oder Gegenstände, die unter die in Anhang I aufgeführten Gruppen fallen und deren sich ihr Besitzer entledigt, entledigen will oder entledigen muss;

b)
‚Erzeuger‘: jede Person, durch deren Tätigkeit Abfälle angefallen sind (‚Ersterzeuger‘), und/oder jede Person, die Vorbehandlungen, Mischungen oder sonstige Behandlungen vorgenommen hat, die eine Veränderung der Natur oder der Zusammensetzung dieser Abfälle bewirken;

c)
‚Besitzer‘: der Erzeuger der Abfälle oder die natürliche oder juristische Person, in deren Besitz sich die Abfälle befinden;

d)
…“

3.       Anhang I definiert verschiedene Abfallgruppen, darunter die beiden folgenden:

„Q4
Unabsichtlich ausgebrachte oder verlorene oder von einem sonstigen Zwischenfall betroffene Produkte einschließlich sämtlicher Stoffe, Anlageteile usw., die bei einem solchen Zwischenfall kontaminiert worden sind“,

und

„Q15
Kontaminierte Stoffe oder Produkte, die bei der Sanierung von Böden anfallen“.

4.       Artikel 15 der Abfallrahmenrichtlinie regelt die Kostentragung für die Beseitigung von Abfällen:

„Gemäß dem Verursacherprinzip sind die Kosten für die Beseitigung der Abfälle zu tragen von

dem Abfallbesitzer, der seine Abfälle einem Sammelunternehmen oder einem Unternehmen im Sinne des Artikels 9 übergibt, und/oder

den früheren Besitzern oder dem Hersteller des Erzeugnisses, von dem die Abfälle herrühren.“

5.       Die einschlägigen Vorschriften des belgischen Rechts haben Artikel 1 Buchstabe a und Anhang I der Abfallrahmenrichtlinie im Wortlaut übernommen.

III – Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

6.       Die Herren Van de Walle, Laurent und Mersch (im Folgenden: die Angeklagten) sind leitende Angestellte der Texaco SA (im Folgenden: Texaco). Sie werden im Ausgangsverfahren wegen des Begehens strafbarer Handlungen im Zusammenhang mit abfallrechtlichen Bestimmungen angeklagt. Die Texaco ist an dem Verfahren als zivilrechtlich verantwortliche Partei beteiligt.

7.       Texaco pachtete die streitgegenständliche Tankstelle 1981 und schloss 1988 eine Bewirtschaftungsvereinbarung mit der Betreiberin. Im Januar 1993 stellte man fest, dass aus den Tanks der Tankstelle Kraftstoffe ausgetreten waren. Diese hatten das die Tanks umgebende Erdreich verunreinigt und den Keller des Nachbargebäudes erreicht.

8.       Eine technische Überprüfung ergab, dass die Rohre des Dieseltanks und des Tanks für bleifreies Benzin mit 98 Oktan undicht waren. Außerdem wies der letztgenannte Tank Löcher auf. Bei einer Prüfung der Lagerbestände stellte sich heraus, dass seit Anfang Oktober 1992 etwa 800 Liter bleifreies Benzin mit 98 Oktan verschwunden waren.

9.       Im Februar 1993 wurde die Tankstelle stillgelegt. Zuvor waren sowohl die Bewirtschaftungsvereinbarung mit der Betreiberin als auch der Pachtvertrag mit der Eigentümerin des Grundstücks gekündigt worden. Ab Sommer 1993 leistete Texaco keine Pachtzahlungen mehr.

10.     Texaco ließ – ohne Anerkennung einer Rechtspflicht – bis Mai 1994 verschiedene Arbeiten zur Sanierung des Erdreichs durchführen. Allerdings zeigten nachfolgende Analysen von Grundwasserproben, dass der Boden noch immer durch Kraftstoffe verunreinigt war.

11.     Da Texaco die Arbeiten zur Sanierung des durch Kraftstoff verunreinigten Erdreichs ab Mai 1994 nicht mehr fortführte, erhob das Ministère public am 10. September 1998 Anklage wegen der Verletzung von abfallrechtlichen Vorschriften gegen die drei Angeklagten aufgrund ihrer Stellung bei Texaco und gegen das Unternehmen aufgrund seiner zivilrechtlichen Haftung. Die Region Brüssel-Hauptstadt trat dem Verfahren als Nebenklägerin bei. Die Angeklagten wurden im ersten Rechtszug freigesprochen. Das zivilrechtliche Adhäsionsverfahren gegen Texaco wurde wegen der aus dem Freispruch folgenden Unzuständigkeit des Strafgerichts eingestellt.

12.     Die Cour d’appel ist mit den Rechtsmitteln des Ministère public und der Region Brüssel-Hauptstadt befasst. Sie hat Zweifel, ob das verunreinigte Erdreich als Abfall angesehen werden kann. Die Abgrenzung des Begriffs „Ablagern von Abfall“ sei in dieser Hinsicht umstritten.

13.     Sie legt dem Gerichtshof daher die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vor:

Sind Buchstabe a des Artikels 1 der Richtlinie 75/442/EWG des Rates vom 15. Juli 1975 über Abfälle, geändert durch die Richtlinie 91/156/EWG vom 18. März 1991, der den Begriff Abfall als „alle Stoffe oder Gegenstände, die unter die in Anhang I aufgeführten Gruppen fallen und deren sich ihr Besitzer entledigt, entledigen will oder entledigen muss“, definiert, und die Buchstaben b und c dieses Artikels, die den Erzeuger von Abfällen definieren als „jede Person, durch deren Tätigkeit Abfälle angefallen sind (‚Ersterzeuger‘), und/oder jede Person, die Vorbehandlungen, Mischungen oder sonstige Behandlungen vorgenommen hat, die eine Veränderung der Natur oder der Zusammensetzung dieser Abfälle bewirken“, und den Besitzer von Abfällen als „der Erzeuger der Abfälle oder die natürliche oder juristische Person, in deren Besitz sich die Abfälle befinden“, so auszulegen, dass sie auf ein Mineralölunternehmen Anwendung finden, das Kraftstoffe herstellt und sie an den Betreiber einer seiner Tankstellen im Rahmen einer Bewirtschaftungsvereinbarung verkauft, die die Autonomie des Betreibers ohne Unterordnungsverhältnis dem Unternehmen gegenüber vorsieht, wenn diese Kraftstoffe in den Boden einsickern und dadurch eine Verunreinigung des Erdreichs und des Grundwassers verursachen?

Gilt die rechtliche Qualifizierung von Abfall im Sinne der genannten Vorschriften nur dann, wenn derart verunreinigtes Erdreich ausgehoben wurde?

IV – Rechtliche Würdigung

14.     Die Fragen der Cour d’appel gehen dahin, ob von ausgetretenen Kraftstoffen verunreinigtes Erdreich als Abfall angesehen werden kann und ob Texaco als Erzeuger oder Besitzer etwaiger Abfälle angesehen werden kann.

A – Zum Abfallbegriff

1.     Vortrag der Beteiligten

15.     Alle Beteiligten stimmen darin überein, dass die ausgetretenen Kraftstoffe und das verunreinigte Erdreich erst dann als Abfall angesehen werden können, wenn ihr Besitzer sich ihrer entledigt, entledigen will oder entledigen muss.

16.     Nach Auffassung der Region Brüssel-Hauptstadt hat sich der Besitzer der Kraftstoffe ihrer mit dem Austreten entledigt. Genau diese Situation sei durch die Abfallgruppe Q4 erfasst. Die Abfallgruppen Q5, Q12 und Q13 (4) sprächen dafür, dass auch das verunreinigte Erdreich Abfall sei. Unabhängig von der Frage, ob der Besitzer sich des Erdreichs entledigt habe oder entledigen wolle, könnte die Abfalleigenschaft aus der Verpflichtung folgen, sich des Erdreichs zu entledigen. Eine solche Verpflichtung entspräche der Zielsetzung der Abfallrahmenrichtlinie, Umwelt und Gesundheit zu schützen, und dem hohen Umweltschutzniveau, das nach Artikel 174 Absatz 2 EG anzustreben sei. Sie würde verhindern, dass die abfallrechtlichen Verpflichtungen durch das Vermischen von Abfällen mit dem Boden umgangen würden. Wenn verunreinigtes Erdreich kein Abfall wäre, so kämen die Verpflichtungen zur gesundheitsschützenden und umweltfreundlichen Entsorgung nach Artikel 4 der Abfallrahmenrichtlinie nicht zur Anwendung.

17.     Weiterhin könne die Verpflichtung, sich des verunreinigten Erdreichs zu entledigen, auch aus innerstaatlichem Recht folgen. In der Region Brüssel-Hauptstadt bestünde keine spezifische Verpflichtung, verunreinigtes Erdreich zu sanieren, sie könne sich jedoch aus dem Zivilrecht ergeben. Eine solche Verpflichtung werde von einigen Autoren auch angenommen, wenn keine rechtlich und technisch zulässige Verwendung für die betreffende Substanz möglich sei. Das gelte insbesondere für die ausgetretenen Kraftstoffe.

18.     Die Angeklagten und Texaco halten die Frage, ob Abfall vorliegt, im Ausgangsrechtsstreit für unerheblich, da sie jedenfalls nicht Besitzer oder Erzeuger eventuell angefallener Abfälle seien.

19.     Sie betonen, dass weder sie noch die Betreiberin wussten, dass Kraftstoffe austraten. Man könne sich aber nur wissentlich einer Sache entledigen. Dem stehe auch das Urteil Vessoso und Zanetti nicht entgegen. (5) Danach setze zwar der Begriff „Abfälle“ nicht voraus, dass der Besitzer, der sich eines Stoffes oder eines Gegenstands entledigt, dessen wirtschaftliche Wiederverwendung durch andere ausschließen will. Die Unkenntnis des Austretens von Kraftstoffen sei mit dieser Situation nicht vergleichbar. Daher könne beim Austreten der Kraftstoffe noch nicht von Abfall die Rede sein.

20.     Abfall liege allerdings vor, sobald der Besitzer in Kenntnis der Bodenverunreinigung damit beginne, sich des Erdreichs zu entledigen. Das könne im vorliegenden Fall zu dem Zeitpunkt angenommen werden, als die Bodenverunreinigung entdeckt wurde und erste Sanierungsmaßnahmen stattfanden. Die Angeklagten und Texaco betonen in diesem Zusammenhang, dass sie jedoch nicht der Besitzer oder Erzeuger dieser Abfälle gewesen seien.

21.     Die Kommission stellt fest, dass die Definition von Abfall sich aus Artikel 1 der Abfallrahmenrichtlinie ergebe, während Anhang I dieser Richtlinie und das Europäische Abfallverzeichnis diese Definition illustrierten. Ausgetretene Kraftstoffe würden unter die Abfallgruppe Q4 fallen. Diese Gruppe zeige, dass der Gesetzgeber Unfälle in den Begriff „sich entledigen“ einschließen wollte. Daher seien ausgetretene Kraftstoffe Abfall.

22.     Nach ihrem Wortlaut könne die Abfallgruppe Q4 auch das verunreinigte Erdreich einschließen. Allerdings bezweifelt die Kommission, dass natürliche Elemente wie der Boden, das Wasser und die Luft nur aufgrund einer Verunreinigung als Abfall angesehen werden können. Die Abfallrahmenrichtlinie bezwecke vielmehr den Schutz dieser Elemente. Es sei schwer vorstellbar, auf diese Elemente die Begriffe der Beseitigung oder der Verwertung anzuwenden. Vielmehr müssten sie bei Verunreinigungen saniert oder einer anderen Behandlung unterzogen werden, um negative Auswirkungen zu verhindern. Daher könnten sie nicht als Abfall angesehen werden.

23.     Sobald aber verunreinigtes Erdreich ausgekoffert worden sei, handele es sich nicht mehr um ein natürliches Element, sondern um eine bewegliche Sache, ein Produkt oder eine Substanz, die im Sinne der Abfallgruppe Q4 bei einem Zwischenfall verunreinigt worden sei. Die Verpflichtung zur Entsorgung der – als Abfall zu qualifizierenden – ausgetretenen Kraftstoffe impliziere, dass das verunreinigte Erdreich ausgekoffert werden müsse.

2.     Stellungnahme

24.     Im Zeitpunkt des Austretens und danach haben sich die Kraftstoffe mit dem umgebenden Erdreich vermischt. Es ist davon auszugehen, dass diese Mischung zumindest teilweise nicht ohne besondere Maßnahmen getrennt werden kann. Daher kann nicht separat geprüft werden, ob die ausgetretenen Kraftstoffe als Abfall anzusehen sind. Vielmehr stellt sich die Frage, ob das verunreinigte Erdreich insgesamt als Abfall einzustufen ist.

25.     Die Abfallrahmenrichtlinie bezweckt nach ihrem dritten Erwägungsgrund den Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt gegen nachteilige Auswirkungen der Sammlung, Beförderung, Behandlung, Lagerung und Ablagerung von Abfällen. Nach Artikel 174 Absatz 2 EG zielt die Umweltpolitik der Gemeinschaft auf ein hohes Schutzniveau ab und beruht namentlich auf den Grundsätzen der Vorsorge und Vorbeugung. Daraus hat der Gerichtshof gefolgert, dass der Begriff Abfall nicht eng ausgelegt werden kann. (6)

26.     Gemäß Artikel 1 Buchstabe a Unterabsatz 1 der Abfallrahmenrichtlinie sind alle Stoffe oder Gegenstände als Abfall anzusehen, die unter die in Anhang I aufgeführten Gruppen fallen und deren sich ihr Besitzer entledigt, entledigen will oder entledigen muss. Der genannte Anhang wie auch das Europäische Abfallverzeichnis erläutern und verdeutlichen diese Definition durch die Aufstellung von Verzeichnissen von Stoffen und Gegenständen, die als Abfälle eingestuft werden können. Sie haben jedoch nach Auffassung des Gerichtshofes nur Hinweischarakter. (7)

27.     Entscheidend ist, ob der Besitzer sich einer Sache entledigt, entledigen will oder entledigen muss. Nach dem Urteil ARCO ist dies anhand sämtlicher Umstände zu prüfen. Dabei ist die Zielsetzung der Richtlinie zu berücksichtigen und darauf zu achten, dass ihre Wirksamkeit nicht beeinträchtigt wird. (8)

a)     Zur Abfallgruppe Q4

28.     Die Abfallgruppe Q4 indiziert, dass es sich bei dem verunreinigten Erdreich um Abfall handelt. Sie erfasst unabsichtlich ausgebrachte, verlorene oder von einem sonstigen Zwischenfall betroffene Produkte und sämtliche Stoffe, Anlageteile usw., die bei einem solchen Zwischenfall kontaminiert worden sind. Schon der Begriff „Stoff“ ist sehr weit und kann das Erdreich als Bestandteil des Bodens einschließen. Darüber hinaus ist diese Abfallgruppe nicht abschließend formuliert.

29.     Teilweise wird jedoch aus der Abfallgruppe Q15, die insbesondere ausgekofferte Böden erfasst, gefolgert, dass noch nicht ausgekofferte verunreinigte Böden kein Abfall seien. (9) Es gibt jedoch keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Abfallgruppe Q15 abschließend definieren würde, unter welchen Umständen Erdreich Abfall sein kann. Für die Erfassung noch nicht ausgekofferter Böden spricht auch Unterkapitel 17 05 des Europäischen Abfallverzeichnisses (10) , das mit „Boden (einschließlich Aushub von verunreinigten Standorten), Steine und Baggergut“ überschrieben ist, und die Positionen 17 05 03 „Boden und Steine, die gefährliche Stoffe enthalten“, und 17 05 04 „Boden und Steine mit Ausnahme derjenigen, die unter 17 05 03 fallen“, nennt. Diese Kategorien könnten grundsätzlich auch noch nicht ausgekofferte Böden einschließen.

30.     Hintergrund der Auffassung, dass noch nicht ausgekofferte Böden kein Abfall sein könnten, dürfte sein, dass verschiedene Mitgliedstaaten den Abfallbegriff auf bewegliche Sachen beschränken. (11) Die Regelungstradition in einigen Mitgliedstaaten kann jedoch für die Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Begriffe nicht ausschlaggebend sein.

31.     Das Argument der Kommission, natürliche Elemente als solche könnten kein Abfall sein, beruht auf der Zielrichtung von Artikel 4 der Abfallrahmenrichtlinie, der unter anderem den Schutz des Bodens gegenüber den von Abfällen ausgehenden Gefahren fordert. Es geht jedoch vorliegend nicht um das unbestimmte natürliche Element Boden, sondern um eine genau bestimmbare Menge Erdreich, von dem eine Gefährdung des umgebenden Bodens ausgeht. Auf dieses Erdreich können entgegen der Auffassung der Kommission Verfahren der Beseitigung oder Verwertung angewandt werden.

32.     Eingedenk des nach Artikel 174 Absatz 2 EG anzustrebenden hohen Schutzniveaus ist darauf hinzuweisen, dass die Behandlung von nicht ausgekoffertem, verunreinigtem Erdreich als Abfall zu durchaus sinnvollen Ergebnissen führt. Aus Artikel 3 der Abfallrahmenrichtlinie ergibt sich eine Priorität für die Verhütung oder Verringerung derartiger Abfälle und ihrer Gefährlichkeit. Nach Artikel 4 muss derartiges Erdreich verwertet oder beseitigt werden, ohne dass die menschliche Gesundheit gefährdet wird und ohne dass Verfahren oder Methoden verwendet werden, welche die Umwelt schädigen können. Auch der weitere rechtliche Rahmen für die Organisation der Entsorgung von Abfällen nach den Artikeln 5 ff. kann weitgehend auf die Behandlung von verunreinigtem Erdreich Anwendung finden und zu einem hohen Umweltschutzniveau beitragen.

33.     Daher verdient die Auffassung den Vorzug, dass noch nicht ausgekoffertes, verunreinigtes Erdreich in den Anwendungsbereich der Abfallgruppe Q4 fallen kann.

b)     Zum Begriff „sich entledigen“

34.     Entscheidend für die Feststellung der Abfalleigenschaft ist jedoch nicht die Zuordnung zu einer Abfallgruppe, sondern ob der Besitzer sich des Erdreichs entledigt, entledigen will oder entledigen muss.

35.     Ein Wille zur Entledigung ist auszuschließen, solange dem Besitzer die Verunreinigung des Erdreichs unbekannt ist. Wenn der Besitzer Kenntnis von einer Verunreinigung erlangt, die eine weitere bestimmungsgemäße Nutzung des Erdreichs ausschließt, kann dagegen ein Wille zur Entledigung (widerlegbar) vermutet werden. Beispielsweise kann eine Verunreinigung von Agrarböden das Anbauprodukt beeinträchtigen oder eine Verunreinigung von Bauland Gesundheitsgefahren oder Belästigungen für die Gebäudenutzer zur Folge haben. In diesem Verlust der Nützlichkeit liegt das abfalltypische Risiko begründet, dass der Besitzer die betroffene Sache weder nutzt noch einer sachgerechten Entsorgung zuführt und sie daher die Umwelt belasten kann. Im Fall verunreinigten Erdreichs verwirklicht sich dieses Risiko, wenn keine Sanierungsmaßnahmen getroffen werden, so dass die Verunreinigung sich ausbreitet. Die Vermutung eines Entledigungswillens kann allerdings widerlegt werden, indem der Besitzer konkrete Maßnahmen ergreift, um die Nutzbarkeit des Erdreichs ohne eine Entledigung wiederherzustellen.

36.     Neben dem Willen zur Entledigung kann bei verunreinigtem Erdreich auch eine Verpflichtung zur Entledigung bestehen, die weder die Kenntnis einer Verunreinigung noch eine Entledigungsabsicht voraussetzt. Diese Verpflichtung kann sich aus den Gefahren ergeben, die aus der Verunreinigung des Erdreichs resultieren.

37.     Es ist allerdings ausgeschlossen, aus der abfallrechtlichen Generalklausel des Artikels 4 der Abfallrahmenrichtlinie auf eine Verpflichtung zu schließen, sich verunreinigten Erdreichs zu entledigen. Obwohl eine allgemeine Verpflichtung, mit verunreinigtem Erdreich gesundheitsschützend und umweltfreundlich umzugehen, zu begrüßen wäre, ist diese Verpflichtung erst Rechtsfolge der Abfalleigenschaft und kann nicht dafür herangezogen werden, diese Eigenschaft zu begründen. Daher greift auch das Argument der Region Brüssel-Hauptstadt nicht durch, dass verunreinigtes Erdreich immer als Abfall angesehen werden müsse, um eine Umgehung der Abfallrahmenrichtlinie zu verhindern.

38.     Die Abfalleigenschaft beruht im Fall einer Entledigungsverpflichtung vielmehr auf einem Zusammenspiel des Abfallrechts mit dem die jeweils einschlägigen Gefahren regelnden Fachrecht. Dieses kann ganz oder teilweise gemeinschaftsrechtlich determiniert oder ausschließlich innerstaatlicher Natur sein. So treffen die Mitgliedstaaten nach Artikel 6 Absatz 2 der Habitatrichtlinie (12) die geeigneten Maßnahmen, um in den besonderen Schutzgebieten die Verschlechterung der natürlichen Lebensräume und der Habitate der Arten sowie Störungen von Arten, für die die Gebiete ausgewiesen worden sind, zu vermeiden. Danach kann es beispielsweise nötig sein, verunreinigtes Erdreich zu entfernen, das die Wasserqualität in einem geschützten Feuchtgebiet gefährdet. Eine Verpflichtung zur Entfernung von verunreinigtem Erdreich kann sich auch aus Wasserrecht, aus speziellen Regelungen zum Bodenschutz oder aus allgemeinen Regelungen zur Gefahrenabwehr ergeben. Mittelbar können nach der Rechtsprechung sogar die Regelungen über die Entsorgung von Abfällen eine Verpflichtung zur Bodensanierung begründen (13) , die je nach Lage des Falles auch die Entfernung von verunreinigtem Erdreich erfordern kann. Wie die Region Brüssel-Hauptstadt darlegt, kann eine solche Verpflichtung auch zivilrechtlich begründet sein. (14) In all diesen Fällen muss sich der Besitzer des Erdreichs entledigen, ungeachtet der Frage, ob dieses weiterhin die Aufgabe erfüllen könnte, die er ihm zugedacht hat.

39.     Eine Entledigungsverpflichtung kann dagegen nicht auf eine von der Verunreinigung ausgehende Gefahr gestützt werden, wenn diese den Verbleib des Erdreichs an Ort und Stelle zulässt, etwa weil hinreichende Schutzmaßnahmen ohne Auskofferung getroffen werden können. In diesem Fall muss sich der Besitzer des Erdreichs nicht entledigen.

40.     Ob im vorliegenden Fall eine Verpflichtung besteht, das verunreinigte Erdreich auszukoffern, und inwieweit die bestimmungsgemäße Nutzung des verunreinigten Erdreichs weiterhin möglich ist, kann aufgrund der dem Gerichtshof übermittelten Informationen nicht beurteilt werden. Dies bleibt dem zuständigen Gericht vorbehalten.

41.     Die Frage, ob verunreinigtes Erdreich nur als Abfall zu qualifizieren ist, nachdem es ausgekoffert wurde, lässt sich auf der Grundlage der bisherigen Prüfung verneinen. Auch vor der Auskofferung kann dieses Erdreich bereits Abfall sein.

c)     Zwischenergebnis zur Abfalleigenschaft

42.     Zusammenfassend ist daher festzustellen, dass verunreinigtes Erdreich als Abfall anzusehen ist, wenn der Besitzer aufgrund der Verunreinigung verpflichtet ist, es auszukoffern. Die Abfalleigenschaft ist widerlegbar zu vermuten, wenn das Erdreich aufgrund der Verunreinigung nicht mehr bestimmungsgemäß genutzt werden kann.

B – Zur Verantwortlichkeit von Texaco

43.     Nunmehr ist zu prüfen, ob Texaco als Erzeuger oder Besitzer eventuell entstandener Abfälle angesehen werden kann. Dafür soll davon ausgegangen werden, dass das verunreinigte Erdreich im vorliegenden Fall Abfall ist.

1.     Vortrag der Beteiligten

44.     Die Region Brüssel-Hauptstadt ergänzt die Darstellung der Tatsachen durch die Cour d’appel. Sie behauptet, dass Texaco auch nach der Entdeckung der Verunreinigung Kraftstoffe an die Tankstelle geliefert habe. Weiterhin sei der Schaden an dem Tank auf einen Fehler bei der Befüllung durch Texaco in den 80er Jahren zurückzuführen, also bevor der letzte Betreiber der Tankstelle diese übernommen habe. In der Bewirtschaftungsvereinbarung habe Texaco sich das Recht vorbehalten, die Kraftstoffvorräte jederzeit zu überprüfen. Ein Vertreter von Texaco habe monatlich die verkauften Mengen überprüft. Die Betreiberin habe die Tankstelle zum Verkauf von Kraftstoffen nutzen dürfen, sei aber nicht berechtigt gewesen, die Anlagen der Tankstelle ohne vorherige Genehmigung von Texaco zu verändern. Bei der Übergabe der Tankstelle sei im Widerspruch zur Betriebsvereinbarung der Zustand der unterirdischen Tanks nicht dokumentiert worden.

45.     Die Region Brüssel-Hauptstadt vertritt die Auffassung, dass der Begriff des Abfallbesitzers weit auszulegen sei. Er erfasse im vorliegenden Fall Texaco, weil sie die Tankstelle gepachtet, den Betrieb der Tankstelle effektiv kontrolliert und die Verunreinigung des Erdreichs zumindest teilweise saniert habe. Sie sei auch Produzent von Abfällen, da die ausgetretenen Kraftstoffe keiner legalen Nutzung mehr zugeführt werden könnten.

46.     Die Angeklagten und Texaco sind der Meinung, dass das Vorabentscheidungsersuchen sich nicht auf die Frage erstrecke, ob Texaco als Abfallbesitzer oder Abfallerzeuger angesehen werden könne.

47.     Texaco habe offensichtlich keine Abfälle erzeugt, sondern Produkte, nämlich Kraftstoffe. Allein die Betreiberin der Tankstelle sei dafür verantwortlich, dass diese zu Abfall geworden seien. Man könne nicht den ursprünglichen Produzenten eines Produkts dafür verantwortlich machen, wenn dieses später nicht bestimmungsgemäß verwendet, sondern in Abfall umgewandelt werde.

48.     Besitz zeichne sich durch die tatsächliche Sachherrschaft aus. Texaco habe keine solche Herrschaft im Hinblick auf die Tankanlagen oder die gelagerten Kraftstoffe innegehabt. Die Beschränkung der Verfügungsgewalt des Betreibers in Bezug auf die Tankanlagen resultiere vor allem daraus, dass dieser weder Eigentümer noch Mieter dieser Anlagen sei. Die Bewirtschaftungsvereinbarung sehe jedoch ausdrücklich vor, dass die Betreiberin für die Wartung und Kontrolle der Anlagen verantwortlich sei. Auch hafte danach allein die Betreiberin für Schäden, die von den Anlagen ausgingen. Die Betreiberin sei alleinige Eigentümerin und voll verantwortlich für die Kraftstoffvorräte. Die vorgesehene Überprüfung der Vorräte durch Texaco sei nicht mit einer technischen Kontrolle der Anlagen gleichzusetzen. Sie diene allein der Betrugsbekämpfung.

49.     Die Kommission vertritt die Auffassung, dass man im vorliegenden Fall den Abfallbesitzer dadurch bestimmen könne, dass man feststellt, wer Besitzer der Kraftstoffe war, als sie zu Abfall wurden. Mit dem Erwerb der Kraftstoffe sei die Betreiberin der Tankstelle Eigentümer geworden. Auch die Herstellung der Kraftstoffe durch Texaco führe nicht zu einem anderen Ergebnis, da die Abfälle im Rahmen der Tätigkeit der Tankstellenbetreiberin angefallen seien.

2.     Stellungnahme

50.     Abfallrechtliche Pflichten können Texaco im vorliegenden Fall nur treffen, wenn sie als Abfallerzeuger oder Abfallbesitzer angesehen werden kann. Nach Artikel 8 der Abfallrahmenrichtlinie muss der Besitzer von Abfällen diese einem zugelassenen Entsorgungsunternehmen übergeben oder selbst eine ordnungsgemäße Entsorgung gewährleisten. Artikel 15 der Abfallrahmenrichtlinie sieht vor, dass der Abfallbesitzer gemäß dem Verursacherprinzip die Kosten für die Beseitigung von Abfällen trägt, die er einem Sammelunternehmen oder einem Beseitigungsunternehmen übergibt. Abfallbesitzer ist nach Artikel 1 Buchstabe c der Abfallrahmenrichtlinie nicht nur der eigentliche Besitzer, sondern auch der Erzeuger des Abfalls, der wiederum in Artikel 1 Buchstabe b definiert wird.

a)     Zum Begriff des Abfallerzeugers

51.     Artikel 1 Buchstabe b der Abfallrahmenrichtlinie definiert als Erzeuger jede Person, durch deren Tätigkeit Abfälle angefallen sind („Ersterzeuger“), und/oder jede Person, die Vorbehandlungen, Mischungen oder sonstige Behandlungen vorgenommen hat, die eine Veränderung der Natur oder der Zusammensetzung dieser Abfälle bewirken.

52.     Texaco kann nicht bereits deswegen als Erzeugerin von Abfall angesehen werden, weil sie Kraftstoffe herstellte, die durch einen Unfall zu Abfall wurden. Der Begriff des Abfallerzeugers ist enger an die Herbeiführung der Abfalleigenschaft geknüpft. Kraftstoffe verbrennen bei bestimmungsgemäßer Verwendung, ohne Abfall zurückzulassen. (15) Sie sind im vorliegenden Fall nicht durch die Produktionstätigkeit von Texaco zu Abfall geworden, sondern erst durch ihre Lagerung in schadhaften Tankanlagen.

53.     Abfallerzeuger ist daher grundsätzlich derjenige, der die Tankanlagen betrieb, als die Kraftstoffe austraten. Dem ersten Anschein nach war diese Person die Betreiberin der Tankstelle. Ob entgegen diesem Anschein Texaco für die Lagerhaltung Verantwortung trug – die Betreiberin mithin die Tankanlagen nicht als Teil des eigenen Unternehmens, sondern für Texaco betrieb –, kann letztlich nur das zuständige nationale Gericht beurteilen. Es wird dabei zu prüfen haben, wer rechtlich und tatsächlich die Lagerhaltung und den Zustand der Anlagen beherrschte. Anhaltspunkte dafür können der Bewirtschaftungsvereinbarung und allen anderen einschlägigen Vorschriften entnommen werden. Daneben wird auch von Bedeutung sein, wie Texaco sich tatsächlich verhalten hat. Zwar kann Texaco sich nicht von rechtlichen Kontrollpflichten befreien, indem sie diese nicht praktisch ausübt. Wenn Texaco jedoch aufgrund ihrer wirtschaftlichen Machtposition gegenüber der Tankstellenbetreiberin über ihre rechtliche Position hinaus tatsächlich den Betrieb der Tankanlagen beherrschte, so muss sie auch die daraus folgende Verantwortung akzeptieren.

54.     Daneben könnte Texaco als Abfallerzeugerin in Betracht kommen, wenn die Schäden an der Tankanlage auf ihr Verhalten zurückzuführen wären. Insofern wäre an einen von der Region Brüssel-Hauptstadt erwähnten Fehler bei der Befüllung der Tanks zu denken. Nicht auszuschließen ist auch, dass Texaco bei der Übergabe der Tankstelle an die Betreiberin mögliche Defekte hätte kennen und beseitigen müssen, die später zum Austreten der Kraftstoffe geführt haben. Auch insofern muss das zuständige Gericht die notwendigen Feststellungen allerdings selbst treffen.

b)     Zum Begriff des Abfallbesitzers

55.      Nach Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe c der Abfallrahmenrichtlinie sind der Erzeuger der Abfälle oder die natürliche oder juristische Person, in deren Besitz sich die Abfälle befinden, als Abfallbesitzer anzusehen. Wenn Texaco nicht Abfallerzeuger ist, so kann Texaco danach nur Abfallbesitzer sein, wenn sich Abfälle in ihrem Besitz befinden.

56.     Der Begriff Besitz wird weder durch die Richtlinie noch allgemein im Gemeinschaftsrecht definiert. Nach der üblichen Wortbedeutung entspricht Besitz der tatsächlichen Sachherrschaft, setzt aber nicht das Eigentum oder eine rechtliche Verfügungsbefugnis über die Sache voraus. Allerdings kann man nur den Verpflichtungen aus Artikel 8 der Abfallrahmenrichtlinie entsprechen, wenn man nicht nur tatsächlich über Abfall verfügt, sondern auch berechtigt ist, ihn einer Entsorgung zuzuführen. Besitz im Sinne von Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe c der Abfallrahmenrichtlinie muss daher über den strengen Wortsinn hinaus (16) neben der (unmittelbaren oder mittelbaren) tatsächlichen Sachherrschaft auch eine rechtliche Verfügungsbefugnis über den Abfall einschließen.

57.     Wer zu welchem Zeitpunkt die tatsächliche Sachherrschaft über die Abfälle innehatte, ist vom vorlegenden Gericht zu prüfen. Auch hier spricht der erste Anschein für eine Sachherrschaft der Betreiberin, jedenfalls bis zur Stilllegung der Tankstelle. Ob dieser Anschein zutrifft, wird im Wesentlichen nach den gleichen Kriterien zu beurteilen sein wie die Frage, wer Erzeuger der Abfälle war. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass die Betreiberin bereits nach der Bewirtschaftungsvereinbarung eine eventuelle Sachherrschaft an den Tankanlagen und dem umgebenden Erdreich nicht für sich selber, sondern für Texaco ausübte. Dafür würde sprechen, dass – wie die Region Brüssel-Hauptstadt und Texaco vortragen – die Betreiberin daran gehindert war, ohne Zustimmung der Texaco Veränderungen an dem Grundstück vorzunehmen.

58.     Nach der Stilllegung der Tankstelle bestehen gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass Texaco in die tatsächliche Sachherrschaft eintrat. Es erscheint unwahrscheinlich, dass die Betreiberin nach der Kündigung der Bewirtschaftungsvereinbarung noch die Sachherrschaft über die Tankstelle ausübte. Dagegen zahlte Texaco noch bis zum Sommer 1993 Pacht und ließ bis Mai 1994 Sanierungsarbeiten durchführen, was die Sachherrschaft über das Grundstück voraussetzt.

59.     Auch wer das verunreinigte Erdreich einer Entsorgung zuführen durfte, kann nur das zuständige Gericht beurteilen. Nach den vorliegenden Informationen erscheint es wenig wahrscheinlich, dass diese Befugnis der Betreiberin zukam. Ob Texaco aufgrund des Pachtvertrags mit der Grundstückseigentümerin verunreinigtes Erdreich einer Entsorgung hätte zuführen dürfen oder ob dies allein in der Befugnis Letzterer lag, kann auf der Grundlage der dem Gerichtshof vorliegenden Angaben nicht beurteilt werden.

c)     Zwischenergebnis zu den Begriffen Abfallerzeuger und Abfallbesitzer

60.     Zusammenfassend ist festzustellen, dass nach Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe c der Abfallrahmenrichtlinie ein Mineralölunternehmen, das Kraftstoffe herstellt und sie an den Betreiber einer seiner Tankstellen im Rahmen einer Bewirtschaftungsvereinbarung verkauft, die die Autonomie des Betreibers ohne Unterordnungsverhältnis dem Unternehmen gegenüber vorsieht, als Besitzer von Abfällen in der Form von mit ausgetretenen Kraftstoffen verunreinigtem Erdreich anzusehen ist,

wenn der Betreiber die Tankanlage unter Berücksichtigung aller rechtlichen und tatsächlichen Umstände nicht als Teil des eigenen Unternehmens, sondern für das Mineralölunternehmen betrieb (Artikel 1 Buchstabe c, 1. Alternative – Erzeuger der Abfälle),

wenn die Schäden an den Tankanlagen auf das Verhalten des Mineralölunternehmens zurückzuführen sind (Artikel 1 Buchstabe c, 1. Alternative – Erzeuger der Abfälle) oder

wenn das Mineralölunternehmen unter Berücksichtigung aller rechtlichen und tatsächlichen Umstände die tatsächliche Sachherrschaft innehat und berechtigt ist, die Abfälle einer Entsorgung zuzuführen (Artikel 1 Buchstabe c, 2. Alternative – Besitzer der Abfälle).

V – Ergebnis

61.     Daher wird vorgeschlagen, die Fragen der Cour d’appel wie folgt zu beantworten:

1.
Verunreinigtes Erdreich ist als Abfall anzusehen, wenn der Besitzer aufgrund der Verunreinigung verpflichtet ist, es auszukoffern. Die Abfalleigenschaft ist widerlegbar zu vermuten, wenn das Erdreich aufgrund der Verunreinigung nicht mehr bestimmungsgemäß genutzt werden kann.

2.
Ein Mineralölunternehmen, das Kraftstoffe herstellt und sie an den Betreiber einer seiner Tankstellen im Rahmen einer Bewirtschaftungsvereinbarung verkauft, die die Autonomie des Betreibers ohne Unterordnungsverhältnis dem Unternehmen gegenüber vorsieht, ist als Besitzer von Abfällen in der Form von mit ausgetretenen Kraftstoffen verunreinigtem Erdreich anzusehen,

wenn der Betreiber die Tankanlage unter Berücksichtigung aller rechtlichen und tatsächlichen Umstände nicht als Teil des eigenen Unternehmens, sondern für das Mineralölunternehmen betrieb (Artikel 1 Buchstabe c, 1. Alternative – Erzeuger der Abfälle),

wenn die Schäden an den Tankanlagen auf das Verhalten des Mineralölunternehmens zurückzuführen sind (Artikel 1 Buchstabe c, 1. Alternative – Erzeuger der Abfälle) oder

wenn das Mineralölunternehmen unter Berücksichtigung aller rechtlichen und tatsächlichen Umstände die tatsächliche Sachherrschaft innehat und berechtigt ist, die Abfälle einer Entsorgung zuzuführen (Artikel 1 Buchstabe c, 2. Alternative – Besitzer der Abfälle).


1
Originalsprache: Deutsch.


2
ABl. L 194, S. 39.


3
ABl. L 78, S. 32.


4
Q5 und Q12 betreffen verunreinigte Stoffe, Q13 betrifft „Stoffe oder Produkte aller Art, deren Verwendung gesetzlich verboten ist“.


5
Urteil vom 28. März 1990 in den Rechtssachen C-206/88 und C-207/88 (Slg. 1990, I-1461).


6
Urteile vom 15. Juni 2000 in den Rechtssachen C-418/97 und C-419/97 (ARCO Chemie Nederland u. a., Slg. 2000, I-4475, Randnrn. 38 ff.) und vom 18. April 2002 in der Rechtssache C-9/00 (Palin Granit und Vehmassalon Kansanterveystyön Kuntayhtymän hallitus, Slg. 2002, I-3533, Randnr. 23).


7
Siehe zum Vorstehenden das Urteil Palin Granit, zitiert in Fußnote 6, Randnr. 22.


8
Urteil ARCO, zitiert in Fußnote 6, Randnr. 73.


9
Ludger-Anselm Versteyl, „Der Abfallbegriff im Europäischen Recht – Eine unendliche Geschichte“, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2000, 585 (586); Martin Dieckmann, Das Abfallrecht der Europäischen Gemeinschaft, Baden-Baden 1994, S. 152 f.


10
Entscheidung 2000/532/EG der Kommission vom 3. Mai 2000 zur Ersetzung der Entscheidung 94/3/EG über ein Abfallverzeichnis gemäß Artikel 1 Buchstabe a der Richtlinie 75/442/EWG des Rates über Abfälle und der Entscheidung 94/904/EG des Rates über ein Verzeichnis gefährlicher Abfälle im Sinne von Artikel 1 Absatz 4 der Richtlinie 91/689/EWG über gefährliche Abfälle, ABl. L 226, S. 3, in der Fassung der Entscheidung 2001/573/EG des Rates vom 23. Juli 2001 zur Änderung der Entscheidung 2000/532/EG über ein Abfallverzeichnis, ABl. L 203, S. 18.


11
Insbesondere Deutschland und Frankreich, in Italien beruht diese Abgrenzung auf einem Urteil der Corte suprema di cassazione vom 18. September 2002, Nr. 31011. Dagegen dehnt Österreich den Abfallbegriff ausdrücklich auf bewegliche Sachen aus, die eine die Umwelt beeinträchtigende Verbindung mit dem Boden eingegangen sind (Artikel 2 Absatz 2 des Abfallwirtschaftsgesetzes).


12
Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wild lebenden Tiere und Pflanzen, ABl. L 206, S. 7.


13
Urteil vom 9. November 1999 in der Rechtssache C-365/97 (Kommission/Italien, San Rocco, Slg. 1999, I-7773, Randnrn. 108 ff.).


14
Siehe auch das Urteil ARCO, zitiert in Fußnote 6, Randnr. 86, wo das Beispiel einer Vereinbarung genannt wird.


15
Vgl. das Urteil ARCO, zitiert in Fußnote 6, Randnr. 66.


16
Vgl. die Schlussanträge von Generalanwalt Mischo vom 20. November 2001 in der Rechtssache C-179/00 (Weidacher, Slg. 2002, I-501, I-505, Nrn. 76 f.), in denen er den unpräzisen Gebrauch des Begriffs Besitzer illustriert.