Language of document : ECLI:EU:T:2023:66

URTEIL DES GERICHTS (Fünfte Kammer)

15. Februar 2023(*)

„Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Belarus – Liste der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden – Aufnahme des Namens des Klägers in die Listen und Belassung auf den Listen – Begriff ‚für die Repression verantwortliche Person‘ – Beurteilungsfehler – Verhältnismäßigkeit“

In der Rechtssache T‑536/21,

Belaeronavigatsia mit Sitz in Minsk (Belarus), vertreten durch Rechtsanwalt M. Michalauskas,

Klägerin,

gegen

Rat der Europäischen Union, vertreten durch R. Meyer und S. Van Overmeire als Bevollmächtigte,

Beklagter,

unterstützt durch

Europäische Kommission, vertreten durch C. Giolito und M. Carpus Carcea als Bevollmächtigte,

Streithelferin,

erlässt

DAS GERICHT (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten J. Svenningsen sowie des Richters J. Laitenberger und der Richterin M. Stancu (Berichterstatterin),

Kanzler: H. Eriksson, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

auf die mündliche Verhandlung vom 30. November 2022

folgendes

Urteil

1        Mit ihrer Klage nach Art. 263 AEUV beantragt die Klägerin, Belaeronavigatsia, die Nichtigerklärung des Beschlusses (GASP) 2021/1001 des Rates vom 21. Juni 2021 zur Änderung des Beschlusses 2012/642/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Belarus (ABl. 2021, L 219 I, S. 67), der Durchführungsverordnung (EU) 2021/999 des Rates vom 21. Juni 2021 zur Durchführung des Artikels 8a Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 765/2006 über restriktive Maßnahmen gegen Belarus (ABl. 2021, L 219 I, S. 55) (im Folgenden zusammen: ursprüngliche Rechtsakte), des Beschlusses (GASP) 2022/307 des Rates vom 24. Februar 2022 zur Änderung des Beschlusses 2012/642/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Belarus (ABl. 2022, L 46, S. 97), und der Durchführungsverordnung (EU) 2022/300 des Rates vom 24. Februar 2022 zur Durchführung des Artikels 8a der Verordnung (EG) Nr. 765/2006 über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Belarus (ABl. 2022, L 46, S. 3) (im Folgenden zusammen: Fortsetzungsrechtsakte), soweit diese Rechtsakte (im Folgenden zusammen: angefochtene Rechtsakte) sie betreffen.

 Vorgeschichte des Rechtsstreits und Sachverhalt nach Klageerhebung

2        Die Klägerin, Belaeronavigatsia, ist das belarussische Staatsunternehmen, dessen Tätigkeit in der Regulierung des Luftraums und der Unterstützung des Flugverkehrs in Belarus besteht.

3        Das vorliegende Verfahren steht im Zusammenhang mit den restriktiven Maßnahmen, die die Europäische Union seit 2004 aufgrund der Lage in Belarus in Bezug auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte eingeführt hat. Insbesondere hängt es zusammen mit der Intensivierung der anhaltenden Menschenrechtsverletzungen sowie der brutalen Repression von Gegnern des Regimes von Präsident Lukaschenko im Anschluss an die Präsidentschaftswahl vom 9. August 2020, die von der Union als nicht konform mit internationalen Standards befunden wurde.

4        Am 18. Mai 2006 erließ der Rat der Europäischen Union auf der Grundlage der Art. [75 und 215 AEUV] die Verordnung (EG) Nr. 765/2006 über restriktive Maßnahmen gegen Präsident Lukaschenko und verschiedene belarussische Amtsträger (ABl. 2006, L 134, S. 1) und am 15. Oktober 2012 auf der Grundlage von Art. 29 EUV den Beschluss 2012/642/GASP über restriktive Maßnahmen gegen Belarus (ABl. 2012, L 285, S. 1).

5        Art. 4 Abs. 1 Buchst. a des Beschlusses 2012/642 und Art. 2 Abs. 4 der Verordnung Nr. 765/2006 in der durch die Verordnung (EU) Nr. 1014/2012 des Rates vom 6. November 2012 geänderten Fassung, wobei die letztgenannte Bestimmung auf die erstgenannte verweist, sehen das Einfrieren sämtlicher Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen vor, die sich im Besitz, im Eigentum oder unter der Kontrolle u. a. von Personen, Organisationen oder Einrichtungen befinden, die für schwere Menschenrechtsverletzungen oder Repressionen gegen die Zivilgesellschaft und die demokratische Opposition verantwortlich sind oder deren Aktivitäten die Demokratie oder die Rechtsstaatlichkeit in Belarus auf andere Weise ernsthaft untergraben (im Folgenden: streitiges allgemeines Kriterium).

6        Mit den ursprünglichen Rechtsakten wurde der Name der Klägerin in die Listen der von den restriktiven Maßnahmen betroffenen Personen, Organisationen und Einrichtungen im Anhang des Beschlusses 2012/642 und in Anhang I der Verordnung Nr. 765/2006 (im Folgenden zusammen: fragliche Listen) aufgenommen.

7        In den ursprünglichen Rechtsakten rechtfertigte der Rat den Erlass der gegen die Klägerin gerichteten restriktiven Maßnahmen mit folgenden Gründen:

„Das staatseigene Unternehmen Belaeronavigatsia ist für die belarussische Luftverkehrskontrolle zuständig. Es trägt daher Verantwortung für die ohne angemessene Begründung am 23. Mai 2021 erfolgte Umleitung des Passagierfluges FR4978 zum Flughafen Minsk. Dieser politisch motivierte Beschluss diente der Festnahme und Inhaftierung des oppositionellen Journalisten [Roman Protasevich] und von Sofia Sapiega und ist ein Mittel der Repression gegen die Zivilgesellschaft und die demokratische Opposition in Belarus.

Das staatseigene Unternehmen Belaeronavigatsia ist daher für Repressionen gegen die Zivilgesellschaft und die demokratische Opposition verantwortlich.“

8        Mit Schreiben vom 22. Juni 2021 übermittelte der Rat der Klägerin eine individuelle Mitteilung über die Aufnahme ihres Namens in die fraglichen Listen und fügte ihr eine Kopie der ursprünglichen Rechtsakte bei. Mit diesem Schreiben teilte der Rat der Klägerin insbesondere mit, dass sie eine Überprüfung der Entscheidung, sie in die Listen aufzunehmen, beantragen und gegen diese Entscheidung beim Gericht klagen könne.

9        Mit Schreiben vom 3. November 2021 beanstandete die Klägerin die Aufnahme ihres Namens in die fraglichen Listen und beantragte beim Rat eine Überprüfung.

10      Mit Schreiben vom 17. Januar 2022 antwortete der Rat auf den Überprüfungsantrag der Klägerin und übermittelte ihr das Dokument WK 15389/2021 INIT. Mit demselben Schreiben teilte er der Klägerin mit, dass er beabsichtige, ihren Namen auf den fraglichen Listen zu belassen, und dass sie hierzu bis zum 2. Februar 2022 Stellung nehmen könne.

11      Mit Schreiben vom 26. Januar und 1. Februar 2022 bestritt die Klägerin die Relevanz der im Dokument WK 15389/2021 INIT gesammelten Beweise und beantragte beim Rat, die Aufnahme ihres Namens in die fraglichen Listen zu überprüfen.

12      Mit den Fortsetzungsrechtsakten wurde der Name der Klägerin bis zum 28. Februar 2023 in den fraglichen Listen belassen, wobei die Belassung wie folgt begründet wurde:

„Das staatseigene Unternehmen Belaeronavigatsia ist für die belarussische Luftverkehrskontrolle zuständig. Es trägt daher Verantwortung für die ohne angemessene Begründung am 23. Mai 2021 erfolgte Umleitung des Passagierfluges FR4978 zum Flughafen Minsk. Dieser politisch motivierte Beschluss wurde mit dem Ziel der Festnahme und Inhaftierung des oppositionellen Journalisten Roman Protasevich und von Sofia Sapiega gefasst und ist ein Mittel der Repression gegen die Zivilgesellschaft und die demokratische Opposition in Belarus.

Das staatseigene Unternehmen Belaeronavigatsia ist daher für Repressionen gegen die Zivilgesellschaft und die demokratische Opposition verantwortlich.“

13      Mit Schreiben vom 25. Februar 2022 antwortete der Rat auf die in der obigen Rn. 11 erwähnten Schreiben der Klägerin und übermittelte ihr die Dokumente WK 1795/2022 INIT und WK 1795/2022 ADD 1. Mit demselben Schreiben teilte der Rat der Klägerin seine Entscheidung mit, ihren Namen auf den fraglichen Listen zu belassen.

 Anträge der Parteien

14      Mit ihrer am 1. September 2021 erhobenen Klage hat die Klägerin zunächst die ursprünglichen Rechtsakte angefochten, soweit diese sie betreffen. Mit Schriftsatz, der am 13. Mai 2022 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin ihre Anträge angepasst, um auch die Fortsetzungsrechtsakte zu erfassen, soweit diese sie betreffen.

15      Die Klägerin beantragt,

–        die angefochtenen Rechtsakte für nichtig zu erklären, soweit diese sie betreffen;

–        dem Rat und der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

16      Der Rat und die Kommission beantragen,

–        die Klage abzuweisen;

–        der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

 Rechtliche Würdigung

17      Zur Begründung ihrer Klage macht die Klägerin zwei Klagegründe geltend, mit denen sie erstens einen Beurteilungsfehler und zweitens einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit rügt.

 Zum ersten Klagegrund, mit dem ein Beurteilungsfehler gerügt wird

18      Im Rahmen dieses Klagegrundes wirft die Klägerin dem Rat vor, angenommen zu haben, dass es sich bei dem streitigen allgemeinen Kriterium um ein objektives Kriterium handele, das nicht den Nachweis erfordere, dass die Person oder Organisation, gegen die sich die restriktiven Maßnahmen richteten, die Absicht gehabt habe, sich an der begangenen repressiven Handlung zu beteiligen. Ohne die Rechtswidrigkeit des streitigen allgemeinen Kriteriums geltend zu machen, vertritt die Klägerin in diesem Zusammenhang im Wesentlichen die Auffassung, dass die in Art. 4 Abs. 1 Buchst. a des Beschlusses 2012/642 und in Art. 2 Abs. 4 der Verordnung Nr. 765/2006 verwendeten Worte „Personen …, die für … die Repressionen verantwortlich sind“ darauf hindeuteten, dass dieses Kriterium das Vorliegen einer Absicht und damit den Nachweis voraussetze, dass die von den restriktiven Maßnahmen betroffene Person oder Einrichtung die Absicht gehabt habe, sich an der ihr zur Last gelegten Repression zu beteiligen.

19      Der Rat habe sich nicht damit begnügen dürfen, die materielle Zurechenbarkeit der Umleitung des Fluges FR4978 zum Flughafen Minsk (Belarus) am 23. Mai 2021 nachzuweisen, sondern hätte auch eine Absicht bei der Klägerin nachweisen müssen, d. h., dass sie sich durch ihre Handlungen bewusst an der Repression der Zivilgesellschaft und der demokratischen Opposition beteiligt habe. Ohne diesen Nachweis hätte der Rat nicht davon ausgehen dürfen, dass es eine hinreichende tatsächliche Grundlage zum Beleg ihrer Absicht gebe, sich an der Repression gegen die Zivilgesellschaft und die demokratische Opposition zu beteiligen.

20      Die Klägerin argumentiert erstens, dass ihre Handlungen nicht durch politische Erwägungen, sondern im Gegenteil durch die Verpflichtungen motiviert gewesen seien, die ihr im Bereich der Flugsicherheit als staatliches Unternehmen zufielen, das mit der Regulierung des Luftraums und der Unterstützung des Flugverkehrs gemäß den internationalen Übereinkommen betraut sei, denen Belarus beigetreten sei. Die Klägerin habe somit im Einklang mit dem am 23. September 1971 in Montreal (Kanada) geschlossenen Abkommen zur Bekämpfung rechtswidriger Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt und dem am 7. Dezember 1944 in Chicago (Vereinigte Staaten) geschlossenen Abkommen über die Internationale Zivilluftfahrt gehandelt.

21      Die Klägerin macht zweitens geltend, dass sie von Stellen außerhalb ihres Unternehmens, die sie über eine Bombe an Bord des Fluges FR4978 informiert hätten, manipuliert worden sein könnte und dass sie, da sie nicht im Besitz der Passagierliste gewesen sei, keinen Grund gehabt habe, eine solche Manipulation zu vermuten. Der von der Klägerin bestrittene Umstand, dass die E‑Mail mit der Bombenwarnung erst 24 Minuten nach der Übermittlung dieser Warnung an den Piloten des Fluges FR4978 beim Flughafen Minsk eingegangen sei, schließe ihre Gutgläubigkeit nicht aus, da sie allein auf der Grundlage der von den Sicherheitsdiensten des Flughafens Minsk erhaltenen Informationen gehandelt habe. Außerdem könne sie nicht für die Umleitung des Fluges FR4978 verantwortlich gemacht werden, da sie lediglich eine Empfehlung an den Piloten ausgesprochen habe, der selbst beschlossen habe, in Belarus zu landen.

22      Der Rat, unterstützt durch die Kommission, tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.

23      Es ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. a des Beschlusses 2012/642 und Art. 2 Abs. 4 der Verordnung Nr. 765/2006 sämtliche Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen eingefroren werden, die im Besitz oder unter der Kontrolle u. a. von Personen, Organisationen oder Einrichtungen sind, die für schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen oder für die Repression gegen die Zivilgesellschaft oder die demokratische Opposition verantwortlich sind oder deren Handlungen die Demokratie und den Rechtsstaat in Belarus in anderer Weise ernsthaft untergraben.

24      Zur Natur des streitigen allgemeinen Kriteriums ist festzustellen, dass die in Art. 4 Abs. 1 Buchst. a des Beschlusses 2012/642 und in Art. 2 Abs. 4 der Verordnung Nr. 765/2006 verwendeten Worte „Personen …, die für … die Repressionen verantwortlich sind“ weder in diesen Bestimmungen noch in anderen Bestimmungen des Beschlusses 2012/642 oder der Verordnung Nr. 765/2006 definiert werden.

25      Daher sind ihre Bedeutung und Tragweite entsprechend ihrem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem sie verwendet werden, und der mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgten Ziele zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. März 2005, Easy Car, C‑336/03, EU:C:2005:150, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 7. Mai 2019, Deutschland/Kommission, T‑239/17, EU:T:2019:289, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26      Hierzu ist erstens festzustellen, dass die Worte „verantwortlich für“ in der Umgangssprache denjenigen oder diejenige bezeichnen, dessen oder deren Handlungen und/oder Aktivitäten eine Folge hervorgerufen haben, die der Urheber dieser Handlungen und/oder Aktivitäten kennt oder vernünftigerweise nicht ignorieren kann.

27      Zweitens ergibt sich aus dem Kontext, in dem der Ausdruck „für die Repression verantwortlich“ verwendet wird, insbesondere daraus, dass in Art. 4 Abs. 1 Buchst. a des Beschlusses 2012/642 und in Art. 2 Abs. 4 der Verordnung Nr. 765/2006 die Formulierung „Personen, Organisationen oder Einrichtungen …, die für … die Repressionen gegen die Zivilgesellschaft und die demokratische Opposition verantwortlich sind oder deren Aktivitäten die Demokratie oder die Rechtsstaatlichkeit in Belarus auf andere Weise ernsthaft untergraben“, verwendet wird, dass die normative Absicht darin bestand, mit dem streitigen allgemeinen Kriterium allgemein alle Personen, Organisationen oder Einrichtungen zu erfassen, deren Tätigkeiten der Demokratie oder der Rechtsstaatlichkeit in Belarus schweren Schaden zufügen. Darüber hinaus zeigt die Verwendung des Syntagmas „auf andere Weise“ im zweiten Teil der genannten Bestimmungen die normative Absicht, Repressionen gegen die Zivilgesellschaft und die demokratische Opposition als eine Art von Aktivitäten anzusehen, die der Demokratie oder der Rechtsstaatlichkeit in Belarus ernsthaft schaden. Schließlich ist die Verwendung des Begriffs „Aktivitäten“ ein Hinweis auf die normative Absicht, Personen, Organisationen oder Einrichtungen zu erfassen, deren Tätigkeiten der Demokratie oder der Rechtsstaatlichkeit in Belarus aufgrund der Tatsache, dass diese Tätigkeiten zu diesen Beeinträchtigungen beitragen, ernsthaft schaden, unabhängig davon, ob in dieser Hinsicht eine Absicht vorliegt oder nicht.

28      Drittens ist in Bezug auf die mit dem Beschluss 2012/642 und der Verordnung Nr. 765/2006 verfolgten Ziele zunächst daran zu erinnern, dass nach Art. 21 Abs. 2 Buchst. b EUV die Festigung und Förderung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Menschenrechte und der Grundsätze des Völkerrechts auf internationaler Ebene eines der Ziele der Union im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) ist.

29      Im vorliegenden Fall wurden, wie aus dem ersten Erwägungsgrund des Beschlusses 2012/642 hervorgeht, die restriktiven Maßnahmen gegen Belarus wegen anhaltender Missachtung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in diesem Land erlassen. Diese Maßnahmen sollen Druck auf das Regime von Präsident Lukaschenko ausüben, damit er Menschenrechtsverletzungen und die Repression gegenüber der Zivilgesellschaft und der demokratischen Opposition beendet.

30      Der Ansatz, Personen, Organisationen und Einrichtungen ins Visier zu nehmen, deren Handlungen und/oder Aktivitäten zur Repression der Zivilgesellschaft und der demokratischen Opposition beitragen, entspricht in kohärenter Weise dem oben in Rn. 29 genannten Ziel und kann jedenfalls nicht als im Hinblick auf das verfolgte Ziel unangemessen angesehen werden (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 147). Denn Handlungen und/oder Aktivitäten, die zu Menschenrechtsverletzungen und zur Repression der Zivilgesellschaft und der demokratischen Opposition beitragen, müssen nicht nur in dem Fall eingestellt werden, in dem diese Handlungen und/oder Aktivitäten vorsätzlich begangen wurden, sondern auch in dem Fall, in dem bei den Tätern keine Absicht festgestellt werden kann.

31      In Anbetracht dessen ist das streitige allgemeine Kriterium dahin auszulegen, dass Personen, Organisationen oder Einrichtungen, deren Handlungen und/oder Aktivitäten zu dieser Repression beitragen, unabhängig von ihrer Absicht für die Repression der Zivilgesellschaft und der demokratischen Opposition verantwortlich sind, sobald sie die Folgen ihrer Handlungen und/oder Aktivitäten kennen oder vernünftigerweise nicht ignorieren können.

32      In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass restriktive Maßnahmen entgegen der Behauptung der Klägerin keine Strafmaßnahmen darstellen, die den Nachweis einer Absicht beim Urheber der fraglichen Handlungen und/oder Aktivitäten erforderten.

33      Das Einfrieren von Geldern und wirtschaftlichen Ressourcen der Klägerin stellt nämlich keine verwaltungsrechtliche Sanktion dar und fällt nicht in den Anwendungsbereich von Art. 49 Abs. 1 Satz 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

34      Erstens verleiht keine Bestimmung des Unionsrechts den auf der Grundlage der Bestimmungen über die GASP gegen eine Person, Organisation oder Einrichtung gerichteten restriktiven Maßnahmen des Einfrierens von Geldern und wirtschaftlichen Ressourcen eine strafrechtliche Konnotation. Diese Maßnahmen stellen nämlich gezielte Präventivmaßnahmen dar, die nach Art. 21 Abs. 2 Buchst. b EUV darauf abzielen, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die Menschenrechte und die Grundsätze des Völkerrechts zu festigen und zu fördern.

35      Zweitens zielen die Bestimmungen des Beschlusses 2012/642 über das Einfrieren von Geldern und wirtschaftlichen Ressourcen gegen Belarus weder darauf ab, die Wiederholung eines bestimmten Verhaltens zu bestrafen, noch es zu verhindern. Sie dienen ausschließlich dem Zweck, die Vermögenswerte, die sich im Besitz der in Art. 4 Abs. 1 Buchst. a des Beschlusses 2012/642 genannten Personen, Organisationen und Einrichtungen befinden, im Einklang mit den in Art. 21 Abs. 2 Buchst. b EUV genannten Zielen sicherzustellen (vgl. entsprechend Urteil vom 27. Februar 2014, Ezz u. a./Rat, T‑256/11, EU:T:2014:93, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Gelder und Vermögenswerte der Betroffenen werden daher nicht eingezogen, sondern vorsorglich eingefroren.

36      Drittens sind die Wirkungen dieser Bestimmungen zeitlich begrenzt und widerrufbar. Das darin vorgesehene Einfrieren von Geldern und wirtschaftlichen Ressourcen findet nach Art. 8 des Beschlusses 2012/642 während eines bestimmten Zeitraums Anwendung, und der Rat, der sie fortlaufend überprüft, kann jederzeit beschließen, sie zu beenden.

37      Entgegen dem Vorbringen der Klägerin ist das streitige allgemeine Kriterium somit ein objektives Kriterium im Zusammenhang mit den Handlungen und/oder Tätigkeiten der von den restriktiven Maßnahmen betroffenen Person, das somit nicht den Nachweis verlangt, dass diese durch die in Rede stehenden Handlungen und/oder Tätigkeiten beabsichtigt hat, sich an der Repression der Zivilgesellschaft und der demokratischen Opposition in Belarus zu beteiligen.

38      Im vorliegenden Fall reicht es daher aus, dass die Akte des Rates ein Bündel hinreichend konkreter, genauer und übereinstimmender Indizien enthält, die belegen, dass die Handlungen, die der Klägerin im Zusammenhang mit der Umleitung des Fluges FR4978 vorgeworfen werden, zur Repression der Zivilgesellschaft und der demokratischen Opposition in Belarus beigetragen haben und dass die Klägerin diese Folge ihrer Handlungen kannte oder vernünftigerweise nicht ignorieren konnte.

39      Hierzu ist festzustellen, dass entgegen dem Vorbringen der Klägerin weder die Tatsache, dass die ihr vorgeworfene Handlung eine isolierte Handlung darstelle, noch die Tatsache, dass sie eine juristische Person des öffentlichen Rechts sei, die mit der Regulierung des Luftraums und der Unterstützung des Flugverkehrs in Belarus betraut sei, Auswirkungen auf den Umfang der gerichtlichen Kontrolle und die Beweislast, die dem Rat obliegt, haben kann, da weder Art. 29 EUV noch Art. 215 AEUV noch die auf der Grundlage dieser Bestimmungen erlassenen angefochtenen Rechtsakte hinsichtlich des einmaligen oder wiederholten Charakters der beanstandeten Handlungen und/oder Tätigkeiten oder auch hinsichtlich der Art der Handlungen und/oder Tätigkeiten der natürlichen oder juristischen Personen, die Gegenstand restriktiver Maßnahmen sein können, einen Unterschied machen.

40      Was den Umfang dieser Kontrolle betrifft, so erfordert nach der Rechtsprechung die durch Art. 47 der Charta gewährleistete Effektivität der gerichtlichen Kontrolle, dass sich die Unionsgerichte vergewissern, dass der Beschluss, mit dem restriktive Maßnahmen erlassen oder aufrechterhalten wurden, der eine individuelle Betroffenheit der betreffenden Person oder Organisation begründet, auf einer hinreichend gesicherten tatsächlichen Grundlage beruht (Urteil vom 18. Juli 2013, Kommission u. a./Kadi, C‑584/10 P, C‑593/10 P und C‑595/10 P, EU:C:2013:518, Rn. 119). Bei der Beurteilung, ob die vom Rat herangezogene tatsächliche Grundlage hinreichend gesichert ist, sind die Beweise und die Informationen nicht isoliert, sondern in dem Zusammenhang zu prüfen, in dem sie stehen. Der Rat erfüllt die ihm obliegende Beweislast, wenn er vor dem Unionsgericht auf ein Bündel hinreichend konkreter, genauer und übereinstimmender Indizien hinweist, die die Feststellung ermöglichen, dass eine hinreichende Verbindung zwischen der Organisation, die einer Maßnahme des Einfrierens ihrer Gelder unterworfen ist, und dem bekämpften Regime oder ganz allgemein den bekämpften Situationen besteht (vgl. Urteil vom 20. Juli 2017, Badica und Kardiam/Rat, T‑619/15, EU:T:2017:532, Rn. 99 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41      Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass zwischen den Parteien unstreitig ist, dass die Klägerin das belarussische Staatsunternehmen ist, das für die Regulierung des Luftraums und die Flugverkehrsunterstützung zuständig ist, und dass sie durch ihren Fluglotsen, der mit dem Piloten des Fluges FR4978 in Kontakt stand (im Folgenden: Fluglotse), empfohlen hat, das Flugzeug zum Flughafen Minsk umzuleiten und dort zu landen, wodurch die Festnahme des Journalisten und Oppositionellen Roman Protasevich und von Sofia Sapiega durch die belarussischen Behörden ermöglicht wurde.

42      In diesem Zusammenhang ist insbesondere hervorzuheben, dass aus der von den belarussischen Behörden übermittelten Abschrift der Kommunikation zwischen dem Piloten des Fluges FR4978 und dem Fluglotsen, deren Inhalt in einem am 25. Mai 2021 auf der Website von Reuters veröffentlichten Artikel wiedergegeben ist, der Teil der in Dokument WK 6825/2021 INIT gesammelten Beweise des Rates ist, auf die sich die Aufnahme des Namens der Klägerin in die fraglichen Listen durch die ursprünglichen Rechtsakte stützt, hervorgeht, dass die Empfehlung, zum Flughafen Minsk umzuleiten, weder von der Fluggesellschaft, die den besagten Flug durchführte, noch von den Abflug- oder Ankunftsflughäfen, sondern allein von der Klägerin ausging.

43      Darüber hinaus geht aus mehreren Presseartikeln, die in WK 6825/2021 INIT zusammengefasst sind, hervor, dass die Umleitung des Fluges FR4978 zur Festnahme des Journalisten und Oppositionellen Roman Protasevich und von Sofia Sapiega führte, die Passagiere des Fluges waren.

44      Somit stellen die Informationen, über die der Rat zum Zeitpunkt des Erlasses der ursprünglichen Rechtsakte verfügte, ein Bündel hinreichend konkreter, genauer und übereinstimmender Indizien dar, die belegen, dass der Flug FR4978 ohne die Empfehlung der Klägerin, auf dem Flughafen Minsk zu landen, nicht zu diesem Flughafen umgeleitet worden wäre und dass diese Umleitung die Ursache für die Festnahme des Journalisten und Oppositionellen Roman Protasevich und von Sofia Sapiega war.

45      Diese Festnahme stellt einen Akt der Repression gegen die Zivilgesellschaft und die demokratische Opposition dar, da der Journalist und Oppositionelle Roman Protasevich, wie aus den vom Rat vorgelegten Beweisen hervorgeht, mit der Begründung festgenommen wurde, dass er von den belarussischen Behörden aufgrund seiner Tätigkeit als Journalist und Gegner des Regimes von Präsident Lukaschenko des Terrorismus beschuldigt wurde. Darüber hinaus geht aus den vom Rat vorgelegten Beweisen hervor, dass die Festnahme als Folge der Präsidentschaftswahl vom 9. August 2020 erfolgte, die von der Union als mit internationalen Standards unvereinbar eingestuft wurde und auf die eine Intensivierung der anhaltenden Menschenrechtsverletzungen sowie der brutalen Repressionen gegen Gegner des Regimes von Präsident Lukaschenko folgten.

46      Was das Belassen des Namens der Klägerin in den fraglichen Listen angeht, ist festzustellen, dass die Informationen, die nach dem Erlass der ursprünglichen Rechtsakte verfügbar wurden, nämlich die verschiedenen Presseartikel, die in Dokument WK 15389/2021 INIT wiedergegeben sind, der vorläufige Bericht, der am 7. Januar 2022 von der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) nach einer ersten Tatsachenermittlung zur Notlandung des Fluges FR4978 veröffentlicht wurde und der in den Dokumenten WK 1795/2022 INIT und WK 795/2022 INIT wiedergegeben ist, sowie die von den polnischen Justizbehörden erhobene Zeugenaussage des Fluglotsen und die von ihm angefertigte Abschrift der Aufzeichnung der Gespräche, die während der Ereignisse im Kontrollturm geführt wurden, die im Dokument WK 1795/2022 ADD 1 wiedergegeben sind, lediglich den Sachverhalt, der zum Zeitpunkt der Annahme der ursprünglichen Rechtsakte verfügbar war, bestätigen und präzisieren. So geht aus diesen Beweisen hervor, dass die E‑Mail mit der Bombenwarnung, die insbesondere der Flughafen Minsk erhalten hat – angeblich von der Hamas-Bewegung, die umgehend dementierte, der Urheber zu sein –, versandt wurde, nachdem der Pilot über diese angebliche Warnung informiert worden war. Darüber hinaus löste die Klägerin die Warnphase erst zu dem Zeitpunkt aus, als der Pilot den Notruf „Mayday“ absetzte und den Fluglotsen über die Entscheidung zur Landung auf dem Flughafen Minsk informierte.

47      Im Übrigen ist festzustellen, dass der endgültige ICAO-Bericht, obwohl er am 19. Juli 2022, also nach der Annahme der Fortsetzungsrechtsakte, veröffentlicht wurde, die Informationen aus dem vorläufigen ICAO-Bericht vom 7. Januar 2022 bestätigt (vgl. zur Verwertbarkeit einer im Lauf des gerichtlichen Verfahrens erteilten Auskunft, Urteil vom 28. Februar 2019, Souruh/Rat, T‑440/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:115, Rn. 93 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48      Zu den Argumenten der Klägerin, dass sie erstens von den unternehmensexternen Stellen, die sie über das Vorhandensein einer Bombe an Bord des Fluges FR4978 informiert hätten, manipuliert worden sein könnte und zweitens, da sie nicht im Besitz der Passagierliste sei, keinen Grund gehabt habe, eine solche Manipulation zu vermuten, ist festzustellen, dass sich aus den Akten, insbesondere der von den polnischen Justizbehörden erhobenen Zeugenaussage des Fluglotsen, die zudem in den endgültigen ICAO-Bericht vom 19. Juli 2022 aufgenommen wurde, ergibt, dass die Führungsgremien der Klägerin sowie ihr betroffenes Personal genau wussten, dass sie an einer Operation beteiligt waren, die darauf abzielte, den Flug FR4978 aus Gründen, die nichts mit der Flugsicherheit zu tun hatten, zum Flughafen Minsk umzuleiten.

49      Zunächst erklärte der Fluglotse, dass der Generaldirektor der Klägerin in Begleitung einer unbekannten Person, von der die Klägerin in der Anhörung bestätigte, dass sie dem Komitee für Staatssicherheit des belarussischen Staates (KGB) angehöre, lange vor dem Einflug des Fluges FR4978 in den belarussischen Luftraum bei seinem Vorgesetzten erschienen sei und mit diesem gesprochen habe; anschließend habe dieser ihm mitgeteilt, dass ein Flugzeug mit einer Bombe an Bord im belarussischen Luftraum erwartet werde, es ihm jedoch untersagt sei, das betreffende Flugzeug sofort zu warnen, da dieses möglicherweise auf dem nächstgelegenen Flughafen oder in dem benachbarten Luftraum, in dem es sich zu diesem Zeitpunkt befand, in diesem Fall in der Ukraine, landen wolle.

50      Zweitens gab der Fluglotse an, dass sein Vorgesetzter ihn angewiesen habe, dem Piloten von Flug FR4978 die Information zu übermitteln, dass eine an Bord befindliche Bombe über Vilnius (Litauen) explodieren würde, und dass die unbekannte Person, von der er vermutete, dass sie dem KGB angehöre, anschließend die ganze Zeit neben ihm gesessen und ihm gesagt habe, wie er die Fragen des Piloten von Flug FR4978 beantworten solle. So habe der Fluglotse dem Piloten auf Anweisung der genannten Person mitgeteilt, dass die Informationen über die Bombe von den Sicherheitsdiensten stammten, dass eine entsprechende E‑Mail verschickt worden sei und dass der Alarmcode rot sei. Nachdem der besagte Pilot den Notruf „Mayday“ abgesetzt und den Sinkflug zum Flughafen Minsk begonnen hatte, tauschte die besagte Person Telefonmitteilungen mit einer dritten Person aus und bestätigte ihr, dass der Pilot die Entscheidung getroffen hatte, auf dem Flughafen Minsk zu landen.

51      Darüber hinaus geht aus den Akten hervor, dass der Fluglotse einige Tage nach der Umleitung des Fluges FR4978 in die Räumlichkeiten der Klägerin einbestellt wurde, wo seine Vorgesetzten ihn aufforderten, seine Aussage zu ändern, damit diese nicht die Ungereimtheiten in der Chronologie der Ereignisse aufdecke.

52      Schließlich geht aus den Akten hervor, dass die US-Behörden eigene Ermittlungen durchführten, die eine Grand Jury des Bundesgerichts für den südlichen Bezirk von New York (USA) dazu veranlassten, eine Anklageschrift bezüglich der Umleitung des Fluges FR4978 gegen vier belarussische Beamte, nämlich den Generaldirektor und den stellvertretenden Generaldirektor der Klägerin sowie zwei KGB-Agenten, zu verfassen. Darin heißt es u. a., dass diese Personen Hauptteilnehmer einer Verschwörung zur Umleitung des Fluges FR4978 zum Flughafen Minsk waren, dass sie mit dem Personal der Klägerin zusammenarbeiteten, um eine falsche Bombenwarnung an den Flug FR4978 zu übermitteln, um dessen Umleitung zu erreichen, und dass sie später Berichte fälschten, um ihre Handlungen zu verschleiern.

53      Angesichts der obigen Ausführungen und des politischen Kontexts in Belarus zur fraglichen Zeit, der durch eine Verschärfung der anhaltenden Menschenrechtsverletzungen und der brutalen Repression von Gegnern des Regimes von Präsident Lukaschenko nach der Präsidentschaftswahl vom 9. August 2020, die als mit internationalen Standards unvereinbar eingestuft wurde, gekennzeichnet war, konnte die Klägerin zumindest nicht vernünftigerweise ignorieren, dass die Handlungen, die sie unternommen hatte, um den Flug FR4978 aus Gründen, die nichts mit der Flugsicherheit zu tun hatten, nach Minsk umzuleiten, zur Repression der Zivilgesellschaft und der demokratischen Opposition beitrugen.

54      Folglich hat der Rat ohne Beurteilungsfehler festgestellt, dass die Klägerin dadurch, dass sie sich als staatliches Unternehmen, das für die Regulierung des Luftraums und die Unterstützung des Flugverkehrs in Belarus zuständig ist, an der Umleitung des Fluges FR4978 beteiligt hat, für die Repression der Zivilgesellschaft und der demokratischen Opposition in Belarus verantwortlich ist.

55      Das Vorbringen der Klägerin vermag dieses Ergebnis nicht in Frage zu stellen.

56      Erstens ist nämlich hinsichtlich des Vorbringens, dass angesichts von Art. 20 der Charta die Berücksichtigung der objektiven Beteiligung der Klägerin an der Umleitung des Fluges FR4978 automatisch zur Sanktionierung all derer führen müsse, deren entscheidende Rolle nachgewiesen sei, einschließlich des Piloten dieses Flugs, darauf hinzuweisen, dass es dem Rat weiterhin freisteht, im Rahmen der Ausübung der ihm durch den AEU‑Vertrag verliehenen Befugnisse die Einzelheiten der Durchführung der gemäß Titel V Kapitel 2 EU‑Vertrag erlassenen Beschlüsse, einschließlich der Bestimmung der von einem etwaigen Erlass individueller restriktiver Maßnahmen aufgrund von Art. 215 AEUV betroffenen Personen, zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2013, Bank Melli Iran/Rat, T‑35/10 und T‑7/11, EU:T:2013:397, Rn. 194).

57      Entgegen dem Vorbringen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung bedeutet die oben in Rn. 31 vorgenommene Auslegung des streitigen allgemeinen Kriteriums zudem nicht, dass jede Handlung und/oder Tätigkeit, die in gleicher Weise zur Repression gegenüber der Zivilgesellschaft und der demokratischen Opposition beiträgt, unabhängig von ihrer materiellen Einstufung von diesem Kriterium erfasst wird. Denn sein objektiver Charakter bestimmt sich notwendigerweise nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. a des Beschlusses 2012/642 und Art. 2 Abs. 4 der Verordnung Nr. 765/2006, die sich nur auf Handlungen und/oder Tätigkeiten beziehen, die als Repressionshandlungen eingestuft werden können, was Handlungen ausschließt, die ihrem Wesen nach keinen inneren Zusammenhang mit der Repression der Zivilgesellschaft und der demokratischen Opposition haben.

58      Zweitens ist zu dem auf das Urteil vom 30. September 2021, Rechnungshof/Pinxten (C‑130/19, EU:C:2021:782) gestützten Vorbringen der Klägerin, wonach zum einen nur einige ihrer Vertreter und Bediensteten tatsächlich in die oben erwähnte Umleitung verwickelt gewesen seien und zum anderen die Bestrafung des schuldigen Mitglieds der Einrichtung nicht automatisch auf die gesamte Einrichtung zurückfallen dürfe, festzustellen, dass, wie der Rat zu Recht ausführt, ein Wesensunterschied besteht zwischen einerseits einer Handlung, die allein von einem Bediensteten oder einem Mitglied eines Organs im eigenen Interesse und zum Nachteil des Organs, dem er angehört, begangen wird, und andererseits, wie im vorliegenden Fall, einer Handlung, die von Bediensteten einer öffentlichen Einrichtung in deren Namen im Rahmen der ihnen übertragenen Aufgaben unter Verwendung der Mittel und Befugnisse der betreffenden Einrichtung begangen wird. Dieses Vorbringen der Klägerin kann nicht durchgreifen.

59      Drittens ist in Bezug auf das Argument, dass der Erlass restriktiver Maßnahmen auf mutmaßliche systematische Menschenrechtsverletzungen gestützt werden müsse, festzustellen, dass das streitige allgemeine Kriterium nicht vorschreibt, dass nur Handlungen und/oder Aktivitäten, die einen solchen Charakter aufweisen, zum Erlass restriktiver Maßnahmen führen können. Darüber hinaus kann jedenfalls die Umleitung des Fluges FR4978 zum Zweck der Festnahme des Journalisten und Oppositionspolitikers Roman Protasevich und von Sofia Sapiega nicht losgelöst von dem Kontext betrachtet werden, in dem sie stand, nämlich der Präsidentschaftswahl vom 9. August 2020, die von der Union als mit internationalen Standards unvereinbar eingestuft wurde und auf die eine Intensivierung der anhaltenden Menschenrechtsverletzungen sowie der brutalen Repression von Gegnern des Regimes von Präsident Lukaschenko folgte.

60      Viertens ist in Bezug auf das Argument, dass der Rat restriktive Maßnahmen gegen die Klägerin ergriffen habe, obwohl die ICAO ihre Schlussfolgerungen noch nicht abgegeben habe und die Vereinigten Staaten keine solchen Maßnahmen ergriffen hätten, in Übereinstimmung mit dem Rat festzustellen, dass der Grundsatz der Unschuldsvermutung, der verlangt, dass jede Person, die einer Straftat beschuldigt wird, bis zum gesetzlichen Nachweis ihrer Schuld als unschuldig gilt, dem Erlass restriktiver Maßnahmen nicht entgegensteht, da diese, wie oben unter den Rn. 34 und 35 ausgeführt, nicht strafrechtlicher Natur sind.

61      Nach alledem ist festzustellen, dass der erste Klagegrund unbegründet und daher zurückzuweisen ist.

 Zum zweiten Klagegrund, mit dem ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerügt wird

62      Im Rahmen dieses Klagegrundes macht die Klägerin geltend, der Rat habe gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen.

63      Erstens sei es unverhältnismäßig, wegen desselben Sachverhalts sowohl die Klägerin als auch ihren Generaldirektor zu bestrafen. Darüber hinaus dürfe die Klägerin, selbst wenn Fehler von Mitgliedern ihres Personals begangen worden wären, nicht bestraft werden, da sie nicht für Handlungen verantwortlich sei, die den Tatbestand eines vom Dienst losgelösten Fehlverhaltens erfüllten.

64      Zweitens, so die Klägerin, könnten die gegen sie ergriffenen restriktiven Maßnahmen ihren internationalen Gemeinwohlauftrag gefährden. Insbesondere könnten diese Maßnahmen sie daran hindern, ihre laufenden Ausgaben zu bestreiten, ihre Schulden gegenüber mehreren Einrichtungen und Unternehmen zurückzuzahlen und die Investitionen zu finanzieren, die zur Verbesserung der Qualität ihrer Dienstleistungen erforderlich seien.

65      In diesem Zusammenhang macht die Klägerin geltend, dass die in Art. 3 der Verordnung Nr. 765/2006, in der Durchführungsverordnung 2021/999 und in Art. 5 des Beschlusses 2021/1001 vorgesehenen Ausnahmegenehmigungen für die Freigabe nicht durchführbar seien. Dass die genannten Genehmigungen nicht praktikabel seien, sei insbesondere darauf zurückzuführen, dass sie der strukturellen Natur von Investitionen im Bereich der Flugsicherheit nicht gerecht würden.

66      Der Rat, unterstützt durch die Kommission, tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.

67      Nach ständiger Rechtsprechung gehört der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts und verlangt, dass die von einer Bestimmung des Unionsrechts eingesetzten Mittel zur Erreichung der mit der betreffenden Regelung verfolgten Ziele geeignet sind und nicht über das dazu Erforderliche hinausgehen (vgl. Urteil vom 13. März 2012, Melli Bank/Rat, C‑380/09 P, EU:C:2012:137, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

68      Die Rechtsprechung präzisiert in Bezug auf die gerichtliche Kontrolle der Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, dass der Unionsgesetzgeber in Bereichen wie der GASP, in denen er politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen treffen und komplexe Beurteilungen vornehmen muss, über einen großen Wertungsspielraum verfügt. Folglich ist eine in einem solchen Bereich erlassene Maßnahme nur dann rechtswidrig, wenn sie zur Erreichung des vom zuständigen Organ verfolgten Ziels offensichtlich ungeeignet ist (vgl. Urteil vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 146 und die dort angeführte Rechtsprechung).

69      Zwar werden die Rechte der betroffenen Partei durch die gegen sie verhängten restriktiven Maßnahmen in gewissem Maße eingeschränkt, da sie u. a. nur mit Sondergenehmigungen über ihre möglicherweise im Unionsgebiet befindlichen Gelder verfügen und Gelder auch nicht in die Union transferieren kann. Auch können die gegen die betroffene Partei ergriffenen Maßnahmen gegebenenfalls ein gewisses Misstrauen oder einen gewissen Argwohn ihrer Partner und ihrer Kunden ihr gegenüber hervorrufen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. September 2020, Kaddour/Rat, T‑510/18, EU:T:2020:436, Rn. 174 [nicht veröffentlicht]).

70      Im vorliegenden Fall ist jedoch festzustellen, dass die mit den angefochtenen Rechtsakten erlassenen restriktiven Maßnahmen entgegen dem Vorbringen der Klägerin in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten Ziel stehen.

71      Da dieses Ziel, wie oben in den Rn. 28 und 29 ausgeführt, u. a. in der Förderung der Demokratie, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit in Belarus besteht, entspricht der Ansatz, Personen, Organisationen und Einrichtungen zu erfassen, deren Handlungen und/oder Tätigkeiten zur Repression gegen die Zivilgesellschaft und die demokratische Opposition in Belarus beigetragen haben, diesem Ziel in kohärenter Weise und kann jedenfalls nicht als unangemessen angesehen werden.

72      Hinsichtlich des Arguments, die Maßnahmen beträfen gleichzeitig die Klägerin und ihren Generaldirektor, ist, wie oben in Rn. 56 ausgeführt, daran zu erinnern, dass es dem Rat weiterhin freisteht, im Rahmen der Ausübung der ihm durch den AEU‑Vertrag übertragenen Befugnisse die Modalitäten der Durchführung von Beschlüssen nach Titel V Kapitel 2 des EU‑Vertrags, einschließlich des Erlasses etwaiger restriktiver Maßnahmen auf der Grundlage von Art. 215 AEUV, zu beschließen, und dass die Bedeutung des mit den angefochtenen Handlungen verfolgten Ziels es rechtfertigt, dass die restriktiven Maßnahmen alle Verantwortlichen für Handlungen und/oder Aktivitäten betreffen, die zur Repression der Zivilgesellschaft und der demokratischen Opposition beitragen.

73      Hinsichtlich des Arguments, dass das Einfrieren von Geldern und wirtschaftlichen Ressourcen ihren internationalen Gemeinwohlauftrag gefährden könnte, ist mit dem Rat festzustellen, dass die Klägerin ausweislich der von ihr vorgelegten Unterlagen trotz der Verhängung der fraglichen Maßnahmen in den Jahren 2019 und 2020 erhebliche Gewinne erzielt hat. Außerdem legt die Klägerin keine konkreten Angaben zu den von ihr angeführten langfristigen Investitionen oder zu den fraglichen Beträgen vor.

74      Was schließlich das Vorbringen der Klägerin angeht, die Ausnahmegenehmigung für die Freigabe sei nicht praktikabel, genügt die Feststellung, dass die Klägerin nicht nachweist, dass sie einen Antrag in diesem Sinne gestellt hat, der abgelehnt worden wäre, und dass sie nichts Konkretes dafür vorträgt, dass eine solche Genehmigung nicht ausreichen würde, um ihr die Wahrnehmung ihrer Aufgaben im Bereich der Flugsicherheit zu ermöglichen.

75      Nach alledem ist der zweite Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen und damit die Klage insgesamt abzuweisen.

 Kosten

76      Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

77      Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten und die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten.

78      Da die Klägerin unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen. Ferner trägt die Kommission als Organ, das dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten ist, ihre eigenen Kosten.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Fünfte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Klage wird abgewiesen.

2.      Belaeronavigatsia trägt neben ihren eigenen Kosten die Kosten des Rates der Europäischen Union.

3.      Die Europäische Kommission trägt ihre eigenen Kosten.

Svenningsen

Laitenberger

Stancu

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. Februar 2023.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Französisch.