Language of document : ECLI:EU:C:2024:62

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

TAMARA ĆAPETA

vom 18. Januar 2024(1)

Rechtssache C601/22

Umweltverband WWF Österreich,

ÖKOBÜRO – Allianz der Umweltbewegung,

Naturschutzbund Österreich,

Umweltdachverband,

Wiener Tierschutzverein

gegen

Tiroler Landesregierung

(Vorabentscheidungsersuchen des Landesverwaltungsgerichts Tirol, Österreich)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Richtlinie 92/43/EWG – Erhaltung der wildlebenden Tiere – Jagd auf Wölfe – Gültigkeit – Art. 12 Abs. 1 und Anhang IV – Strenges Schutzsystem für bestimmte Tierarten – Art. 16 – Ausnahme – Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten – Auswirkungen der Antwort des Gerichtshofs auf den Ausgangsrechtsstreit – Zulässigkeit dieser Frage – Auslegung – Art. 16 Abs. 1 – Voraussetzungen für eine Ausnahmeregelung vom strengen Schutzsystem – Räumlicher Umfang des geltend gemachten ‚Erhaltungszustands‘ – Art. 16 Abs. 1 Buchst. b – Begriff ‚ernste Schäden‘ – Art. 16 Abs. 1 – Begriff ‚anderweitige zufriedenstellende Lösung‘ – Wirtschaftliche Gesichtspunkte“






I.      Einleitung

1.        Wölfe sind häufig Figuren in Geschichten(2). Der Wolf in unserer Geschichte trägt den Namen 158MATK. Er wird für den Tod einer erheblichen Zahl auf den Almen Tirols (Österreich) aufgezogener Schafe verantwortlich gemacht.

2.        Die Tiroler Landesregierung (Österreich) erließ daher einen Bescheid, mit dem der Abschuss dieses Wolfs genehmigt wurde. Mehrere Tierschutz- und Umweltorganisationen erhoben beim vorlegenden Gericht, dem Landesverwaltungsgericht Tirol (Österreich), Klage auf Nichtigerklärung dieses Bescheids.

3.         Der Wolf (canis lupus) ist eine nach der Habitatrichtlinie streng zu schützende Art(3). Das vorlegende Gericht hat den Gerichtshof daher ersucht, mehrere im Rahmen dieser Richtlinie aufgeworfene Fragen zu klären. Damit soll ihm eine Entscheidung darüber ermöglicht werden, ob der Bescheid der Tiroler Landesregierung aufrechterhalten werden kann.

II.    Hintergrund des Ausgangsrechtsstreits, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

4.        Mit Gutachten vom 25. Juli 2022 (im Folgenden: Fachgutachten) stellte das Fachkuratorium „Wolf-Bär-Luchs“ (Tirol, Österreich)(4) fest, der Wolf 158MATK habe in einem begrenzten geografischen Gebiet im Zeitraum vom 10. Juni 2022 bis 2. Juli 2022 rund 20 Schafrisse zu verantworten. Zudem seien dem vorgenannten Wolf wahrscheinlich weitere 17 Schafrisse im Zeitraum von 22. Juli 2022 bis 24. Juli 2022 zuzurechnen.

5.        Das vorgenannte Gutachten stellte fest, dass ein Herdenschutz in dem betreffenden Gebiet aktuell nicht möglich sei. Daher kam es zu dem Ergebnis, dass der Wolf 158MATK eine unmittelbare und erhebliche Gefahr für Weidetiere darstelle.

6.        Mit Verordnung vom 26. Juli 2022 (im Folgenden: Wolf-158MATK-Verordnung) wurde von der Tiroler Landesregierung festgestellt, dass von dem Wolf mit der Bezeichnung 158MATK eine unmittelbare erhebliche Gefahr für Weidetiere, landwirtschaftliche Kulturen und Einrichtungen ausgehe. Die Verordnung trat am 29. Juli 2022 in Kraft und gilt zeitlich unbefristet.

7.        Die Tiroler Landesregierung erließ mit gleichem Datum einen Bescheid (im Folgenden: angefochtener Bescheid), mit dem der Wolf 158MATK von der ganzjährigen Schonung von der Wolfsjagd ausgenommen wurde(5). Es wurde erläutert, dass dies zur Vermeidung ernster Schäden an Kulturen und in der Tierhaltung in näher bestimmten Jagdteilgebieten erforderlich sei, in denen der Wolf 158MATK erfasst worden sei. Die für den Wolf 158MATK geltende Ausnahme wurde bis zum 31. Oktober 2022 (dem Ende der Almsaison) befristet, sollte jedoch früher außer Kraft treten, wenn der Wolf 158MATK mehrfach deutlich außerhalb des Maßnahmengebiets molekularbiologisch nachgewiesen werde.

8.        Die Begründung des angefochtenen Bescheids stützte sich auf die Feststellungen des Fachkuratoriums „Wolf-Bär-Luchs“ und insbesondere auf die Stellungnahmen verschiedener jagd‑, agrar‑, veterinärfachlicher und wildbiologischer sowie jagdwirtschaftlicher Sachverständiger.

9.        Durch den angefochtenen Bescheid wurde der Abschuss des Wolfs 158MATK damit begründet, dass er zur Vermeidung ernster Schäden, die nicht nur in unmittelbaren wirtschaftlichen und nicht wirtschaftlichen Schäden durch konkrete Risse bestünden, sondern auch zur Vermeidung langfristiger Schäden für die Wirtschaft erforderlich sei.

10.      Es wurde ferner erläutert, dass es keine anderweitigen zufriedenstellenden Maßnahmen als den Abschuss dieses Exemplars gebe, da die Herden auf den Almen klein seien und nicht geschützt werden könnten. Mit dem Fachgutachten sei belegt worden, dass 61 Almen, die in dem Gebiet gelegen seien, in dem der in Rede stehende Wolf nachgewiesen worden sei, als nicht schützbar bzw. als nicht zumutbar und nicht verhältnismäßig schützbar einzustufen seien. Zugleich sei eine Entnahme des Wolfs 158MATK aus der Natur und seine Haltung in dauerhafter Gefangenschaft nicht als geeignete Maßnahme angesehen worden, da zuvor freilebende Wölfe sich an ein Leben in Gefangenschaft nicht anpassen könnten und dies zu erheblichem Leiden führe.

11.      Nach Ansicht eines der konsultierten Sachverständigen wird der günstige Erhaltungszustand der alpinen Teilpopulation von Wölfen im Allgemeinen durch die Entnahme eines Wolfs nicht beeinträchtigt. In Österreich sei zwar noch kein günstiger Erhaltungszustand der Wolfspopulation erreicht. Das Gutachten sei jedoch zu dem Schluss gekommen, dass selbst bei isolierter Betrachtung Österreichs keine Verschlechterung des Erhaltungszustands oder Behinderung der Wiederherstellung des günstigen Erhaltungszustands zu erwarten sei.

12.      Gegen den angefochtenen Bescheid haben fünf Umweltorganisationen, nämlich der Umweltverband WWF Österreich, das ÖKOBÜRO – Allianz der Umweltbewegung, der Naturschutzbund Österreich, der Umweltdachverband und der Wiener Tierschutzverein (im Folgenden: beschwerdeführende Nichtregierungsorganisationen) Beschwerde vor dem Landesverwaltungsgericht (Tirol), dem vorlegenden Gericht der vorliegenden Rechtssache, erhoben. Sie machten im Wesentlichen geltend, dass der Bescheid vom 29. Juli 2022 die Kriterien von Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie nicht erfülle.

13.      In Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie heißt es, soweit hier relevant:

„Sofern es keine anderweitige zufriedenstellende Lösung gibt und unter der Bedingung, dass die Populationen der betroffenen Art in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet trotz der Ausnahmeregelung ohne Beeinträchtigung in einem günstigen Erhaltungszustand verweilen, können die Mitgliedstaaten von den Bestimmungen der Artikel 12, 13 und 14 sowie des Artikels 15 Buchstaben a) und b) im folgenden Sinne abweichen:

b)      zur Verhütung ernster Schäden insbesondere an Kulturen und in der Tierhaltung sowie an Wäldern, Fischgründen und Gewässern sowie an sonstigen Formen von Eigentum“.

14.      Neben den von den Beteiligten im Verfahren vor dem vorlegenden Gericht aufgeworfenen Fragen, die sich auf die Auslegung von Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie beziehen, wirft das vorlegende Gericht eine weitere Frage auf. Es ist offenbar der Auffassung, dass Art. 12 der Habitatrichtlinie, der in Verbindung mit Anhang IV der Richtlinie die Rechtsgrundlage des strengen Schutzes des Wolfs darstellt, ungültig sei. Diese Ungültigkeit wird damit begründet, dass Österreich entgegen Art. 4 Abs. 2 EUV gegenüber solchen Mitgliedstaaten ungleich behandelt werde, für die nach Anhang IV in ihrem gesamten Hoheitsgebiet oder einem Teil ihres Hoheitsgebiets Ausnahmeregelungen vom strengen Schutz des Wolfs vorgesehen seien, während diese Behandlung für Österreich nicht vorgesehen sei.

15.      Vor diesem Hintergrund hat das Landesverwaltungsgericht Tirol beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Verstößt Art. 12 in Verbindung mit Anhang IV der Habitatrichtlinie, wonach der Wolf dem strengen Schutzsystem unterliegt, Populationen in mehreren Mitgliedstaaten aber davon ausnimmt, während für Österreich keine entsprechende Ausnahme vorgesehen wurde, gegen den in Art. 4 Abs. 2 EUV verankerten „Grundsatz der Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten“?

2.      Ist Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie, wonach ein Abweichen vom strengen Schutzsystem des Wolfes nur dann erlaubt ist, wenn u. a. die Populationen der betroffenen Art in ihrem „natürlichen Verbreitungsgebiet“ trotz der Ausnahmegenehmigung in einem „günstigen Erhaltungszustand“ verweilen, dahin gehend auszulegen, dass der günstige Erhaltungszustand nicht auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats bezogen, sondern im natürlichen Verbreitungsgebiet einer Population, das grenzüberschreitend eine wesentlich größere biogeografische Region umfassen kann, gewahrt oder wiederhergestellt werden muss?

3.      Ist Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Habitatrichtlinie dahin gehend auszulegen, dass dem „ernsten Schaden“ neben dem unmittelbaren Schaden, welcher durch einen bestimmten Wolf verursacht wird, auch der mittelbare, nicht einem bestimmten Wolf zurechenbare (zukünftige) „volkswirtschaftliche“ Schaden zuzurechnen ist?

4.      Ist Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie dahin gehend auszulegen, dass „anderweitige zufriedenstellende Lösungen“ aufgrund der vorherrschenden topografischen, almwirtschaftlichen und betrieblichen Strukturen im Bundesland Tirol rein aufgrund tatsächlicher Durchführbarkeit oder auch anhand wirtschaftlicher Kriterien zu prüfen sind?

16.      Der Umweltdachverband, das ÖKOBÜRO – Allianz der Umweltbewegung, der Umweltverband WWF Österreich, die Tiroler Landesregierung, die österreichische und die dänische Regierung, der Rat der Europäischen Union und die Europäische Kommission haben beim Gerichtshof schriftliche Erklärungen eingereicht.

17.      Eine mündliche Verhandlung hat am 25. Oktober 2023 stattgefunden, in der der Umweltverband WWF Österreich, das ÖKOBÜRO – Allianz der Umweltbewegung, der Umweltdachverband, der Wiener Tierschutzverein, die Tiroler Landesregierung, die österreichische, die französische, die finnische und die schwedische Regierung, der Rat und die Kommission mündliche Ausführungen gemacht haben.

III. Würdigung

A.      Zulässigkeit

18.      Vor Beginn der Würdigung ist auf die Frage der Zulässigkeit des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens einzugehen.

19.      Der angefochtene Bescheid ist inzwischen außer Kraft getreten. Mit ihm wurde der Abschuss des Wolfs 158MATK nur bis zum 30. Oktober 2022 genehmigt, so dass Fragen zu seiner Gültigkeit hypothetisch erscheinen könnten.

20.      Gleichwohl, und dies wurde im Vorlagebeschluss eindeutig erläutert, beruhte dieser Bescheid auf der Wolf-158MATK-Verordnung, mit der festgestellt wurde, dass der in Rede stehende Wolf unbefristet eine Bedrohung für Weidetiere darstelle. Auf der Grundlage dieser Verordnung könnte daher jederzeit ein weiter Bescheid erlassen werden, mit dem der Abschuss dieses bestimmten Wolfs genehmigt wird.

21.      Daher ist das Vorabentscheidungsersuchen meines Erachtens zulässig.

B.      Vorbemerkungen und Aufbau der Schlussanträge

22.      Ziel der Habitatrichtlinie ist die Sicherung der Artenvielfalt(6). Einer der Wege, auf dem sie dieses Ziel zu erreichen versucht, besteht darin, bestimmte Pflanzen- und Tierarten einem strengen Schutzsystem zu unterstellen. Die Tierarten, für die ein strenger Schutz nach Art. 12 der Richtlinie erforderlich ist, sind in Anhang IV der Richtlinie aufgeführt. Dieses strenge Schutzsystem verpflichtet die Mitgliedstaaten u. a., in ihrem gesamten Hoheitsgebiet alle absichtlichen Formen des Fangs oder der Tötung von aus der Natur entnommenen Exemplaren dieser in Anhang IV aufgeführten Arten zu verbieten(7).

23.      Der Wolf ist als Art (canis lupus) in Anhang IV der Habitatrichtlinie aufgeführt(8). Einige Mitgliedstaaten (oder Teile ihres Hoheitsgebiets) sind jedoch vom strengen Schutz des Wolfs durch ihre ausdrückliche Ausnahme von Anhang IV ausgenommen(9). Österreich gehört nicht zu diesen Ländern.

24.      Die Mitgliedstaaten können nach Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie in Ausnahmefällen von den Erfordernissen des strengen Schutzes nach Art. 12 der Richtlinie abweichen.

25.      In Österreich kommen Wölfe in zwei biogeografischen Regionen vor, nämlich in der kontinentalen und in der alpinen.

26.      Wie von den an der vorliegenden Rechtssache beteiligten Umweltorganisationen vorgetragen, ist zur Vermeidung von Verwechslungen zu erläutern, dass die alpine biogeografische Region nicht mit der Alpenregion gleichzusetzen ist, in der die Teilpopulation von Wölfen lebt, denen der Wolf 158MATK zuzuordnen ist. Einerseits umfasst die Alpenregion den Gebirgszug, der sich über Südostfrankreich, Monaco, Norditalien, die Schweiz, Liechtenstein, Süddeutschland, Österreich und Slowenien erstreckt. Andererseits ist die alpine biogeografische Region eine der europäischen biogeografischen Regionen des Netzes Natura 2000(10), die größer ist als die Alpen selbst und die verschiedene Gebirgszüge der Union und nicht nur der Alpen umfasst(11).

27.      Der in Rede stehende Wolf 158MATK gehört zu einer Teilpopulation von Wölfen, deren natürliches Verbreitungsgebiet innerhalb des Alpengebiets liegt. Nach den von der österreichischen Regierung in der vorliegenden Rechtssache vorgelegten Daten(12) wurden im Jahr 2022 insgesamt 57 Wölfe in ganz Österreich erfasst. Im österreichischen Teil der Alpenregion gibt es nur zwei Rudel, während es für eine Nachhaltigkeit der Alpenteilpopulation des Wolfs nach Schätzungen in Österreich mindestens 39 Rudel geben müsste(13). Daher kann der Erhaltungszustand des Wolfs in Österreich derzeit nicht als günstig eingeschätzt werden.

28.      Die vorliegende Rechtssache wirft Fragen nach dem strengen Schutz eines Wolfsexemplars auf, das von Österreich nach Art. 12 der Habitatrichtlinie zu schützen ist, und nach der Möglichkeit, von diesem strengen Schutz nach Art. 16 dieser Richtlinie abzuweichen.

29.      Das vorlegende Gericht hat dem Gerichtshof zwei Arten von Fragen vorgelegt. Mit seiner ersten Frage bezweifelt es die Gültigkeit des für den Wolf als Art erforderlichen strengen Schutzes nach Art. 12 in Verbindung mit Anhang IV der Habitatrichtlinie. Der vom vorlegenden Gericht geltend gemachte mögliche Grund für die Ungültigkeit ist die Ungleichbehandlung der Mitgliedstaaten entgegen Art. 4 Abs. 2 EUV. Mit seinen weiteren Fragen ersucht das vorlegende Gericht um Auslegung zum einen der allgemeinen Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie und zum anderen von Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie.

30.      Ich werde in den vorliegenden Schlussanträgen zunächst die Frage der Gültigkeit behandeln (Abschnitt C).

31.      Anschließend werde ich mich den Fragen nach der Auslegung von Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie zuwenden (Abschnitt D). Zunächst werde ich eine Antwort auf die Frage vorschlagen, ob die Situation des Wolfs in anderen Ländern von einer Stelle berücksichtigt werden kann oder muss, die beurteilt, ob die Voraussetzungen für die Zulassung einer Ausnahmeregelung nach Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie erfüllt sind (Unterabschnitt 1). Anschließend werde ich den Begriff der ernsten Schäden auslegen, der nach Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Habitatrichtlinie eine Ausnahmeregelung vom strengen Schutz rechtfertigt, um die Frage zu beantworten, welche Arten von Schäden bei der Prüfung berücksichtigt werden können, ob ein bestimmter Schaden ernst ist (Unterabschnitt 2). Schließlich werde ich prüfen, wie zu beurteilen ist, ob es eine anderweitige zufriedenstellende Lösung als die beabsichtigte Ausnahmemaßnahme gibt und ob bei dieser Bewertung wirtschaftliche Gesichtspunkte berücksichtigt werden können (Unterabschnitt 3).

C.      Gültigkeit von Art. 12 in Verbindung mit Anhang IV der Habitatrichtlinie (erste Frage)

32.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang IV der Habitatrichtlinie als ungültig anzusehen ist, weil er gegen den in Art. 4 Abs. 2 EUV verankerten Grundsatz der Gleichheit der Mitgliedstaaten verstößt. Die Ungleichheit soll darin bestehen, dass Anhang IV bestimmte Wolfspopulationen, die im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten ansässig sind, vom strengen Schutzsystem von Art. 12 dieser Richtlinie ausnimmt, die Wolfspopulation in Österreich aber nicht.

33.      Neun Mitgliedstaaten sind vom strengen Schutz des Wolfs ausgenommen. Spanien und Griechenland waren zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Richtlinie von Anhang IV der Habitatrichtlinie teilweise ausgenommen(14). Sieben weitere Mitgliedstaaten haben ihre Ausnahmeregelungen zum Zeitpunkt ihres Beitritts zur Europäischen Union ausgehandelt(15). Seit der Erweiterung im Jahr 2007 wurde Anhang IV der Habitatrichtlinie in Bezug auf den Wolf nicht geändert(16).

34.      Da Österreich nicht von Anhang IV ausgenommen wurde, unterliegt es dem strengen Schutz des Wolfs in seinem gesamten Hoheitsgebiet.

35.      Bei seinem Beitritt zur Europäischen Union hat Österreich nicht um eine Ausnahme von Anhang IV in Bezug auf den Wolf ersucht. Dies überrascht nicht, da es zu jenem Zeitpunkt, wie von der Tiroler Landesregierung und der österreichischen Regierung vorgetragen, weder in Tirol noch in Österreich Wölfe gab. Der Wolf hat jedoch begonnen zurückzukehren, was, wie die vorliegende Rechtssache zeigt, bisweilen mit den Interessen und Gepflogenheiten der landwirtschaftlichen Bevölkerung kollidiert, die in den Alpen Nutztiere aufzieht.

36.      Befindet Österreich sich unter diesen Umständen im Vergleich zu denjenigen Mitgliedstaaten, zu deren Gunsten eine Ausnahme von Anhang IV gilt, in einer ungleichen Position?

1.      Zulässigkeit

37.      Bevor auf die Begründetheit dieses Vorbringens zu prüfen ist, ist zunächst kurz auf die Frage der Zulässigkeit der ersten Frage einzugehen, die in der mündlichen Verhandlung erörtert worden ist.

38.      Nach Ansicht der beschwerdeführenden Nichtregierungsorganisationen soll die Beantwortung der ersten Frage keine Auswirkungen auf den Ausgangsrechtsstreit haben. Auch nach Ansicht des Rates soll die Frage unzulässig sein. Der Ausgangsrechtsstreit betreffe Art. 16 und nicht Art. 12 der Habitatrichtlinie, so dass die letztere Bestimmung auf den Ausgangsrechtsstreit nicht anwendbar sei.

39.      Dagegen haben die Tiroler Landesregierung, die österreichische, die finnische und die schwedische Regierung sowie die Kommission die Zulässigkeit der ersten Frage bejaht.

40.      Die österreichische Regierung hat insbesondere geltend gemacht, dass für den Fall, dass der Gerichtshof die Ungültigkeit von Art. 12 in Verbindung mit Anhang IV der Habitatrichtlinie feststellen sollte, dies ganz sicher Auswirkungen auf den beim nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit hätte, da diese Bestimmung dann nicht anwendbar wäre.

41.      Ich stimme mit der österreichischen Regierung in diesem Punkt überein. Die erste Frage ist daher zulässig.

2.      Vorbringen zum Gleichheitsverstoß

42.      Nach Art. 4 Abs. 2 EUV „[achtet d]ie Union … die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen …“.

43.      Rechtsprechung zum Gleichheitserfordernis in seiner Anwendung auf die Mitgliedstaaten ist rar(17).

44.      Meines Erachtens ist die Gleichheit der Mitgliedstaaten nach dem Unionsrecht als besonderer Ausdruck des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes zu verstehen, der besagt, dass gleiche Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine Differenzierung objektiv gerechtfertigt wäre(18).

45.      Im Bereich der Umweltpolitik muss die Europäische Union, wie von der Kommission vorgetragen, nach Art. 191 Abs. 3 AEUV verschiedene Umweltaspekte in einzelnen Regionen berücksichtigen. Um die Ziele der Umweltpolitik der Europäischen Union zu erreichen, muss daher jeder Mitgliedstaat so behandelt werden, wie es seiner besonderen Situation entspricht(19).

46.      Wenn sich jedoch zwei Mitgliedstaaten in einer vergleichbaren Situation befänden, aber unterschiedlich behandelt würden, würde dies zu einem Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz führen(20).

47.      Die Ausnahmen in Anhang IV der Habitatrichtlinie spiegeln die besondere Situation in jedem der Mitgliedstaaten, für die eine Ausnahme gilt, wider(21). Außerdem sind, wie in Nr. 33 der vorliegenden Schlussanträge erläutert, die Ausnahmen in den meisten Fällen das Ergebnis von Beitrittsverhandlungen(22).

48.      Die Feststellung einer Ungleichbehandlung setzt voraus, dass ein Mitgliedstaat sich in einer Situation befindet, die mit derjenigen eines anderen Mitgliedstaats vergleichbar ist, aber unterschiedlich behandelt wird.

49.      Weder von der österreichischen Regierung noch von der Tiroler Landesregierung ist jedoch dargelegt und bewiesen worden, warum der Gerichtshof davon ausgehen müsste, dass Österreich sich in einer Situation befindet, die mit derjenigen eines anderen, von Anhang IV ausgenommenen Mitgliedstaats vergleichbar ist. Sie haben lediglich vorgebracht, dass der Wolf begonnen habe, nach Österreich zurückzukehren, was schließlich eines der Ziele der Habitatrichtlinie war.

50.      Daher ist meines Erachtens in der vorliegenden Rechtssache eine Ungleichbehandlung Österreichs gegenüber anderen Mitgliedstaaten nicht nachgewiesen worden.

3.      Vorbringen zum Verstoß gegen Art. 19 der Habitatrichtlinie

51.      Für die Ungültigkeit im Hinblick auf den strengen Schutz des Wolfs in Österreich wurde weiteres, nicht auf den Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz, sondern auf Art. 19 der Habitatrichtlinie gestütztes Vorbringen angeführt, das somit in den vorliegenden Schlussanträgen zu prüfen ist.

52.      Nach Art. 19 der Habitatrichtlinie hat der Rat auf Vorschlag der Kommission die Anhänge dieser Richtlinie an den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt anzupassen. Dass dieses Verfahren nicht eingeleitet und Anhang IV nicht an die aktuelle Situation in Österreich angepasst worden sei, soll nach Ansicht der österreichischen Regierung und der Tiroler Landesregierung zur Ungültigkeit dieses Anhangs führen, die der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache festzustellen habe.

53.      Richtig ist, dass die Wölfe dank der Habitatrichtlinie(23) in der Tat nach Österreich zurückkehre. In der heutigen Zeit führt dies zu Problemen für die Aufzucht von Nutztieren in den Alpen, wo, wie vorgetragen wird, wirksame Maßnahmen zum Schutz von Schafen und anderem Vieh gegen Angriffe von Wölfen schwierig, wenn nicht gar unmöglich sind. Ist die Kommission unter diesen Umständen, wie die österreichische Regierung vorträgt, verpflichtet, ein Verfahren nach Art. 19 der Habitatrichtlinie einzuleiten, um Österreich von Anhang IV auszunehmen?

54.      Dieses Vorbringen ist meines Erachtens nicht überzeugend.

55.      Wenn in Betracht zu ziehen sein soll, eine Art aus den Schutz-Anhängen zu streichen, dann müsste ihr Erhaltungszustand günstig sein. Ferner könnte, um dem Vorsorgeprinzip Rechnung zu tragen, die Streichung einer Art aus dem Schutz-Anhang erfolgen, sobald ihr günstiger Erhaltungszustand gesichert (d. h. keine kurzfristige Schwankung) ist und in geeigneter Weise nachgewiesen wäre, dass die Wirkung der Faktoren, die zu ihrem ungünstigen Zustand geführt haben, entfallen ist(24). Im Gegensatz hierzu ist jedoch, wie vorhin erwähnt, der Erhaltungszustand des Wolfs in Österreich bei Weitem nicht günstig (vgl. Nr. 27 der vorliegenden Schlussanträge). Unter diesen Umständen konnte die Kommission somit möglicherweise einfach keinen vernünftigen Grund dafür erkennen, das Verfahren nach Art. 19 der Habitatrichtlinie einzuleiten und Österreich von Anhang IV der Richtlinie auszunehmen.

56.      Außerdem haben, wie von der Kommission und vom Rat vorgetragen, weder die Europäische Union noch Österreich für den Wolf in Österreich einen Vorbehalt gegen Anhang II des Berner Übereinkommens(25) eingelegt, nach dem der Wolf streng geschützt ist. Da die Europäische Union Vertragspartei dieses Übereinkommens(26) ist, würde eine Ausnahme Österreichs von Anhang IV der Habitatrichtlinie zu einem Verstoß gegen die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Union führen.

57.      Daher kann Österreich oder ein Teil seines Hoheitsgebiets unter den derzeitigen Umständen meines Erachtens nicht von Anhang IV der Habitatrichtlinie ausgenommen werden.

58.      Ist ein Mitgliedstaat jedoch der Ansicht, dass die Kommission verpflichtet gewesen sei, ein Verfahren zur Änderung von Anhang IV der Habitatrichtlinie einzuleiten, dies jedoch unterlassen habe, steht ihm ein im Vertrag vorgesehener Rechtsbehelf zur Verfügung, nämlich eine Untätigkeitsklage nach Art. 265 AEUV. Österreich hat dieses Verfahren jedoch nicht eingeleitet.

59.      Die Rechtsprechung hat bereits geklärt, dass ein nationales Gericht den Gerichtshof nicht ersuchen kann, in einem Vorabentscheidungsverfahren die Untätigkeit eines Organs festzustellen(27).

60.      Daher kann eine etwaige Unterlassung der Kommission, die Änderung von Anhang IV der Habitatrichtlinie in Bezug auf Österreich nach Art. 19 dieser Richtlinie einzuleiten, keinen Grund für eine Feststellung der Ungültigkeit dieses Anhangs im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens darstellen.

61.      Es mag Gründe geben, die nähere Ausgestaltung des Zusammenlebens von Menschen und großen Beutegreifern zu überdenken(28). Der Gerichtshof ist hierfür jedoch nicht das richtige Forum. Derartige Fragen sind im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens zu behandeln; die Kommission hat offenbar den ersten Schritt in diese Richtung gemacht(29).

62.      Die in der Habitatrichtlinie in ihrer derzeit geltenden Fassung zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Entscheidung verlangt von Österreich, den Verpflichtungen zum strengen Schutz der Wolfspopulation in seinem gesamten Hoheitsgebiet weiter nachzukommen. Es ist nicht Teil der Zuständigkeit des Gerichtshofs, Rechtsvorschriften, einschließlich Anhänge, wie beispielsweise diejenigen, die Teil der Habitatrichtlinie sind, umzuschreiben oder bestehende Verfahren wie dasjenige nach Art. 19 zu umgehen.

63.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, die erste Frage wie folgt zu beantworten: Die Ausnahme bestimmter Mitgliedstaaten von Anhang IV der Habitatrichtlinie stellt als solche keine Ungleichbehandlung eines Mitgliedstaats dar, dem eine solche Ausnahmeregelung nicht gewährt wurde. Die vorliegende Rechtssache hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang IV der Habitatrichtlinie wegen eines Verstoßes gegen Art. 4 Abs. 2 EUV beeinträchtigen könnte.

D.      Auslegung von Art. 16 der Habitatrichtlinie

64.      Mit seiner zweiten, seiner dritten und seiner vierten Frage ersucht das vorlegende Gericht um Klärung von Art. 16 der Habitatrichtlinie.

65.      Diese Bestimmung legt Voraussetzungen fest, unter denen die Mitgliedstaaten von dem nach Art. 12 der Richtlinie vorgesehenen strengen Schutz des Wolfs abweichen können(30).

66.      Art. 16 der Habitatrichtlinie stellt eine Ausnahme von dem mit diesem Rechtsakt geschaffenen Schutzsystem dar. Er ist daher eng auszulegen. Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass der Nachweis des Vorliegens der Voraussetzungen dieser Bestimmung der nationalen Stelle obliegt, die eine solche Ausnahmeregelung zulässt(31).

67.      Im Licht der vorstehenden Ausführungen werde ich die übrigen Fragen des vorlegenden Gerichts prüfen.

1.      Räumlicher Umfang der Beurteilung des Erhaltungszustands einer Art in einem natürlichen Verbreitungsgebiet nach Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie (zweite Frage)

68.      Die zweite Frage des vorlegenden Gerichts erfordert eine Auslegung der in Art. 16 der Habitatrichtlinie genannten übergeordneten Voraussetzung für die Zulassung einer Ausnahmeregelung, wonach Ausnahmemaßnahmen nur möglich sind, wenn die Population des Wolfs in seinem natürlichen Verbreitungsgebiet trotz der Ausnahmeregelung ohne Beeinträchtigung in einem günstigen Erhaltungszustand verweilt. Das vorlegende Gericht möchte geklärt wissen, ob es bei der Beurteilung, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, nur das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu berücksichtigen hat oder die größere grenzüberschreitende Region, in der die jeweilige Wolfspopulation lebt, in der vorliegenden Rechtssache die Alpenregion (vgl. Nr. 26 der vorliegenden Schlussanträge).

69.      Der Gerichtshof hat im Urteil LSL Tapiola erläutert, dass die nationale Behörde, die eine Ausnahmeregelung zulässt, eine zweistufige Prüfung vornehmen muss(32). Der erste Schritt besteht in der Ermittlung des Erhaltungszustands einer Art und der zweite Schritt in der Beurteilung, wie die Ausnahmeregelung sich auf den Erhaltungszustand dieser Art auswirken wird(33).

70.      Grundsätzlich kann die Ausnahmeregelung nur zugelassen werden, wenn der Erhaltungszustand einer Art (auf der Ebene von Schritt eins) günstig ist(34). Der Gerichtshof hat jedoch auch anerkannt, dass die Ausnahmeregelung ausnahmsweise auch im Fall eines nicht günstigen Erhaltungszustands einer Art zugelassen werden kann, wenn hinreichend nachgewiesen ist, dass diese Ausnahmeregelung nicht geeignet ist, diesen ungünstigen Zustand zu verschlechtern oder die Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustands einer Art zu behindern(35). Somit kann die zuständige Behörde ausnahmsweise auch dann den zweiten Schritt prüfen, wenn sie auf der Ebene des ersten Schritts keinen günstigen Erhaltungszustand einer Art festgestellt hat.

71.      Die Frage, die das vorlegende Gericht zu dem zu berücksichtigenden Gebiet stellt, anhand dessen die Möglichkeit von Ausnahmemaßnahmen zu beurteilen ist, dürfte meines Erachtens für jeden der beiden Schritte gesondert relevant sein.

72.      Im Rahmen des ersten Schritts sollen nach Ansicht der Tiroler Landesregierung sowie der österreichischen und der finnischen Regierung die Hoheitsgebiete von Drittstaaten, wie etwa der Schweiz und Liechtensteins, bei der Bestimmung des Erhaltungszustands des Wolfs in der Alpenregion zu berücksichtigen sein. Bei Berücksichtigung des gesamten natürlichen Verbreitungsgebiets der in Rede stehenden Teilpopulation von Wölfen, die die Population in diesen beiden Ländern einschließe, sei der Erhaltungszustand dieser Teilpopulation günstig. Aus dieser Feststellung soll folgen, dass unerheblich sei, dass dieser Zustand in Österreich, isoliert betrachtet, nicht günstig sei.

73.      Im Urteil LSL Tapiola hat der Gerichtshof nach meinem Verständnis erläutert, dass ein grenzüberschreitendes Gebiet zwar möglichst ebenfalls berücksichtigt werden sollte, dass aber der Schluss auf einen günstigen Zustand nicht gezogen werden könne, ohne diesen Zustand im nationalen Hoheitsgebiet zu ermitteln(36). Mit anderen Worten muss der günstige Zustand zunächst und unumgänglich auf der nationalen Ebene bestehen. Wenn auf der nationalen Ebene ein günstiger Zustand besteht, könnte ein ungünstiger Zustand auf der größeren, grenzüberschreitenden Ebene immer noch in Frage stellen, ob eine Ausnahmemaßnahme erlassen werden kann. Umgekehrt gilt dies aber nicht: Umgekehrt kann jedoch der ungünstige nationale Zustand nicht durch einen günstigen Zustand auf der grenzüberschreitenden Ebene geheilt werden.

74.      Nach meinem Verständnis dieses Urteils ist diesem somit nicht zu entnehmen, dass der Gerichtshof, dem Verständnis des vorlegenden Gerichts entsprechend, hätte feststellen wollen, dass dann, wenn für die Art bei Beurteilung in ihrem gesamten natürlichen Verbreitungsgebiet, das mehrere Länder umfasst, ein günstiger Zustand besteht, unerheblich sei, dass der Erhaltungszustand in Österreich immer noch ungünstig sei. Meines Erachtens wollte der Gerichtshof keineswegs die Feststellung treffen, dass der ungünstiger Zustand der Wolfspopulation in Österreich durch den günstigen Erhaltungszustand, wenn man die größere Alpenregion betrachtet, geheilt werden kann(37).

75.      Eine andere Auslegung könnte sich nachteilig auf die Bemühungen der Mitgliedstaaten auswirken, geeignete Maßnahmen zur Verbesserung des Erhaltungszustands einer Art in ihrem Hoheitsgebiet zu ergreifen. Sie könnte dazu führen, dass ein ungünstiger Zustand in einem Mitgliedstaat verschleiert und der falsche Eindruck vermittelt wird, dass die Erhaltung einer Art gesichert ist.

76.      Außerdem ist, wie von der Kommission in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, die nationale Ebene die einzige Ebene, auf der die Mitgliedstaaten über zuverlässige Daten verfügen(38). Die Kommission hat anerkannt, dass der Erhaltungszustand einer Art im Idealfall auf ihr natürliches geografischen Verbreitungsgebiet bezogen zu beurteilen sei, dies sei jedoch offenbar noch nicht möglich. Dies ist der weitere Grund dafür, dass der günstige Zustand zunächst auf der lokalen und nationalen Ebene gelten muss, bevor die Situation auf einer größeren Ebene beurteilt werden kann.

77.      Erst dann also, wenn der nationale Maßstab der Beurteilung einen günstigen Erhaltungszustand erbracht hat, kann die Perspektive der Beurteilung erweitert werden.

78.      Mit der Berücksichtigung des Erhaltungszustands auf einer grenzüberschreitenden Ebene soll ein Mitgliedstaat von einer Ausnahmeregelung abgehalten werden, wenn der Zustand einer Art in seinem Hoheitsgebiet günstig ist. Insoweit sollte keine Rolle spielen, ob ein Drittland Vertragspartei des Berner Übereinkommens ist oder nicht. Die Habitatrichtlinie dient der Erhaltung der biologischen Vielfalt, die auch vom Zustand der Natur in Drittländern und davon abhängt, ob sie ein hohes Maß an Naturschutz verfolgen oder nicht. Daher könnte ein ungünstiger Zustand einer Art in einem Drittland Einfluss auf eine Entscheidung haben, die Ausnahmemaßnahme trotz eines vorliegenden günstigen nationalen Erhaltungszustands (nicht) zu ergreifen. Vor diesem Hintergrund ist meines Erachtens nicht ersichtlich, warum die Daten aus der Schweiz und Liechtenstein zu diesem Zweck nicht berücksichtigt werden sollten, wenn die nationalen Behörden Zugang dazu haben.

79.      Da den dem Gerichtshof vorgelegten Daten nicht zu entnehmen ist, dass die Erhaltung des Wolfs in Österreich sich auf einem günstigen Niveau bewegt (vgl. Nr. 27 der vorliegenden Schlussanträge), kann der zweite Schritt nur auf der Grundlage der Ausnahme geprüft werden, die in der Rechtssache Kommission/Finnland eingeführt und im Urteil LSL Tapiola bestätigt wurde (vgl. Nr. 69 der vorliegenden Schlussanträge). Diese Ausnahme erlaubt einem Mitgliedstaat eine Ausnahme vom strengen Schutz des Wolfs, obwohl der Erhaltungszustand des Wolfs in diesem Staat ungünstig ist, wenn diese Maßnahme den Erhaltungszustand nicht ändern kann, d. h. wenn sie für die Wolfspopulation neutral ist.

80.      Bei Anwendung dieser Ausnahme ist auf der Ebene des zweiten Schritts zu klären, welches Gebiet für die Beurteilung zu berücksichtigen ist, ob die Auswirkungen der Abweichung einen bereits ungünstigen Zustand nicht verschlechtern oder ob sie die Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustands einer Art künftig behindern würden.

81.      Einige Hinweise zu dieser Frage hat der Gerichtshof im Urteil LSL Tapiola bereits gegeben. Unter Verweis auf die Schlussanträge des Generalanwalts Saugmandsgaard Øe(39) hat der Gerichtshof erläutert, dass die Bewertung der Auswirkung einer Ausnahme bezogen auf das Gebiet einer lokalen Population im Allgemeinen erforderlich ist, um ihre Auswirkung auf den Erhaltungszustand der in Rede stehenden Population in einem größeren Rahmen zu bestimmen(40).

82.      Es ist daher wiederum erforderlich, zunächst die Auswirkungen des Abschusses eines einzigen Wolfs für die lokale Alpenpopulation in Tirol zu prüfen. Der Erlass einer Ausnahmemaßnahme ist nur möglich, wenn ausgehend hiervon festzustellen ist, dass diese Maßnahme im Verhältnis zum Zustand der Wolfspopulation in den österreichischen Alpen neutral ist.

83.      Reicht dies aus? Oder ist gleichwohl, soweit dies möglich ist, noch zu prüfen, wie diese Maßnahme sich auf die Teilpopulation, der dieser Wolf zuzuordnen ist, in ihrem gesamten natürlichen grenzüberschreitenden Verbreitungsgebiet auswirken würde? Schließlich besteht die Möglichkeit, dass Ausnahmeregelungen in der einen Rechtsordnung dieselbe Art in einer angrenzenden Rechtsordnung beeinträchtigen(41).

84.      Diese Frage ist unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Realität zu beantworten, in der noch keine zuverlässigen Informationen über den Zustand des Wolfs in anderen Ländern gesammelt werden können. Unter diesen Umständen kann nationalen Behörden meines Erachtens nur bei der Beurteilung der Auswirkungen einer Ausnahmemaßnahme auf die lokale/nationale Population eine Verpflichtung auferlegt werden.

85.      Verfügen diese Behörden jedoch über Daten, aus denen sie schließen können, dass die beabsichtigte Maßnahme zur Verschlechterung des Erhaltungszustands der Teilpopulation in einem anderen Land oder allgemein beitragen könnte, selbst wenn sie für den lokalen Erhaltungszustand neutral wäre, dürfen sie solche Daten nicht außer Acht lassen, sondern müssen diese Daten berücksichtigen und die Ausnahmemaßnahme ablehnen.

86.      Wäre den verfügbaren Daten in der vorliegenden Rechtssache zu entnehmen, dass sich aus dem Abschuss des Wolfs 158MATK keine Auswirkungen auf die Population in Österreich ergäben (weil dieser Wolf z. B. das Gebiet lediglich durchquert), dass der Abschuss aber negative Auswirkungen für ein Rudel haben könnte, das jenseits der Grenze lebt, müsste diese Kenntnis den Erlass der Ausnahmemaßnahme ausschließen.

87.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, die Frage dahin zu beantworten, dass Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie dahin auszulegen ist, dass danach die Beurteilung, ob der Erhaltungszustand einer Art günstig ist und ob Ausnahmemaßnahmen negative Auswirkungen auf die Möglichkeit haben, einen günstigen Erhaltungszustand zu erreichen oder aufrechtzuerhalten, auf das lokale und nationale Gebiet bezogen vorzunehmen ist, selbst wenn das natürliche Verbreitungsgebiet der in Rede stehenden Population eine größere grenzüberschreitende biogeografische Region umfasst. Verfügen diese Behörden jedoch über Daten, aus denen sie schließen können, dass die beabsichtigte Maßnahme den Erhaltungszustand der Teilpopulation in einem anderen Land oder allgemein zu verschlechtern droht, selbst wenn sie für den lokalen Erhaltungszustand neutral wäre, dürfen sie solche Daten nicht außer Acht lassen, sondern müssen diese Daten berücksichtigen und die Ausnahmemaßnahme ablehnen.

2.      Fällt unter ernste Schäden auch ein mittelbarer Schaden für die Wirtschaft (dritte Frage)?

88.      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Begriff der ernsten Schäden in Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Habitatrichtlinie auch einen zukünftigen Schaden umfasst, der nicht dem Exemplar zurechenbar ist, das Gegenstand einer Ausnahmeregelung ist.

89.      Hinzuweisen ist zunächst darauf, dass eine Ausnahmemaßnahme nur erlassen werden kann, um eins oder mehrere der Ziele nach Art. 16 Abs. 1 Buchst. a bis e zu erreichen. Die in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehende Maßnahme wurde zur Verhütung ernster Schäden im Sinne von Buchst. b erlassen.

90.      Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Habitatrichtlinie lässt Ausnahmeregelungen „zur Verhütung ernster Schäden insbesondere an Kulturen und in der Tierhaltung sowie an Wäldern, Fischgründen und Gewässern sowie an sonstigen Formen von Eigentum“ zu.

91.      Die Frage, ob unter ernste Schäden auch ein zukünftiger Schaden fällt, der keinem bestimmten Exemplar zurechenbar ist, ist daher im Kontext dieses Ziels zu beantworten.

92.      Die Rechtsprechung hat bereits erläutert, dass der Schaden im Sinne von Buchst. b ein künftiger Schaden sein kann, da Ziel dieser Bestimmung die Verhütung von Schäden ist(42). Dieser künftige Schaden darf jedoch nicht rein hypothetischer Art sein. Ich stimme daher mit der Kommission darin überein, dass die bloße Möglichkeit des Eintritts eines Schadens nicht ausreicht. Vielmehr muss eine hohe Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Schadens vorliegen(43). Unter „ernste Schäden“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Habitatrichtlinie fällt daher auch ein künftiger Schaden, dessen Eintritt in hohem Maß wahrscheinlich ist.

93.      In der vorliegenden Rechtssache, in der festgestellt wurde, dass der Wolf 158MATK bereits in zwei verschiedenen Fällen Schafe auf Almen angegriffen und getötet oder verletzt hat, kann davon ausgegangen werden, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass dies erneut geschehen wird(44). Von dieser Annahme geht offenbar auch die Wolf-158MATK-Verordnung aus, die vorsieht, dass dieses Exemplar eine unmittelbare und erhebliche Bedrohung für Weidetiere darstelle.

94.      Nur ein in hohem Maß wahrscheinlicher künftiger Schaden kann im Rahmen der Prüfung berücksichtigt werden, ob der in Rede stehende Schaden einen ernsten Schaden darstellt. Das vorlegende Gericht hält für klärungsbedürftig, welche Arten von zukünftigen Schäden als ernste Schäden berücksichtigt werden können. Es hat im Vorlagebeschluss drei verschiedene Arten von Schäden genannt; erstens unmittelbare oder mittelbare materielle Schäden, die durch die Schädigung durch einen bestimmten Wolf verursacht werden (verlorene Schafe, Kosten der Organisation eines vorzeitigen Almabtriebs oder Anstieg der Futterkosten für Tiere nach dem Abtrieb). Diese Schäden sind ohne Zweifel zu berücksichtigen.

95.      Die zweite genannte Art von Schäden beinhaltet die auf Angriffe eines bestimmten Wolfs zurückzuführenden immateriellen Schäden, die Landwirte durch den Verlust der Freude an der Aufzucht von Schafen oder psychische Belastung erleiden. Wie von der Kommission vorgetragen, lässt Buchst. b seinem Wortlaut nach die Einbeziehung solcher Schäden zu. Das Hauptziel dieser Bestimmung besteht in der Verhütung ernster Schäden. Schäden in der Tierhaltung oder an Eigentum, die im übrigen Teil dieses Satzes genannt werden, haben lediglich veranschaulichenden Charakter. Die Verhütung anderer Arten von Schäden, wie etwa emotionaler Schäden, wird somit nicht ausgeschlossen. Diese Schäden müssen jedoch Folge der Angriffe eines bestimmten Wolfs sein, der Gegenstand der fraglichen Ausnahmemaßnahmen ist.

96.      Die Erwägungen des vorlegenden Gerichts beziehen sich offenbar in erster Linie auf die dritte Art von Schäden, nämlich zukünftige, mittelbare Schäden für die Wirtschaft. Es nennt langfristige, makroökonomische Entwicklungen, die sich aus einer möglichen Auflösung von Almbetrieben ergeben könnten, und die Folgen, die dies für die Freizeitgestaltung oder den Tourismus haben könnte.

97.      Wie von der Kommission vorgetragen, können diese Folgen nicht als in hohem Maß wahrscheinlich angesehen werden (Es ist keineswegs sicher, dass Almbetriebe aufgegeben werden, wenn Wölfe sich dort aufhalten und gelegentlich Schafe angreifen(45), oder dass der Tourismus abnehmen und nicht zunehmen wird, wenn es Wölfe in den Bergen gibt(46)).

98.      Treten diese Folgen ein, werden sie höchstwahrscheinlich auf mehrere Ursachen und verschiedene Faktoren zurückgehen. Mir erscheint schwer vorstellbar, dass das Schicksal der österreichischen Almbetriebe vom Wolf 158MATK abhängt.

99.      Solche mittelbaren, langfristigen, makroökonomischen Entwicklungen, die nicht einem bestimmten Wolf zurechenbar sind, können daher im Rahmen des Begriffs „ernste Schäden“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Habitatrichtlinie zur Rechtfertigung der Entscheidung zum Abschuss eines Wolfsexemplars nicht berücksichtigt werden.

100. Diesen Belangen ist in den systemischen Maßnahmen und Plänen Rechnung zu tragen, die die Mitgliedstaaten erlassen müssen, um Art. 12 der Habitatrichtlinie nachzukommen(47).

101. Als Antwort auf die dritte Frage schlage ich dem Gerichtshof vor, den Begriff „ernste Schäden“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Habitatrichtlinie dahin auszulegen, dass mittelbare, (zukünftige) wirtschaftliche Schäden, die nicht einem einzelnen Wolf zurechenbar sind, hiervon nicht umfasst sind.

3.      Wirtschaftliche Gesichtspunkte bei der Entscheidung über die Verfügbarkeit einer anderweitigen zufriedenstellenden Lösung (vierte Frage)

102. Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Bestehen „anderweitiger zufriedenstellender Lösungen“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie allein aufgrund der tatsächlichen Durchführbarkeit einer Maßnahme zu prüfen ist oder ob auch wirtschaftliche Kriterien relevant sind.

103. Jede Prüfung des Bestehens einer anderweitigen zufriedenstellenden Lösung muss damit beginnen, die zur Erreichung des Ziels der Ausnahmeregelung zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu bestimmen. Wählt die Entscheidungsbehörde eine dieser Möglichkeiten, muss sie diese Wahl und die Gründe, aus denen sonstige Optionen verworfen wurden, erläutern.

104. In der vorliegenden Rechtssache besteht das Ziel einer Ausnahmeregelung in der Verhütung ernster Schäden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgrund erneuter Schädigungen durch den Wolf 158MATK eintreten werden. Die Tiroler Landesregierung hat entschieden, dass das geeignete Mittel die Genehmigung des Abschusses dieses Exemplars sei, während sonstige, zur Verfügung stehende Mittel nicht zufriedenstellend seien. Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob wirtschaftliche Kosten die Verwerfung sonstiger, streng betrachtet möglicher Optionen rechtfertigen können.

105. Meines Erachtens können die wirtschaftlichen Kosten der streng betrachtet zur Verfügung stehenden Maßnahme einer der Gesichtspunkte sein, die bei der Prüfung berücksichtigt werden, ob eine solche Maßnahme eine anderweitige zufriedenstellende Lösung darstellt. Diese Schlussfolgerung lässt sich dem Wortlaut und der Systematik der Habitatrichtlinie entnehmen. Beispielsweise lässt der in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehende Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie die Berücksichtigung wirtschaftlicher Erwägungen zu, da er Ausnahmeregelungen zur Verhütung ernster Schäden zulässt. Nach Art. 2 Abs. 3 der Habitatrichtlinie „[tragen d]ie aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen … den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten Rechnung“(48).

106. Allerdings können, auch wenn wirtschaftliche Belange berücksichtigt werden können, anderweitige Maßnahmen nicht von vornherein mit der Begründung abgelehnt werden, dass sie zu teuer wären(49).

107. Die zur Rechtfertigung der gewählten Lösung vorzunehmende Verhältnismäßigkeitsprüfung muss eine Abwägung im engeren Sinne sein(50), bei der alle relevanten betroffenen Interessen gegeneinander abzuwägen sind, nämlich diejenigen der Tierhalter und diejenigen an der Erhaltung der Vielfalt, u. a. durch den strengen Schutz bestimmter Arten, die in der Habitatrichtlinie zum Ausdruck kommen.

108. Insoweit ist daran zu erinnern, dass die Mitgliedstaaten nach der Habitatrichtlinie, insbesondere nach Art. 12 der Richtlinie, verpflichtet sind, Präventionsprogramme zu entwickeln, die die Erreichung eines günstigen Erhaltungszustands geschützter Arten ermöglichen (vgl. Nr. 100 der vorliegenden Schlussanträge). Werden hohe wirtschaftliche Kosten der Aufzucht von Herdenschutzhunden oder der Ausbildung von Hirten im Kontext der jeweiligen einzelnen Entscheidung über eine von einem einzelnen Exemplar ausgehende Gefahr beurteilt, werden sie immer als zu teuer bewertet werden(51). Dagegen fällt das Ergebnis möglicherweise anders aus, wenn sie Teil eines nationalen Präventionsplans sind. Daher sind die wirtschaftlichen Kosten im Rahmen der Prüfung der Verfügbarkeit einer anderweitigen zufriedenstellenden Lösung in den Kontext der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zu stellen, die für den strengen Schutz des Wolfs erforderlichen Maßnahmen und Pläne einzuführen.

109. Das Fachgutachten, auf das der angefochtene Bescheid gestützt wird, kam zu dem Ergebnis, dass drei Alternativen, die berücksichtigt wurden, nämlich die Errichtung von Zäunen, der Einsatz von Herdenschutzhunden oder die Begleitung der Herden durch Hirten, nicht zumutbar und verhältnismäßig verfügbar seien(52). Diese Schlussfolgerung wurde auf der Grundlage der allgemeinen Regeln(53) gezogen, nach denen vorab festgelegt worden war, welche Arten von Almen nicht zumutbar geschützt werden könnten, nicht nur, weil es streng betrachtet unmöglich sei, sondern auch, weil es als zu teuer beurteilt wurde(54). Das Fachgutachten untersuchte 61 Almen, für die der Wolf 158MATK als Gefahr für die Tierhaltung angesehen wurde, und stellte fest, dass sie alle zumindest ein Kriterium aufwiesen, aufgrund dessen eine Anwendung dieser Herdenschutzmaßnahmen nicht zumutbar sei. Zugleich stellte der angefochtene Bescheid eine solche Schlussfolgerung nicht in den Kontext von Plänen zur Regelung des Problems des Herdenschutzes auf Almen vor Wolfsangriffen, die entweder von der Tiroler Landesregierung oder von der österreichischen Regierung erlassen worden wären.

110. Das Fehlen von Plänen zur Regulierung der sich aus der Rückkehr des Wolfs ergebenden neuen Situation in Verbindung mit den vorab festgelegten allgemeinen Kriterien für Almen, für die keine Herdenschutzmaßnahmen möglich sind, führt dazu, dass jede Entscheidung, durch die der Abschuss eines einzelnen Wolfs zugelassen wird, damit verteidigt werden kann, dass keine wirtschaftlich zumutbare Alternative zur Verfügung steht. Dies ist eine pauschale Zulassung der Tötung jedes Wolfs, der sich in der Gegend aufhält, bevor ein solcher Wolf formal zur Ausnahme von dem allgemein für Wölfe geltenden strengen Schutzsystem erklärt wurde.

111. Dies war nicht die mit Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie verfolgte Absicht. Die vorgesehenen Ausnahmeregelungen sind Ausnahmemaßnahmen und sollten nicht zu einem Instrument werden, mit dem das Vorkommen von Wölfen in bestimmten Gebieten verhindert wird. Das Zusammenleben mit Wölfen macht bestimmte Anpassungen erforderlich und damit verbundene Kosten müssen auch seitens der Tierhalter in den Alpen getragen werden(55). Diese unvermeidlichen Kosten dürfen bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit anderweitiger Maßnahmen nicht außer Acht gelassen werden.

112. Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Habitatrichtlinie den Behörden nicht gestattet, von den Verboten nach Art. 12 dieser Richtlinie allein deshalb abzuweichen, weil die Einhaltung dieser Verbote eine Änderung von Tätigkeiten der Land‑, Forst‑ und Fischzuchtwirtschaft zur Folge hat(56). Diese Änderungen sind nicht frei von Kosten. Bestimmte Kosten zur Ermöglichung der Rückkehr des Wolfs sind daher als mit den Zielen der Habitatrichtlinie untrennbar verbunden hinzunehmen. Sie sind Teil des von der österreichischen Regierung in der mündlichen Verhandlung so bezeichneten Prozesses eines Wiedererlernens, wie mit dem Wolf zu leben ist.

113. In der vorliegenden Rechtssache könnten beispielsweise die Kosten eines vorzeitigen Almabtriebs von Herden in einem einzigen Jahr möglicherweise nicht ausreichend sein, um dies als anderweitige zufriedenstellende Maßnahme abzulehnen. Die Ausgestaltung des Schutzes, soweit möglich durch Errichtung von Zäunen oder durch Ausbildung von Schutzhunden und möglicherweise durch ihre gemeinsame Nutzung für mehrere Herden(57), nimmt Zeit in Anspruch und mag in dem Jahr, in dem ein einzelner Wolf bestimmte Almen durchquert, nicht zur Verfügung stehen. Solche Maßnahmen könnten jedoch für das darauffolgende Almwirtschaftsjahr eingeführt sein, wenn die Pläne für die Einführung dieser Maßnahmen vorlägen. Die Kosten solcher Maßnahmen könnten sogar durch verschiedene öffentliche Finanzierungsquellen, auch auf Ebene der EU, abgemildert werden(58).

114. Die wirtschaftlichen Kosten zur Verfügung stehender Maßnahmen können somit nicht isoliert von Präventionsplänen beurteilt werden, die erforderlich sind, um den strengen Schutz nach Art. 12 der Habitatrichtlinie zu ermöglichen. Die Stelle, die eine Ausnahmeregelung zulässt, muss genau erläutern, inwieweit die wirtschaftlichen Faktoren die Entscheidung beeinflusst haben, dass andere Maßnahmen keine anderweitige zufriedenstellende Lösung darstellen, und ihre Entscheidung insoweit in den breiteren Kontext der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten nach der Habitatrichtlinie stellen.

115. Im Urteil Kommission/Finnland hat der Gerichtshof festgestellt, dass „[s]olche Entscheidungen, … die keine genaue und angemessene Begründung für die Annahme enthalten, dass es keine anderweitige zufriedenstellende Lösung gibt, … gegen Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie [verstoßen]“(59). Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob im angefochtenen Bescheid genau erläutert worden ist, inwieweit die wirtschaftlichen Faktoren die dort getroffene Feststellung zum Fehlen einer anderweitigen zufriedenstellenden Lösung als dem Abschuss eines Wolfs beeinflusst haben.

116. Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, die vierte Frage wie folgt zu beantworten: Bei der Beurteilung, ob eine anderweitige zufriedenstellende Lösung zur Verfügung steht, können wirtschaftliche Kosten anderweitiger Maßnahmen berücksichtigt werden. Bei der Prüfung der Auswirkungen der wirtschaftlichen Kosten zur Verfügung stehender Maßnahmen müssen alle beteiligten Interessen gegeneinander abgewogen werden. Bei der Beurteilung des Einflusses wirtschaftlicher Faktoren im Fall der Schlussfolgerung, dass es keine anderweitige zufriedenstellende Lösung gibt, muss berücksichtigt werden, dass bestimmte Kosten und Anpassungen unvermeidlich sind, wenn die Ziele dieser Richtlinie erreicht werden sollen. Die Beurteilung ist aufgrund einer Einzelfallprüfung vorzunehmen, kann nicht auf allgemein und vorab festgelegte Kriterien gestützt werden und ist in den breiteren Kontext der Maßnahmen und Pläne eines Mitgliedstaats zu stellen, die einen strengen Schutz des Wolfs ermöglichen sollen.

IV.    Ergebnis

117. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Landesverwaltungsgericht Tirol (Österreich) vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1.      Die Ausnahme bestimmter Mitgliedstaaten von Anhang IV der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen stellt als solche keine Ungleichbehandlung eines Mitgliedstaats dar, dem eine solche Ausnahmeregelung nicht gewährt wird. Die vorliegende Rechtssache hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang IV der Richtlinie 92/43 wegen eines Verstoßes gegen Art. 4 Abs. 2 EUV beeinträchtigen könnte.

2.      Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 92/43 ist dahin auszulegen, dass danach die Beurteilung, ob der Erhaltungszustand einer Art günstig ist und ob Ausnahmemaßnahmen negative Auswirkungen auf die Möglichkeit haben, einen günstigen Erhaltungszustand zu erreichen oder aufrechtzuerhalten, auf das lokale und nationale Gebiet bezogen vorzunehmen ist, selbst wenn das natürliche Verbreitungsgebiet der in Rede stehenden Population eine größere grenzüberschreitende biogeografische Region umfasst. Verfügen diese Behörden jedoch über Daten, aus denen sie schließen können, dass die beabsichtigte Maßnahme den Erhaltungszustand der Teilpopulation in einem anderen Land oder allgemein zu verschlechtern droht, selbst wenn sie für den lokalen Erhaltungszustand neutral wäre, dürfen sie solche Daten nicht außer Acht lassen, sondern müssen diese Daten berücksichtigen und die Ausnahmemaßnahme ablehnen.

3.      Der Begriff „ernste Schäden“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 92/43 ist dahin auszulegen, dass mittelbare, (zukünftige) wirtschaftliche Schäden, die nicht einem einzelnen Wolf zurechenbar sind, hiervon nicht umfasst sind.

4.      Bei der Beurteilung, ob eine anderweitige zufriedenstellende Lösung im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 92/43 zur Verfügung steht, können wirtschaftliche Kosten anderweitiger Maßnahmen berücksichtigt werden. Bei der Prüfung der Auswirkungen der wirtschaftlichen Kosten zur Verfügung stehender Maßnahmen müssen alle beteiligten Interessen gegeneinander abgewogen werden. Bei der Beurteilung des Einflusses wirtschaftlicher Faktoren auf die Schlussfolgerung, dass es keine anderweitige zufriedenstellende Lösung gibt, muss berücksichtigt werden, dass bestimmte Kosten und Anpassungen unvermeidlich sind, wenn die Ziele dieser Richtlinie erreicht werden sollen. Die Beurteilung ist aufgrund einer Einzelfallprüfung vorzunehmen, kann nicht auf allgemein und vorab festgelegte Kriterien gestützt werden und ist in den Kontext der Maßnahmen und Pläne eines Mitgliedstaats zu stellen, die einen strengen Schutz des Wolfs ermöglichen sollen.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Wir sind alle mit der Geschichte von Rotkäppchen und dem großen, bösen Wolf aufgewachsen, der Rotkäppchens Großmutter verspeiste. Wölfe sind jedoch nicht immer Bösewichte in Kinderbüchern. Beispielsweise trägt sich in der Geschichte von Baruzzi, A., Der Wolf hat Hunger (Minedition, 2020), ein Wolf nach Verspeisen eines Igels mit dem Gedanken, Vegetarier zu werden. In der Geschichte von Ramos, M., Le loup qui voulait devenir un mouton (Pastel, 2008), möchte ein Wolf erfahren, wie das Leben als Schaf wäre. Nach der antiken Legende von Romulus und Remus wurden die Gründer Roms von Wölfen aufgezogen, ebenso wie Mowgly, die Hauptfigur von Kipling, R., The Jungle Book (Macmillan, 1894).


3      Anhang IV Buchst. a der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. 1992, L 206, S. 7) in der zuletzt durch die Richtlinie 2013/17/EU des Rates vom 13. Mai 2013 zur Anpassung bestimmter Richtlinien im Bereich Umwelt aufgrund des Beitritts der Republik Kroatien (ABl. 2013, L 158, S. 193) geänderten Fassung (im Folgenden: Habitatrichtlinie).


4      Nach § 52a Abs. 1 des Tiroler Jagdgesetzes 2004 (im Folgenden: TJG 2004) „[ist b]eim Amt der Tiroler Landesregierung … ein unabhängiges Fachkuratorium ‚Wolf – Bär – Luchs‘ einzurichten“.


5      Das allgemeine Verbot der Bejagung von Wölfen ist in § 36 („Jagd und Schonzeit“) Abs. 2 TJG 2004 geregelt.


6      Art. 2 Abs. 1 der Habitatrichtlinie.


7      Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Habitatrichtlinie.


8      Hingewiesen sei darauf, dass der Wolf auch in Anhang II der Habitatrichtlinie als Tier von gemeinschaftlichem Interesse aufgeführt ist, für dessen Erhaltung nach Art. 4 der Richtlinie besondere Schutzgebiete als Bestandteil des Netzes Natura 2000 ausgewiesen werden müssen. Um einen günstigen Erhaltungszustand der in besonderen Schutzgebieten vorkommenden Wölfe aufrechtzuerhalten oder zu erreichen, müssen die Mitgliedstaaten konkrete Erhaltungsmaßnahmen festlegen (Art. 6 der Habitatrichtlinie). Zu einer eingehenderen Darstellung des Netzes Natura 2000 und der Anforderungen, die die Habitatrichtlinie den Mitgliedstaaten im Hinblick auf besondere Schutzgebiete auferlegt, vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Kommission/Irland (Ausweisung und Schutz von besonderen Schutzgebieten) (C‑444/21, EU:C:2023:90). Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, den Wolf in den Anwendungsbereich der strengen Schutzvorschriften nach Art. 12 der Habitatrichtlinie einzubeziehen, ist jedoch nicht auf besondere Schutzgebiete beschränkt, sondern gilt für ihr gesamtes Hoheitsgebiet.


9      Dies betrifft die griechischen Populationen nördlich des 39. Breitengrades; die estnischen Populationen, die spanischen Populationen nördlich des Duero; die bulgarischen, lettischen, litauischen, polnischen, slowakischen Populationen und die finnischen Populationen innerhalb des Rentiererhaltungsareals im Sinne von Paragraf 2 des finnischen Gesetzes Nr. 848/90 vom 14. September 1990 über die Rentierhaltung. Die Mitgliedstaaten (oder Teile des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten), die in Bezug auf den Wolf von Anhang IV der Habitatrichtlinie ausgenommen sind, sind in Anhang V der Richtlinie aufgeführt. Für die in diesem Anhang aufgeführten Tiere gilt ein weniger strenges Schutzniveau nach Art. 14 der Habitatrichtlinie.


10      Vgl. https://www.eea.europa.eu/data-and-maps/figures/biogeographical-regions-in-europe-2.


11      Diese biogeografische Region umfasst den Appenin (Rückgrat Italiens), die Pyrenäen (Grenze zwischen Spanien und Frankreich), das skandinavische Gebirge (das sich über Schweden, Finnland und Norwegen erstreckt), die Karpaten (von der Slowakei bis Rumänien), das Balkangebirge, das Rhodopengebirge (Bulgarien) und das Dinarische Gebirge (einschließlich Teile Sloweniens und Kroatiens).


12      Österreich hat nach Art. 17 der Habitatrichtlinie für den letzten Berichtszeitraum von 2013 bis 2018 keine Daten zum Erhaltungszustand des Wolfs in seinem Hoheitsgebiet vorgelegt.


13      Vgl. hierzu Large Carnivore Initiative for Europe, „Assessment of the conservation status of the Wolf (Canis lupus) in Europe“, Europarat, 2022, S. 17, den die österreichische Regierung in ihren Erklärungen angeführt hat.


14      Spanien ist in Bezug auf seine Wolfspopulation nördlich des Duero und Griechenland in Bezug auf seine Population nördlich des 39. Breitengrads ausgenommen.


15      Dies betrifft sämtliche bulgarischen, estnischen, lettischen, litauischen, polnischen und slowakischen Wolfspopulationen sowie die finnische Population innerhalb des Rentierschutzgebiets.


16      Vgl. hierzu Richtlinie 2013/17/EU des Rates vom 13. Mai 2013 zur Anpassung bestimmter Richtlinien im Bereich Umwelt aufgrund des Beitritts der Republik Kroatien (ABl. L 158 vom 10. Juni 2013, S. 193).


17      In dem kürzlich ergangenen Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a. (C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 249), hat der Gerichtshof erläutert, dass die Wahrung des Vorrangs des Unionsrechts wichtig ist, um die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen im Sinne von Art. 4 Abs. 2 EUV sicherzustellen. Jene Rechtssache ist jedoch für den Fall der vorliegenden Rechtssache nicht relevant. In zwei weiteren, kürzlich entschiedenen Rechtssachen, in denen Ungarn und Polen die Gültigkeit der Verordnung (EU, Euratom) 2020/2092 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2020 über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union (ABl. 2020, L 433I, S. 1, und Berichtigung ABl. 2021, L 373, S. 94) angefochten hatten, wurde unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit der Mitgliedstaaten nicht als problematisch angesehen, dass die Unionsorgane bei der Entscheidung über die Freigabe von Unionsfinanzierungen die besondere Situation des einzelnen Mitgliedstaats berücksichtigen können (Urteile vom 16. Februar 2022, Polen/Parlament und Rat, C‑157/21, EU:C:2022:98, Rn. 280 bis 310), und vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 310 bis 318).


18      Vgl. entsprechend Urteil vom 30. April 2019, Italien/Rat (Fangquoten für Schwertfisch im Mittelmeer)  (C‑611/17, EU:C:2019:332, Rn. 129 und die dort angeführte Rechtsprechung).


19      Der Gerichtshof hat im Bereich des Binnenmarkts von einem sehr frühen Zeitpunkt an einen ähnlichen Ansatz verfolgt. Vgl. z. B. Urteil vom 17. Juli 1963, Italien/Kommission (13/63, EU:C:1963:20, Rn. 4).


20      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. März 2011, AJD Tuna (C‑221/09, EU:C:2011:153, Rn. 108).


21      Insoweit kann ich mich der Ansicht der österreichischen Regierung nicht anschließen, dass die Gewährung einer Ausnahme von Anhang IV für bestimmte Staaten zum Zeitpunkt ihres Beitritts zur Europäischen Union ermöglicht worden sei, um sie mit Spanien und Griechenland gleichzustellen, denen eine solche Ausnahme zum Zeitpunkt des Erlasses der Habitatrichtlinie gewährt worden sei. Die für sie geltenden Ausnahmen wurden vielmehr von ihnen aus für jeden von ihnen besonderen Gründen ausgehandelt.


22      Der Gerichtshof hat insoweit entschieden, dass Unionsvorschriften, die sich aus einer Beitrittsakte ergeben, keine Rechtsakte der Organe darstellen, sondern primärrechtliche Bestimmungen, die daher keiner Rechtmäßigkeitskontrolle unterliegen. Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. April 1988, LAISA und CPC España/Rat (31/86 und 35/86, EU:C:1988:211, Rn. 12 und 17), und vom 5. Oktober 2016, F. Hoffmann-La Roche (C‑572/15, EU:C:2016:739, Rn. 30 und 31).


23      Chapon, G., Epstein, Y., Ouro-Ortmark, M., Helmius, L., Ramirez loza, J. P., Bétaille, J., López-Bao, J. V., „European Commission may gut the wolf protection“, Science, 20. Oktober 2023, Vol. 382, S. 275 mit weiteren Nachweisen.


24      Milieu, IEEP und ICF, Evaluation Study to support the Fitness Check of the Birds and Habitats Directives, 2016, S. 334.


25      Berner Übereinkommen über die Erhaltung der europäischen wildlebenden Pflanzen und Tiere und ihrer natürlichen Lebensräume, angenommen am 19. September 1979 und in Kraft getreten am 6. Juni 1982. Ein solcher Vorbehalt kann nach Art. 22 dieses Übereinkommens eingelegt werden.


26      Beschluss 82/72/EWG des Rates vom 3. Dezember 1981 über den Abschluss des Übereinkommens zur Erhaltung der europäischen freilebenden Tiere und wildwachsenden Pflanzen und ihrer natürlichen Lebensräume (ABl. 1982, L 38, S. 1).


27      Urteil vom 26. November 1996, T. Port (C‑68/95, EU:C:1996:452, Rn. 53).


28      Zum Zusammenleben und der damit aufgeworfenen Frage vgl. Nochy, A., La bête qui mangeait le monde, 2018 (Arthaud, Paris) und De Witte, F., „Where the Wild Things are: Animal Autonomy in EU Law“, CMLR, 2023, S. 391 bis 430.


29      Kommission, Pressemitteilung vom 4. September 2023, „Wolves in Europe: Commission urges local authorities to make full use of existing derogations and collects data for conservation status review [(Der Wolf in Europa: Die Kommission fordert die lokalen Behörden nachdrücklich auf, von bestehenden Ausnahmeregelungen in vollem Umfang Gebrauch zu machen, und erhebt Daten zur Überprüfung des Erhaltungszustands)]“. Vgl. auch https://www.politico.eu/article/ursula-von-der-leyen-wolf-attack-protection-conservation-farming-livestock-animal-welfare-germany/ (zuletzt abgerufen am 11. Oktober 2023). Dies hat einige Nichtregierungsorganisationen veranlasst, große Bedenken hinsichtlich irreführender Informationen zu äußern, die durch diese Mitteilung über Wölfe in Europa verbreitet würden, abrufbar unter: https://www.wwf.eu/?11704941/Open-letter-to-Commission-President-von-der-Leyen-on-protection-status-of-wolves (zuletzt abgerufen am 21. November 2023).


30      Art. 16 der Habitatrichtlinie regelt auch Ausnahmeregelungen von der weniger strengen Schutzregelung nach Art. 14 der Habitatrichtlinie.


31      Vgl. Urteile vom 10. Oktober 2019, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola (C‑674/17, EU:C:2019:851, im Folgenden: Urteil LSL Tapiola, Rn. 30), und vom 11. Juni 2020, Alianța pentru combaterea abuzurilor (C‑88/19, EU:C:2020:458, Rn. 25).


32      Urteil LSL Tapiola (Rn. 61).


33      Eine solche zweistufige Prüfung wird auch von der Kommission vertreten, vgl. Europäische Kommission, Generaldirektion Umwelt, Das strenge Schutzsystem für Tierarten von gemeinschaflichem Interesse im Rahmen der FFH-Richtlinie – Leitfaden – Eine Zusammenfassung, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, 2021.  (im Folgenden: Leitfaden) (Nrn. 3 bis 63).


34      Im Urteil LSL Tapiola (Rn. 55) hat der Gerichtshof festgestellt: „Der günstige Erhaltungszustand dieser Populationen in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet ist … eine unabdingbare Voraussetzung für die Zulassung der in Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie vorgesehenen Ausnahmen.“


35      Urteil vom 14. Juni 2007, Kommission/Finnland (C‑342/05, EU:C:2007:341, Rn. 29). Vgl. auch Rn. 68 des Urteils LSL Tapiola.


36      Urteil LSL Tapiola (Rn. 58 und 61).


37      Insoweit ist weiter darauf hinzuweisen, dass dem Gerichtshof keine Daten vorgelegt worden sind, die für den Wolf einen günstigen Zustand in den Alpen ausweisen.


38      Möglicherweise ist dies nicht einmal der Fall. Die an der Rechtssache beteiligten Nichtregierungsorganisationen haben vorgetragen, dass die Übermittlung von Daten zwischen den Bundesländern in Österreich problematisch sein könne.


39      Schlussanträge in der Rechtssache Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola (C‑674/17, EU:C:2019:394, Nr. 83).


40      Urteil LSL Tapiola (Rn. 59).


41      Vgl. Linell, J. D. C., und Boitani, L., „Building biological realism into wolf management policy: the development of the population approach in Europe“, Hystrix, Ital J Mammal, 2012, S. 80 bis 91, und die genannten Beispiele zwischen Polen und der Ukraine sowie Schweden und Norwegen.


42      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Juni 2007, Kommission/Finnland (C‑342/05, EU:C:2007:341, Rn. 40).


43      Vgl. Leitfaden, Nrn. 3 bis 24.


44      Einer Studie zufolge bestand im Vergleich zu allen übrigen landwirtschaftlichen Betrieben derselben Gegend ein etwa 55-mal höheres Risiko einer wiederholten Schädigung in solchen landwirtschaftlichen Betrieben, in denen es bereits zu einem Angriff eines Wolfs gekommen war; vgl. Karlsson, J., und Johansson, Ö., „Predictability of repeated carnivore attacks on livestock favours reactive use of mitigation measures“, Journal of Applied Ecology, 2010, Vol. 47, S. 166 bis 171.


45      Vgl. hierzu Mink, S., Loginova, D. und Mann, S., „Wolves‘ contribution to structural change in grazing systems among Swiss alpine summer farms: The evidence from causal random forest“, Journal of Agricultural Economics, 2023, S. 1 bis 17 („the exits of … farmers from farming are weakly correlated, among other factors, with the burden caused by wolves [(Zwischen dem Rückzug von Landwirten aus der Landwirtschaft und der durch Wölfe verursachten Belastung besteht, neben anderen Faktoren, eine schwache Korrelation)].“, S. 3.).


46      Martin, J.‑L., Chamaillé-Jammes, S., und Waller, D. M., „Deer, wolves, and people: costs, benefits and challenges of living together“, Biol Rev, 2020, S. 782 bis 801. S. 792 ff.


47      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juni 2020, Alianța pentru combaterea abuzurilor (C‑88/19, EU:C:2020:458, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung). Der Gerichtshof hat in jenem Urteil ausgeführt, dass die Mitgliedstaaten, um Art. 12 der Habitatrichtlinie nachzukommen, einen vollständigen gesetzlichen Rahmen schaffen und konkrete besondere Schutzmaßnahmen durchführen müssen. Sie müssen ferner kohärente und koordinierte vorbeugende Maßnahmen vorsehen.


48      Hervorhebung nur hier.


49      Vgl. hierzu Leitfaden, Nrn. 3 bis 56.


50      Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Kommission/Finnland (C‑342/05, EU:C:2006:752, Nrn. 24 und 27).


51      Vgl. Large carnivores, Wild Ungulates and Society Working Group (WISO) of the Alpine Convention and the project Life Wolfalps EU, Prevention of damages caused by large carnivores in the Alps, 2020, S. 20 (wonach es in Österreich kein offizielles Programm für die Aufzucht von Herdenschutzhunden gebe, Landwirte sie selbst suchen müssten und „viele Hirten keine Kenntnisse in der Arbeit mit Herdenschutzhunden haben“).


52      Ergänzt sei ferner, dass sonstige mögliche Maßnahmen, die von den Beschwerdeführern des Ausgangsverfahrens genannt wurden, wie etwa Nachtquartiere für Schafe oder Sender, mit denen der Wolf versehen werden könnte, überhaupt nicht erörtert wurden.


53      Insoweit beruht der angefochtene Bescheid offenbar auf den Empfehlungen einer Arbeitsgruppe für die Bundesländer von 2021 zu der Frage, wann Herdenschutzmaßnahmen zum Schutz vor großen Beutegreifern, wie u. a. Wölfen, zufriedenstellend sind. Sie enthalten eine Reihe von Kriterien für die „Ausweisung von Alp-/Weideschutzgebieten“ (in Bezug auf die Hangneigung von Almen, bestehende Straßen und Wege, Wasserläufe, Feldstücksgeometrie, die Anzahl der gehaltenen Tiere, usw.). Wenn nur eine der Almen in dem Gebiet, das der in Rede stehende Wolf aufsucht, die damit festgelegten Schutzkriterien nicht erfüllt, wird automatisch davon ausgegangen, dass es keine anderweitige zufriedenstellende Lösung des Herdenschutzes gibt.


54      Eines der angeführten Kriterien war z. B., dass ein Herdenschutz für die in Rede stehende Tierhaltung mit Schutzhunden nicht zumutbar und verhältnismäßig sei, wenn die Anzahl der Tiere weniger als 500 Schafe oder Ziegen betrage.


55      Zu dieser Notwendigkeit einer Anpassung im Kontext der Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl. 1979, L 103, S. 1), aufgehoben durch die Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl. 2010, L 20, S. 7; im Folgenden: Vogelschutzrichtlinie), die in Art. 9 Abs. 1 den Maßstab „keine andere zufriedenstellende Lösung“ enthält, der dem Maßstab „keine anderweitige zufriedenstellende Lösung“ in Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie entspricht, vgl. Urteil vom 17. März 2021, One Voice und Ligue pour la protection des oiseaux (C‑900/19, EU:C:2021:211, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).


56      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. März 2012, Kommission/Polen (C‑46/11, EU:C:2012:146, Rn. 31, 42 und 49).


57      Insoweit ist durch einige konkrete Projekte im Land Tirol bereits eine Bündelung von Ressourcen zum Schutz der Tierhaltung ermöglicht worden. 2021 wurden 850 Schafe von 35 Landwirten aus mehreren Ortschaften aufgetrieben. Die Schafherde wird ständig von zwei Hirten geschützt, dabei sind ferner drei Herdenschutzhunde im Einsatz, abrufbar auf https://tirol.orf.at/stories/3111539/.


58      Wie z. B. den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) oder Life Wolfalps EU; weitere Informationen abrufbar unter https://www.lifewolfalps.eu/.


59      Urteil vom 14. Juni 2007, Kommission/Finnland (C‑342/05, EU:C:2007:341, Rn. 31). Vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts Saugmandsgaard Øe in der Rechtssache Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola (C‑674/17, EU:C:2019:394, Nr. 70).