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SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MICHAL BOBEK

vom 21. November 2019(1)

Verbundene Rechtssachen C496/18 und C497/18

HUNGEOD Közlekedésfejlesztési, Földmérési, Út- és Vasúttervezési Kft.,

SIXENSE Soldata,

Budapesti Közlekedési Zrt. (C496/18),

Budapesti Közlekedési Zrt. (C497/18)

gegen

Közbeszerzési Hatóság Közbeszerzési Döntőbizottság

(Vorabentscheidungsersuchen des Fővárosi Törvényszék [Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Öffentliche Aufträge – Änderungen öffentlicher Aufträge – Richtlinien über die Nachprüfungsverfahren – Von Amts wegen von einer Behörde veranlasste Nachprüfung eines behaupteten Verstoßes gegen die Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge – Fristen für die Einleitung einer Nachprüfung – Ablauf von Fristen nach zum Zeitpunkt des behaupteten Verstoßes geltenden nationalen Rechtsvorschriften – Von Amts wegen nach neuen Rechtsvorschriften eingeleitete Nachprüfung – Verhängung von Geldbußen gegen den öffentlichen Auftraggeber und die Bieter – Grundsätze der Rechtssicherheit und des Rückwirkungsverbots – Art. 83 der Richtlinie 2014/24/EU und Art. 99 der Richtlinie 2014/25/EU – Schutz der finanziellen Interessen der Union“






I.      Einleitung

1.        Die Budapesti Közlekedési Zrt. (im Folgenden: öffentlicher Auftraggeber) erteilte 2006 und 2009 zwei öffentliche Aufträge in Hinblick auf den Bau der Metrolinie 4 in Budapest. 2017 leitete der Közbeszerzési Hatóság Elnöke (Präsident der Behörde für das öffentliche Auftragswesen) nach im Jahr 2015 eingeführten nationalen Vorschriften von Amts wegen Nachprüfungen der Änderungen ein, die jeweils 2009 und 2010 an diesen Verträgen vorgenommen wurden. In der Folge dieser Nachprüfungen verhängte das Közbeszerzési Döntőbizottság (Schiedskommission für das öffentliche Auftragswesen, im Folgenden: Schiedskommission) Bußgelder gegen den öffentlichen Auftraggeber und die Bieter.

2.        Die in diesen Rechtssachen aufgeworfene Kernfrage lässt sich wie folgt zusammenfassen: Gestattet das Unionsrecht, dass Behörden von Amts wegen Nachprüfungen von Änderungen öffentlicher Aufträge veranlassen, nachdem die Fristen, die hierfür in den zum Zeitpunkt der Änderungen geltenden Rechtsvorschriften vorgesehen sind, abgelaufen sind, wenn diese Nachprüfungen Jahre nach Vornahme der Änderungen zur Verhängung von Sanktionen gegen beide Vertragsparteien führen?

3.        Ich bin der Ansicht, dass das Unionsrecht von Amts wegen durchgeführte Nachprüfungen von öffentlichen Aufträgen oder Änderungen solcher Aufträge weder verlangt noch ihnen entgegensteht. Jedoch hindert der unionsrechtliche Grundsatz der Rechtssicherheit nationale Behörden an der Einleitung solcher Nachprüfungen, sobald die anwendbaren Fristen abgelaufen sind.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      Die Richtlinien 89/665 und 92/13 in der durch die Richtlinie 2007/66 geänderten Fassung

4.        Art. 1 der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge(2) und Art. 1 der Richtlinie 92/13/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Gemeinschaftsvorschriften über die Auftragsvergabe durch Auftraggeber im Bereich der Wasser‑, Energie- und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor(3), beide in der Fassung der Richtlinie 2007/66(4), sehen innerhalb ihres jeweiligen Anwendungsbereichs vor:

„(1)      …

Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass … die Entscheidungen der [öffentlichen Auftraggeber/Auftraggeber] wirksam und vor allem möglichst rasch nach Maßgabe der Artikel 2 bis 2f der vorliegenden Richtlinie auf Verstöße gegen das Unionsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder gegen die nationalen Vorschriften, die dieses Recht umsetzen, überprüft werden können.

(3)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Nachprüfungsverfahren entsprechend den gegebenenfalls von den Mitgliedstaaten festzulegenden Bedingungen zumindest jeder Person zur Verfügung stehen, die ein Interesse an einem bestimmten Auftrag hat oder hatte und der durch einen behaupteten Verstoß ein Schaden entstanden ist bzw. zu entstehen droht.

…“

5.        Ferner heißt es im 25. Erwägungsgrund der Richtlinie 2007/66:

„Die Notwendigkeit, für Rechtssicherheit hinsichtlich der Entscheidungen der öffentlichen Auftraggeber und der Auftraggeber zu sorgen, erfordert … die Festlegung einer angemessenen Mindest-Verjährungsfrist für Nachprüfungen, in denen die Unwirksamkeit eines Vertrags festgestellt werden kann.“

6.        Darüber hinaus stellt der 27. Erwägungsgrund der Richtlinie 2007/66 fest, dass „aus Gründen der Rechtssicherheit … die Geltendmachung der Unwirksamkeit eines Vertrags auf einen bestimmten Zeitraum beschränkt [ist]. Die Effektivität dieser Fristen sollte respektiert werden.“

2.      Die Richtlinien 2014/24 und 2014/25

7.        Der 122. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG(5) sowie der 128. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/25/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die Vergabe von Aufträgen durch Auftraggeber im Bereich der Wasser‑, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/17/EG(6) stellen fest, dass die jeweils von den Richtlinien 89/665 und 92/13 vorgesehenen Nachprüfungsverfahren von diesen Richtlinien „unberührt bleiben [sollten]“. Jedoch „haben Bürger, organisierte oder nicht organisierte Interessengruppen und andere Personen oder Stellen, die keinen Zugang zu Nachprüfungsverfahren gemäß [einer dieser Richtlinien] haben, als Steuerzahler dennoch ein begründetes Interesse an soliden Vergabeverfahren. Ihnen sollte daher die Möglichkeit gegeben werden, auf anderem Wege als dem des Nachprüfungssystems gemäß [diesen Richtlinien] und ohne dass sie zwingend vor Gericht klagen können müssten, mögliche Verstöße gegen [diese Richtlinien] gegenüber einer zuständigen Behörde oder Stelle anzuzeigen. Um Überschneidungen mit bestehenden Behörden oder Strukturen zu vermeiden, sollte es den Mitgliedstaaten möglich sein, auf allgemeine Überwachungsbehörden oder ‑strukturen, branchenspezifische Aufsichtsstellen, kommunale Aufsichtsbehörden, Wettbewerbsbehörden, den Bürgerbeauftragten oder nationale Prüfbehörden zurückzugreifen.“

8.        Art. 83 der Richtlinie 2014/24 und Art. 99 der Richtlinie 2014/25, die mit „Durchsetzung“ überschrieben sind und sich in Titel IV „Governance“ befinden, sehen Folgendes vor:

„…

(2)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Anwendung der Vorschriften für die öffentliche Auftragsvergabe überwacht wird.

Decken Überwachungsbehörden oder ‑strukturen auf eigene Initiative oder nach Erhalt von Informationen bestimmte Verstöße oder systematische Probleme auf, so sind sie befugt, nationale Prüfbehörden, Gerichte oder andere geeignete Behörden oder Strukturen, z. B. den Ombudsmann, nationale Parlamente oder parlamentarische Ausschüsse, auf diese Probleme hinzuweisen.

…“

B.      Ungarisches Recht

1.      Das Vergabegesetz von 2003

9.        § 303 Abs. 1 des Közbeszerzésekről szóló 2003. évi CXXIX. törvény (Gesetz Nr. CXXIX von 2003 über die öffentliche Auftragsvergabe; im Folgenden: Vergabegesetz von 2003) lautet:

„Die Parteien können den Teil des Auftrags, der auf der Grundlage der in der Ausschreibung festgelegten Bedingungen oder der sich darauf beziehenden Unterlagen bzw. auf der Grundlage des Inhalts des Angebots festgelegt wurde, nur ändern, wenn der Auftrag infolge eines Umstands, der nach Zuschlagserteilung – aus einem zum Zeitpunkt der Zuschlagserteilung unvorhersehbaren Grund – eingetreten ist, gegen das berechtigte materielle Interesse einer der Vertragsparteien verstößt.“

10.      § 306/A:

„(2)      Jeder in den Geltungsbereich dieses Gesetzes fallende Vertrag ist nichtig, wenn

a)      dieser rechtswidrig ohne öffentliches Vergabeverfahren geschlossen wurde

…“

11.      Gemäß § 307 Abs. 3, „veranlasst der Közbeszerzések Tanácsának elnöke [(Präsident des Rates für die öffentliche Auftragsvergabe)] ein Verfahren vor [der Schiedskommission] von Amts wegen, wenn glaubhaft gemacht werden kann, dass ein Auftrag unter Verstoß gegen § 303 geändert wurde …“.

12.      § 327 bestimmt:

„(1)      Folgende Stellen oder Personen können ein Verfahren der [Schiedskommission] von Amts wegen veranlassen, wenn sie in Ausübung ihrer Befugnisse von einem gegen dieses Gesetz verstoßenden Verhalten oder Unterlassen Kenntnis erlangen:

a)      der Präsident des Rates für die öffentliche Auftragsvergabe;

(2)      Ein Verfahren der [Schiedskommission] kann von Amts wegen veranlasst werden:

a)      von einer der in Abs. 1 Buchst. a, b und d bis i genannten Stellen innerhalb von 30 Tagen ab ihrer Kenntniserlangung von der Rechtsverletzung oder, wird ein öffentliches Vergabeverfahren nicht durchgeführt, ab Zuschlagserteilung, oder, falls diese nicht feststellbar ist, ab Kenntniserlangung vom Beginn der Ausführung durch eine der Parteien, jedoch spätestens innerhalb eines Jahres ab der Rechtsverletzung bzw. innerhalb drei Jahren in den Fällen, in denen ein öffentliches Vergabeverfahren nicht durchgeführt wurde,

…“

13.      § 328 Abs. 1 bestimmt:

„Der Präsident des Rates für die öffentliche Auftragsvergabe veranlasst von Amts wegen ein Verfahren der [Schiedskommission]:

c)      in den in § 307 Abs. 3 genannten Fällen.“

14.      § 379 Abs. 2 bestimmt:

„Der Rat für die öffentliche Auftragsvergabe

l)      verfolgt aufmerksam die Änderung und die Ausführung von aufgrund von öffentlichen Vergabeverfahren geschlossenen Verträgen (§ 307 Abs. 4).“

2.      Das Vergabegesetz von 2015

15.      Art. 152 des Közbeszerzésekről szóló 2015. évi CXLIII. törvény (Gesetz Nr. CXLIII von 2015 über die öffentliche Auftragsvergabe, im Folgenden: Vergabegesetz von 2015) sieht vor:

„(1)      Folgende Stellen oder Personen können ein Verfahren der [Schiedskommission] von Amts wegen veranlassen, wenn sie in Ausübung ihrer Befugnisse von einem gegen dieses Gesetz verstoßenden Verhalten oder Unterlassen Kenntnis erlangen:

a)      der [Präsident der Behörde für das öffentliche Auftragswesen];

(2)      Eine der in Abs. 1 genannten Stellen oder Personen kann innerhalb von 60 Tagen ab dem Zeitpunkt, an dem sie von der Rechtsverletzung Kenntnis erlangt hat, ein Verfahren der [Schiedskommission] von Amts wegen veranlassen, jedoch

a)      spätestens innerhalb einer Frist von drei Jahren ab dem Eintritt der Rechtsverletzung,

b)      im Fall von Beschaffungen ohne Durchführung eines öffentlichen Vergabeverfahrens abweichend von Buchst. a innerhalb von höchstens fünf Jahren ab Zuschlagserteilung oder, falls diese nicht feststellbar ist, ab dem Beginn der Ausführung des Vertrags durch eine der Parteien, oder

c)      im Fall von Beschaffungen aus Fördermitteln abweichend von den Buchst. a und b während der in einer gesonderten Rechtsnorm für Belege in Bezug auf die Zahlung und Verwendung der betreffenden Fördermittel festgelegten Aufbewahrungsdauer, aber mindestens innerhalb von fünf Jahren ab dem Eintritt der Rechtsverletzung – im Fall von Beschaffungen ohne Durchführung eines öffentlichen Vergabeverfahrens ab Zuschlagserteilung oder, falls diese nicht feststellbar ist, ab dem Beginn der Ausführung des Vertrags durch eine der Parteien.

…“

16.      In § 153 Abs. 1 heißt es:

„Der Präsident der Behörde für das öffentliche Auftragswesen veranlasst von Amts wegen ein Verfahren der [Schiedskommission]:

c)      wenn aufgrund des Ergebnisses einer von der Behörde für das öffentliche Auftragswesen gemäß § 187 Abs. 2 Buchst. j durchgeführten amtlichen Kontrolle oder auch ohne Einleitung der amtlichen Kontrolle glaubhaft gemacht werden kann, dass die Änderung oder die Ausführung des Vertrags unter Verstoß gegen dieses Gesetz erfolgte, insbesondere wenn eine Rechtsverletzung im Sinne von § 142 Abs. 2 begangen wurde.

…“

17.      § 187 sieht vor:

„…

(2)      Die Behörde [für die öffentliche Auftragsvergabe]

j)      verfolgt aufmerksam die Änderung aufgrund von öffentlichen Vergabeverfahren geschlossenen Verträgen und überwacht im Rahmen der amtlichen Kontrolle nach den im [Közigazgatási hatósági eljárás és szolgáltatás általános szabályairól 2004. évi CXL. törvény (Gesetz Nr. CXL von 2004 zur Festlegung der allgemeinen Vorschriften über Verwaltungsdienste und –verfahren)] im Einzelnen festgelegten Bestimmungen auch deren Ausführung und ergreift insbesondere die in § 153 Abs. 1 Buchst. c und § 175 festgelegten Maßnahmen;

…“

18.      §197 Abs. 1 bestimmt:

„Die Bestimmungen dieses Gesetzes sind auf Beschaffungen, aufgrund von öffentlichen Vergabeverfahren geschlossene Verträge und Wettbewerbsverfahren, die nach seinem Inkrafttreten begonnen wurden, sowie damit in Verbindung stehende beantragte, veranlasste oder von Amts wegen eingeleitete Nachprüfungsverfahren und Verfahren zur Streitbeilegung anzuwenden. Die Bestimmungen von § 139, § 141, § 142, § 153 Abs. 1 Buchst. c und § 175 sind auf die Möglichkeit der Änderung der vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes begonnenen Beschaffungen oder der vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes am Ende öffentlicher Vergabeverfahren abgeschlossenen Verträge ohne Durchführung eines neuen öffentlichen Vergabeverfahrens sowie auf die Kontrolle der Änderung und der Ausführung anzuwenden; ferner sind die Bestimmungen von Abschnitt XXI auf hiermit zusammenhängende Nachprüfungsverfahren anzuwenden.“

3.      Regierungsverordnung 4/2011

19.      Nach § 80 Abs. 3 des 2007-2013 programozási időszakban az Európai Regionális Fejlesztési Alapból, az Európai Szociális Alapból és a Kohéziós Alapból származó támogatások felhasználásának rendjéről szóló 4/2011. (I. 28.) Korm. rendelet (Regierungsverordnung 4/2011 vom 28. Januar 2011 über die Verwendung der im Programmplanungszeitraum 2007-2013 aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, dem Europäischen Sozialfonds und dem Kohäsionsfonds bereitgestellten Fördermittel) bestimmt:

„Der Empfänger und die an der Förderungsabwicklung beteiligten Stellen unterhalten für jedes Projekt eine getrennte Buchführung, registrieren alle sich auf ein Projekt beziehenden Belege getrennt voneinander und bewahren diese mindestens bis zum 31. Dezember 2020 auf.“

III. Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

A.      Rechtssache C496/18

20.      Am 30. September 2005 veröffentlichte der öffentliche Auftraggeber einen Aufruf zur Angebotsabgabe im Amtsblatt der Europäischen Union zum Zweck der „Anschaffung eines Überwachungssystems für die Kontrolle der Bewegung der Bauten und die Lärm- und Schwingungskontrolle während der ersten Bauphase der Metrolinie 4 in Budapest“. Der geschätzte Auftragswert lag über den Schwellenwerten der Gemeinschaft (EU). Das Projekt wurde von der Europäischen Union – nach dem operationellen Programm für Transport – gefördert.

21.      Der Zuschlag wurde einem Konsortium von Dienstleistern erteilt, das aus der Sol‑Data SA – die später ihren Namen in SIXENSE Soldata änderte – und der HUNGEOD Kft bestand. Am 1. März 2006 erteilte der öffentliche Auftraggeber den Mitgliedern des Sol‑Data-Hungeod-Konsortiums einen öffentlichen Auftrag.

22.      Am 5. Oktober 2009 änderten die Parteien den Auftrag mit der Begründung, dass unvorhersehbare Umstände eingetreten seien. Am 18. November 2009 wurde eine Bekanntmachung der Auftragsänderung im Közbeszerzési Értesítő (Blatt für öffentliche Auftragsvergabe) veröffentlicht.

23.      Dem Vorlagebeschluss zufolge wurde vom Az Európai Támogatásokat Auditáló Főigazgatóság (Generaldirektion für die Prüfung Europäischer Fördermittel) von Amts wegen eine Nachprüfung der Änderung des Auftrags an die Sol‑Data SA und die HUNGEOD Kft. veranlasst. Die Schiedskommission wies am 9. November 2010 den Antrag auf Nachprüfung jedoch als verspätet ab.

24.      Am 29. Mai 2017 leitete der Präsident der Behörde für das öffentliche Auftragswesen, der Streithelfer der Schiedskommission, von Amts wegen ein Verfahren gemäß § 153 Abs. 1 Buchst. c des Vergabegesetzes von 2015 gegen die HUNGEOD Kft., Sol‑Data und den öffentlichen Auftraggeber (im Folgenden gemeinsam: Kläger) ein. Seiner Ansicht nach hatten die Kläger durch die Änderung des streitigen Auftrags gegen § 303 Abs. 1 des Vergabegesetzes von 2003 verstoßen, da die in dieser Vorschrift festgelegten Änderungsvoraussetzungen nicht erfüllt waren. Der Präsident der Behörde für das öffentliche Auftragswesen bestimmte den Zeitpunkt der Auftragsänderung, den 5. Oktober 2009, als den Zeitpunkt der Rechtsverletzung. Allerdings gab er den 30. März 2017 als den Zeitpunkt an, an dem er von dem Verstoß Kenntnis erlangt habe.

25.      Am 3. August 2017 stellte die Schiedskommission in der im Ausgangsverfahren streitigen Entscheidung fest, dass die Kläger gegen § 303 des Vergabegesetzes von 2003 verstoßen hätten.

26.      Die Schiedskommission wies in ihrer Entscheidung, vor ihrer Feststellung zur Begründetheit, einen verfahrensrechtlichen Einwand bezüglich der Frage zurück, ob der Präsident der Behörde für das öffentliche Auftragswesen das Verfahren fristgerecht eingeleitet habe. Der Schiedskommission zufolge fanden das Vergabegesetz von 2003 in der Sache und das Vergabegesetz von 2015 im Hinblick auf das Verfahren Anwendung. Der zweite Satz von § 197 Abs. 1 des Vergabegesetzes von 2015 sehe als Übergangsvorschrift vor, dass es u. a. erforderlich sei, das Vergabegesetz von 2015 auf die Überwachung der Änderungen von aufgrund eines Verfahrens über die Vergabe eines öffentlichen Auftrags abgeschlossenen Verträgen anzuwenden, die vor Inkrafttreten dieses Gesetzes eingeleitet worden sei, und das Kapitel dieses Gesetzes, das die Vorschriften über Nachprüfungsverfahren betreffe, auf die Nachprüfungsverfahren anzuwenden, die sich auf die Überwachung solcher Änderungen bezögen. Dementsprechend war die Schiedskommission nicht der Auffassung, die Kläger seien berechtigt, sich auf die Grundsätze des Rückwirkungsverbots und der Rechtssicherheit zu berufen. Somit habe der Präsident der Behörde für das öffentliche Auftragswesen die Nachprüfung ordnungsgemäß innerhalb der in § 152 Abs. 2 des Vergabegesetzes von 2015 festgelegten Frist eingeleitet.

27.      Die Schiedskommission stellte auch fest, ein erheblicher Teil des streitigen Projekts und der Änderung des geprüften Auftrags sei mit Fördermitteln der Europäischen Union durchgeführt worden und falle daher unter die Regierungsverordnung 4/2001. Die Schiedskommission stellte fest, es sei erforderlich, § 80 Abs. 3 dieser Regierungsverordnung auf die streitige Vertragsänderung anzuwenden. Dementsprechend laufe die Frist, innerhalb deren eine Stelle von Amts wegen ein Verfahren veranlassen könne, am 31. Dezember 2020 ab. Folglich sei der Präsident der Behörde für das öffentliche Auftragswesen fristgerecht tätig geworden, als er am 29. Mai 2017 von Amts wegen das Verfahren eingeleitet habe.

28.      Als Folge der Feststellung eines Verstoßes verhängte die Schiedskommission gegen den öffentlichen Auftraggeber eine Geldbuße in Höhe von 25 000 000 ungarischen Forint (HUF). Sie verhängte auch eine Geldbuße in Höhe von 5 000 000 HUF gegen die HUNGEOD Kft. und SIXENSE Soldata als Gesamtschuldner.

29.      Die Kläger haben die Entscheidung der Schiedskommission vor dem vorlegenden Gericht, dem Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) angefochten. Das vorlegende Gericht, das Zweifel bezüglich der richtigen Auslegung des Unionsrechts hegt, hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Sind Art. 41 Abs. 1 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die Erwägungsgründe 2, 25, 27 und 36 der Richtlinie 2007/66 sowie Art. 1 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 92/13 und im Zusammenhang mit diesen der allgemeine unionsrechtliche Grundsatz der Rechtssicherheit und das Erfordernis, dass gegen die Entscheidungen der öffentlichen Auftraggeber eine rasche und wirksame vergaberechtliche Nachprüfung in Anspruch genommen werden können muss, dahin auszulegen, dass sie einer mitgliedstaatlichen Regelung entgegenstehen, die die durch sie geschaffene, insoweit zuständige (Überwachungs‑)Behörde bei vor ihrem Inkrafttreten geschlossenen Verträgen über die Vergabe eines öffentlichen Auftrags allgemein dazu ermächtigt, wegen eines vor ihrem Inkrafttreten begangenen Verstoßes gegen das Vergaberecht innerhalb der von ihr vorgesehenen Frist, aber nach Ablauf der Ausschlussfristen, die in der früheren, für die Untersuchung dieses Verstoßes maßgeblichen mitgliedstaatlichen Regelung vorgesehen waren, eine Untersuchung zu veranlassen, diesen Verstoß inhaltlich zu prüfen und infolgedessen den Verstoß festzustellen und eine vergaberechtliche Sanktion zu verhängen sowie die Nichtigkeit des Vertrags und deren Folgen anzuwenden?

2.      Ergibt sich aus den in Frage 1 genannten Rechtsvorschriften und Grundsätzen – außer dem Erfordernis der praktischen Wirksamkeit des subjektiven Rechts der an öffentlichen Aufträgen Interessierten auf eine Nachprüfung – auch für die (Überwachungs‑)Behörden, die durch das Recht des Mitgliedstaats geschaffen worden sind, von Amts wegen zur Beobachtung von Verstößen gegen das Vergaberecht und zur Einleitung von Untersuchungen befugt sind und Aufgaben von öffentlichem Interesse wahrnehmen, ein Recht zur Veranlassung und Durchführung von Nachprüfungsverfahren?

3.      Folgt aus Art. 99 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2014/25, dass das Recht eines Mitgliedstaats, obwohl die aufgrund der früheren Regelung geltenden Ausschlussfristen abgelaufen sind, (Überwachungs‑)Behörden, die nach dem Recht des Mitgliedstaats Aufgaben von öffentlichem Interesse wahrnehmen und zur Beobachtung von Verstößen gegen das Vergaberecht sowie zur Veranlassung von Untersuchungen von Amts wegen befugt sind, durch eine neue gesetzliche Regelung – zum Schutz der finanziellen Interessen der Union bei öffentlichen Aufträgen – allgemein ermächtigen darf, vor Inkrafttreten dieser Regelung begangene Verstöße gegen das Vergaberecht zu untersuchen sowie ein Verfahren zu veranlassen und durchzuführen?

4.      Ist es bei der Beurteilung, ob die in den Fragen 1 und 3 detailliert beschriebene, den (Überwachungs‑)Behörden eingeräumte Untersuchungsbefugnis – unter Berücksichtigung der in der ersten Frage genannten Rechtsvorschriften und Grundsätze – mit dem Unionsrecht vereinbar ist, von Bedeutung, welche rechtlichen, regulatorischen, technischen oder organisatorischen Mängel oder sonstigen Hindernisse der Grund dafür waren, dass die Untersuchung eines Verstoßes gegen das Vergaberecht zum Zeitpunkt seiner Begehung unterblieben ist?

5.      Sind Art. 41 Abs. 1 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die Erwägungsgründe 2, 25, 27 und 36 der Richtlinie 2007/66 sowie Art. 1 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 92/13 und im Zusammenhang mit diesen der allgemeine unionsrechtliche Grundsatz der Rechtssicherheit und das Erfordernis, dass gegen die Entscheidungen der öffentlichen Auftraggeber eine rasche und wirksame vergaberechtliche Nachprüfung in Anspruch genommen werden können muss, sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen, dass das nationale Gericht – auch dann, wenn den (Überwachungs‑)Behörden, die aufgrund des Rechts des Mitgliedstaats von Amts wegen zur Beobachtung von Verstößen gegen das Vergaberecht und zur Veranlassung von Untersuchungen befugt sind und Aufgaben von öffentlichem Interesse wahrnehmen, im Hinblick auf diese Grundsätze die in den Fragen 1 bis 4 genannten Zuständigkeiten eingeräumt werden dürfen – die Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit der Zeit, die zwischen der Begehung des Verstoßes, dem Ablauf der früheren Nachprüfungsfrist mit Ausschlusswirkung und dem zur Untersuchung der Rechtsverletzung eingeleiteten Verfahren vergangen ist, in die Abwägung einbeziehen und daraus die Rechtsfolgen, die sich aus der Unwirksamkeit der angefochtenen Verwaltungsentscheidung ergeben, oder andere im mitgliedstaatlichen Recht vorgesehenen Rechtsfolgen ableiten darf?

B.      Rechtssache C497/18

30.      Am 3. Juli 2009 veröffentlichte der öffentliche Auftraggeber im Amtsblatt der Europäischen Union eine Ausschreibung über die „Erbringung von Dienstleistungen, die Fachkenntnisse im Hinblick auf die Geschäftsführung des DBR-Projekts während der ersten Phase des Baus der Metrolinie 4 erfordern“. Der geschätzte Auftragswert – 90 000 000 HUF für einen Zeitraum von drei Jahren – überstieg die Schwellenwerte der Gemeinschaft (EU). Das Projekt wurde von der Europäischen Union – nach dem operationellen Programm für Transport – gefördert.

31.      Der Zuschlag wurde der Matrics Consult Ltd erteilt. Der öffentliche Auftraggeber erteilte den Auftrag am 14. Mai 2009. Er kündigte den Auftrag am 16. November 2011 mit Wirkung zum 31. Dezember 2011.

32.      Am 30. Mai 2017 veranlasste der Präsident der Behörde für das öffentliche Auftragswesen gemäß § 153 Abs. 1 Buchst. c des Vergabegesetzes von 2015 von Amt wegen ein Verfahren gegen den öffentlichen Auftraggeber und die Matrics Consult Ltd und beantragte, festzustellen, dass gegen die Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge verstoßen worden sei, und eine Geldbuße zu verhängen. Obwohl die Parteien den streitigen Auftrag nicht schriftlich geändert hatten, waren sie aufgrund ihres Verhaltens bei der Zahlung von Rechnungen und der Ausstellung von Leistungsbescheinigungen erheblich von den Zahlungsbedingungen abgewichen, die zum Zeitpunkt der Angebotsabgabe festgelegt und in den Vertrag aufgenommen worden waren. Diese Änderungen wurden als Vertragsänderungen angesehen, die einen Verstoß gegen § 303 Abs. 1 des Vergabegesetzes von 2003 begründeten, da die in dieser Vorschrift festgelegten Voraussetzungen für Vertragsänderungen nicht erfüllt waren. In seinem Nachprüfungsantrag nannte der Präsident der Behörde für das öffentliche Auftragswesen als Zeitpunkt des Verstoßes den 8. Februar 2010, den Tag, an dem die Rechnung bezahlt wurde, deren Zahlung dazu führte, dass die Parteien den im Auftrag vereinbarten Betrag der Gegenleistung überschritten. Als Zeitpunkt, an dem der Präsident der Behörde für das öffentliche Auftragswesen von dem Verstoß Kenntnis erlangt hatte, wurde der 31. März 2017 angegeben.

33.      Am 18. August 2017 stellte die Schiedskommission fest, der öffentliche Auftraggeber und die Matrics Consult Ltd hätten gegen § 303 des Vergabegesetzes von 2003 verstoßen, indem sie den im Zusammenhang mit einem Verfahren über die Vergabe eines öffentlichen Auftrags geschlossenen Vertrag rechtswidrig geändert hätten. Die Schiedskommission verhängte gegen den öffentlichen Auftraggeber eine Geldbuße in Höhe von 27 000 000 HUF und gegen die Matrics Consult Ltd eine Geldbuße in Höhe von 13 000 000 HUF.

34.      Bevor die Schiedskommission diese Feststellung zur Begründetheit traf, wies sie einen verfahrensrechtlichen Einwand im Hinblick auf die Frage zurück, ob die Einleitung des Nachprüfungsverfahrens durch den Präsidenten der Behörde für das öffentliche Auftragswesen innerhalb der anwendbaren Frist erfolgt sei. Das Schiedsgericht war der Auffassung, dass die im Vergabegesetz von 2015 festgelegten Vorschriften über Fristen auf die faktische Vertragsänderung anwendbar seien, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes vorgenommen worden sei, was bedeute, dass die Vertragsparteien nicht berechtigt seien, sich auf die Grundsätze des Rückwirkungsverbots und der Rechtssicherheit zu berufen.

35.      Der öffentliche Auftraggeber hat die Entscheidung des Schiedsgerichts vor dem vorlegenden Gericht, dem Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) angefochten. Dieses Gericht hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 41 Abs. 1 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die Erwägungsgründe 2, 25, 27 und 36 der Richtlinie 2007/66 sowie Art. 1 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 89/665 und im Zusammenhang mit diesen insbesondere der allgemeine unionsrechtliche Grundsatz der Rechtssicherheit und das Erfordernis, dass gegen die Entscheidungen der öffentlichen Auftraggeber eine rasche und wirksame vergaberechtliche Nachprüfung in Anspruch genommen werden können muss, dahin auszulegen, dass sie einer mitgliedstaatlichen Regelung entgegenstehen, die die durch sie geschaffene, insoweit zuständige (Überwachungs‑)Behörde bei vor ihrem Inkrafttreten geschlossenen Verträgen über die Vergabe eines öffentlichen Auftrags allgemein dazu ermächtigt, wegen eines vor ihrem Inkrafttreten begangenen Verstoßes gegen das Vergaberecht innerhalb der von ihr vorgesehenen Frist, aber nach Ablauf der Ausschlussfristen, die in der früheren, für die Untersuchung dieses Verstoßes maßgeblichen mitgliedstaatlichen Regelung vorgesehen waren, eine Untersuchung zu veranlassen und infolgedessen den Verstoß festzustellen und eine vergaberechtliche Sanktion zu verhängen sowie die Nichtigkeit des Vertrags über die Vergabe des öffentlichen Auftrags und deren Folgen anzuwenden?

2.      Ergibt sich aus den in Frage 1 genannten Rechtsvorschriften und Grundsätzen – außer dem Erfordernis der praktischen Wirksamkeit des subjektiven Rechts der an öffentlichen Aufträgen Interessierten auf eine Nachprüfung – auch für die (Überwachungs‑)Behörden, die durch das Recht des Mitgliedstaats geschaffen worden sind, von Amts wegen zur Beobachtung von Verstößen gegen das Vergaberecht und zur Veranlassung von Untersuchungen befugt sind und Aufgaben von öffentlichem Interesse wahrnehmen, ein Recht zur Veranlassung und Durchführung von Nachprüfungsverfahren?

3.      Folgt aus Art. 83 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2014/24, dass das Recht eines Mitgliedstaats, obwohl nach der früheren Regelung geltende Ausschlussfristen abgelaufen sind, (Überwachungs‑)Behörden, die nach dem Recht des Mitgliedstaats Aufgaben von öffentlichem Interesse wahrnehmen und von Amts wegen zur Beobachtung von Verstößen gegen das Vergaberecht sowie zur Veranlassung von Untersuchungen befugt sind, mit einer neuen gesetzlichen Regelung – zum Schutz der finanziellen Interessen der Union bei öffentlichen Aufträgen – allgemein ermächtigen darf, vor Inkrafttreten der neuen Regelung begangene Verstöße gegen das Vergaberecht zu untersuchen sowie ein Verfahren zu veranlassen und durchzuführen?

4.      Ist es bei der Beurteilung, ob die in den Fragen 1 und 3 detailliert beschriebene, den (Überwachungs‑)Behörden eingeräumte Untersuchungsbefugnis – unter Berücksichtigung der in der ersten Frage genannten Rechtsvorschriften und Grundsätze – mit dem Unionsrecht vereinbar ist, von Bedeutung, welche rechtlichen, regulatorischen, technischen oder organisatorischen Mängel oder sonstigen Hindernisse der Grund dafür waren, dass die Untersuchung eines Verstoßes gegen das Vergaberecht zum Zeitpunkt seiner Begehung unterblieben ist?

5.      Sind Art. 41 Abs. 1 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die Erwägungsgründe 2, 25, 27 und 36 der Richtlinie 2007/66 sowie Art. 1 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 89/665 und im Zusammenhang mit diesen insbesondere der allgemeine unionsrechtliche Grundsatz der Rechtssicherheit und das Erfordernis, dass gegen die Entscheidungen der öffentlichen Auftraggeber eine rasche und wirksame vergaberechtliche Nachprüfung in Anspruch genommen werden können muss, sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen, dass das nationale Gericht – auch dann, wenn den (Überwachungs‑)Behörden, die aufgrund des Rechts des Mitgliedstaats von Amts wegen zur Beobachtung von Verstößen gegen das Vergaberecht und zur Veranlassung von Untersuchungen befugt sind und Aufgaben von öffentlichem Interesse wahrnehmen, im Hinblick auf diese Grundsätze die in den Fragen 1 bis 4 genannten Zuständigkeiten eingeräumt werden dürfen – die Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit der Zeit, die zwischen der Begehung des Verstoßes, dem Ablauf der früheren Nachprüfungsfrist mit Ausschlusswirkung und dem zur Untersuchung der Rechtsverletzung eingeleiteten Verfahren vergangen ist, in die Abwägung einbeziehen und daraus die Rechtsfolgen, die sich aus der Unwirksamkeit der angefochtenen Verwaltungsentscheidung ergeben, oder andere im mitgliedstaatlichen Recht vorgesehenen Rechtsfolgen ableiten darf?

36.      Mit Beschluss vom 18. September 2018 hat der Präsident des Gerichtshofs die beiden Rechtssachen verbunden.

37.      Schriftliche Erklärungen haben der öffentliche Auftraggeber, die Schiedskommission, der Präsident der Behörde für das öffentliche Auftragswesen, die ungarische Regierung und die Europäische Kommission abgegeben. Sie alle haben in der Sitzung vom 4. September 2019 mündlich verhandelt.

IV.    Analyse

38.      Die vorliegenden Schlussanträge sind wie folgt gegliedert. Ich werde zunächst einige einleitende Bemerkungen zu den Besonderheiten des ungarischen Systems der von Behörden von Amts wegen veranlassten Nachprüfung öffentlicher Aufträge machen. Es wird ebenfalls erforderlich sein, eingangs die auf die vorliegenden Rechtssachen anwendbaren Vorschriften des Unionsrechts zu bestimmen und die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen umzuformulieren (A). Sodann werde ich mich mit Frage 2 befassen, die den Geltungsbereich der Richtlinien 89/665 und 92/13 (im Folgenden: Richtlinien über Nachprüfungsverfahren) in der Fassung der Richtlinie 2007/66 sowie der Richtlinien 2014/24 und 2014/25 betrifft: Fallen Nachprüfungen, die von Amts wegen von Behörden veranlasst werden, in den Geltungsbereich dieser Richtlinien (B)? Anschließend werde ich mich den Fragen 1, 3 und 4 zuwenden, die ich zusammen prüfen werde, da sie im Wesentlichen alle die gleiche Problematik behandeln: Steht das Unionsrecht, insbesondere der Grundsatz der Rechtssicherheit, der Veranlassung solcher Nachprüfungen von Amts wegen nach Ablauf der Nachprüfungsfristen entgegen, die in den nationalen Rechtsvorschriften festgelegt waren, die zur Zeit der behaupteten rechtswidrigen Vertragsänderungen galten (C)? Schließlich werde ich mit Frage 5 schließen, die die Befugnisse der nationalen Gerichte im Hinblick auf die Prüfung möglicher Verstöße, die von Amts wegen durch nationale Behörden vorgebracht worden sind, betrifft (D).

A.      Vorüberlegungen

1.      Das ungarische Nachprüfungssystem im Bereich der Vergabe öffentlicher Aufträge und die vorliegenden Rechtssachen

39.      Das ungarische Recht sieht zwei Arten der Nachprüfung öffentlicher Aufträge vor, die von der Identität der Person abhängen, die die Nachprüfung einleitet.

40.      Einerseits kann eine Nachprüfung von Personen beantragt werden, die ein subjektives Interesse – im Sinne eines echten Einzelinteresses – an dem streitigen öffentlichen Auftrag haben, wie etwa der erfolgreiche Bieter, die erfolglosen – tatsächlichen oder möglichen – Bieter oder sogar der maßgebliche öffentliche Auftraggeber. Diese Art der Nachprüfung ermöglicht die private Durchsetzung der Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge.

41.      Andererseits sieht das ungarische Recht auch Nachprüfungen vor, die von Amts wegen von einer Reihe von Behörden veranlasst werden können, deren Aufgabe im Schutz des Allgemeininteresses, einschließlich z. B. der Wahrung des Gesetzmäßigkeitsgrundsatzes und/oder der Überwachung der Verwendung öffentlicher Mittel, besteht. Diese Art der Nachprüfung stellt die öffentliche Durchsetzung der Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge dar.

42.      Bei dem Präsidenten der Behörde für das öffentliche Auftragswesen handelt es sich um eine dieser Behörden. Er hat nach § 153 Abs. 1 des Vergabegesetzes von 2015 das Recht, ein Verfahren von Amts wegen zu veranlassen. Ist eine solche Nachprüfung von Amts wegen veranlasst, ist es anschließend Sache der Schiedskommission, die Nachprüfung sowohl hinsichtlich der Zulässigkeit als auch hinsichtlich der Begründetheit durchzuführen. Wird ein Verstoß gegen die Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge festgestellt, kann das Schiedsgericht gegen die für den Verstoß verantwortlichen Personen eine Geldbuße verhängen. Die Verhängung einer Geldbuße scheint zwingend zu sein, wenn die Feststellung eines Verstoßes auf einer Nachprüfung beruht, die vom Präsidenten der Behörde für das öffentliche Auftragswesen nach § 153 des Vergabegesetzes von 2015 eingeleitet wurde. Ergänzend wurde in der Sitzung erläutert, dass die Feststellung eines Verstoßes auch – allerdings nur aufgrund einer Entscheidung eines ordentlichen Gerichts – zur Nichtigerklärung des Auftrags führen kann.

43.      In den vorliegenden Rechtssachen hat der Präsident der Behörde für das öffentliche Auftragswesen von Amts wegen Nachprüfungen der streitigen Änderungen der beiden öffentlichen Aufträge veranlasst. Diese Änderungen wurden jeweils 2009 und 2010 vorgenommen. Zum Zeitpunkt der Änderungen enthielt das Vergabegesetz von 2003 die anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften. Jedoch sind die Übergangsvorschriften (in § 197) des Vergabegesetzes von 2015 dahin ausgelegt worden, dass die Verfahrensvorschriften dieses Gesetzes auf Änderungen öffentlicher Aufträge Anwendung finden, die eintraten, bevor dieses Gesetz in Kraft getreten ist.

44.      Im Einklang mit dieser Argumentation veranlasste der Präsident der Behörde für das öffentliche Auftragswesen 2017, d. h. sieben bzw. acht Jahre nach der Begehung der behaupteten Verstöße, von Amts wegen Nachprüfungen vor der Schiedskommission. Zu dieser Zeit waren die vom Vergabegesetz von 2003 festgelegten Nachprüfungsfristen bereits abgelaufen. Der Präsident der Behörde für das öffentliche Auftragswesen begründete die offensichtlich verspäteten Nachprüfungen mit dem Umstand, dass er erst 2017 von den Verstößen Kenntnis erlangt habe. Die Schiedskommission prüfte anschließend, ob die Nachprüfungen unter Bezug auf das Vergabegesetz von 2015 rechtzeitig eingeleitet worden waren, und bejahte dies. In beiden Rechtssachen verhängte die Schiedskommission letztlich sowohl gegen den öffentlichen Auftraggeber als auch die Bieter die angefochtenen Geldbußen. Jedoch wurden weder die Aufträge noch die behaupteten rechtswidrigen Änderungen für nichtig erklärt.

45.      Vor diesem Sachverhalts- und Verfahrenshintergrund hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof eine Reihe von Fragen gestellt. Es ist nicht Sache dieses Gerichtshofs, die eher komplexe nationale Gesetzeslandschaft und den Verfahrenshintergrund auszulegen. Ich möchte allerdings zwei Punkte betonen, die unbestritten scheinen und die diese Schlussanträge als Ausgangspunkt nehmen.

46.      Erstens enthalten sowohl das Vergabegesetz von 2003 als auch das Vergabegesetz von 2015 Fristen, innerhalb deren eine Behörde, die berechtigt ist, von Amts wegen eine Nachprüfung zu veranlassen, tätig werden muss. Ich lege zugrunde, dass diese Vorschriften in § 327 Abs. 2 des Vergabegesetzes von 2003 und § 152 Abs. 2 des Vergabegesetzes von 2015 enthalten sind(7). Die Struktur beider Vorschriften ist vergleichbar. Sie enthalten jeweils eine Kombination aus subjektiven und objektiven Fristen. Was sich zwischen den Wiederholungen dieser Vorschriften in den Gesetzen von 2003 und 2015 geändert hat, ist die Länge der Fristen, die im Vergabegesetz von 2015 mehr als verdoppelt wurde.

47.      Zweitens – und meines Erachtens ganz entscheidend – stellt das vorlegende Gericht, ohne dass ihm einer der Beteiligten dieses Verfahrens insoweit widersprochen hätte(8), fest, dass die Nachprüfungsfristen, die zum Zeitpunkt der Änderungen in Kraft und anwendbar waren, bereits abgelaufen waren, bevor das Vergabegesetz von 2015 in Kraft getreten ist(9).

2.      Maßgebliche Vorschriften des Unionsrechts und Umformulierung der Fragen

48.      In jeder der verbundenen Rechtssachen stellt das vorlegende Gericht fünf nahezu identische Fragen(10). Unglücklicherweise ist der Wortlaut dieser Fragen nicht sehr klar. Ihre Inhalte überschneiden sich auch in gewissem Maße. Daher ist eine Umformulierung erforderlich, um dem vorlegenden Gericht im Licht des tatsächlichen und rechtlichen Kontexts der vorliegenden Rechtssachen eine zweckdienliche Antwort zu geben.

49.      Zuvor erscheint eine Bemerkung zu den maßgeblichen Vorschriften des Unionsrechts angebracht. Das vorlegende Gericht führt in seinen Fragen eine Reihe von Vorschriften der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und mehrere Richtlinien über die Vergabe öffentlicher Aufträge in Verbindung mit einigen allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts an. Jedoch scheinen für die vorliegenden Rechtssachen nur einige von ihnen in vollem Umfang maßgeblich zu sein. Dagegen mögen andere Vorschriften des Unionsrechts, die nicht angeführt wurden, durchaus einschlägig sein.

50.      Erstens denke ich nicht, dass die Art. 41 und 47 der Charta für die vorliegenden Rechtssachen maßgeblich sind. Art. 41, der das Recht auf eine gute Verwaltung betrifft, richtet sich nur an die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union(11). Gleichermaßen ist Art. 47 der Charta auf die vorliegenden Rechtssachen nicht anwendbar. Bei der Erwähnung dieses Artikels fragt sich das vorlegende Gericht, ob die Veranlassung einer Nachprüfung sieben bzw. acht Jahre nach der Begehung der behaupteten Verstöße mit der Anforderung vereinbar ist, rechtsstaatliche Verfahren innerhalb angemessener Frist durchzuführen. Auf der Grundlage der Sachverhalte der vorliegenden Rechtssachen scheint das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem Gericht im Sinne des Art. 47 indes nicht streitig zu sein. Die wahre Frage scheint in der Beachtung von Verjährungsfristen durch eine Verwaltungsbehörde zu liegen.

51.      Was zweitens die vom vorlegenden Gericht angeführten allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts angeht, ist der Grundsatz der Rechtssicherheit entscheidend für die Beantwortung der Fragen 1, 3 und 4, während dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Bedeutung für Frage 5 zukommt. Das Erfordernis rascher und wirksamer Nachprüfungsverfahren hinsichtlich der Entscheidungen öffentlicher Auftraggeber ist ausdrücklich im jeweiligen Art. 1 Abs. 1 der Richtlinien über Nachprüfungsverfahren verankert.

52.      Da sich das vorlegende Gericht allgemein auf den Schutz der finanziellen Interessen der Union berufen hat, werde ich drittens diesen Aspekt unter Berücksichtigung der Vorschriften des Unionsrechts prüfen, die vom vorlegenden Gericht nicht angeführt, aber in der Sitzung erörtert wurden, nämlich der Verordnung Nr. 2988/95(12) und der Verordnung Nr. 1083/2006(13).

53.      Wendet man sich nun den spezifischen Fragen des vorlegenden Gerichts zu, können diese meines Erachtens wie folgt neu geordnet werden.

54.      Mit Frage 2 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das Unionsrecht – vor allem die Richtlinien über Nachprüfungsverfahren, insbesondere in der Fassung der Richtlinie 2007/66, sowie die Richtlinien 2014/24 und 2014/25 – die Möglichkeit der Behörden regelt oder auf irgendeine Weise einschränkt, im öffentlichen Interesse Nachprüfungen durchzuführen. Genauer gesagt verstehe ich diese Frage so, dass der Gerichtshof gefragt wird, ob Nachprüfungen wie die in den Ausgangsverfahren streitigen in den Geltungsbereich einer dieser Richtlinien fallen.

55.      Mit Frage 1 wird der Gerichtshof darum ersucht, zu bestimmen, ob es das Unionsrecht, insbesondere der allgemeine Grundsatz der Rechtssicherheit, Behörden gestattet, Nachprüfung von Änderungen öffentlicher Aufträge einzuleiten – und eventuell Sanktionen zu verhängen –, obwohl die Fristen für solche Nachprüfungen nach den zum Zeitpunkt der Änderungen geltenden nationalen Rechtsvorschriften bereits abgelaufen waren. Die Fragen 3 und 4 betreffen die möglichen Auswirkungen der Notwendigkeit, die finanziellen Interessen der Union zu schützen, auf die Beantwortung von Frage 1. Die Fragen 1, 3 und 4 werden daher zusammen behandelt.

56.      Frage 5 wiederum ist nur maßgeblich, wenn angenommen wird, dass das Unionsrecht einer von Amts wegen veranlassten Nachprüfung unter den Umständen der vorliegenden Rechtssachen nicht entgegensteht. Berechtigt in diesem Fall das Unionsrecht, insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, nationale Gerichte, die verhängten Sanktionen zu überprüfen?

B.      Frage 2

57.      Mit Frage 2 möchte das vorlegende Gericht geklärt wissen, ob das Unionsrecht die Möglichkeit von im öffentlichen Interesse handelnder Behörden regelt oder einschränkt, von Amts wegen Nachprüfungen der Änderungen öffentlicher Aufträge einzuleiten. Fallen solche Nachprüfungen insbesondere in den Geltungsbereich der Richtlinien über Nachprüfungsverfahren in der Fassung der Richtlinie 2007/66 oder in den Geltungsbereich der Richtlinien 2014/24 und 2014/25?

58.      Dem Präsidenten der Behörde für das öffentliche Auftragswesen zufolge regeln die Richtlinien über Nachprüfungsverfahren die im öffentlichen Interesse von Behörden eingeleiteten Nachprüfungen nicht. Es sei allein Sache der Mitgliedstaaten, hierfür Vorschriften zu erlassen. Danach würden die vorliegenden Rechtssachen nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen.

59.      Die ungarische Regierung ist ebenfalls der Auffassung, die nationalen Vorschriften über die Fristen für die Einleitung von Nachprüfungen von Amts wegen im öffentlichen Interesse setzten weder die Richtlinien über Nachprüfungsverfahren um, noch fielen sie in deren Geltungsbereich. Sie stützt sich auf Art. 83 der Richtlinie 2014/24 und Art. 99 der Richtlinie 2014/25, um zu erläutern, dass sich die Befugnisse der Überwachungsbehörden ihrer Art nach grundsätzlich von der Nachprüfung unterschieden, die Wirtschaftsteilnehmern zur Verfügung stünden, die ein Interesse an der Sicherstellung eines Auftrags hätten.

60.      Nach Ansicht der Kommission verpflichten die Richtlinien über Nachprüfungsverfahren in Ermangelung entsprechender Vorschriften die Mitgliedstaaten weder dazu, von Amts wegen veranlasste Nachprüfungen der Entscheidungen öffentlicher Auftraggeber einzuführen, noch stünden sie der Einführung solcher Vorschriften entgegen. Auch Art. 83 der Richtlinie 2014/24 und Art. 99 der Richtlinie 2014/25 verlangten nicht, dass Mitgliedstaaten von Amts wegen im öffentlichen Interesse veranlasste Nachprüfungen einführten. Die Mitgliedstaaten müssten jedoch die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, einschließlich des Grundsatzes der Rechtssicherheit, wahren.

61.      Ich stimme mit der Kommission weitgehend überein. Meines Erachtens verpflichten die Richtlinien über Nachprüfungsverfahren, die Richtlinie 2014/24 und die Richtlinie 2014/25 die Mitgliedstaaten weder dazu, von Behörden von Amts wegen im öffentlichen Interesse einzuleitende Nachprüfungen vorzusehen, noch stehen sie dem entgegen. Jedoch fallen diese Nachprüfungen, auch wenn sie in diesen Richtlinien nicht vorgeschrieben sind, in den – sachlichen – Geltungsbereich dieser Richtlinien, wenn sich ein Mitgliedstaat dafür entscheidet, solche Mechanismen vorzusehen. Daher sind die Fragen des vorlegenden Gerichts, insbesondere Frage 2, zulässig.

62.      Die Richtlinien über Nachprüfungsverfahren verlangen von den Mitgliedstaaten lediglich, Nachprüfungen auf Antrag betroffener Unternehmen vorzusehen. Art. 1 Abs. 3 verlangt von den Mitgliedstaaten nämlich, sicherzustellen, dass Nachprüfungsverfahren „zumindest jeder Person zur Verfügung stehen, die ein Interesse an einem bestimmten Auftrag hat oder hatte und der durch einen behaupteten Verstoß ein Schaden entstanden ist bzw. zu entstehen droht“(14).

63.      Der Wortlaut dieser Vorschrift legt nahe, dass die Richtlinien über Nachprüfungsverfahren im Bereich der Vergabe öffentlicher Aufträge kein umfassendes Nachprüfungssystem erfordern. Wie der Gerichtshof festgestellt hat, „[ist] die Richtlinie 89/665, wie sich insbesondere aus ihrem Art. 1 Abs. 3 ergibt, nicht auf eine vollständige Harmonisierung der einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften gerichtet …“(15). Sie legt als Mindesterfordernis – „zumindest“ – fest, dass die Mitgliedstaaten einen Nachprüfungsmechanismus für Unternehmen und nicht notwendigerweise ebenso für im öffentlichen Interesse handelnde Behörden vorsehen.

64.      Diese Auslegung wird durch den Zusammenhang und den Zweck des Art. 1 Abs. 3 der Richtlinien über Nachprüfungsverfahren in der Fassung der Richtlinie 2007/66 bestätigt. Was erstens den Gesamtkontext von Art. 1 Abs. 3 angeht, hat der Unionsgesetzgeber Mechanismen eingeführt, die auf eine Stärkung des Rahmens für von Unternehmen eingeleitete Nachprüfungen gerichtet sind(16). Was zweitens das System und den Zweck der Richtlinien über Nachprüfungsverfahren angeht, so zielen sie nach ständiger Rechtsprechung darauf ab, Bieter vor der Willkür des öffentlichen Auftraggebers zu schützen und die effektive Anwendung der Unionsvorschriften im Bereich des öffentlichen Auftragswesens zu gewährleisten, vor allem dann, wenn Verstöße noch beseitigt werden können(17). Daraus folgt, dass, obwohl die Wahrung der Gesetzmäßigkeit sicher ebenso ein wesentliches Ziel der Richtlinien über die Nachprüfungsverfahren darstellt, die in diesen Richtlinien zur Erreichung dieses Ziels vorgesehene Art der Nachprüfung eindeutig von den Wirtschaftsteilnehmern einzuleiten ist, wie dies auch der 27. Erwägungsgrund der Richtlinie 2007/66 nahelegt(18).

65.      Der Umstand, dass die Richtlinie 2007/66 auch den sogenannten „Korrekturmechanismus“(19) vorsieht, ändert nichts an diesem Ergebnis. Nach diesem Mechanismus ist die Kommission berechtigt, die Beseitigung schwerer Verstöße gegen das Unionsrecht zu verlangen, die bei einem Vergabeverfahren vorliegen. Selbst wenn sich vertreten ließe, dass dieser Mechanismus die öffentliche Durchsetzung der Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge betrifft, kann daraus nicht abgeleitet werden, dass die Richtlinien über Nachprüfungsverfahren in der Fassung der Richtlinie 2007/66 verlangen, dass die Mitgliedstaaten Nachprüfungen im öffentlichen Interesse einführen. Im Gegenteil, dieser Mechanismus zeigt vielmehr, dass die Richtlinien über Nachprüfungsverfahren keine andere Form der Nachprüfung im öffentlichen Interesse vorsehen.

66.      Aus demselben Grund können Art. 83 der Richtlinie 2014/24 und Art. 99 der Richtlinie 2014/25, deren Wortlaut identisch ist, nicht dahin ausgelegt werden, dass sie von den Mitgliedstaaten verlangen, einen Nachprüfungsmechanismus im öffentlichen Interesse, wie den in den Ausgangsverfahren streitigen, einzuführen.

67.      Art. 83 der Richtlinie 2014/24 und Art. 99 der Richtlinie 2014/25 verlangen lediglich, dass Gerichte oder andere geeignete Behörden oder Strukturen auf bestimmte Verstöße oder systematische Probleme bezüglich der Anwendung der Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge „hingewiesen“ werden können. Daher besteht keine Verpflichtung, tatsächlich Verfahren anzustrengen, sondern lediglich in Fällen, in denen bestimmte Verstöße festgestellt werden, eine entsprechende Möglichkeit. Nach Art. 83 der Richtlinie 2014/24 und Art. 99 der Richtlinie 2014/25 scheint die Hauptaufgabe der Behörden eher darin zu bestehen, strukturelle Probleme zu melden und geeignete Abhilfemaßnahmen vorzuschlagen(20).

68.      Obwohl Art. 83 der Richtlinie 2014/24 und Art. 99 der Richtlinie 2014/25 eindeutig die öffentliche Durchsetzung der Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge fördern(21), verlangen sie somit von den Mitgliedstaaten nicht, Nachprüfungsmechanismen wie die in den Ausgangsverfahren streitigen einzuführen.

69.      Daraus folgt, dass die Richtlinien über Nachprüfungsverfahren, die Richtlinie 2014/24 und die Richtlinie 2014/25 weder von den Mitgliedstaaten verlangen, andere Arten der Nachprüfung, wie eine von Behörden von Amts wegen im Interesse der Gesetzmäßigkeit und zum Schutz öffentlicher Mittel eingeleitete Nachprüfung, einzuführen, noch dass sie dem entgegenstehen.

70.      Wenn allerdings ein Mitgliedstaat solche Nachprüfungsmechanismen tatsächlich einführt, fallen diese Nachprüfungen, insbesondere ihre Auswirkungen und Ergebnisse, dennoch in den Anwendungsbereich des Unionsrechts.

71.      Soweit erstens öffentliche Aufträge in den sachlichen Geltungsbereich der Richtlinien über die Vergabe öffentlicher Aufträge fallen, unterfallen auch Änderungen dieser Verträge dem Unionsrecht(22). Logischerweise fallen die Nachprüfungen solcher Änderungen in den Anwendungsbereich des Unionsrechts, soweit mit ihnen die Einhaltung der materiell-rechtlichen Unionsrechtsvorschriften im Bereich des öffentlichen Auftragswesens bei Änderungen öffentlicher Aufträge sichergestellt werden soll.

72.      Zweitens – und als Hilfsargument – betrifft die spezifische Art der in den vorliegenden Rechtssachen streitigen Nachprüfung die Richtlinien 2014/24 und 2014/25. Obwohl Art. 83 und Art. 99 dieser beiden Richtlinien jeweils von den Mitgliedstaaten nicht verlangen, eine Nachprüfung wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende einzuführen, stellen solche Nachprüfungen doch eine der möglichen – im Ermessen der Mitgliedstaaten liegenden – Ausdrucksformen der neuen Rolle dar, die den Überwachungsbehörden durch Art. 83 der Richtlinie 2014/24 und Art. 99 der Richtlinie 2014/25 zugewiesen wurden.

73.      Jedes andere Ergebnis hätte die eigenartige Folge, dass die Regelung des Gegenstands des von Amts wegen veranlassten öffentlichen Nachprüfungsverfahrens – nämlich der öffentliche Auftrag selbst und seine Änderungen – vom Unionsrecht harmonisiert wäre, während die möglicherweise erheblichen Folgen der Nachprüfung – gegen den öffentlichen Auftraggeber oder die Bieter verhängte Sanktionen oder die Nichtigerklärung des Auftrags –, die Auswirkungen für das gesamte Angebotsverfahren haben könnten, nur deshalb nicht in den ansonsten harmonisierten Bereich fallen würden, weil das Verfahren von einer Behörde eingeleitet worden ist. Dies kann schwerlich zutreffend sein.

74.      Andererseits bedeutet der Umstand, dass es keine spezifische Harmonisierungsmaßnahme der Union gibt, die diese Art der Nachprüfung regelt, dass auf solche Nachprüfungsverfahren nur die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts anwendbar sind.

75.      Daher ist Frage 2 wie folgt zu beantworten: Die Richtlinien über Nachprüfungsverfahren, die Richtlinie 2014/24 und die Richtlinie 2014/25 verlangen weder von den Mitgliedstaaten, von Behörden von Amts wegen veranlasste Nachprüfungen behaupteter Verstöße gegen die Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge einzuführen, noch stehen sie dem entgegen. Werden sie jedoch eingeführt und eingeleitet, fallen solche Nachprüfungen in den Anwendungsbereich des Unionsrechts.

C.      Fragen 1, 3 und 4

76.      Mit den Fragen 1, 3 und 4 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob es das Unionsrecht – insbesondere die allgemeinen Grundsätze der Rechtssicherheit und des Schutzes der finanziellen Interessen der Union – Behörden gestattet, auf der Grundlage neu eingeführter Vorschriften des nationalen Rechts oder des Unionsrechts eine Nachprüfung von Änderungen eines öffentlichen Auftrags auch dann einzuleiten – und eventuell Geldbußen zu verhängen –, wenn die Nachprüfungsfristen nach den zur Zeit der Änderung geltenden nationalen Rechtsvorschriften bereits abgelaufen sind.

77.      Meiner Meinung nach ist dies eindeutig zu verneinen.

1.      Der Unionsgrundsatz der Rechtssicherheit

78.      Das vorlegende Gericht erkennt an, dass Art. 83 der Richtlinie 2014/24 und Art. 99 der Richtlinie 2014/25 die Rolle der Überwachungsbehörden stärken. Es fragt sich jedoch, ob das Unionsrecht, insbesondere der Grundsatz der Rechtssicherheit, die ihnen erteilten Befugnisse begrenzt oder ob eine Berufung auf § 194 des Vergabegesetzes von 2015, der diese Vorschriften umgesetzt hat, möglich ist, um bereits abgelaufene Fristen „wieder in Gang zu setzen“ und so die Ausübung dieser neuen Befugnisse zu ermöglichen.

79.      Dem öffentlichen Auftraggeber zufolge verstoßen die in den Ausgangsverfahren streitigen, von Amts wegen vorgenommenen Nachprüfungen gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit. Selbst wenn das Vergabegesetz von 2015 den Behörden neue Befugnisse verliehen habe, könne dies bereits abgelaufene Fristen nicht wieder in Gang setzen.

80.      Nach Ansicht der Schiedskommission räumt das ungarische Recht dem Präsidenten der Behörde über das öffentliche Auftragswesen eine Frist von 60 Tagen ab dem Zeitpunkt, an dem er von dem Verstoß Kenntnis erlangt habe, ein, um von Amts wegen eine Nachprüfung zu veranlassen. Eine solche Nachprüfung könne bis zum 31. Dezember 2020 eingeleitet werden, was dem Ende der Pflicht entspreche, die maßgeblichen Belege zur Einsicht aufzubewahren.

81.      Die ungarische Regierung erkennt die Bedeutung des Grundsatzes der Rechtssicherheit an. Dieser Grundsatz erfordere, dass die Wirkungen von Rechtsvorschriften klar, eindeutig und vorhersehbar seien. Jedoch ist diese Regierung der Ansicht, die streitigen nationalen Vorschriften seien vorhersehbar.

82.      Nach der Auffassung der Kommission steht der Grundsatz der Rechtssicherheit einer von Amts wegen veranlassten Nachprüfung einer Entscheidung eines öffentlichen Auftraggebers, die zur Verhängung einer Geldbuße führe, entgegen, wenn die hierfür geltenden Fristen bereits abgelaufen seien. Fristen könnten nur unter außergewöhnlichen Umständen wieder in Gang gesetzt werden, die in den vorliegenden Rechtssachen nicht vorlägen.

83.      Meines Erachtens steht der Unionsgrundsatz der Rechtssicherheit – mit Ausnahme sehr außergewöhnlicher Umstände – der „Wiedereröffnung“ bereits abgelaufener Fristen entgegen.

84.      Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs finden neue Rechtsnormen grundsätzlich sofort auf die künftigen Wirkungen eines Sachverhalts Anwendung, der sich unter dem alten Recht ergeben hat. Etwas anderes gilt nur – und vorbehaltlich des Verbots der Rückwirkung von Rechtsakten –, wenn zusammen mit der Neuregelung besondere Vorschriften getroffen werden, die speziell die Voraussetzungen für ihre zeitliche Geltung regeln(23).

85.      Nach gleichfalls gefestigter Rechtsprechung ist bei Verfahrensvorschriften im Allgemeinen davon auszugehen, dass sie auf alle bei ihrem Inkrafttreten anhängigen Rechtsstreitigkeiten anwendbar sind, während materiell-rechtliche Vorschriften üblicherweise dahin ausgelegt werden, dass sie nicht auf Sachverhalte Anwendung finden, die vor ihrem Inkrafttreten bestanden(24). Dem Gerichtshof zufolge „[gewährleistet] diese Auslegung … die Beachtung der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, nach denen die [Unions‑]Gesetzgebung klar und für die Betroffenen vorhersehbar sein muss“(25).

86.      Allgemeiner gesprochen gebietet der Grundsatz der Rechtssicherheit – der einen der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts darstellt –, dass Rechtsvorschriften – vor allem dann, wenn sie nachteilige Folgen für Einzelne und Unternehmen haben können – klar, bestimmt und in ihren Auswirkungen vorhersehbar sein müssen, damit sich die Betroffenen bei unter das Unionsrecht fallenden Tatbeständen und Rechtsbeziehungen orientieren können(26). Derselbe Grundsatz ist vom nationalen Gesetzgeber zu beachten, wenn er ein Gesetz im Anwendungsbereich des Unionsrechts erlässt(27).

87.      Was Verjährungsfirsten angeht, so müssen sie im Voraus festgelegt sein, um die Rechtssicherheit zu gewährleisten(28) und hinreichend vorhersehbar zu sein(29).

88.      In den vorliegenden Rechtssachen steht nicht die Anwendung neuer Verfahrensvorschriften auf andauernde Sachverhalte zur Diskussion. Ohne die Diskussion über die Frage wieder aufzunehmen, ob Verjährungsfristen Verfahrens- oder materiell-rechtliche Vorschriften darstellen(30), ist es meines Erachtens wichtiger, dass die Rechtsposition hinsichtlich der Fristen abgeschlossen war (und der Verjährung unterlag).

89.      Es sei nochmals daran erinnert(31), dass nach den zuvor anwendbaren Rechtsvorschriften, nämlich § 327 Abs. 2 des Vergabegesetzes von 2003, die – objektiven – Fristen drei Jahre nach der Begehung des Verstoßes abliefen. Somit sind sie im Hinblick auf die Rechtssache C‑496/18 2012 abgelaufen.  In der Rechtssache C‑497/18 trat die Verjährung für die Veranlassung der Nachprüfung 2013 ein.  2015 trat der neue § 153 Abs. 1 Buchst. c des Vergabegesetzes von 2015 in Kraft. 2017 wurde geltend gemacht, der Lauf der neuen Fristen habe 2015 begonnen und sie ermöglichten die Wiedereröffnung der Nachprüfung der streitigen Änderungen der öffentlichen Aufträge(32).

90.      Wenn mein Verständnis dieser Tatsachen und des nationalen Rechts – die letztendlich beide vom nationalen Gericht zu überprüfen sind – zutrifft, besteht meines Erachtens keine andauernde Rechtsposition, auf die neue Verfahrensvorschriften Anwendung finden. Dies stellt ein Beispiel echter Rückwirkung dar. Bereits abgelaufene Fristen sollen durch den Erlass neuer Rechtsvorschriften, die neue Fristen vorsehen, wieder in Gang gesetzt werden.

91.      Würde akzeptiert, dass bereits abgelaufene Nachprüfungsfristen unter normalen Umständen jedes Mal wiedereröffnet – oder tatsächlich zurückgesetzt – werden könnten, wenn neue nationale Vorschriften, die allgemeine Fristen enthalten, eingeführt werden, könnte dies zu einer Situation führen, in der Änderungen von Aufträgen tatsächlich ohne zeitliche Begrenzung nachprüfbar wären(33). Auf diese Weise könnten nationale Rechtsvorschriften durch den bloßen Erlass neuer Fristen die Uhr unendlich zurückstellen. Dieses Ergebnis ist im Licht des Grundsatzes der Rechtssicherheit offensichtlich untragbar.

92.      Es sind – zumindest vor diesem Gerichtshof – keine zwingenden Gründe vorgebracht worden, die eine solche Wiedereröffnung von Fristen und eine tatsächliche – echte – Rückwirkung neuer Vorschriften rechtfertigen könnten. Eine solche Rückwirkung ist nur unter außergewöhnlichen Umständen möglich, wenn das zu erreichende Ziel diese Rückwirkung erfordert und der Vertrauensschutz der Betroffenen gebührend beachtet ist(34).

93.      Bevor ich mich den von der Schiedskommission und der ungarischen Regierung vorgebrachten Argumenten zu dem Zweck, der der Auslegung der zeitlichen Vorschriften zugrunde liegt, zuwende (vgl. unten, Abschnitte 2, 3 und 4), möchte ich feststellen, dass die Festlegung neuer Fristen in neuen Rechtsvorschriften, die auf Ereignisse anwendbar sind, die Jahre zurückliegen, kaum als vorhersehbar oder den Vertrauensschutz der Betroffenen respektierend bezeichnet werden kann. Darüber hinaus stimme ich mit der Kommission darin überein, dass es § 197 des Vergabegesetzes von 2015, der die zeitliche Anwendbarkeit dieses Gesetzes regelt, an Klarheit und daher an Vorhersehbarkeit für die Vertragsparteien fehlt. Somit enthält diese Vorschrift nichts, das dem nahekäme, was geboten wäre, um eine solche – echte – Rückwirkung zu rechtfertigen.

94.      Frage 1 ist daher wie folgt zu beantworten: Der Grundsatz der Rechtssicherheit steht der Anwendung nationaler Vorschriften entgegen, die von Amts wegen veranlasste Nachprüfungen von Verstößen gegen Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge, die vor ihrem Inkrafttreten begangen wurden, in einer Situation ermöglichen, in der die nach den früher geltenden nationalen Rechtsvorschriften festgelegten Fristen bereits abgelaufen waren.

2.      Die neue Rolle der Überwachungsbehörden nach Art. 83 der Richtlinie 2014/24 und Art. 99 der Richtlinie 2014/25

95.      Die Schiedskommission argumentiert, in den vorliegenden Rechtssachen gehe es nicht um die (Wieder‑)Eröffnung von Fristen, die bereits nach den früheren, zur Zeit der Änderungen geltenden Verfahrensvorschriften abgelaufen seien, sondern darum, im Kontext der Nachprüfung durch die Verwaltung die Ausübung neuer Überwachungsbefugnisse zu ermöglichen, die in Art. 83 der Richtlinie 2014/24 und Art. 99 der Richtlinie 2014/25 festgelegt seien. Der Vorgänger der Behörde für die öffentliche Auftragsvergabe habe nicht über eine solche Nachprüfungsbefugnis verfügt. Folglich ermögliche das Vergabegesetz von 2015 nicht die Wiedereröffnung einer abgelaufenen Frist, sondern die Ausübung einer vollkommen neuen Befugnis. Der Präsident der Behörde über das öffentliche Auftragswesen und die ungarische Regierung stimmen dieser Ansicht mit einigen geringfügigen Abweichungen weitgehend zu.

96.      Ich muss zugeben, dass mich dieses Argument verblüfft.

97.      Unter dem Vorbehalt der Überprüfung durch das nationale Gericht scheint mir, dass das Vergabegesetz von 2003 bereits die Möglichkeit bestimmter Behörden enthielt, Nachprüfungen von Amts wegen im öffentlichen Interesse einzuleiten(35). Die Neufassung des Gesetzes von 2015 führte nämlich zu Änderungen dieser Befugnis und legte auf entscheidende Weise neue, längere Fristen für ihre Ausübung fest(36). Die Befugnis zur Durchführung dieser Art der Nachprüfung kann jedoch kaum als neu beschrieben werden.

98.      Außerdem ist festzustellen, dass Art. 83 der Richtlinie 2014/24 und Art. 99 der Richtlinie 2014/25 zeitlich nicht auf die vorliegenden Rechtssachen anwendbar sind. Zudem sind, wie in der Sitzung bestätigt wurde, diese Vorschriften durch § 194 des Vergabegesetzes von 2015 umgesetzt worden. Die in den Ausgangsverfahren streitigen Nachprüfungen wurden jedoch auf der Grundlage des § 153 und nicht des § 194 eingeleitet.

3.      Der Schutz der finanziellen Interessen der Union

99.      Mit Frage 3 fragt das vorlegende Gericht ausdrücklich danach, ob die Antwort auf Frage 1 von dem Umstand beeinflusst werden könnte, dass die in Rede stehenden Ausschreibungen von der Union gefördert wurden. Mit anderen Worten, wie es das vorlegende Gericht ausdrückt: Gibt es über die Rechtssicherheit hinaus andere öffentliche Interessen, wie den Schutz der finanziellen Interessen der Union, die es rechtfertigen könnten, die Nachprüfung öffentlicher Aufträge nach Ablauf der hierfür geltenden Fristen, möglicherweise bis 2020, zu ermöglichen(37)?

100. Im Kontext der Frage 3 stützt sich das vorlegende Gericht auf Art. 83 der Richtlinie 2014/24 und Art. 99 der Richtlinie 2014/25. Es erläutert auch, dass nach dem Vergabegesetz von 2015 die Frist für eine im öffentlichen Interesse veranlasste Nachprüfung öffentlicher Aufträge, die unter Verwendung von Fördermitteln der Union ausgeführt wurden, an die Dauer der Verpflichtung geknüpft wurde, Belege – in Verbindung mit den Fördermitteln der Union – zur Einsicht aufzubewahren, so dass der nationale Gesetzgeber dadurch diese Fristen verlängern konnte.

101. Dem öffentlichen Auftraggeber zufolge kann der Schutz der finanziellen Interessen der Union mit anderen Mitteln als einer von Amts wegen im öffentlichen Interesse veranlassten Nachprüfung gewährleistet werden, z. B. durch finanzielle Berichtigungen, die jederzeit möglich seien. Finanzielle Berichtigungen seien in den vorliegenden Rechtssachen bereits vorgenommen worden, so dass die Verhängung von Bußgeldern praktisch eine zweite Strafe für dieselben behaupteten Verstöße darstelle.

102. Nach Ansicht der Schiedskommission sind die streitigen, von Amts wegen veranlassten Nachprüfungen in erster Linie auf den Schutz der öffentlichen Mittel, insbesondere der finanziellen Interessen der Union, gerichtet.

103. Nach Auffassung der ungarischen Regierung liegt eines der Ziele von § 152 Abs. 2 Buchst. c des Vergabegesetzes von 2015 darin, dass das Verfahren von Amts wegen jederzeit innerhalb der Frist eingeleitet werden könne, für die Art. 90 der Verordnung Nr. 1083/2006 die Pflicht auferlege, sämtliche Belege für Ausgaben und Prüfungen im Rahmen des betreffenden operationellen Programms zur Einsicht aufzubewahren. Außerdem zeigten Art. 83 der Richtlinie 2014/24 und Art. 99 der Richtlinie 2014/25 aus der Perspektive des Unionsrechts die Bedeutung der Gewährleistung der Überwachung öffentlicher Ausgaben.

104. Der Kommission zufolge gebietet der Umstand, dass ein Verstoß gegen Vorschriften für die öffentliche Auftragsvergabe ein Projekt betrifft, das teilweise mit Unionsmitteln finanziert wurde, nicht, dass die Mitgliedstaaten die Fristen für die Untersuchung dieses Verstoßes wiedereröffnen. Selbst wenn sie dies im Namen des Schutzes der finanziellen Interessen der Union täten, müssten die Mitgliedstaaten den allgemeinen Unionsgrundsatz der Rechtssicherheit beachten.

105. Ich stimme der Kommission zu.

106. Es ist darauf hinzuweisen, dass Art. 83 der Richtlinie 2014/24 und Art. 99 der Richtlinie 2014/25 für den Schutz der finanziellen Interessen der Union nicht unmittelbar maßgeblich sind. Zugegebenermaßen bestand der ursprünglich von der Kommission vorgelegte Vorschlag für die Richtlinien auf der Berücksichtigung des Unionshaushalts(38). Jedoch findet der Schutz der finanziellen Interessen der Union in der derzeit geltenden Fassung des Art. 83 der Richtlinie 2014/24 und des Art. 99 der Richtlinie 2014/25 keine Erwähnung.

107. Daher stellen vielmehr die Verordnung Nr. 1083/2006 und die Verordnung Nr. 2988/95 die maßgeblichen Rechtsakte des sekundären Unionsrechts dar(39).

108. Was erstens die von Art. 90 der Verordnung Nr. 1083/2006 festgelegte Pflicht angeht, sämtliche Belege für Ausgaben zur Einsicht aufzubewahren, ist sie nicht notwendigerweise mit der Möglichkeit verbunden, während derselben Zeitdauer Nachprüfungsverfahren – und die Verhängung von Sanktionen – zu ermöglichen.

109. Wie vom öffentlichen Auftraggeber in der mündlichen Verhandlung zu Recht festgestellt wurde, unterscheiden sich Verjährungsfristen für die Einleitung von Nachprüfungen schlechterdings von Aufbewahrungsfristen für Belege. Natürlich könnte ein nationaler (oder Unions‑)Gesetzgeber beschließen, als Materie der Gesetzesgestaltung in beiderlei Hinsicht die gleichen Fristen anzuwenden. Eine solche Entscheidung müsste jedoch in den anwendbaren Rechtsvorschriften klar und unmissverständlich vorgesehen werden, da das eine nicht automatisch aus dem anderen folgt. In gleicher Weise gebietet Art. 98 der Verordnung Nr. 1083/2006 den Mitgliedstaaten lediglich, während dieses Zeitraums Unregelmäßigkeiten zu untersuchen und finanzielle Berichtigungen vorzunehmen. Er sieht keine Nachprüfungen und erst recht keine Strafen als Mittel zur Abhilfe festgestellter Unregelmäßigkeiten bei der Verwendung von Unionsmitteln vor.

110. Zweitens kann der Schutz der finanziellen Interessen der Union nicht dahin ausgelegt werden, dass ihm einfach ganz selbstverständlich Vorrang vor dem Unionsgrundsatz der Rechtssicherheit zukommt. Vielmehr muss der Schutz der finanziellen Interessen der Union gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit abgewogen werden. Dies wird normalerweise durch die Einführung klarer und vorhersehbarer Fristen erreicht. Somit müssen, während die Bedeutung des Schutzes der finanziellen Interessen anzuerkennen ist, selbst rechtswidrige Entscheidungen zu einem bestimmten Zeitpunkt in Bestandskraft erwachsen.

111. Ohne einen Standpunkt zu ihrer Anwendbarkeit in den spezifischen vorliegenden Rechtssachen einzunehmen, soll die Verordnung Nr. 2988/95 zur Veranschaulichung dieser Abwägung dienen(40). Nach Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 beträgt die Standardverjährungsfrist für die Verfolgung vier Jahre ab Begehung der Unregelmäßigkeit. Die Verjährung tritt jedoch spätestens zu dem Zeitpunkt ein, zu dem eine Frist, die doppelt so lang ist wie die Verjährungsfrist, abläuft, ohne dass die zuständige Behörde eine Sanktion verhängt hat(41). Dies wird zur Verfolgung des Ziels, die finanziellen Interessen der Union zu schützen, als geeignet angesehen(42).

112. Diese Vorschriften veranschaulichen, dass der Schutz der finanziellen Interessen nach Unionsrecht weder verlängerbare Fristen noch eine zeitlich unbegrenzte Nachprüfung rechtfertigt. Wie der Gerichtshof festgestellt hat, darf, selbst wenn die Mitgliedstaaten die Möglichkeit erhalten haben, eine längere Frist als vier Jahre anzuwenden, eine längere Frist u. a. nicht offensichtlich über das hinausgehen, was zur Erreichung des Ziels erforderlich ist, die finanziellen Interessen der Union zu schützen. Die Beurteilung, ob Verjährungsfristen angemessen sind, hängt von den „Rechtstraditionen und davon ab …, was in ihren Rechtsordnungen jeweils als der Zeitraum angesehen wird, der für eine umsichtige Verwaltung erforderlich und ausreichend ist, um Unregelmäßigkeiten zum Nachteil der Behörden und der nationalen Haushalte zu verfolgen“(43).

113. Somit besteht, was nationale Verjährungsfristen angeht, in der Tat ein Vorbehalt im Hinblick auf die angemessene Dauer der ursprünglichen Fristen. Die äußere Grenze stellt die Angemessenheit dar. Nur wenn die ursprünglichen Fristen zu kurz waren, um die Effektivität der Nachprüfung(44) zu gewährleisten, kann die Frage ihrer Geeignetheit gestellt werden. Jedenfalls rechtfertigt dieser Grundsatz sicherlich nicht automatisch eine echte Rückwirkung oder – noch weniger – eine selektive Außerachtlassung anwendbarer Fristen, weil die Verwaltungsbehörden, aus welchem Grund auch immer, nicht in der Lage waren, rechtzeitig zu handeln.

114. Ich glaube, es ist nicht erforderlich im Kontext der Ausgangsverfahren die Rechtssache Taricco(45) und ihre möglichen Auswirkungen auf die vorliegenden Rechtssachen zu erörtern. Der Sachverhalt dieser Rechtssache unterscheidet sich sehr von denen der vorliegenden Rechtssachen. Die Rechtssache Taricco betraf strafrechtliche Sanktionen wegen Mehrwertsteuerbetrugs – die Mehrwertsteuer stellt Eigenmittel der Union dar –, wobei die Verjährungsfristen noch nicht abgelaufen waren, als die neuen Rechtsvorschriften eingeführt wurden. Darüber hinaus betraf die Hauptfrage den Umstand, dass die Verjährungsfrist zu kurz war, und dadurch die Anwendung wirksamer und abschreckender Strafen als Antwort auf gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteten Betrug verhinderte.

115. Jedenfalls würde ich im Licht der nachfolgend in den Urteilen in den Rechtssachen M.A.S. und Scialdone(46) vorgenommenen Klarstellungen die Rechtssache Taricco nicht als ein gutes Präjudiz zu der spezifischen Frage ansehen, ob Fristen, die normalerweise gelten, im Namen und um des Schutzes der finanziellen Interessen der Union willen außer Acht gelassen werden können.

4.      Mängel des Nachprüfungsverfahrens

116. Mit Frage 4 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Antwort auf Frage 1 von dem Umstand, dass es zum Zeitpunkt der Begehung des Verstoßes keine Untersuchung des Verstoßes gegen die Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge gab, und den möglichen Gründen für diesen Mangel an einer Untersuchung beeinflusst werden kann.

117. Nach Ansicht der Schiedskommission und des Präsidenten der Behörde über das öffentliche Auftragswesen war es auf Regulierungsmängel im Vergabegesetz von 2003 zurückzuführen, dass die rechtswidrigen Auftragsänderungen entdeckt werden konnten. Der öffentliche Auftraggeber habe keine Informationsmitteilung bezüglich Änderung der Aufträge eingereicht, und die veröffentlichten Bekanntmachungen über die Ausführung der Aufträge hätten keinen Verstoß nahegelegt. Demzufolge habe der Vorgänger des Präsidenten der Behörde für das öffentliche Auftragswesen nicht über die Angaben verfügt, die es ihm ermöglicht hätten, die Ausführung und Änderung des Auftrags zu prüfen. Kurz gesagt habe das Vergabegesetz von 2003 nicht den Grad an Transparenz und Verwaltungsaufsicht gewährleistet, der später im Vergabegesetz von 2015 erreicht worden sei. Daher sei die Anwendung letzterer nationaler Vorschriften erforderlich gewesen.

118. Dieses Argument kann relativ leicht zurückgewiesen werden.

119. Angenommen, es war tatsächlich so, dass solche strukturellen Mängel bestanden hätten, die einer Überwachung und Durchsetzung der Vorschriften für die öffentliche Auftragsvergabe von Amts wegen entgegengestanden hätten(47), würde dieser Umstand es jedoch nicht rechtfertigen, auf Maßnahmen mit echter Rückwirkung zurückzugreifen, um solchen Mängeln nachträglich abzuhelfen. Der Grundsatz des römischen Rechts nemo auditur propriam turpitudinem allegans gilt traditionell im Bereich des Zivilrechts. Ich denke, er könnte ebenso auf eine staatliche oder andere Behörde angewendet werden, die bestimmte Vorschriften gestaltet und angewandt hat. Hat sie vielleicht später erkannt, dass diese Vorschriften, deren Entwicklung und Anwendung in ihrer alleinigen Verantwortung lagen, nicht auf eine optimale Weise griffen, kann ihr nicht gestattet werden, die Uhr vollkommen zurückzustellen und zum Nachteil der Betroffenen eine zweite Chance zu erhalten.

120. Es ist daher Sache der Mitgliedstaaten, zu gewährleisten, dass sie Verstöße gegen ihre eigenen Gesetze wirksam überwachen. Mängel ihrer eigenen Gesetze oder ihrer Durchsetzung dürfen nicht durch Zurücksetzung bereits abgelaufener Fristen gegen Dritte gewendet werden(48).

D.      Frage 5

121. Der Wortlaut von Frage 5 ist nicht sehr klar. Ich verstehe sie wie folgt: Das vorlegende Gericht geht von der Annahme aus, dass der Gerichtshof auf Frage 2 nicht die in den vorliegenden Schlussanträgen vorgeschlagene, sondern die gegenteilige Antwort gibt. Wenn somit unter den Umständen der vorliegenden Rechtssachen Überprüfungen von Amts wegen durchgeführt werden können, berechtigt das Unionsrecht – insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – nationale Gerichte, die die im Kontext solcher Nachprüfungen verhängten Sanktionen beurteilen, bestimmte Aspekte der Rechtssache zu untersuchen, um über die Geeignetheit der Sanktion zu entscheiden?

122. Nach Ansicht der Schiedskommission sollten nationale Gerichte nicht in der Lage sein, die angefochtene Verwaltungsentscheidung für unwirksam zu erklären oder andere Rechtsfolgen zu verhängen, da das Schiedsgericht in Ausübung seiner Befugnis die vom vorlegenden Gericht vorgebrachten Angaben bereits beurteilt habe. Insbesondere habe das Schiedsgericht bei der Entscheidung über den Betrag der Bußgelder den Umstand berücksichtigt, dass zwischen dem Verstoß und der Einleitung der Nachprüfung mehrere Jahre vergangen waren. Nationale Gerichte sollten in dieser Hinsicht keine neue Beurteilung vornehmen.

123. Der ungarischen Regierung zufolge ist es Sache des nationalen Gesetzgebers, über die Befugnisse der nationalen Gerichte im Hinblick auf ihre Beurteilung der Entscheidung des Schiedsgerichts und die Art der rechtlichen Folgen zu entscheiden, die sich daraus ergeben können.

124. Die Kommission sieht keine Notwendigkeit, sich gesondert mit Frage 5 zu befassen, da sie sich mit Frage 1 überschneide.

125. Da ich vorgeschlagen habe, Frage 1 zu verneinen – der Grundsatz der Rechtssicherheit des Unionsrechts steht einer von Amts wegen durchgeführten Nachprüfung möglicher Verstöße gegen Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge in Fällen entgegen, in denen die anwendbaren Firsten bereits abgelaufen waren –, besteht in der Tat keine Notwendigkeit, sich mit Frage 5 zu befassen. Es ist daher unter den Umständen der vorliegenden Rechtssachen nicht erforderlich, zu prüfen, ob die nationalen Gerichte, die über solche Fälle verhandeln, die Sanktionen konkret, im Licht von Umständen wie der abgelaufenen Zeit, dem Umstand, dass Fristen nach früheren Rechtsvorschriften bereits abgelaufen waren, oder der Schwere des Verstoßes beurteilen können.

126. Abgesehen davon sei statt eines Ergebnisses erwähnt, dass die spezifische Art der Nachprüfung von in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallenden Verwaltungsentscheidungen Gegenstand der Entscheidung eines nationalen Gesetzgebers ist(49), sofern entweder in der Phase der Nachprüfung durch die Verwaltung oder der Nachprüfung durch ein Gericht gewährleistet ist, dass die Verhältnismäßigkeit der Sanktion, die einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt, gebührend beurteilt wird(50).

V.      Ergebnis

127. Ich schlage dem Gerichtshof vor, die vom Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) gestellten Fragen wie folgt zu beantworten:

–        Die Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge, die Richtlinie 92/13/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Gemeinschaftsvorschriften über die Auftragsvergabe durch Auftraggeber im Bereich der Wasser‑, Energie- und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor, die Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG und die Richtlinie 2014/25/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die Vergabe von Aufträgen durch Auftraggeber im Bereich der Wasser‑, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/17/EG verlangen von den Mitgliedstaaten weder, von Behörden von Amts wegen veranlasste Nachprüfungen behaupteter Verstöße gegen die Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge einzuführen, noch stehen sie dem entgegen. Werden sie jedoch eingeführt und veranlasst, fallen solche Nachprüfungen und ihre Ergebnisse in den Anwendungsbereich des Unionsrechts.

–        Der Grundsatz der Rechtssicherheit steht der Anwendung nationaler Rechtsvorschriften entgegen, die eine von Amts wegen veranlasste Nachprüfung von Verstößen gegen Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge, die vor dem Inkrafttreten dieser neuen Vorschriften begangen wurden, unter Umständen ermöglichen, in denen die zu diesem Zweck in den früher geltenden nationalen Rechtsvorschriften festgelegten Fristen bereits abgelaufen waren.


1      Originalsprache: Englisch.


2      ABl. 1989, L 395, S. 33.


3      ABl. 1992, L 76, S. 14.


4      Richtlinie 2007/66/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2007 zur Änderung der Richtlinien 89/665/EWG und 92/13/EWG des Rates im Hinblick auf die Verbesserung der Wirksamkeit der Nachprüfungsverfahren bezüglich der Vergabe öffentlicher Aufträge (ABl. 2007, L 335, S. 31).


5      ABl. 2014, L 94, S. 65.


6      ABl. 2014, L 94, S. 243.


7      Wiedergegeben oben in Nrn. 12 und 15 dieser Schlussanträge.


8      Das von dem Präsidenten der Behörde für das öffentliche Auftragswesen und der Schiedskommission vorgebrachte und oben in Nrn. 26, 34 und 44 wiedergegebene Argument scheint anderer Art zu sein; es geht dahin, dass für nach 2015 veranlasste Nachprüfungen einschließlich solcher in Bezug auf vor 2015 vorgenommene Änderungen öffentlicher Aufträge die Fristen des Vergabegesetzes von 2015 anwendbar wurden.


9      Wie oben in Nr. 23 dieser Schlussanträge festgestellt, wurde in der Rechtssache C‑496/18 ein Nachprüfungsverfahren bezüglich der Änderung des Auftrags von der Sol-Data SA und der HUNGEOD Kft von Amts wegen von einer anderen ungarischen Behörde, nämlich der Generaldirektion für die Prüfung Europäischer Fördermittel, eingeleitet. Die Schiedskommission wies aber am 9. November 2010 diesen Antrag als verspätet zurück. Ich kann nur annehmen, dass dies unter Anwendung der damals – 2010 – geltenden Frist geschah, die dem Vergabegesetz von 2003 entstammte.


10      Der einzige Unterschied zwischen ihnen liegt in dem Umstand, dass unterschiedliche Richtlinien über die Vergabe öffentlicher Aufträge anwendbar sind. In der Rechtssache C‑496/18 finden die Richtlinie 92/13 und Art. 99 der Richtlinie 2014/25 Anwendung, während dies in der Rechtssache C‑497/18 die Richtlinie 89/665 und die Richtlinie 2014/24 sind.


11      Vgl. Urteile vom 21. Dezember 2011, Cicala (C‑482/10, EU:C:2011:868, Rn. 28), vom 17. Juli 2014, YS u. a. (C‑141/12 und C‑372/12, EU:C:2014:2081, Rn. 67), vom 5. November 2014, Mukarubega (C‑166/13, EU:C:2014:2336, Rn. 44), vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses (C‑419/14, EU:C:2015:832, Rn. 83), und vom 9. März 2017, Doux (C‑141/15, EU:C:2017:188, Rn. 60).


12      Verordnung (EG, EURATOM) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1995, L 312, S. 1).


13      Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates vom 11. Juli 2006 mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 (ABl. 2006, L 210, S. 25). Diese Verordnung ist mit Wirkung vom 1. Januar 2014 aufgehoben worden.


14      Hervorhebung nur hier.


15      Vgl. Urteil vom 21. Oktober 2010, Symvoulio Apochetefseon Lefkosias (C‑570/08, EU:C:2010:621, Rn. 37).


16      Insbesondere führte die Richtlinie 2007/66 Mindestfristen und Stillhaltefristen zugunsten der Bieter – vor allem der nicht erfolgreichen – in Vergabeverfahren ein, um die Wirksamkeit ihres Nachprüfungsrechts zu gewährleisten. Vgl. Art. 2a Abs. 1 und Art. 2c der Richtlinien über Nachprüfungsverfahren in der Fassung der Richtlinie 2007/66.


17      Vgl. z. B. Urteile vom 11. September 2014, Fastweb (C‑19/13, EU:C:2014:2194, Rn. 34), vom 12. März 2015, eVigilo (C‑538/13, EU:C:2015:166, Rn. 50), und vom 15. September 2016, Star Storage u. a. (C‑439/14 und C‑488/14, EU:C:2016:688, Rn. 41).


18      „Da diese Richtlinie die einzelstaatlichen Nachprüfungsverfahren stärkt, insbesondere in Fällen der rechtswidrigen freihändigen Vergabe, sollten die Wirtschaftsteilnehmer ermutigt werden, diese neuen Mechanismen zu nutzen.“


19      Vgl. Art. 3 der Richtlinien über die Nachprüfungsverfahren.


20      Vgl. in diesem Sinne den Vorschlag der Kommission für die Richtlinie 2014/24 (KOM[2011] 896 endgültig, S. 14).


21      Dies spiegelt den Trend wieder, zu mehr öffentlicher Durchsetzung der Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge aufzurufen, der ebenso in Teilen der Literatur über das öffentliche Auftragswesen sichtbar ist. Vgl. z. B. Sanchez-Graells, A., „‚If it ain’t broke, don’t fix it‘? EU requirements of administrative oversight and judicial protection for public contracts“, in Folliot Lalliot, L., und Torricelli, S. (Hrsg.), Contrôles et contentieux des contrats publics – Oversight and Challenges of public contracts, Bruylant, Brüssel, 2018, S. 495.


22      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Juni 2008, pressetext Nachrichtenagentur (C‑454/06, EU:C:2008:351), und vom 7. September 2016, Finn Frogne (C‑549/14, EU:C:2016:634). Vgl. ebenso Art. 72 der Richtlinie 2014/24 und Art. 89 der Richtlinie 2014/25, die die ersten umfassenden Vorschriften des Unionsrechts darstellen, die Änderungen öffentlicher Aufträge während ihrer Laufzeit behandeln.


23      Vgl. z. B. Urteile vom 26. März 2015, Kommission/Moravia Gas Storage (C‑596/13 P, EU:C:2015:203, Rn. 32), vom 6. Oktober 2015, Kommission/Andersen (C‑303/13 P, EU:C:2015:647, Rn. 50), und vom 15. Januar 2019, E.B. (C‑258/17, EU:C:2019:17, Rn. 50).


24      Vgl. z. B. Urteile vom 12. November 1981, Meridionale Industria Salumi u. a. (212/80 bis 217/80, EU:C:1981:270, Rn. 9), vom 14. November 2002, Ilumitrónica (C‑251/00, EU:C:2002:655, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 9. März 2006, Beemsterboer Coldstore Services (C‑293/04, EU:C:2006:162, Rn. 19).


25      Vgl. z. B. Urteile vom 12. November 1981, Meridionale Industria Salumi u. a. (212/80 bis 217/80, EU:C:1981:270, Rn. 10), und vom 12. Mai 2005, Kommission/Huhtamaki Dourdan (C‑315/03, nicht veröffentlicht, EU:C:2005:284, Rn. 51).


26      Vgl. z. B. Urteile vom 8. Dezember 2011, France Télécom/Kommission (C‑81/10 P, EU:C:2011:811, Rn. 100 und die dort angeführte Rechtsprechung), vom 11. Juni 2015, Berlington Hungary u. a. (C‑98/14, EU:C:2015:386, Rn. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 17. Oktober 2018, Klohn (C‑167/17, EU:C:2018:833, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).


27      Vgl. Urteil vom 26. April 2005, „Goed Wonen“ (C‑376/02, EU:C:2005:251, Rn. 34).


28      Vgl. z. B. Urteil vom 15. Juli 1970, ACF Chemiefarma/Kommission (41/69, EU:C:1970:71, Rn. 19), bezüglich der Befugnis der Kommission zur Verhängung von Geldbußen bei Zuwiderhandlungen gegen Wettbewerbsvorschriften. Vgl. ebenso Urteile vom 11. Juli 2002, Marks & Spencer (C‑62/00, EU:C:2002:435, Rn. 39), und vom 5. Mai 2011, Ze Fu Fleischhandel und Vion Trading  (C‑201/10 und C‑202/10, EU:C:2011:282, Rn. 52).


29      Vgl. im Kontext von Verjährungsfristen für die Rückzahlung zu Unrecht erhaltener Erstattungen Urteile vom 5. Mai 2011, Ze Fu Fleischhandel und Vion Trading (C‑201/10 und C‑202/10, EU:C:2011:282, Rn. 32 bis 34), und vom 17. September 2014, Cruz & Companhia (C‑341/13, EU:C:2014:2230, Rn. 58).


30      Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Scialdone (C‑574/15, EU:C:2017:553, Nrn. 145 bis 166).


31      Vgl. oben, Nrn. 46 bis 47 dieser Schlussanträge.


32      Da die streitigen Projekte der öffentlichen Auftragsvergabe Unionsmittel erhalten haben, ist die Schiedskommission der Auffassung, dass sich die Fristen für von Amts wegen durchgeführte Nachprüfungen möglicherweise bis zum 31. Dezember 2020 erstrecken, somit zehn bzw. elf Jahre nach der Vornahme der angeblich rechtswidrigen Änderungen.


33      Es erübrigt sich, dies unter Umständen zu erwähnen, in denen sich alle maßgeblichen Tatsachen Jahre oder sogar Jahrzehnte zuvor ereignet haben. In den vorliegenden Rechtssachen haben sich offensichtlich alle Tatsachen ereignet, als das Vergabegesetz von 2003 galt. Das einzige Ereignis, das unter der Geltung des Vergabegesetzes von 2015 eingetreten ist, war, dass die maßgebliche Behörde erklärte, sie habe – subjektiv – von dem Verstoß Kenntnis erlangt.


34      Vgl. z. B. Urteil vom 15. Juli 2004, Gerekens und Procola (C‑459/02, EU:C:2004:454, Rn. 24).


35      Vgl. die §§ 307 und 327 des Vergabegesetzes von 2003.


36      Vgl. oben, Nr. 46 dieser Schlussanträge.


37      Vgl. § 80 Abs. 3 der Regierungsverordnung 4/2001 in der Auslegung der Schiedskommission.


38      Vgl. KOM(2011) 896 endgültig, insbesondere Art. 83 Abs. 3 und Art. 84 Abs. 2 des Entwurfs der Richtlinie 2014/24.


39      Vgl. oben, Nr. 52 dieser Schlussanträge.


40      Diese Verordnung beinhaltet – im Gegensatz zu den sektorbezogenen – die allgemeinen Rechtsvorschriften zum Schutz der finanziellen Interessen der Union durch Prüfungen und verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen. Zum strafrechtlichen Aspekt siehe Richtlinie (EU) 2017/1371 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2017 über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug (ABl. 2017, L 198, S. 29).


41      Es ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 12 der Richtlinie 2017/1371 die Standardfrist für gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete Straftaten fünf Jahre beträgt.


42      Vgl. z. B. Urteil vom 5. Mai 2011, Ze Fu Fleischhandel und Vion Trading (C‑201/10 und C‑202/10, EU:C:2011:282, Rn. 43).


43      Vgl. Urteil vom 5. Mai 2011,  Ze Fu Fleischhandel und Vion Trading (C‑201/10 und C‑202/10, EU:C:2011:282, Rn. 38 bis 39).


44      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. November 2015, MedEval (C‑166/14, EU:C:2015:779, Rn. 39 bis 44). Darüber hinaus entspricht es ständiger Rechtsprechung, dass „die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Einlegung von Rechtsbehelfen grundsätzlich dem sich aus [den Richtlinien über die Nachprüfungsverfahren] ergebenden Effektivitätsgebot genügt, da sie ein Anwendungsfall des grundlegenden Prinzips der Rechtssicherheit ist“. Vgl. z. B. Urteil vom 12. Dezember 2002, Universale-Bau u. a. (C‑470/99, EU:C:2002:746, Rn. 76), vom 21. Januar 2010, Kommission/Deutschland (C‑17/09, nicht veröffentlicht, EU:C:2010:33, Rn. 22), und vom 12. März 2015, eVigilo (C‑538/13, EU:C:2015:166, Rn. 51).


45      Vgl. Urteil vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C‑105/14, EU:C:2015:555).


46      Vgl. Urteile vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936), und vom 2. Mai 2018, Scialdone (C‑574/15, EU:C:2018:295).


47      Es sei, wie oben, in Nr. 23 angeführt, nur daran erinnert, dass zumindest in der Rechtssache C‑496/18 tatsächlich eine Nachprüfung von Amts wegen nach dem Vergabegesetz von 2003 – wenn auch erfolglos – eingeleitet worden war.


48      Es sei daran erinnert, dass in den beiden vorliegenden Rechtssachen Sanktionen nicht nur gegen den öffentlichen Auftraggeber, sondern auch gegen die erfolgreichen Bieter verhängt wurden – vgl. oben, Nrn. 28 und 33. Während möglicherweise ein größerer Spielraum bestehen könnte, wenn ein Mitgliedstaat seine eigenen Ministerien oder Emanationen überwachen und Etat-Sanktionen gegen sie verhängen möchte, während er bereits erteilte Aufträge unberührt lässt, ist es eine vollkommen andere Sache, Vergabeverfahren wiederzueröffnen, Sanktionen gegen alle Teilnehmer zu verhängen und sogar möglicherweise die fraglichen Aufträge einige Jahre später zu annullieren.


49      Vgl. jedoch analog die Anforderungen an die Effektivität einer solchen nationalen institutionellen Entscheidung im Urteil vom 29. Juli 2019, Torubarov (C‑556/17, EU:C:2019:626, Rn. 64 bis 66 und 77).


50      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Februar 2012, Urbán (C‑210/10, EU:C:2012:64, Rn. 23), und meine Schlussanträge in der Rechtssache Link Logistik N&N (C‑384/17, EU:C:2018:494, Nrn. 104 bis 112).