Language of document : ECLI:EU:T:2022:725

URTEIL DES GERICHTS (Neunte erweiterte Kammer)

23. November 2022(*)

„Umwelt und Schutz der menschlichen Gesundheit – Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 – Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen – Delegierte Verordnung (EU) 2020/217 – Einstufung von Titandioxid in Pulverform mit mindestens 1 % Partikel mit aerodynamischem Durchmesser von höchstens 10 μm – Kriterien für die Einstufung eines Stoffes als karzinogen – Zuverlässigkeit und Anerkennung von Untersuchungen – Stoff mit der intrinsischen Eigenschaft, Krebs zu erzeugen – Berechnung der Lungenüberlastung mit Partikeln – Offensichtliche Beurteilungsfehler“

In den verbundenen Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20 und in der Rechtssache T‑283/20,

CWS Powder Coatings GmbH mit Sitz in Düren (Deutschland), vertreten durch Rechtsanwälte R. van der Hout und C. Wagner sowie Rechtsanwältin V. Lemonnier,

Klägerin in der Rechtssache T‑279/20,

unterstützt durch

Billions Europe Ltd mit Sitz in Stockton-on-Tees (Vereinigtes Königreich) und die weiteren Streithelferinnen, deren Namen im Anhang aufgeführt sind(1), vertreten durch Rechtsanwälte J.‑P. Montfort und T. Delille sowie Rechtsanwältin P. Chopova-Leprêtre,

durch

Ettengruber GmbH Abbruch und Tiefbau mit Sitz in Dachau (Deutschland),

Ettengruber GmbH Recycling und Verwertung mit Sitz in Dachau,

vertreten durch Rechtsanwälte van der Hout und Wagner sowie Rechtsanwältin Lemonnier,

und durch

TIGER Coatings GmbH & Co. KG mit Sitz in Wels (Österreich), vertreten durch Rechtsanwälte van der Hout und Wagner sowie Rechtsanwältin Lemonnier,

Streithelferinnen in der Rechtssache T‑279/20,

Billions Europe Ltd mit Sitz in Stockton-on-Tees und die weiteren Klägerinnen, deren Namen im Anhang aufgeführt sind(2), vertreten durch Rechtsanwälte Montfort und Delille sowie Rechtsanwältin Chopova-Leprêtre,

Klägerinnen in der Rechtssache T‑283/20,

unterstützt durch

Conseil européen de l’industrie chimique – European Chemical Industry Council (Cefic) mit Sitz in Brüssel (Belgien), vertreten durch Rechtsanwalt D. Abrahams sowie Rechtsanwältinnen Z. Romata und H. Widemann,

durch

Conseil européen de l’industrie des peintures, des encres d’imprimerie et des couleurs d’art (CEPE) mit Sitz in Brüssel,

British Coatings Federation Ltd (BCF) mit Sitz in Coventry (Vereinigtes Königreich),

American Coatings Association, Inc. (ACA) mit Sitz in Washington, DC (Vereinigte Staaten von Amerika),

vertreten durch Rechtsanwalt D. Waelbroeck und Rechtsanwältin I. Antypas,

und durch

Mytilineos SA mit Sitz in Maroussi (Griechenland),

Delfi-Distomon Anonymos Metalleftiki Etaireia mit Sitz in Maroussi,

vertreten durch Rechtsanwälte Montfort und Delille sowie Rechtsanwältin Chopova-Leprêtre,

Streithelfer in der Rechtssache T‑283/20,

Brillux GmbH & Co. KG mit Sitz in Münster (Deutschland),

Daw SE mit Sitz in Ober-Ramstadt (Deutschland),

vertreten durch Rechtsanwälte van der Hout und Wagner sowie Rechtsanwältin Lemonnier,

Klägerinnen in der Rechtssache T‑288/20,

unterstützt durch

Billions Europe Ltd mit Sitz in Stockton-on-Tees und die weiteren Streithelferinnen, deren Namen im Anhang aufgeführt sind(3), vertreten durch Rechtsanwälte Montfort und Delille sowie Rechtsanwältin Chopova-Leprêtre,

durch

Sto SE & Co. KGaA mit Sitz in Stühlingen (Deutschland), vertreten durch Rechtsanwälte van der Hout und Wagner sowie Rechtsanwältin Lemonnier,

und durch

Rembrandtin Coatings GmbH mit Sitz in Wien (Österreich), vertreten durch Rechtsanwälte van der Hout und Wagner sowie Rechtsanwältin Lemonnier,

Streithelferinnen in der Rechtssache T‑288/20,

gegen

Europäische Kommission, in den verbundenen Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20 vertreten durch S. Delaude, R. Lindenthal und M. Noll‑Ehlers und in der Rechtssache T‑283/20 durch A. Dawes, S. Delaude und R. Lindenthal als Bevollmächtigte,

Beklagte,

unterstützt durch

Königreich Dänemark, vertreten durch M. Søndahl Wolff als Bevollmächtigte,

durch

Französische Republik, in den verbundenen Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20 vertreten durch T. Stéhelin, W. Zemamta, G. Bain und J.‑L. Carré und in der Rechtssache T‑283/20 durch E. de Moustier und W. Zemamta als Bevollmächtigte,

durch

Königreich der Niederlande, in der Rechtssache T‑279/20 vertreten durch M. Bulterman und C. Schillemans, in der Rechtssache T‑283/20 durch M. Bulterman und J. Langer und in der Rechtssache T‑288/20 durch M. Bulterman, J. Langer und C. Schillemans als Bevollmächtigte,

durch

Königreich Schweden, in den verbundenen Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20 vertreten durch C. Meyer‑Seitz und in der Rechtssache T‑283/20 durch O. Simonsson, C. Meyer-Seitz, A. Runeskjöld, M. Salborn Hodgson, H. Shev, H. Eklinder und R. Shahsavan Eriksson als Bevollmächtigte,

durch

Europäische Chemikalienagentur (ECHA), vertreten durch A. Hautamäki und J.‑P. Trnka als Bevollmächtigte,

Streithelfer in den verbundenen Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20 und in der Rechtssache T‑283/20,

durch

Republik Slowenien, vertreten durch V. Klemenc als Bevollmächtigte,

Streithelferin in der Rechtssache T‑283/20,

durch

Europäisches Parlament, vertreten durch C. Ionescu Dima, W. Kuzmienko und B. Schäfer als Bevollmächtigte,

und durch

Rat der Europäischen Union, vertreten durch A.‑L. Meyer und T. Haas als Bevollmächtigte,

Streithelfer in den verbundenen Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20,

erlässt

DAS GERICHT (Neunte erweiterte Kammer)

zum Zeitpunkt der Beratung unter Mitwirkung der Präsidentin M. J. Costeira (Berichterstatterin), der Richterinnen M. Kancheva und T. Perišin sowie der Richter P. Zilgalvis und I. Dimitrakopoulos,

Kanzler: S. Jund und I. Kurme, Verwaltungsrätinnen,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens, insbesondere des Beschlusses vom 11. März 2022 über die Verbindung der Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20 zu gemeinsamem mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer das Verfahren beendender Entscheidung,

auf die mündlichen Verhandlungen vom 12. Mai 2022 in den verbundenen Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20 sowie vom 18. Mai 2022 in der Rechtssache T‑283/20

folgendes

Urteil

1        Mit ihren Klagen nach Art. 263 AEUV beantragen die Klägerinnen, die CWS Powder Coatings GmbH (im Folgenden: Klägerin zu 1), die Billions Europe Ltd und die weiteren Klägerinnen, deren Namen im Anhang aufgeführt sind (im Folgenden: Klägerinnen zu 2), sowie die Brillux GmbH & Co. KG und die Daw SE (im Folgenden: Klägerinnen zu 3), die Delegierte Verordnung (EU) 2020/217 der Kommission vom 4. Oktober 2019 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen zwecks Anpassung an den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt und zur Berichtigung der Verordnung (ABl. 2020, L 44, S. 1, im Folgenden: angefochtene Verordnung) für nichtig zu erklären, soweit sie die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung von Titandioxid in Pulverform mit mindestens 1 % Partikel mit aerodynamischem Durchmesser von höchstens 10 μm betrifft.

I.      Vorgeschichte des Rechtsstreits

2        Die Klägerinnen sind Herstellerinnen, Importeurinnen, nachgeschaltete Anwenderinnen und Lieferantinnen von Titandioxid.

3        Titandioxid ist ein anorganischer chemischer Stoff mit der Molekularformel TiO2, der in der Natur vorkommen oder industriell hergestellt werden kann und der insbesondere in Form eines Weißpigments wegen seiner färbenden und deckenden Eigenschaften in diversen Produkten wie Farben, Beschichtungsstoffen, Lacken, Kunststoffen, Laminatpapier, Kosmetik, Arzneimitteln oder Spielzeug verwendet wird.

4        Im Mai 2016 legte die Agence nationale de sécurité sanitaire de l’alimentation, de l’environnement et du travail (Nationale Agentur für Lebensmittelsicherheit, Umweltsicherheit und Arbeitsschutz) (ANSES, Frankreich, im Folgenden: zuständige französische Behörde) der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) gemäß Art. 37 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen, zur Änderung und Aufhebung der Richtlinien 67/548/EWG und 1999/45/EG und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 (ABl. 2008, L 353, S. 1) ein Dossier vor, in dem sie die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung von Titandioxid als karzinogenen Stoff bei Einatmen Kategorie 1B (Carc. 1B, H350i) vorschlug (im Folgenden: Einstufungsvorschlag).

5        Am 31. Mai 2016 wurde das Dossier, das die zuständige französische Behörde der ECHA vorgelegt hatte, gemäß Art. 37 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1272/2008 veröffentlicht. Mehrere betroffene Interessenträger gaben fristgerecht ihre Stellungnahmen ab.

6        Am 14. September 2017 gab der Ausschuss für Risikobeurteilung der ECHA (im Folgenden: RAC) gemäß Art. 37 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1272/2008 eine Stellungnahme über Titandioxid ab (im Folgenden: Stellungnahme des RAC). Die im Konsensverfahren angenommene Stellungnahme des RAC gelangte zu dem Ergebnis, dass die Einstufung von Titandioxid als karzinogener Stoff der Kategorie 2 mit dem Gefahrenhinweis „H351 (Einatmen)“ gerechtfertigt sei.

7        Auf der Grundlage der Stellungnahme des RAC arbeitete die Europäische Kommission den Entwurf einer Verordnung über die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung u. a. von Titandioxid aus, der vom 11. Januar bis zum 8. Februar 2019 Gegenstand einer öffentlichen Konsultation war.

8        Am 18. Februar 2020 erließ die Kommission auf der Grundlage der Stellungnahme des RAC die angefochtene Verordnung, mit der sie u. a. die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung von Titandioxid vornahm (Erwägungsgründe 2 und 5 der angefochtenen Verordnung).

9        Insoweit wurde mit der angefochtenen Verordnung erstens in Anhang VI Teil 3 Tabelle 3 der Verordnung Nr. 1272/2008, die die Liste der harmonisierten Einstufungen und Kennzeichnungen enthält, eine neue Zeile mit der chemischen Bezeichnung von „Titandioxid; [in Pulverform mit mindestens 1 % Partikel mit aerodynamischem Durchmesser ≤ 10 μm]“, der Gefahrenklasse „Karzinogenität“, der Gefahrenkategorie „2“, dem Gefahrenpiktogramm „GHS 08 Wng“ und dem Gefahrenhinweis „H351 (Einatmen)“ eingefügt (Art. 1 Nr. 3 und Anhang III Nr. 2 Buchst. c der angefochtenen Verordnung).

10      Außerdem wurde mit der angefochtenen Verordnung in Anhang VI Teil 1 Nr. 1.1.3.1 der Verordnung Nr. 1272/2008 folgende Anmerkung angefügt (Art. 1 Nr. 3 und Anhang III Nr. 1 Buchst. a der angefochtenen Verordnung):

„Anmerkung W:

Es wurde festgestellt, dass die Gefahr einer karzinogenen Wirkung dieses Stoffes besteht, wenn lungengängiger Staub in Mengen eingeatmet wird, die zu einer signifikanten Beeinträchtigung der natürlichen Reinigungsmechanismen für Partikel in den Lungen führen.

Diese Anmerkung soll die spezifische Toxizität des Stoffes beschreiben und stellt kein Kriterium für die Einstufung gemäß dieser Verordnung dar“ (im Folgenden: Anmerkung W).

11      Zweitens wurde mit der angefochtenen Verordnung in Anhang VI Teil 1 Nr. 1.1.3.2 der Verordnung Nr. 1272/2008 folgende Anmerkung angefügt (Art. 1 Nr. 3 und Anhang III Nr. 1 Buchst. b der angefochtenen Verordnung):

„Anmerkung 10:

Die Einstufung als ‚karzinogen bei Einatmen‘ gilt nur für Gemische in Pulverform mit einem Gehalt von mindestens 1 % Titandioxid in Partikelform oder eingebunden in Partikel mit einem aerodynamischen Durchmesser von ≤ 10 μm.“

12      Drittens wurde mit der angefochtenen Verordnung ein neuer Abschnitt 2.12 in Anhang II Teil 2 der Verordnung Nr. 1272/2008 eingefügt, der die Hinweise EUH211 und EUH212 betrifft, die das Kennzeichnungsetikett auf der Verpackung von flüssigen und festen Titandioxid enthaltenden Gemischen tragen muss. Dieser Abschnitt 2.12 lautet wie folgt (Art. 1 Nr. 1 und Anhang I der angefochtenen Verordnung):

„2.12. Gemische, die Titandioxid enthalten

Das Kennzeichnungsetikett auf der Verpackung von flüssigen Gemischen, die mindestens 1 % Titandioxidpartikel mit einem aerodynamischen Durchmesser von höchstens 10 μm enthalten, muss folgenden Hinweis tragen:

EUH211: ‚Achtung! Beim Sprühen können gefährliche lungengängige Tröpfchen entstehen. Aerosol oder Nebel nicht einatmen.‘

Das Kennzeichnungsetikett auf der Verpackung von festen Gemischen, die mindestens 1 % Titandioxidpartikel enthalten, muss folgenden Hinweis tragen:

EUH212: ‚Achtung! Bei der Verwendung kann gefährlicher lungengängiger Staub entstehen. Staub nicht einatmen.‘

Das Kennzeichnungsetikett auf der Verpackung von flüssigen und festen Gemischen, die nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt sind und nicht als gefährlich eingestuft wurden sowie mit EUH211 oder EUH212 gekennzeichnet sind, muss zusätzlich den Hinweis EUH210 tragen.“

13      Viertens wurden mit der angefochtenen Verordnung die Gefahrenhinweise EUH211 und EUH212 in allen Amtssprachen der Europäischen Union in Anhang III Teil 3 („Ergänzende Kennzeichnungselemente/Informationen über bestimmte Gemische“) der Verordnung Nr. 1272/2008 angefügt (Art. 1 Nr. 2 und Anhang II der angefochtenen Verordnung).

14      Ferner wurden mit der angefochtenen Verordnung – auf der Grundlage weiterer vom RAC abgegebener Stellungnahmen – die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung bestimmter anderer Stoffe eingeführt, aktualisiert oder gestrichen (Erwägungsgründe 3, 4, 6 und 8 sowie Art. 1 der angefochtenen Verordnung).

15      Nach Art. 3 der angefochtenen Verordnung gelten die Änderungen an der Verordnung Nr. 1272/2008 über die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung von Titandioxid in Pulverform mit mindestens 1 % Partikel mit aerodynamischem Durchmesser von höchstens 10 μm (im Folgenden: angefochtene Einstufung und Kennzeichnung) ab dem 1. Oktober 2021.

II.    Anträge der Parteien

16      Die Klägerin zu 1, unterstützt durch die Klägerinnen zu 2, die Ettengruber GmbH Abbruch und Tiefbau, die Ettengruber GmbH Recycling und Verwertung und die TIGER Coatings GmbH & Co. KG, die Klägerinnen zu 2, unterstützt durch den Conseil européen de l’industrie chimique – European Chemical Industry Council (Verband der europäischen chemischen Industrie) (Cefic), den Conseil européen de l’industrie des peintures, des encres d’imprimerie et des couleurs d’art (Europäischer Verband der Farben‑, Druckfarben- und Künstlerfarbenhersteller)  (CEPE), die British Coatings Federation Ltd (BCF), die American Coatings Association, Inc. (ACA), die Mytilineos SA und die Delfi-Distomon Anonymos Metalleftiki Etaireia, sowie die Klägerinnen zu 3, unterstützt durch die Klägerinnen zu 2, die Sto SE & Co. KGaA und die Rembrandtin Coatings GmbH, beantragen,

–        die angefochtene Verordnung für nichtig zu erklären, soweit sie die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung betrifft;

–        der Beklagten die Kosten aufzuerlegen.

17      Die Kommission, unterstützt durch das Königreich Dänemark, die Französische Republik, das Königreich der Niederlande, das Königreich Schweden, die Republik Slowenien und die ECHA, beantragt,

–        die Klagen abzuweisen;

–        den Klägerinnen die Kosten aufzuerlegen.

18      Das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union beantragen zur Unterstützung der Kommission, die im Rahmen des neunten Klagegrundes in der Rechtssache T‑279/20 und in der Rechtssache T‑288/20 erhobene Einrede der Rechtswidrigkeit zurückzuweisen.

III. Rechtliche Würdigung

19      Nachdem die Parteien insoweit angehört wurden und keine Einwände erhoben, entscheidet das Gericht gemäß Art. 68 Abs. 1 seiner Verfahrensordnung, die Rechtssache T‑283/20 mit den verbundenen Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20 zu gemeinsamer das Verfahren beendender Entscheidung zu verbinden.

20      Die Klägerinnen zu 1 und zu 3 stützen ihre Klagen in der Rechtssache T‑279/20 bzw. der Rechtssache T‑288/20 auf neun übereinstimmende Klagegründe, die sich größtenteils mit den sechs Klagegründen überschneiden, die die Klägerinnen zu 2 in der Rechtssache T‑283/20 geltend gemacht haben. Die Klagegründe lassen sich im Wesentlichen wie folgt darstellen.

21      Erstens machen die Klägerinnen und die sie unterstützenden Streithelferinnen mit dem zweiten Klagegrund, dem ersten und dem fünften Teil des siebten Klagegrundes und dem achten Klagegrund in den verbundenen Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20 sowie mit dem Vorbringen der Klägerinnen zu 2 im Rahmen ihres Streithilfeschriftsatzes in diesen Rechtssachen und im Rahmen des ersten Klagegrundes in der Rechtssache T‑283/20 im Wesentlichen geltend, dass die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung mit offensichtlichen Beurteilungsfehlern behaftet sei und gegen die in der Verordnung Nr. 1272/2008 festgelegten Kriterien für eine Einstufung eines Stoffes als karzinogen verstoße.

22      Zweitens tragen die Klägerinnen mit dem dritten und dem vierten Klagegrund, dem siebten und dem achten Teil des siebten Klagegrundes und dem achten Klagegrund in den verbundenen Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20 sowie mit dem zweiten Klagegrund in der Rechtssache T‑283/20 im Wesentlichen vor, dass die Anordnung, die Hinweise EUH211 und EUH212 auf dem Kennzeichnungsetikett von Titandioxid enthaltenden flüssigen und festen Gemischen anzubringen, gegen Art. 25 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1272/2008 und den Grundsatz der Rechtssicherheit verstoße.

23      Drittens machen die Klägerinnen mit dem sechsten Klagegrund und dem sechsten Teil des siebten Klagegrundes in den verbundenen Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20 sowie mit dem dritten Klagegrund in der Rechtssache T‑283/20 geltend, dass die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße.

24      Viertens rügen die Klägerinnen mit dem fünften Klagegrund und dem zweiten Teil des siebten Klagegrundes in den verbundenen Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20 sowie mit dem sechsten Klagegrund in der Rechtssache T‑283/20, dass gegen die Interinstitutionelle Vereinbarung vom 13. April 2016 zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat der Europäischen Union und der Europäischen Kommission über bessere Rechtsetzung (ABl. 2016, L 123, S. 1) verstoßen worden sei und vor Erlass der angefochtenen Verordnung keine Folgenabschätzung vorgenommen worden sei.

25      Fünftens machen die Klägerinnen mit dem dritten Teil des siebten Klagegrundes in den verbundenen Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20 sowie dem vierten Klagegrund in der Rechtssache T‑283/20 geltend, dass die Kommission von ihrem Ermessen unzutreffend Gebrauch gemacht und gegen die Sorgfaltspflicht verstoßen habe. Diese Klagegründe überschneiden sich größtenteils mit den oben in Rn. 21 genannten, soweit mit ihnen offensichtliche Beurteilungsfehler gerügt werden.

26      Sechstens rügen die Klägerin zu 1 und die Klägerinnen zu 3 mit dem ersten Klagegrund in den verbundenen Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20 einen Verstoß gegen Art. 53c der Verordnung Nr. 1272/2008 sowie mit dem vierten Teil des siebten Klagegrundes einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung. Mit dem neunten Klagegrund machen sie im Wege der Einrede hilfsweise geltend, dass die Verordnung Nr. 1272/2008 wegen eines Verstoßes gegen Art. 290 AEUV unanwendbar sei.

27      Siebtens tragen die Klägerinnen zu 2 mit dem fünften Klagegrund in der Rechtssache T‑283/20 vor, dass gegen Art. 37 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1272/2008 und den Grundsatz der guten Verwaltung verstoßen sowie das Recht auf Anhörung verletzt worden sei.

A.      Vorbemerkungen zur harmonisierten Einstufung und Kennzeichnung, nach der von Stoffen die Gefahr einer karzinogenen Wirkung ausgeht

28      Vorab ist festzustellen, dass der Zweck der Verordnung Nr. 1272/2008 nach dem ersten Erwägungsgrund und Art. 1 Abs. 1 darin besteht, ein hohes Schutzniveau für die menschliche Gesundheit und für die Umwelt sicherzustellen sowie den freien Verkehr von chemischen Stoffen, Gemischen und bestimmten spezifischen Erzeugnissen auf dem Unionsmarkt zu gewährleisten. Wie sich insbesondere aus den Erwägungsgründen 5 bis 8, 10 und 27 dieser Verordnung ergibt, ist deren Zweck, zu bestimmen, welche intrinsischen Eigenschaften von Stoffen zu einer Einstufung als gefährlich führen sollen, damit die Gefahreneigenschaften von Stoffen (und Gemischen, die diese Stoffe enthalten) korrekt ermittelt und ihre Gefahren entsprechend angegeben werden können. Hierzu bezweckt die Verordnung Nr. 1272/2008 ausweislich ihres Art. 1 Abs. 1 Buchst. a u. a. die „Harmonisierung der Kriterien für die Einstufung von Stoffen und Gemischen sowie der Vorschriften für die Kennzeichnung und Verpackung gefährlicher Stoffe und Gemische“.

29      Zudem geht aus den Erwägungsgründen 4 bis 8 der Verordnung Nr. 1272/2008 hervor, dass der Unionsgesetzgeber die Absicht hatte, zur weltweiten Harmonisierung der Kriterien für die Einstufung und Kennzeichnung beizutragen, und zwar nicht nur auf Ebene der Vereinten Nationen, sondern auch durch die Aufnahme der international vereinbarten Kriterien des Global Harmonisierten Systems zur Einstufung und Kennzeichnung von Chemikalien (Globally Harmonised System of Classification and Labelling of Chemicals) (im Folgenden: GHS) in das Unionsrecht. Zu diesem Zweck sind fast alle Bestimmungen des GHS in Anhang I der Verordnung exakt wiedergegeben worden (Urteil vom 22. November 2017, Kommission/Bilbaína de Alquitranes u. a., C‑691/15 P, EU:C:2017:882, Rn. 42).

30      Was die Einstufung gefährlicher Stoffe und Gemische betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 3 der Verordnung Nr. 1272/2008 ein Stoff oder ein Gemisch, der bzw. das den in Anhang I dargelegten Kriterien für physikalische Gefahren, Gesundheitsgefahren oder Umweltgefahren entspricht, gefährlich ist und entsprechend den Gefahrenklassen jenes Anhangs eingestuft wird.

31      Insoweit sieht die Verordnung Nr. 1272/2008 in Titel V ein unionsweites Harmonisierungsverfahren für die Einstufung und Kennzeichnung von Stoffen vor, das die Stoffe zum Gegenstand hat, die den Kriterien nach Anhang I hinsichtlich der in Art. 36 Abs. 1 dieser Verordnung genannten Gefahren, einschließlich der Gefahr der Karzinogenität, entsprechen. Ferner sieht diese Verordnung u. a. in den Art. 5, 9 und 13 eine den Herstellern, Importeuren und nachgeschalteten Anwendern auferlegte Pflicht zur Selbsteinstufung vor, die sowohl Stoffe als auch Gemische betrifft.

32      Das Verfahren zur Harmonisierung der Einstufung und Kennzeichnung von Stoffen wird zunächst von den Herstellern, Importeuren und nachgeschalteten Anwendern eines Stoffes oder von der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats gemäß Art. 37 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1272/2008 durch Vorlage eines Vorschlags an die ECHA eingeleitet. Sodann gibt der RAC gemäß Art. 37 Abs. 4 dieser Verordnung zu dem Vorschlag eine Stellungnahme ab und gibt den Beteiligten Gelegenheit, sich dazu zu äußern; die ECHA leitet diese Stellungnahme sowie etwaige Bemerkungen an die Kommission weiter. Gelangt die Kommission zu der Auffassung, dass eine Harmonisierung der Einstufung und Kennzeichnung des betreffenden Stoffes angezeigt ist, erlässt sie schließlich gemäß Art. 37 Abs. 5 und Art. 53a der Verordnung Nr. 1272/2008 einen delegierten Rechtsakt, um Anhang VI durch die Aufnahme dieses Stoffes zusammen mit den relevanten Einstufungs- und Kennzeichnungselementen in Anhang VI Teil 3 Tabelle 3 dieser Verordnung zu ändern.

33      Mit dieser harmonisierten Einstufung und Kennzeichnung von Stoffen gemäß Titel V der Verordnung Nr. 1272/2008 soll bestimmt werden, welche intrinsischen Eigenschaften von Stoffen zu einer Einstufung als gefährlich führen sollen, damit die Gefahreneigenschaften von Stoffen und von Gemischen, die diese Stoffe enthalten, korrekt ermittelt und ihre Gefahren entsprechend angegeben werden können.

34      Nach Art. 36 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1272/2008 unterliegt ein Stoff, der den Kriterien nach Anhang I dieser Verordnung im Punkt Karzinogenität entspricht, in der Regel den Bestimmungen betreffend die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung. Diese Kriterien sind in Anhang I Teil 3 Abschnitt 3.6 der Verordnung Nr. 1272/2008 definiert.

35      Teil 3 Abschnitt 3.6.1.1 dieses Anhangs in seiner zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Verordnung geltenden ursprünglichen Fassung sah vor:

„3.6.1.1. Ein Stoff oder ein Gemisch, der/das Krebs erzeugen oder die Krebshäufigkeit erhöhen kann, wird als karzinogen angesehen. Bei Stoffen, die in ordnungsgemäß durchgeführten Tierstudien gutartige und bösartige Tumore induziert haben, ist ebenfalls von der Annahme auszugehen, dass die Exposition eines Menschen gegenüber dem Stoff wahrscheinlich Krebs erzeugen kann, sofern nicht eindeutige Nachweise dafür vorliegen, dass der Mechanismus der Tumorbildung beim Menschen nicht von Bedeutung ist.“

36      Abschnitt 3.6.1.1 in seiner aus der Verordnung (EU) 2019/521 der Kommission vom 27. März 2019 zur Änderung der Verordnung Nr. 1272/2008 zwecks Anpassung an den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt (ABl. 2019, L 86, S. 1) hervorgegangenen Fassung lautet:

„3.6.1.1. Karzinogenität: die Verursachung von Krebs oder eine Zunahme der Krebsinzidenz, die nach der Exposition gegenüber einem Stoff oder Gemisch auftritt. Bei Stoffen und Gemischen, die in ordnungsgemäß durchgeführten Tierstudien gutartige und bösartige Tumore induziert haben, ist ebenfalls von der Annahme auszugehen, dass die Exposition eines Menschen gegenüber dem Stoff wahrscheinlich Krebs erzeugen kann, sofern nicht eindeutige Nachweise dafür vorliegen, dass der Mechanismus der Tumorbildung beim Menschen nicht von Bedeutung ist.

Die Einstufung, nach der von einem Stoff oder Gemisch eine Gefahr einer karzinogenen Wirkung ausgeht, beruht auf seinen inhärenten Eigenschaften und liefert keine Informationen über das Ausmaß des durch den Stoff oder das Gemisch verursachten Krebsrisikos für den Menschen.“

37      Ferner heißt es in Anhang I Abschnitt 3.6.2.2.1 der Verordnung Nr. 1272/2008:

„3.6.2.2.1. Die Einstufung als karzinogen erfolgt aufgrund von Nachweisen, die in zuverlässigen und anerkannten Untersuchungen gewonnen wurden, und betrifft Stoffe mit der intrinsischen Eigenschaft, Krebs zu erzeugen. Die Bewertung muss auf allen vorhandenen Daten beruhen, darunter von Experten begutachtete veröffentlichte Studien und auf zusätzlichen anerkannten Daten.“

38      Darüber hinaus sieht Anhang I Abschnitt 3.6.2.1 der Verordnung Nr. 1272/2008 vor, dass zu dieser Einstufung „Stoffe anhand der Aussagekraft der Nachweise und zusätzlicher Erwägungen (Beweiskraft der Daten) einer von zwei Kategorien zugeordnet [werden]“ und dass „[i]n manchen Fällen … auch eine Einstufung nach dem jeweiligen Expositionsweg gerechtfertigt sein [kann], sofern schlüssig nachgewiesen werden kann, dass bei keinem anderen Expositionsweg Gefahren bestehen“. In Bezug auf die Kategorie 2 ergibt sich aus der Tabelle 3.6.1 dieses Abschnitts 3.6.2.1, dass „[d]ie Einstufung eines Stoffes in Kategorie 2 … aufgrund von Nachweisen aus Studien an Mensch und/oder Tier, die jedoch nicht hinreichend genug für eine Einstufung des Stoffes in Kategorie 1A oder 1B sind, anhand der Aussagekraft der Nachweise und zusätzlicher Hinweise (siehe Abschnitt 3.6.2.2) [erfolgt]“ und dass „[s]olche Nachweise … entweder aus Studien beim Menschen, die einen Verdacht auf karzinogene Wirkung … begründen, oder aus Tierstudien, die einen Verdacht [auf] karzinogene Wirkungen ergeben, stammen [können]“.

39      Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 1272/2008 die Bewertung der Gefahren durch Stoffe betrifft und dass diese Bewertung von der Risikobewertung gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH), zur Schaffung einer Europäischen Chemikalienagentur, zur Änderung der Richtlinie 1999/45/EG und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 793/93 des Rates, der Verordnung (EG) Nr. 1488/94 der Kommission, der Richtlinie 76/769/EWG des Rates sowie der Richtlinien 91/155/EWG, 93/67/EWG, 93/105/EG und 2000/21/EG der Kommission (ABl. 2006, L 396, S. 1, berichtigt in ABl. 2007, L 136, S. 3) zu unterscheiden ist. Die Bewertung der Gefahren ist die erste Phase des Verfahrens zur Risikobewertung, die ein genaueres Konzept darstellt. Eine Bewertung der durch die intrinsischen Eigenschaften der Stoffe bedingten Gefahren darf – anders als eine Risikobewertung – nicht auf bestimmte Verwendungen beschränkt werden und kann unabhängig vom Ort der Verwendung des Stoffes (innerhalb oder außerhalb eines Labors) und vom Grad der Exposition wirksam erfolgen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Juli 2011, Nickel Institute, C‑14/10, EU:C:2011:503, Rn. 81 und 82).

B.      Vorbemerkungen zur Intensität der Kontrolle durch das Gericht

40      Zur Intensität der Kontrolle durch das Gericht ist auf die ständige Rechtsprechung hinzuweisen, nach der der Kommission, damit sie die Einstufung eines Stoffes nach der Verordnung Nr. 1272/2008 vornehmen kann, unter Berücksichtigung der von ihr durchzuführenden komplexen wissenschaftlichen und technischen Beurteilungen ein weites Ermessen zuzuerkennen ist (vgl. Urteil vom 22. November 2017‚ Kommission/Bilbaína de Alquitranes u. a., C‑691/15 P, EU:C:2017:882, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41      Die Ausübung dieses Ermessens ist jedoch nicht der gerichtlichen Kontrolle entzogen. Nach ständiger Rechtsprechung muss der Unionsrichter im Rahmen dieser Kontrolle nämlich prüfen, ob die Verfahrensvorschriften eingehalten worden sind, ob der Sachverhalt von der Kommission zutreffend festgestellt worden ist und ob keine offensichtlich fehlerhafte Würdigung dieses Sachverhalts und kein Ermessensmissbrauch vorliegen (vgl. Urteil vom 18. Juli 2007, Industrias Químicas del Vallés/Kommission, C‑326/05 P, EU:C:2007:443, Rn. 76 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42      Insbesondere dann, wenn sich eine Partei darauf beruft, das zuständige Organ habe einen offensichtlichen Ermessensfehler begangen, hat der Unionsrichter zu kontrollieren, ob dieses Organ sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls untersucht hat, auf die die betreffende Beurteilung gestützt ist. Diese sich aus dem Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung ergebende Sorgfaltspflicht gilt generell für das Handeln der Unionsverwaltung (vgl. Urteil vom 22. November 2017‚ Kommission/Bilbaína de Alquitranes u. a., C‑691/15 P, EU:C:2017:882, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43      Die Beschränkung der Kontrolle durch den Unionsrichter berührt nicht dessen Pflicht, die sachliche Richtigkeit der angeführten Beweise, ihre Zuverlässigkeit und ihre Kohärenz zu prüfen, sowie zu kontrollieren, ob diese Beweise alle relevanten Daten darstellen, die bei der Beurteilung einer komplexen Situation heranzuziehen waren, und ob sie die aus ihnen gezogenen Schlüsse zu stützen vermögen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. November 2008, Niederlande/Kommission, C‑405/07 P, EU:C:2008:613, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44      Zur Bewertung wissenschaftlicher Studien hat das Gericht bereits festgestellt, dass der Kommission hinsichtlich dieser Bewertung sowie der Entscheidung, welchen Studien unabhängig von ihrer zeitlichen Abfolge Vorrang vor anderen zukommen soll, ein weites Ermessen einzuräumen ist. So genügt es nicht, dass sich der Kläger auf das Alter einer wissenschaftlichen Studie beruft, um deren Zuverlässigkeit in Frage zu stellen, sondern er muss dem Gericht hinreichend genaue und objektive Indizien dafür vorlegen, dass etwaige neuere wissenschaftliche Entwicklungen die Richtigkeit der Schlussfolgerungen dieser Studie in Frage stellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Oktober 2018, Deza/Kommission, T‑400/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:712, Rn. 95).

45      Im vorliegenden Fall wurde die angefochtene Verordnung, soweit mit ihr die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung vorgenommen wird, von der Kommission auf der Grundlage der Stellungnahme des RAC und nach dem Einstufungsvorschlag erlassen, den die zuständige französische Behörde der ECHA vorgelegt hatte (siehe oben, Rn. 4, 6 und 8).

46      Die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung betrifft den Stoff mit der chemischen Bezeichnung „Titandioxid; [in Pulverform mit mindestens 1 % Partikel mit aerodynamischem Durchmesser ≤ 10 μm]“, der als karzinogen bei Einatmen Kategorie 2 eingestuft worden ist, d. h. als Stoff, bei dem der Verdacht besteht, dass er beim Menschen karzinogene Wirkung hat, wenn er eingeatmet wird (siehe oben, Rn. 9).

47      Im Licht dieser Erwägungen sind zunächst die Klagegründe und Argumente zu prüfen, mit denen offensichtliche Beurteilungsfehler und ein Verstoß gegen die in der Verordnung Nr. 1272/2008 festgelegten Kriterien für die Einstufung eines Stoffes als karzinogen gerügt werden.

C.      Zu den Klagegründen und Argumenten, mit denen offensichtliche Beurteilungsfehler und ein Verstoß gegen die in der Verordnung Nr. 1272/2008 festgelegten Kriterien für die Einstufung eines Stoffes als karzinogen gerügt werden

48      Wie oben in Rn. 21 dargelegt, machen die Klägerinnen und die sie unterstützenden Streithelferinnen mit dem zweiten Klagegrund, dem ersten und dem fünften Teil des siebten Klagegrundes und dem achten Klagegrund in den verbundenen Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20 sowie mit dem Vorbringen der Klägerinnen zu 2 im Rahmen ihrer Streithilfeschriftsätze in diesen Rechtssachen und mit dem ersten Klagegrund in der Rechtssache T‑283/20 im Wesentlichen geltend, dass die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung mit offensichtlichen Beurteilungsfehlern behaftet sei und gegen die in der Verordnung Nr. 1272/2008 festgelegten Kriterien für eine Einstufung eines Stoffes als karzinogen verstoße.

49      Diese Klagegründe und Argumente gliedern sich in zwei Teile. Mit dem ersten Teil werden offensichtliche Beurteilungsfehler und ein Verstoß gegen die in der Verordnung Nr. 1272/2008 festgelegten Kriterien für die Einstufung und Kennzeichnung eines Stoffes als karzinogen gerügt, was die Anerkennung und Zuverlässigkeit der Studie von Heinrich u. a. (1995) (im Folgenden: Heinrich-Studie) betrifft, auf der die Stellungnahme des RAC beruht. Mit dem zweiten Teil werden offensichtliche Beurteilungsfehler und ein Verstoß gegen die in der Verordnung Nr. 1272/2008 festgelegten Kriterien für die Einstufung und Kennzeichnung eines Stoffes als karzinogen geltend gemacht, da die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung keinen Stoff betreffe, der die intrinsische Eigenschaft habe, Krebs zu erzeugen.

1.      Zum ersten Teil: Offensichtliche Beurteilungsfehler und Verstoß gegen die in der Verordnung Nr. 1272/2008 festgelegten Kriterien für die Einstufung und Kennzeichnung eines Stoffes als karzinogen hinsichtlich der Anerkennung und Zuverlässigkeit der Heinrich-Studie, auf der die Stellungnahme des RAC beruht

50      Die Klägerinnen machen im Wesentlichen geltend, dass die Stellungnahme des RAC auf der Heinrich-Studie beruhe und dass der RAC mehrere offensichtliche Fehler bei der Beurteilung der Frage, ob diese Studie zuverlässig und anerkannt sei, begangen habe. Die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung beruhe daher nicht – wie nach Anhang I Abschnitt 3.6.2.2.1 der Verordnung Nr. 1272/2008 erforderlich – auf Daten, die durch zuverlässige und anerkannte Studien gewonnen worden seien. Sie tragen insbesondere vor, dass die Heinrich-Studie von der zuständigen französischen Behörde als nicht zuverlässig angesehen worden sei, da sie nur an weiblichen Ratten durchgeführt worden sei und eine einzige übermäßige Versuchsdosis verwendet habe.

51      Ferner beruhten die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung auf einer Karzinogenität, die auf die Auswirkungen einer Lungenüberlastung („lung overload“) mit Titandioxidpartikeln (im Folgenden: Lungenüberlastung) zurückzuführen sei. Dem RAC seien offensichtliche Beurteilungsfehler bei der Bewertung des Grades der während der Heinrich-Studie aufgetretenen Lungenüberlastung unterlaufen; er habe zu Unrecht den Schluss gezogen, dass es sich dabei nicht um eine übermäßige Überlastung handele.

52      Hierzu tragen die Klägerinnen zu 2 in ihrer Klageschrift in der Rechtssache T‑283/20 und in ihren Streithilfeschriftsätzen in den verbundenen Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20 vor, der RAC habe einen Fehler im Hinblick auf die Partikeldichte begangen, die er für die Berechnung der Lungenüberlastung herangezogen habe. Um den Grad der Lungenüberlastung in der Heinrich-Studie und in der Studie Lee u. a. (1985) (im Folgenden: Lee-Studie) zu überprüfen, habe der RAC die in den Morrow-Studien (1988 und 1992) vorgeschlagene Methode (im Folgenden: Morrow-Überlastungsberechnung) verwendet und sei auf dieser Grundlage davon ausgegangen, dass die Lungenüberlastung in der Lee-Studie übermäßig, die in der Heinrich-Studie jedoch annehmbar gewesen sei. Diese Schlussfolgerung beruhe auf einem sachlichen Fehler in Bezug auf die Partikeldichte, die der RAC bei der Morrow-Überlastungsberechnung verwendet habe.

53      Für die Anwendung der Morrow-Überlastungsberechnung auf die Heinrich- und die Lee-Studie habe der RAC nämlich den gleichen Dichtewert von 4,3 g/cm³, der der Dichte der nicht agglomerierten Primärpartikel (im Folgenden: Partikeldichte) entspreche, zugrunde gelegt, obwohl er die Dichte der Partikelagglomerate (im Folgenden: Agglomeratdichte) hätte berücksichtigen müssen, deren Wert in wissenschaftlichen Studien mit 1,6 g/cm3 für „P25“-Nanopartikel angegeben werde. Insoweit ergebe sich insbesondere aus den Studien Laux u. a. (2017), Gebel u. a. (2012) und Pauluhn (2011), dass Nanopartikel Agglomerate bildeten und dass die Agglomeratdichte unter Berücksichtigung der geringeren Dichte der Hohlräume zwischen den Partikeln in den Agglomeraten geringer sei als die Partikeldichte. Es stehe fest, dass „P25“-TiO2 eine Agglomeratdichte von 1,6 g/cm3 aufweise. Da zudem die Agglomeratdichte niedriger sei als die Dichte der Primärpartikel, nähmen Partikelagglomerate mehr Volumen ein als nicht agglomerierte Partikel. Folglich liege das Volumen der Lungenüberlastung bei der Heinrich-Studie über dem vom RAC berechneten Volumen. Hätte der RAC bei der Morrow-Überlastungsberechnung die richtige Dichte, nämlich die Agglomeratdichte, angesetzt, hätte er zu dem Schluss gelangen müssen, dass die Heinrich-Studie unter Bedingungen einer übermäßigen Lungenüberlastung durchgeführt worden sei.

54      Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen. Zunächst macht sie zum einen geltend, dass die Klägerinnen mit ihrem Vorbringen die Grenzen der beschränkten gerichtlichen Kontrolle überschritten, da sie nicht vortrügen, dass der RAC oder die Kommission nicht alle relevanten Gesichtspunkte berücksichtigt hätten, sondern lediglich eine andere wissenschaftliche Schlussfolgerung zögen als diejenige, die in der Stellungnahme des RAC enthalten sei. Das Gericht könne jedoch nicht die Beurteilung des RAC hinsichtlich wissenschaftlicher und technischer Tatsachen durch seine eigene Beurteilung ersetzen. Zum anderen beruhe die Stellungnahme des RAC nicht nur auf der Heinrich-Studie, sondern auch auf der Lee-Studie und auf weiteren verfügbaren Daten sowie auf einem Ansatz, der auf der Beweiskraft dieser Angaben nach Anhang I Abschnitt 3.6.2.1 der Verordnung Nr. 1272/2008 gründe.

55      Hinsichtlich des offensichtlichen Beurteilungsfehlers in Bezug auf die Partikeldichte trägt die Kommission im Wesentlichen vor, dass der RAC bei der Berechnung der Lungenüberlastung der Heinrich-Studie keinen Fehler begangen habe. Erstens habe er zutreffend einen Dichtewert von 4,3 g/cm³ angesetzt, bei dem es sich um einen Standardwert für die Dichte von Titandioxid-Partikeln handle, unabhängig von ihrer Größe oder ihrer Form. Der RAC dürfe sich in einem Kontext, in dem das tatsächliche Ausmaß der Agglomeration und der Packung der Partikel in der Heinrich-Studie nicht bekannt gewesen sei, auf diesen Wert stützen. Ferner könnten auch die bei der Lee-Studie getesteten größeren Partikel Agglomerate bilden, und ihre effektive Dichte sei wahrscheinlich geringer.

56      Folglich habe es der RAC zweitens dadurch, dass er sowohl für die Heinrich-Studie als auch für die Lee-Studie die Standarddichte von 4,3 g/cm³ verwendet habe, vermieden, einen Unsicherheitsfaktor einzuführen, der die Zuverlässigkeit der Vergleiche zwischen diesen beiden Studien untergraben hätte.

57      Drittens habe der RAC, obwohl in der Pauluhn-Studie (2011) als Wert der Agglomeratdichte der Titandioxidnanopartikel eine Dichte von 1,6 g/cm³ angegeben sei, diese Dichte nicht für die Heinrich-Studie habe heranziehen dürfen, da zwischen den Studien Unterschiede bestünden und in der Heinrich-Studie weder die Partikeldichte noch das Ausmaß der Agglomeration und der Packung der Partikel bekannt seien, so dass nicht davon ausgegangen werden könne, dass die Agglomeratdichte 1,6 g/cm3 betrage.

58      Viertens sei die Lungenüberlastung bei der Heinrich-Studie vom RAC nicht nur auf der Grundlage der Morrow-Überlastungsberechnung, sondern auch auf der Grundlage anderer Bezugspunkte bewertet worden. Zum einen habe der RAC berücksichtigt, dass die Halbwertszeit für die Selbstreinigung der Lunge in dieser Studie nur knapp über einem Jahr und damit nahe an der von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) empfohlenen Grenze gelegen habe. Zum anderen habe der RAC, indem er den Expositionsgrad in der Heinrich- und der Lee-Studie verglichen habe, die Konzentration des Stoffes sowie den Massenmedianwert des aerodynamischen Durchmessers (MMAD) berücksichtigt, wobei letzterer in beiden Studien in der Wertespanne gelegen habe, die in Anhang I Abschnitt 3.1.2.3.2 der Verordnung Nr. 1272/2008 empfohlen worden seien.

59      Die ECHA fügt hinzu, dass bei der Heinrich-Studie weder die Partikeldichte noch das Ausmaß der Partikelagglomerate bekannt gewesen seien, dass diese Gesichtspunkte aber nicht zu den wichtigsten zu berücksichtigenden Faktoren gehörten. Angesichts der Unterschiede zwischen der wissenschaftlichen Studie, in der dieser Wert angegeben worden sei, und der Heinrich-Studie könne nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass die Agglomeratdichte in der Heinrich-Studie 1,6 g/cm³ betrage. Außerdem neigten die in der Lee-Studie verwendeten Mikropartikel ebenfalls dazu, Agglomerate zu bilden, so dass die Agglomeratdichte, die ebenfalls nicht bekannt sei, auch niedriger sein könne. Mangels Informationen über die Dichte der Titandioxid-Agglomerate in der Heinrich- und der Lee-Studie und zur Berechnung der Lungenüberlastung nach der Morrow-Überlastungsberechnung sei daher die für beide Studien bekannte Partikeldichte von 4,3 g/cm³ anzuwenden.

60      Der Grad der Lungenüberlastung bei der Heinrich-Studie könne in Anbetracht der täglichen niedrigeren Exposition gegenüber dem Stoff nicht größer sein als bei der Lee-Studie. Zudem bewegten sich die MMAD-Werte sehr nahe der Werte in Anhang I Abschnitt 3.1.2.3.2 der Verordnung Nr. 1272/2008, die für Inhalationsstudien empfohlen würden. Darüber hinaus habe in der Heinrich-Studie eine ausreichende Anzahl an Ratten bis zum Ende des Versuchszeitraums überlebt, um Rückschlüsse auf die Karzinogenität zuzulassen, was auch durch die Reinigungshalbwertszeit am Ende der Studie untermauert werde, die sich nahe derjenigen bewege, die von der OCDE empfohlen werde.

61      Das Gericht hält es für zweckmäßig, zunächst den von den Klägerinnen geltend gemachten offensichtlichen Beurteilungsfehler hinsichtlich des Werts der Partikeldichte zu prüfen. Vorab sind jedoch einige Argumente der Kommission und der ECHA zur Intensität der Kontrolle durch das Gericht und zur Relevanz der Heinrich-Studie für die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung zu prüfen, da sie zur Folge haben könnten, dass das Vorbringen der Klägerinnen ins Leere geht.

1)      Zur Intensität der Kontrolle durch das Gericht

62      Die Kommission trägt zunächst vor, dass die Klägerinnen mit ihrem Vorbringen die Grenzen der beschränkten gerichtlichen Kontrolle überschritten, da sie lediglich eine andere wissenschaftliche Schlussfolgerung zögen als diejenige, die in der Stellungnahme des RAC enthalten sei (siehe oben, Rn. 54). Entgegen der Auffassung der Kommission beschränken sich die Klägerinnen in ihrem Vorbringen jedoch nicht darauf, eine andere wissenschaftliche Schlussfolgerung zu ziehen als die in der Stellungnahme des RAC enthaltene.

63      Die Klägerinnen machen nämlich geltend, dass die Stellungnahme des RAC und folglich die angefochtene Verordnung mit einem offensichtlichen Beurteilungsfehler behaftet seien, was die Bewertung der Zuverlässigkeit und der Anerkennung der Heinrich-Studie und insbesondere die Bewertung des Grads der Lungenüberlastung betreffe, der während dieser Studie aufgetreten sei. Insoweit machen sie u. a. eine fehlerhafte Sachverhaltsfeststellung geltend und rügen, dass nicht alle relevanten Gesichtspunkte berücksichtigt worden seien. Darüber hinaus verstoße die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung aufgrund des behaupteten Fehlers gegen Anhang I Abschnitt 3.6.2.2.1 der Verordnung Nr. 1272/2008, da dieser verlange, dass die Einstufung eines Stoffes auf Daten beruhe, die in zuverlässigen und anerkannten Untersuchungen gewonnen worden seien.

64      Daraus folgt, dass sich das Vorbringen der Klägerinnen sowohl auf eine Frage im Zusammenhang mit der Prüfung der Einhaltung der in Anhang I Abschnitt 3.6.2.2.1 der Verordnung Nr. 1272/2008 aufgestellten Voraussetzung der Zuverlässigkeit und der Anerkennung der Studien, auf denen die Einstufung beruhen muss, als auch auf einen offensichtlichen Fehler bei der Beurteilung dieser Zuverlässigkeit und Anerkennung in Bezug auf die Heinrich-Studie bezieht. Es handelt sich somit um Fragen, die der gerichtlichen Kontrolle, deren Intensität die oben in den Rn. 41 bis 44 genannten Grenzen aufweist, nicht entzogen sind.

65      Daher ist das Argument der Kommission zurückzuweisen, wonach die Klägerinnen mit ihrem Vorbringen im Rahmen des ersten Teils die Grenzen der gerichtlichen Kontrolle überschritten.

2)      Zur Relevanz der Heinrich-Studie für die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung

66      Die Kommission trägt vor, dass die Stellungnahme des RAC nicht allein auf der Heinrich-Studie, sondern auch auf der Lee-Studie und anderen verfügbaren Informationen beruhe (siehe oben, Rn. 54). In Beantwortung einer Frage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung vom 12. Mai 2022 in den verbundenen Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20 hat sie ferner ausgeführt, dass von den vier in der Stellungnahme des RAC genannten Inhalationsstudien allein die Heinrich- und die Lee-Studie karzinogene Wirkungen aufgezeigt hätten und daher als in erster Linie relevant angesehen worden seien, um die Eigenschaften von Titandioxid zu bewerten.

67      Unter diesen Umständen ist zu prüfen, ob die Heinrich-Studie allein für die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung ausschlaggebend war; andernfalls wäre das Vorbringen der Klägerinnen, mit dem die Zuverlässigkeit und die Anerkennung dieser Studie in Frage gestellt werden sollen, als ins Leere gehend zurückzuweisen.

68      Wie oben in Rn. 37 ausgeführt, sieht Anhang I Abschnitt 3.6.2.2.1 der Verordnung Nr. 1272/2008 u. a. vor, dass die Einstufung als karzinogen aufgrund von Nachweisen erfolgt, die in zuverlässigen und anerkannten Untersuchungen gewonnen wurden, und dass die Bewertung auf allen vorhandenen Daten, darunter von Experten begutachtete veröffentlichte Studien und auf zusätzlichen anerkannten Daten, beruhen muss.

69      Im vorliegenden Fall ist erstens festzustellen, dass sowohl der von der zuständigen französischen Behörde vorgelegte Einstufungsvorschlag als auch die Stellungnahme des RAC im Wesentlichen auf Inhalationsstudien bei Labortieren beruhen.

70      Zweitens geht aus der Stellungnahme des RAC hervor, dass darin vier Inhalationsstudien bei Tieren genannt werden, darunter die Lee- und die Heinrich-Studie, die hervorgehoben werden. Diese beiden Studien, die als einzige die Entwicklung von Tumoren infolge der Titandioxidexposition – erstere von gutartigen Tumoren, letztere von bösartigen Tumoren – aufzeigten, seien, so der RAC, die „Schlüsselstudien zur Karzinogenität bei Einatmen“, was eine vergleichende Analyse ihrer Ergebnisse rechtfertige. Bei den beiden anderen Studien, die keine Tumore aufgezeigt hätten, nämlich der Muhle-Studie (1989) und der Thyssen-Studie (1978), sei der Expositionsgrad oder die Expositionsdauer unzureichend.

71      Drittens ergibt sich hinsichtlich der Lee- und der Heinrich-Studie aus den Akten der vorliegenden Rechtssachen, dass diese Studien vom RAC und von der zuständigen französischen Behörde nicht übereinstimmend bewertet werden.

72      Die zuständige französische Behörde stützte ihren Vorschlag, Titandioxid als karzinogen bei Einatmen Kategorie 1B einzustufen, im Wesentlichen auf die Lee-Studie, der sie einen Bewertungs-Score von 2 („mit Einschränkungen zuverlässig“) auf der Klimisch-Bewertungs-Skala (wie in dem Artikel von Klimisch, H. J., Andreae, M., und Tillmann, U., „A Systematic Approach for Evaluating the Quality of Experimental Toxicological and Ecotoxicological Data“, Regulatory Toxicology and Pharmacology, Elsevier, 1997, Bd. 25, S. 1 bis 5 beschrieben) (im Folgenden: Klimisch-Skala) zuwies.

73      In Bezug auf die Heinrich-Studie war die zuständige französische Behörde der Ansicht, dass diese Studie angesichts der fehlenden Informationen über den Reinheitsgrad des Stoffes und der Mängel des Expositionsprotokolls von „geringerer Qualität“ sei, da sie nur mit weiblichen Tieren durchgeführt worden sei und nur eine Konzentration getestet worden sei, die während des Experiments variiert habe. Diese Behörde bewertete die Heinrich-Studie mit 3 nach der Klimisch-Skala. Nach den insoweit weder von der Kommission noch von der ECHA bestrittenen Angaben der Klägerinnen entspricht die Bewertung 3 nach der Klimisch-Skala der Kategorie „nicht zuverlässig“. Gleichwohl war die zuständige französische Behörde der Ansicht, dass die karzinogenen Wirkungen, die bei der Heinrich-Studie festgestellt worden seien, trotz dieser Mängel als „relevant“ anzusehen seien, da sie mit denen anderer Studien „in Einklang“ stünden.

74      Der RAC stützte seinen Vorschlag, Titandioxid als karzinogen bei Einatmen Kategorie 2 einzustufen, im Wesentlichen auf die Heinrich-Studie. Aus der Stellungnahme des RAC geht nämlich hervor, dass die Lee-Studie seiner Ansicht nach keinen „entscheidenden Einfluss“ auf die Einstufung von Titandioxid haben könne, da die Exposition bei dieser Studie übermäßig gewesen sei und zu einer völligen Aussetzung der Reinigungsmechanismen für Partikel bei den Alveolarmakrophagen der Lungen (im Folgenden: Reinigungsmechanismen für Partikel) geführt habe, was einer „übermäßigen Exposition mit fragwürdiger Relevanz für Menschen“ entspreche. Diese übermäßige Exposition bei der Lee-Studie invalidiere „für sich allein bereits die Ergebnisse dieser Studie zum Zweck der Einstufung“.

75      In Bezug auf die Heinrich-Studie vertrat der RAC die Auffassung, dass der Grad der Lungenüberlastung bei dieser Studie deutlich niedriger gewesen sei als in der Lee-Studie, da sie nicht zu einer völligen Aussetzung der Reinigungsmechanismen für Partikel geführt habe, und dass die Ergebnisse der Heinrich-Studie, auch wenn diese nicht gemäß den Standardversuchsempfehlungen durchgeführt worden sei, „hinreichend verlässlich, relevant und angemessen für die Bewertung des karzinogenen Potenzials von [Titandioxid]“ seien.

76      Daraus folgt, dass der RAC hinsichtlich der beiden Studien, bei denen es sich seines Erachtens um die Schlüsselstudien zur Karzinogenität bei Einatmen handelte, die Auffassung vertreten hat, dass der Heinrich-Studie Vorrang vor der Lee-Studie zukomme und letztere für sich genommen nicht entscheidend oder ausreichend sei, um den Vorschlag zur Einstufung von Titandioxid zu untermauern, wie die Kommission im Übrigen in Beantwortung einer Frage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung vom 12. Mai 2022 in den verbundenen Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20 eingeräumt hat.

77      Viertens ist festzustellen, dass in der Stellungnahme des RAC neben diesen beiden Schlüsselstudien weitere Studien genannt werden, allerdings nur zur Unterstützung oder in Ergänzung der Ergebnisse der Heinrich-Studie. So wies der RAC u. a. darauf hin, dass die Ergebnisse der Heinrich-Studie „in Einklang“ mit den Ergebnissen der Gebel-Studie (2012) über die Karzinogenität bei Ratten durch Einatmen anderer sogenannter „schwer löslicher Partikel mit geringer Toxizität“ stünden.

78      Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Heinrich-Studie die Studie war, auf der die Stellungnahme des RAC und damit die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung maßgeblich beruht. Die anderen Studien, einschließlich der Lee-Studie, wurden nur ergänzend berücksichtigt, da der RAC der Ansicht war, dass sie für sich genommen nicht ausreichten, um seinen Einstufungsvorschlag zu untermauern.

79      Folglich ist das Vorbringen der Kommission zurückzuweisen, wonach die Stellungnahme des RAC nicht allein auf der Heinrich-Studie beruhe.

3)      Zum offensichtlichen Beurteilungsfehler in Bezug auf den Wert der Partikeldichte

80      Die Klägerinnen zu 2 machen in ihrer Klageschrift in der Rechtssache T‑283/20 und in ihren Streithilfeschriftsätzen in den verbundenen Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20 geltend, dass der RAC einen Fehler begangen habe, indem er bei der Anwendung der Morrow-Überlastungsberechnung auf die Heinrich-Studie einen Wert der Partikeldichte von 4,3 g/cm³ zugrunde gelegt habe. Dieser Fehler habe dazu geführt, dass der RAC unzutreffend den Schluss gezogen habe, dass diese Studie bei annehmbarer Lungenüberlastung durchgeführt worden sei.

81      Vorab ist erstens darauf hinzuweisen, dass diese Studie mit dem Titel „Chronic inhalation exposure of wistar rats and two different strains of mice to diesel engine exhaust, carbon black and titanium dioxide“ (Chronische Inhalationsexposition von Wistar-Ratten und zwei verschiedenen Mäusestämmen bei Dieselmotorabgasen, Ruß und Titandioxid) die Inhalationsexposition von Ratten und Mäusen bei Dieselmotorabgasen, Ruß und Titandioxid zum Gegenstand hat.

82      Zweitens ist in Bezug auf die Relevanz der Lungenüberlastung im Kontext der angefochtenen Einstufung und Kennzeichnung zunächst daran zu erinnern, dass der eingestufte Stoff die chemische Bezeichnung „Titandioxid; [in Pulverform mit mindestens 1 % Partikel mit aerodynamischem Durchmesser ≤ 10 μm]“ hat und als Stoff eingestuft wurde, bei dem der Verdacht besteht, dass er karzinogene Wirkung Kategorie 2 hat, wenn er eingeatmet wird (siehe oben, Rn. 9).

83      Sodann ergibt sich aus dem fünften Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung, dass die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung auf einer Karzinogenität bei Einatmen beruht, die mit dem Einatmen von lungengängigen Titandioxidpartikeln sowie der Ablagerung und der schlechten Löslichkeit dieser Partikel in der Lunge in Verbindung gebracht wird. Darüber hinaus heißt es in der Anmerkung W, die durch die angefochtene Verordnung in Anhang VI der Verordnung Nr. 1272/2008 angefügt wurde (siehe oben, Rn. 10), dass „festgestellt [wurde], dass die Gefahr einer karzinogenen Wirkung [von Titandioxid] besteht, wenn lungengängiger Staub in Mengen eingeatmet wird, die zu einer signifikanten Beeinträchtigung der natürlichen Reinigungsmechanismen für Partikel in den Lungen führen“.

84      Schließlich räumt der RAC in seiner Stellungnahme ein, dass die bei der Heinrich- und der Lee-Studie in den Lungen der Ratten aufgetretenen Tumore sich nur bei „ausgeprägter Beeinträchtigung der Reinigungsmechanismen [für Partikel]“ entwickelten.

85      Drittens vertrat der RAC in Bezug auf die Morrow-Überlastungsberechnung die Auffassung, dass diese Berechnung, auch wenn es sich dabei um kein allgemein anerkanntes Konzept handle, heranzuziehen sei, um zu beurteilen, ob der Grad der Lungenüberlastung, dem die Tiere bei der Lee- und der Heinrich-Studie ausgesetzt gewesen seien, ausgeprägt oder übermäßig gewesen sei.

86      Insoweit ergibt sich aus der Stellungnahme des RAC und der Antwort der Kommission auf eine vom Gericht im Wege einer prozessleitenden Maßnahme in den verbundenen Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20 gestellte Frage, dass die Morrow-Überlastungsberechnung die Menge der eingeatmeten Partikel und die Beeinträchtigung des Funktionierens des Reinigungsmechanismus für Partikel in Relation setzt zu dem Volumen der Alveolarmakrophagen der Lunge, das von den Partikeln belegt wird.

87      Darüber hinaus führte der RAC in seiner Stellungnahme aus, dass die Morrow-Überlastungsberechnung die Feststellung zulasse, dass bei den Versuchstieren eine angemessene Lungenüberlastung auftrete, wenn 6 % bis 60 % des Volumens der Alveolarmakrophagen von Partikeln belegt würden. Zum einen müsse das belegte Volumen der Alveolarmakrophagen über 6 % liegen, um zu einer signifikanten Beeinträchtigung der Reinigungsmechanismen für Partikel zu führen. Denn diese Beeinträchtigung sei für das Auftreten einer chronischen Entzündung und die beobachteten karzinogenen Wirkungen unabdingbar. Zum anderen müsse das von Partikeln belegte Volumen unter 60 % liegen, da es bei diesem Wert zu einer fast völligen Aussetzung der Reinigungsmechanismen für Partikel komme, was eine übermäßige Lungenüberlastung zeige, die die Ergebnisse invalidiere.

88      Viertens geht, was die Bewertung des Grades der Lungenüberlastung bei der Lee- und der Heinrich-Studie auf der Grundlage der Morrow-Überlastungsberechnung betrifft, aus der genannten Stellungnahme hervor, dass der RAC zunächst diese Berechnung vornahm, indem er im Wesentlichen zwei Gesichtspunkte berücksichtigte, nämlich erstens den „Expositionsgrad“, der der Dosis und der Konzentration des Stoffes in Milligramm pro Kubikmeter Rechnung trägt, und zweitens die Partikeldichte in Gramm pro Kubikzentimeter. Zur Lee-Studie führte der RAC aus, dass sich der Expositionsgrad auf 10, 50 bzw. 250 mg/m3 belaufen und die Partikeldichte 4,3 g/cm3 betragen habe. Hinsichtlich der Heinrich-Studie berücksichtigte der RAC einen Expositionsgrad von 10 mg/m3 und die gleiche Dichte von 4,3 g/cm3.

89      Sodann wies der RAC darauf hin, dass für die Exposition gegenüber Titandioxidpartikeln mit einer Dichte von 4,3 g/cm³ die annehmbare Lungenüberlastung (die sich, wie oben in Rn. 87 ausgeführt, nach der Morrow-Überlastungsberechnung auf 6 % bis 60 % der volumetrischen Belastung der Alveolarmakrophagen beläuft), einer Belastung von 6,5 mg bis 65 mg Partikeln pro Lunge einer Ratte entspreche.

90      Unter Zugrundelegung dieser Prämissen kam der RAC schließlich zu dem Ergebnis, dass bei der Heinrich-Studie die Lungenüberlastung rund 40 % betragen und somit in der annehmbaren Spanne gelegen habe, während bei der Lee-Studie die Lungenüberlastung 60 % der volumetrischen Belastung der Alveolarmakrophagen überstiegen habe, was einer fast völligen Aussetzung der Reinigungsmechanismen für Partikel entspreche.

91      Im Licht dieser Erwägungen ist der von den Klägerinnen zu 2 in Bezug auf die Partikeldichte gerügte Fehler zu prüfen.

92      Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass in der Heinrich- und der Lee-Studie die Dichte der getesteten Partikel nicht angegeben war. Die Studien enthielten nur Angaben über bestimmte Eigenschaften dieser Partikel, nämlich, dass es sich um Mikropartikel (Lee-Studie) bzw. um „P25“-Nanopartikel (Heinrich-Studie) handelte. Diese unterschiedlichen Eigenschaften der bei den beiden Studien getesteten Partikel sind im Übrigen in der Stellungnahme des RAC genannt, insbesondere was die in der Heinrich-Studie getesteten „P25“-Nanopartikel betrifft.

93      Es steht außerdem fest, dass der RAC bei der Anwendung der Morrow-Überlastungsberechnung auf die beiden Studien einen Dichtewert von 4,3 g/cm³ herangezogen hat (siehe oben, Rn. 88).

94      Ferner ergibt sich aus den Schriftsätzen der Kommission und der ECHA sowie aus ihren Antworten auf Fragen des Gerichts in den mündlichen Verhandlungen vom 12. und 18. Mai 2022, dass es sich bei dem Wert von 4,3 g/cm³ um einen Standardwert handelt, der in der Wissenschaft üblicherweise als Dichte von Titandioxidpartikeln angegeben wird, was von den Klägerinnen im Übrigen nicht bestritten wird.

95      Die Klägerinnen bringen jedoch vor, dass der RAC für die Morrow-Überlastungsberechnung zu Unrecht die Partikeldichte von 4,3 g/cm³ herangezogen habe. Er hätte vielmehr die Dichte von Agglomeraten von „P25“-Titandioxidnanopartikeln berücksichtigen müssen, die nach den von den Klägerinnen angeführten wissenschaftlichen Studien 1,6 g/cm3 beträgt (siehe oben, Rn. 53).

96      Die Kommission und die ECHA machen im Wesentlichen geltend, dass der RAC zu Recht die Partikeldichte berücksichtigt habe, da in der Heinrich-Studie weder die Dichte der getesteten Partikel noch das Ausmaß ihrer Agglomeration und Packung angegeben seien. Unter diesen Umständen sei es angemessen gewesen, dass der RAC den Standardwert der Dichte für Titandioxidpartikel berücksichtigt habe.

97      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Vorbringen der Klägerinnen unabhängig davon, welcher Dichtewert genau vom RAC für die Morrow-Überlastungsberechnung zu berücksichtigen war – was zu prüfen jedenfalls nicht Sache des Gerichts ist –, vor allem die Frage aufwirft, ob der RAC einen offensichtlichen Beurteilungsfehler in Bezug auf die Art der herangezogenen Dichte begangen hat, indem er die Partikeldichte anstatt der Dichte von Agglomeraten von Titandioxidnanopartikeln herangezogen hat.

98      Im vorliegenden Fall wird der von den Klägerinnen geltend gemachte Umstand, dass die Titandioxidpartikel, insbesondere die Nanopartikel und die „P25“-Partikel wie die in der Heinrich-Studie getesteten, zur Agglomeration neigten, nicht bestritten. Die Kommission und die ECHA bestreiten nämlich diesen speziellen Punkt nicht, wie sich aus ihren Schriftsätzen und ihren Antworten auf Fragen des Gerichts in den mündlichen Verhandlungen vom 12. und 18. Mai 2022 ergibt. Zudem wurden, wie die Klägerinnen zu 2 in den verbundenen Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20 vorgetragen haben, die Agglomerate von Titandioxidpartikeln in der Heinrich-Studie erwähnt, in der ausgeführt wurde, dass diese „besonders geeignet [sind], toxisch hauptsächlich auf Alveolarmakrophagen und die alveoläre Reinigung von Partikeln aus der Lunge zu wirken“. Darüber hinaus heißt es in der Stellungnahme des RAC zu Aerosolen, also zu in der Luft schwebenden Partikeln, deren Umgebung sich von der Lungenumgebung unterscheidet, dass „Primärpartikel, insbesondere Nanoprimärpartikel, dazu neigen, Agglomerate zu bilden“.

99      Wie sich aus den Schriftsätzen der Parteien, ihren schriftlichen Antworten auf Fragen, die im Wege einer prozessleitenden Maßnahme in den verbundenen Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20 gestellt worden sind, und ihren Antworten auf die Fragen des Gerichts in den mündlichen Verhandlungen vom 12. und 18. Mai 2022 ergibt, ist außerdem zwischen den Parteien unstreitig, dass die Dichte der Agglomerate von Titandioxidnanopartikeln geringer ist als die Partikeldichte, da das Agglomerat Hohlräume bildet, die eine geringere Dichte aufweisen als das Material. Da die Dichte der Agglomerate also geringer ist als die Dichte der Primärpartikel, nehmen die Partikelagglomerate mehr Volumen ein als die nicht agglomerierten Partikel.

100    Zwar trifft es zu, dass die Heinrich-Studie – wie die Kommission und die ECHA, von den Klägerinnen unwidersprochen, geltend machen – keine Angaben zur Dichte oder zum Ausmaß der Agglomeration und Packung der getesteten Titandioxidpartikel enthielt. Indem der RAC einen einer Partikeldichte von 4,3 g/cm3 entsprechenden Dichtewert und mithin eine stets höhere Dichte als die Dichte der Agglomerate von Titandioxidnanopartikeln heranzog (siehe oben, Rn. 99), hat er nicht alle relevanten Gesichtspunkte des vorliegenden Falls berücksichtigt, nämlich die Eigenschaften der in der Heinrich-Studie getesteten Partikel, insbesondere ihre Größe (Nanopartikel) und ihre Art („P25“), den Umstand, dass diese Partikel dazu neigten, Agglomerate zu bilden, sowie den Umstand, dass die Dichte von Partikelagglomeraten geringer ist als die Partikeldichte und Partikelagglomerate deshalb mehr Volumen in den Alveolarmakrophagen der Lungen belegen (siehe oben, Rn. 98 und 99).

101    Zudem waren diese Gesichtspunkte entgegen dem, was die ECHA geltend zu machen scheint, für die Morrow-Überlastungsberechnung von Relevanz, da der Dichtewert einer der beiden Werte war, die der RAC für diese Berechnung heranzog, um den Grad der Lungenüberlastung in der Lee- und der Heinrich-Studie zu bewerten (siehe oben, Rn. 88). In Beantwortung einer Frage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung vom 12. Mai 2022 hat die Kommission im Übrigen eingeräumt, dass die Dichte für die Morrow-Überlastungsberechnung von Bedeutung ist.

102    Daraus folgt, dass die Partikeldichte ein wesentlicher Gesichtspunkt für die vom RAC angewandte Morrow-Überlastungsberechnung war und dass – da anderenfalls die Glaubwürdigkeit der Ergebnisse dieser Berechnung offenkundig untergraben worden wäre – nicht davon ausgegangen werden konnte, dass diese Dichte die Partikeldichte ist, obwohl bekannt war, dass die in Rede stehenden Nanopartikel Agglomerate bildeten, dass die Agglomeratdichte geringer war und das von den Partikeln in den Lungen belegte Volumen daher größer war.

103    Daher hat der RAC dadurch, dass er die oben in Rn. 100 genannten Gesichtspunkte außer Acht ließ, nicht alle relevanten Gesichtspunkte berücksichtigt, um die Lungenüberlastung bei der Heinrich-Studie mittels der Morrow-Überlastungsberechnung zu berechnen, und damit einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen. Das Ergebnis der Anwendung der Berechnung auf diese Studie wird durch diesen Fehler unplausibel, und infolgedessen sind auch die Schlussfolgerungen des RAC, wonach die Lungenüberlastung im Rahmen dieser Studie annehmbar gewesen sei und deren Ergebnisse für die Bewertung des karzinogenen Potenzials von Titandioxid hinreichend verlässlich, relevant und angemessen seien (siehe oben, Rn. 75 und 90), mit einem offensichtlichen Beurteilungsfehler behaftet. Demnach hat die Kommission, soweit sie die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung auf die Stellungnahme des RAC gestützt hat (siehe oben, Rn. 8), denselben offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen, als sie die angefochtene Verordnung erlassen hat.

104    Das Vorbringen der Kommission und der ECHA stellt diese Schlussfolgerung nicht in Frage.

105    Erstens ist ihr Vorbringen zurückzuweisen, wonach der RAC berechtigt sei, sich auf eine der Partikeldichte entsprechende Dichte zu stützen, da in der Heinrich-Studie die Partikeldichte und das Ausmaß der Partikelagglomerate nicht bekannt gewesen seien. Dieses Vorbringen entkräftet nicht die Tatsache, dass der RAC nicht alle für die Bestimmung der Dichte erforderlichen Gesichtspunkte berücksichtigt hat, insbesondere die Größe der in Rede stehenden Partikel (Nanogröße) und ihre Neigung zur Agglomeration, was dem RAC bekannt war und zudem in seiner Stellungnahme angesprochen wurde (siehe oben, Rn. 98).

106    Ferner ist darauf hinzuweisen, dass der von den Klägerinnen gerügte offensichtliche Beurteilungsfehler nicht die Frage aufwirft, ob der RAC über die für die Bestimmung der Agglomeratdichte erforderlichen Gesichtspunkte verfügte, sondern vielmehr die Frage, ob der RAC alle relevanten Gesichtspunkte berücksichtigt hat, um den Grad der Lungenüberlastung in der Heinrich-Studie mittels der Morrow-Überlastungsberechnung zu überprüfen.

107    Wie sich aus den Rn. 92 und 100 oben ergibt, legte der RAC einen Wert zugrunde, der der Partikeldichte entspricht, die in der Studie nicht angegeben war, wobei er die darin angeführten Gesichtspunkte, insbesondere die Nanogröße der Partikel und ihre Neigung zur Agglomeration, außer Acht ließ, obwohl feststand, dass diese Gesichtspunkte, insbesondere die Agglomeration, den Dichtewert beeinflussten und sich dieser seinerseits auf das von den Partikeln in den Lungen der Ratten belegte Volumen und damit auf den Grad der Lungenüberlastung auswirkte.

108    Diese Gesichtspunkte waren hier ausschlaggebend, da mit der Morrow-Überlastungsberechnung, für deren Anwendung sich der RAC entschied, gerade das von den Partikeln belegte Volumen der Alveolarmakrophagen in den Lungen der Ratten berechnet werden sollte, um zu ermitteln, ob die Heinrich-Studie bei ausgeprägter oder übermäßiger Lungenüberlastung durchgeführt worden war, und mithin zu bestimmen, ob die Ergebnisse dieser Studie als Grundlage für die Einstufung von Titandioxid dienen konnten.

109    Daher überzeugt das Vorbringen der Kommission und der ECHA, dass es unter den Umständen des vorliegenden Falles für den RAC „angemessen“ sei, die Partikeldichte zu berücksichtigen, nicht und vermag nicht dem Umstand abzuhelfen, dass nicht alle relevanten Gesichtspunkte für die Berechnung der Lungenüberlastung berücksichtigt wurden. Dies gilt umso mehr, als diese Gesichtspunkte zeigten, dass der vom RAC herangezogene Dichtewert nicht die bei der Heinrich-Studie tatsächlich getesteten Partikel widerspiegelte.

110    Zweitens kann entgegen dem, was die Kommission und die ECHA geltend zu machen scheinen, die Zielsetzung, einen Vergleich zwischen der Lee- und der Heinrich-Studie zu ermöglichen und zu vermeiden, dass in diesen Vergleich ein Unsicherheitsfaktor eingeführt wird, nicht rechtfertigen, dass nicht alle für die Bestimmung des Dichtewerts erforderlichen Gesichtspunkte berücksichtigt wurden. Der Ermöglichung eines Vergleichs zwischen diesen beiden Studien kann nämlich kein Vorrang eingeräumt werden vor dem vom RAC selbst angesprochenen Erfordernis, im Licht der Morrow-Überlastungsberechnung zu prüfen, ob die Lungenüberlastung in diesen Studien übermäßig war oder nicht, da in letzterem Fall die Ergebnisse dieser Studien für sich genommen den Einstufungsvorschlag für Titandioxid nicht rechtfertigen könnten. Im Übrigen war der RAC aus ebendiesem Grund und in Anwendung dieser Berechnung der Ansicht, dass die Lungenüberlastung bei der Lee-Studie übermäßig gewesen sei (siehe oben, Rn. 74).

111    Drittens genügt hinsichtlich des Vorbringens der ECHA, wonach Partikel in Mikrogröße wie die bei der Lee-Studie untersuchten ebenfalls dazu neigten, Agglomerate zu bilden, zum einen der Hinweis, dass diese Studie für den Einstufungsvorschlag des RAC nicht entscheidend war (siehe oben, Rn. 76). Zum anderen hatte die Anwendung der Morrow-Überlastungsberechnung auf diese Studie nach Auffassung des RAC gezeigt, dass die Lungenüberlastung übermäßig gewesen sei, und zwar selbst bei Berücksichtigung der Partikeldichte, die stets höher sei als die Agglomeratdichte. Daher können sich etwaige Fehler des RAC bei der Beurteilung dieser Studie nicht auf den oben in Rn. 103 festgestellten offensichtlichen Beurteilungsfehler auswirken.

112    Viertens ist zum Vorbringen der Kommission und der ECHA, wonach die Morrow-Überlastungsberechnung nicht allein oder gar nicht für die Bewertung der Heinrich-Studie durch den RAC ausschlaggebend gewesen sei, festzustellen, dass dieses Vorbringen durch die Stellungnahme des RAC widerlegt wird.

113    Zwar hat der RAC auf mehrere Gesichtspunkte im Zusammenhang mit den Expositionsbedingungen bei der Lee- und der Heinrich-Studie hingewiesen, insbesondere auf die Halbwertszeit für die Reinigung der Lunge und den Expositionsgrad auf Grundlage der Dosis und der Konzentration des Stoffes, und zwar im Kapitel „Gesamtergebnis“ seiner Stellungnahme. Dort gelangte er zu dem Ergebnis, dass die übermäßige Exposition bei der Lee-Studie „für sich allein bereits die Ergebnisse dieser Studie zum Zweck der Einstufung invalidiert“ und dass die Ergebnisse der Heinrich-Studie „hinreichend verlässlich, relevant und angemessen für die Bewertung des karzinogenen Potenzials von [Titandioxid]“ seien (siehe oben, Rn. 74 und 75). Insbesondere führte er in Bezug auf die Lee-Studie eine übermäßige Halbwertszeit für die Reinigung der Lunge bei dem maximalen Expositionsgrad von 250 mg/m3 an und stellte in Bezug auf die Heinrich-Studie fest, dass der Expositionsgrad von 10 mg/m3 relativ niedrig sei.

114    An dieser Stelle wies der RAC jedoch auch darauf hin, dass die Lungenüberlastung bei der Lee-Studie nicht innerhalb der annehmbaren Spanne liege, was zu einer beinahe völligen Aussetzung der Reinigungsmechanismen für Partikel geführt habe. Dies sei bei der Heinrich-Studie, bei der sich die Lungenüberlastung innerhalb der annehmbaren Spanne bewegt habe, nicht der Fall gewesen (siehe oben, Rn. 90).

115    Daraus folgt, dass der RAC zur Überprüfung des Grades der Lungenüberlastung bei der Lee- und der Heinrich-Studie und ganz konkret zur Überprüfung des von den Partikeln belegten Volumens der Alveolarmakrophagen die Morrow-Überlastungsberechnung angewendet hat und auf der Grundlage dieser Berechnung seine Schlussfolgerungen hinsichtlich der Frage gezogen hat, ob die Lungenüberlastung bei der Heinrich-Studie annehmbar gewesen war (siehe oben, Rn. 87 bis 90).

116    Unter diesen Umständen hat der RAC die Dosis und die Konzentration des Stoffes sowie die Halbwertszeit für die Reinigung der Lunge zwar angesprochen, seine Schlussfolgerungen zum Grad der Lungenüberlastung bei der Heinrich-Studie und damit zur Anerkennung der Ergebnisse dieser Studie jedoch nicht auf der Grundlage dieser Gesichtspunkte gezogen.

117    Ebenso wenig kann das Vorbringen der Kommission und der ECHA durchgreifen, wonach die MMAD-Werte zwischen den beiden in Rede stehenden Studien vergleichbar seien und sich nahe der in Anhang I Abschnitt 3.1.2.3.2 der Verordnung Nr. 1272/2008 genannten Werte bewegten. Selbst wenn der MMAD-Wert, wie die Kommission geltend macht, die Verteilung und Ablagerung der Partikel in den Atemwegen beeinflussen könnte, ist festzustellen, dass der RAC den MMAD-Wert jedenfalls nicht berücksichtigt hat, als er die Morrow-Überlastungsberechnung vornahm, so dass dieser Wert keinen entscheidenden Einfluss auf seine Schlussfolgerung zum Grad der Lungenüberlastung bei der Heinrich-Studie und die Anerkennung ihrer Ergebnisse haben kann.

118    Darüber hinaus ist das Vorbringen der ECHA zur Zahl der Ratten, die bei der Heinrich-Studie bis zum Ende des Versuchszeitraums überlebt haben, zurückzuweisen, da sich aus der Stellungnahme des RAC ergibt, dass dieser die Auffassung vertrat, dass sich allein daraus keine Schlussfolgerung in Bezug auf die Frage ziehen lasse, ob der Grad der Lungenüberlastung bei dieser Studie annehmbar gewesen sei.

119    Aus den gleichen Gründen ist auch das Vorbringen der Kommission zurückzuweisen, wonach der RAC die Validität der Heinrich-Studie auf der Grundlage der Studie Thompson u. a. (2016) bestätigt habe. Selbst wenn diese Studie die Heinrich-Studie validieren könnte, was im vorliegenden Fall nicht feststeht, würde eine Validierung nichts daran ändern, dass der RAC seine Schlussfolgerungen zur Annehmbarkeit des Grades der Lungenüberlastung bei der Heinrich-Studie auf der Grundlage der Morrow-Überlastungsberechnung gezogen hat.

120    Entgegen dem Vorbringen der Kommission und der ECHA war die Morrow-Überlastungsberechnung daher ausschlaggebend für die Schlussfolgerungen des RAC, wonach die Lungenüberlastung bei der Heinrich-Studie in der annehmbaren Spanne gelegen habe und die Ergebnisse dieser Studie hinreichend verlässlich, relevant und angemessen seien. Diese Schlussfolgerungen waren aber, wie oben in Rn. 103 dargelegt, mit einem offensichtlichen Beurteilungsfehler behaftet.

121    Nach alledem nimmt, da die angefochtene Verordnung hinsichtlich der angefochtenen Einstufung und Kennzeichnung auf der Stellungnahme des RAC beruht (siehe oben, Rn. 8) und die Heinrich-Studie für den Einstufungsvorschlag des RAC für Titandioxid ausschlaggebend war (siehe oben, Rn. 77), der oben in Rn. 103 angesprochene offensichtliche Beurteilungsfehler der Schlussfolgerung des RAC, der die Kommission bei Erlass der angefochtenen Verordnung gefolgt ist und wonach die Ergebnisse der Heinrich-Studie im Sinne von Anhang I Abschnitt 3.6.2.2.1 der Verordnung Nr. 1272/2008 hinreichend verlässlich und angemessen seien, um die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung zu stützen, jegliche Plausibilität.

122    Daher ist dem ersten Teil stattzugeben, ohne dass das übrige Vorbringen der Klägerinnen im Rahmen dieses Teils geprüft zu werden braucht.

123    Im Interesse einer geordneten Rechtspflege ist jedoch die Prüfung der Klage fortzusetzen und über den zweiten Teil zu befinden, um den Rechtsstreit umfassend zu entscheiden.

2.      Zum zweiten Teil: Offensichtliche Beurteilungsfehler und Verstoß gegen die in der Verordnung Nr. 1272/2008 festgelegten Kriterien für die Einstufung und Kennzeichnung eines Stoffes als karzinogen, da die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung keinen Stoff mit der intrinsischen Eigenschaft, Krebs zu erzeugen, betreffe

124    Mit dem zweiten Teil machen die Klägerinnen insbesondere geltend, dass die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung gegen das in Art. 3 Abs. 1 und Art. 36 Abs. 1 Buchst. c in Verbindung mit Anhang I Abschnitt 3.6.2.2.1 der Verordnung Nr. 1272/2008 festgelegte Kriterium für die Einstufung eines Stoffes als karzinogen verstoße, da sie keinen Stoff mit der intrinsischen Eigenschaft, Krebs zu erzeugen, betreffe.

125    Insoweit machen die Klägerin zu 1 und die Klägerinnen zu 3 in den verbundenen Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20 u. a. geltend, dass die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung allein auf Form und Größe der Titandioxidpartikel gestützt sei, die aber keine intrinsischen Eigenschaften von Titandioxid seien, da sie veränderlich seien und auf der Bearbeitung des Stoffes beruhten. Außerdem habe der RAC in seiner Stellungnahme eingeräumt, dass die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung nicht auf eine intrinsische Gefahr im klassischen Sinn abstelle. Ferner ergebe sich der Umstand, dass die beobachtete Toxizität eine „Partikeltoxizität“ sei, die aus der bloßen Ansammlung von Partikeln einer bestimmten Größe in der Lunge resultiere, aus der Stellungnahme des RAC sowie aus dem fünften Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung, aus dem hervorgehe, dass die abgelagerten Partikel, nicht aber die gelösten Titandioxidmoleküle die beobachtete Toxizität verursachten.

126    Zu letzterem Punkt tragen die Klägerinnen zu 2 in ihrer Klageschrift in der Rechtssache T‑283/20 und ihren Streithilfeschriftsätzen in den verbundenen Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20 vor, der Umstand, dass die abgelagerten Partikel die beobachtete Toxizität verursachten, zeige, dass es sich um eine Partikeltoxizität handle, die keine intrinsische Gefahr im Sinne der Verordnung Nr. 1272/2008 darstelle, sondern vielmehr ein neues Konzept sei, das von dieser Verordnung nicht erfasst werde.

127    Außerdem sei die Entwicklung von Tumoren in den Lungen der Ratten, die der Stellungnahme des RAC sowie der angefochtenen Einstufung und Kennzeichnung zugrunde liege, eine verzerrende bzw. sekundäre Wirkung, die es auch bei anderen Stäuben gebe und die aus einer übermäßigen Lungenüberlastung und nicht aus einem angeblichen karzinogenen Potenzial von Titandioxid resultiere.

128    Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen. Erstens macht sie in den verbundenen Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20 geltend, dass aus der Stellungnahme des RAC zwar hervorgehe, dass die Form des Titandioxids für die Einstufung ausschlaggebend gewesen sei. Die Karzinogenität einer bestimmten Pulverform von Titandioxid sei jedoch als intrinsische Eigenschaft für die Einstufung anhand der Kriterien der Verordnung Nr. 1272/2008 anzusehen. Der Begriff der „intrinsischen“ Eigenschaft sei im Einklang mit Art. 5 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 8 Abs. 6 und Art. 9 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1272/2008 so zu verstehen, dass er sich auf die intrinsische Gefahr beziehe, die sich sowohl aus einem Stoff als auch aus einer bestimmten Form oder einem bestimmten physikalischen Zustand eines Stoffes einschließlich der Partikeltoxizität ergebe. Dass dieses Erfordernis in den Bestimmungen der Verordnung Nr. 1272/2008 durchgehend aufgestellt werde, unterstreiche die überragende Bedeutung von Formen, Aggregatzuständen und der voraussichtlichen Verwendung der Stoffe. Stoffe könnten nämlich in manchen Formen gefährlich sein und in anderen nicht, wie dies bei Titandioxid der Fall sei.

129    Die Größe der Partikel könne für die Ermittlung der Gefährlichkeit im Rahmen der Verordnung Nr. 1272/2008 relevant sein, wie sich insbesondere aus dem als „STOT‑RE“ bezeichneten Teil der Leitlinien der ECHA zur Anwendung der Kriterien der Verordnung Nr. 1272/2008 betreffend die Gefahrenklasse im Zusammenhang mit der spezifischen Toxizität für bestimmte Zielorgane bei wiederholter Exposition ergebe.

130    Obwohl in der Stellungnahme des RAC festgestellt worden sei, dass keine intrinsische Eigenschaft im klassischen Sinn vorgelegen habe, sei der RAC letztlich zu dem Schluss gelangt, dass eine intrinsische Toxizität gegeben sei, die für die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung nach der Verordnung Nr. 1272/2008 relevant sei.

131    In der Rechtssache T‑283/20 macht die Kommission geltend, dass die in der Stellungnahme des RAC genannten karzinogenen Wirkungen keine verzerrenden Effekte seien, sondern auf die physikalisch-chemischen Eigenschaften lungengängiger Titandioxidpartikel zurückzuführen seien, insbesondere auf ihre Größe und damit auf intrinsische Eigenschaften des Stoffes. Zudem sei die Karzinogenität von Titandioxid in Tierstudien aufgrund einer ausgeprägten, aber nicht übermäßigen Lungenüberlastung festgestellt worden, die für den Menschen relevant sei.

132    Im Übrigen bringt die Kommission in den verbundenen Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20 vor, dass andere Stoffe in Pulverform bereits Gegenstand von Einstufungen gewesen seien, wie etwa Bleipulver oder Nickelpulver, die in Anhang VI Teil 3 der Verordnung Nr. 1272/2008 aufgeführt seien.

133    Insoweit fügen das Königreich Dänemark und das Königreich Schweden hinzu, dass zahlreiche Stoffe aufgrund ihrer physikalischen Eigenschaften als karzinogen eingestuft worden seien, u. a. feuerfeste Keramikfasern und Asbestfasern, deren Einstufung auf ihrer Form und ihrer schlechten Löslichkeit beruhe.

134    Nach Auffassung der ECHA veranschaulichten die von der Kommission angeführten Beispiele (Blei und Nickel) sowie das Beispiel der (E‑)Glas-Mikrofasern Fälle, in denen die Partikelgröße – neben anderen relevanten intrinsischen Eigenschaften – für die Einstufung berücksichtigt worden sei, und in diesen Fällen sei die Einstufung nicht rechtswidrig gewesen.

135    Vorab ist zunächst festzustellen, dass sich aus der Verordnung Nr. 1272/2008 ergibt, dass die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung darauf abzielt, zu bestimmen, welche intrinsischen Eigenschaften von Stoffen zu einer Einstufung als gefährlich führen sollen, damit die Gefahreneigenschaften von Stoffen (und Gemischen, die diese Stoffe enthalten) korrekt ermittelt und ihre Gefahren entsprechend angegeben werden können (siehe oben, Rn. 28).

136    So sollen mit der harmonisierten Einstufung und Kennzeichnung nach der Verordnung Nr. 1272/2008 Informationen über die durch die intrinsischen Eigenschaften der Stoffe bedingten Gefahren übermittelt werden (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 21. Juli 2011, Nickel Institute, C‑14/10, EU:C:2011:503, Rn. 81).

137    Sodann ist daran zu erinnern, dass die Einstufung eines Stoffes als karzinogen gemäß Art. 36 und Anhang I Abschnitt 3.6.2.2.1 der Verordnung Nr. 1272/2008 Stoffe mit der intrinsischen Eigenschaft, Krebs zu erzeugen, betrifft (siehe oben, Rn. 34 bis 37).

138    Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff „intrinsische Eigenschaften“, auch wenn er in der Verordnung Nr. 1272/2008 nicht enthalten ist, in seinem wörtlichen Sinne dahin auszulegen ist, dass er die „Eigenschaften eines Stoffes, die ihm eigen sind“, bezeichnet.

139    Diese Auslegung des Begriffs „intrinsische Eigenschaften“ steht im Einklang mit den Zielen und dem Zweck der harmonisierten Einstufung und Kennzeichnung gemäß der Verordnung Nr. 1272/2008, aus denen sich ergibt, dass nur die einem Stoff eigenen Eigenschaften zu seiner Einstufung als gefährlicher Stoff führen sollen, damit die mit diesen Eigenschaften verbundenen Gefahren korrekt ermittelt und entsprechend angegeben werden können (siehe oben, Rn. 135 und 136).

140    Diese Auslegung steht auch im Einklang mit den Kriterien des GHS, die in das Unionsrecht integriert wurden (siehe oben, Rn. 29). Nr. 1.1.1.6 und Fn. 1 sowie Nr. 1.1.3.1.1 des GHS in ihrer zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Verordnung geltenden Fassung von 2013 unterscheiden u. a. zwischen den intrinsischen Eigenschaften eines Stoffes, auf die sich der Prozess der Einstufung von Gefahren bezieht, und anderen nicht stoffspezifischen Eigenschaften.

141    Ferner steht diese Auslegung im Einklang mit dem Umstand, dass die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung nach der Verordnung Nr. 1272/2008 auf die Bewertung von Gefahren und nicht auf die in der Verordnung Nr. 1907/2006 vorgesehene Risikobewertung abzielt. Wie sich aus der oben in Rn. 39 angeführten Rechtsprechung ergibt, darf eine Bewertung der durch die intrinsischen Eigenschaften eines Stoffes bedingten Gefahren – anders als eine Risikobewertung – nicht auf bestimmte Verwendungen beschränkt werden und kann unabhängig vom Ort der Verwendung des Stoffes und vom Grad der Exposition wirksam erfolgen.

142    Im Licht dieses Begriffs der intrinsischen Eigenschaften sind daher Art. 3 Abs. 1 und Art. 36 Abs. 1 Buchst. c in Verbindung mit Anhang I Abschnitt 3.6.2.2.1 der Verordnung Nr. 1272/2008 auszulegen, aus denen sich ergibt, dass die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung eines Stoffes als karzinogen nur auf den intrinsischen Eigenschaften des Stoffes, die seine intrinsische Eigenschaft begründen, Krebs zu erzeugen, d. h. auf den dem Stoff eigenen Eigenschaften, die seine Eigenschaft begründen, für sich genommen Krebs zu erzeugen, beruhen darf.

143    Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass mit der angefochtenen Einstufung und Kennzeichnung eine Gefahr der Karzinogenität der Kategorie 2 bei Einatmen identifiziert und kommuniziert werden soll, die in der Stellungnahme des RAC im Wesentlichen auf der Grundlage der Ergebnisse der Heinrich-Studie beschrieben wurde, bei der infolge einer Lungenüberlastung mit Titandioxidnanopartikeln bösartige Tumore in den Lungen von Laborratten beobachtet wurden (siehe oben, Rn. 70 und 78).

144    Die oben in Rn. 143 genannte Gefahr der Karzinogenität wird in der Stellungnahme des RAC als „nicht intrinsisch im klassischen Sinn“ eingestuft, da der RAC zu dem Ergebnis kam, dass „die Wirkungsweise der Karzinogenität bei Ratten nicht als eine intrinsische Toxizität im klassischen Sinn angesehen werden kann“. Außerdem geht aus der Anmerkung W hervor, dass es die Kommission für erforderlich gehalten hat, die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung mit einer Beschreibung der „spezifische[n] Toxizität des Stoffes“ zu versehen (siehe oben, Rn. 10).

145    Diese „nicht im klassischen Sinn intrinsische“ oder „spezifische“ Gefahr der Karzinogenität, auf die sich die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung bezieht, ergibt sich aus einer Reihe von Gesichtspunkten, die in der Stellungnahme des RAC und in der angefochtenen Verordnung angeführt werden.

146    Erstens besteht nämlich die Gefahr der Karzinogenität, auf die sich die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung bezieht, nur in Verbindung mit bestimmten lungengängigen Titandioxidpartikeln, wenn sie in einer bestimmten Form, einem bestimmten Aggregatzustand, einer bestimmten Größe und einer bestimmten Menge vorhanden sind. Aus diesem Grund hat es die Kommission für notwendig erachtet, „die lungengängigen Titandioxidpartikel im Eintrag zu Titandioxid festzulegen“ (vgl. fünfter Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung), und ist damit vom Vorschlag des RAC abgewichen, den Stoff unter der chemischen Bezeichnung „Titandioxid“ ohne weitere physikalisch-chemische Beschreibung einzustufen.

147    So ergibt sich aus der chemischen Bezeichnung des Stoffes in dem durch die angefochtene Verordnung hinzugefügten Eintrag in Tabelle 3 des Anhangs VI Teil 3 der Verordnung Nr. 1272/2008, dass die Gefahr der Karzinogenität, auf die sich die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung bezieht, nur in Verbindung mit Titandioxidpartikeln besteht, die kumulativ eine bestimmte Form und einen bestimmten physikalischen Zustand (Pulver) aufweisen, eine bestimmte Größe (aerodynamischer Durchmesser höchstens 10 μm) haben, in einer bestimmten Menge (mindestens 1 %) vorhanden und lungengängig (Expositionsweg: Einatmen) sind.

148    Zweitens zeigt sich die Gefahr der Karzinogenität, auf die sich die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung bezieht, nur bei einer Lungenüberlastung, d. h. beim Einatmen großer Mengen von Partikeln, die zu einer signifikanten Beeinträchtigung der Reinigungsmechanismen für Partikel in den Lungen führen.

149    In der Anmerkung W wird ausdrücklich ausgeführt, dass die karzinogene Wirkung „besteht, wenn lungengängiger Staub in Mengen eingeatmet wird, die zu einer signifikanten Beeinträchtigung der natürlichen Reinigungsmechanismen für Partikel in den Lungen führen“. Im fünften Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung heißt es, dass die krebserregende Wirkung mit dem Einatmen von lungengängigen Titandioxidpartikeln sowie der Ablagerung und der schlechten Löslichkeit dieser Partikel in der Lunge in Verbindung gebracht wird (siehe oben, Rn. 83).

150    Ferner geht aus der Stellungnahme des RAC hervor, dass die Tumore bei Ratten stets bei Lungenüberlastung beobachtet wurden. In Anbetracht dieses Kontexts der Lungenüberlastung erachtete es der RAC für notwendig, die Morrow-Überlastungsberechnung zu verwenden, um zu bewerten, ob die Lungenüberlastung, der die Tiere bei der Lee- und der Heinrich-Studie ausgesetzt waren, ausgeprägt oder übermäßig war (siehe oben, Rn. 85).

151    Drittens entspricht die Gefahr der Karzinogenität, auf die sich die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung bezieht, nach dem Wortlaut der Stellungnahme des RAC einer „Partikeltoxizität“, die durch „die abgelagerten Partikel, nicht aber die gelösten Titandioxidmoleküle“ verursacht wird. Ferner ergibt sich aus der Stellungnahme des RAC, dass die bei Ratten beobachtete Entwicklung von Tumoren nicht durch den unmittelbaren Kontakt von Titandioxidpartikeln mit epithelialen Lungenzellen ausgelöst wurde, sondern durch die hohe Partikelbelastung in den Alveolarmakrophagen der Lunge und der daraus folgenden signifikanten Beeinträchtigung der Reinigungsmechanismen für Partikel, was zu ausgeprägten und anhaltenden Entzündungsreaktionen führte.

152    Diese Beurteilungen werden durch die Anmerkung W bestätigt, aus der hervorgeht, dass die Gefahr einer karzinogenen Wirkung infolge einer signifikanten Beeinträchtigung der Reinigungsmechanismen für Partikel in den Lungen entsteht, wenn die Partikel in hierfür ausreichenden Mengen eingeatmet werden.

153    Im Übrigen geht aus der Stellungnahme des RAC hervor, dass die beobachtete Toxizität, die nicht nur bei Titandioxidpartikeln, sondern auch bei anderen schwer löslichen Partikeln mit geringer Toxizität besteht, weder mit den Gefahren bestimmter Fasern, die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) identifiziert wurden (im Folgenden: WHO-Fasern), noch mit einer zusätzlichen spezifischen Toxizität von Titandioxidpartikeln aufgrund von Oberflächenbeschichtungen zusammenhängt.

154    Vor dem Hintergrund der oben in den Rn. 146 bis 153 genannten Gesichtspunkte kam der RAC zunächst zu dem Schluss, dass „die Wirkungsweise der Karzinogenität bei Ratten nicht als eine intrinsische Toxizität im klassischen Sinn angesehen werden kann“. Sodann vertrat er die Ansicht, dass sie im Rahmen der harmonisierten Einstufung und Kennzeichnung gemäß der Verordnung Nr. 1272/2008 dennoch zu berücksichtigen sei. Schließlich ist die Kommission dieser Stellungnahme gefolgt und hat die angefochtene Verordnung erlassen, wobei sie es für notwendig erachtet hat, die Anmerkung W einzufügen, um die „spezifische Toxizität des Stoffes“ zu beschreiben (siehe oben, Rn. 144).

155    Es stellt sich im vorliegenden Fall also die Frage, ob die Kommission durch den Erlass der angefochtenen Verordnung einen offensichtlichen Beurteilungsfehler bei der Anwendung des in Anhang I Abschnitt 3.6.2.2.1 der Verordnung Nr. 1272/2008 vorgesehenen Kriteriums „Stoff mit der intrinsischen Eigenschaft, Krebs zu erzeugen“ begangen hat.

156    Zwar ist die Gefahr der Karzinogenität, auf die sich die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung bezieht, mit Titandioxidpartikeln verbunden, die bestimmte Eigenschaften aufweisen, nämlich eine bestimmte Größe, eine bestimmte Form und eine schlechte Löslichkeit (siehe oben, Rn. 83). Allerdings wird die beobachtete Toxizität der Stellungnahme des RAC zufolge nicht durch die Eigenschaften der Titandioxidpartikel als solche verursacht, sondern durch die Ablagerung dieser Partikel in den Alveolarmakrophagen der Lunge in Mengen, die ausreichen, um zu einer Lungenüberlastung zu führen, die die signifikante Beeinträchtigung der Reinigungsmechanismen für Partikel in den Lungen nach sich zieht (siehe oben, Rn. 151 und 152).

157    Selbst wenn man also davon ausgeht, dass die Eigenschaften der Partikel wie ihre Größe, Form und schlechte Löslichkeit – unabhängig davon, ob es sich dabei, wie von der Kommission vorgetragen, um intrinsische Eigenschaften im Sinne der Verordnung Nr. 1272/2008 handelt – bei ihrer Ansammlung in der Lunge eine Rolle spielen, ändert dies nichts daran, dass die in der Stellungnahme des RAC beschriebene Wirkungsweise der Karzinogenität, die seiner Ansicht nach nicht als „intrinsische Toxizität im klassischen Sinn“ angesehen werden konnte, nicht von einer intrinsischen Eigenschaft der Titandioxidpartikel, Krebs zu erzeugen, herrühren kann.

158    Eines der Schlüsselelemente der beobachteten Toxizität ist nämlich die Menge der eingeatmeten Partikel, die ausreichend sein muss, um eine signifikante Beeinträchtigung der Reinigungsmechanismen für Partikel herbeizuführen. Diese Beeinträchtigung ist unerlässlich für das Auftreten einer chronischen Entzündung, die ihrerseits die beobachteten krebserzeugenden Wirkungen nach sich zieht (siehe oben, Rn. 146 bis 153). Es kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass eine Ansammlung von Partikeln in der Lunge in Mengen, die ausreichen, um eine signifikante Beeinträchtigung der Reinigungsmechanismen für Partikel hervorzurufen, was erst überprüft werden kann, wenn bestimmte Mengen an Partikeln eingeatmet werden, von den intrinsischen Eigenschaften der in Rede stehenden Partikel herrührt.

159    Mithin beschreibt die Anmerkung W entgegen ihrem zweiten Absatz nicht lediglich eine „spezifische Toxizität“ des Stoffes, die „kein Kriterium für die Einstufung gemäß [der Verordnung Nr. 1272/2008 darstellt]“, sondern eine Gefahr, die nicht unter das Einstufungskriterium für die Gefahr der Karzinogenität gemäß Anhang I Abschnitt 3.6.2.2.1 der Verordnung Nr. 1272/2008 fällt, nämlich dass es sich um einen Stoff mit der intrinsischen Eigenschaft, Krebs zu erzeugen, handeln muss.

160    Daher hat die Kommission, indem sie der Schlussfolgerung des RAC gefolgt ist, wonach „die Wirkungsweise der Karzinogenität bei Ratten nicht als eine intrinsische Toxizität im klassischen Sinn angesehen werden kann“, die aber im Rahmen der harmonisierten Einstufung und Kennzeichnung gemäß der Verordnung Nr. 1272/2008 zu berücksichtigen sei, bei der Anwendung des in Art. 3 Abs. 1 und Art. 36 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang I Abschnitt 3.6.2.2.1 der Verordnung Nr. 1272/2008 für die Einstufung eines Stoffes als karzinogen festgelegten Kriteriums einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen.

161    Somit ist festzustellen, dass die angefochtene Verordnung hinsichtlich der angefochtenen Einstufung und Kennzeichnung unter Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 und Art. 36 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang I Abschnitt 3.6.2.2.1 der Verordnung Nr. 1272/2008 erlassen worden ist.

162    Dass sich die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung auf die Kategorie 2 der Gefahrenklasse Karzinogenität bezieht (siehe oben, Rn. 46), stellt dieses Ergebnis nicht in Frage. Das oben in Rn. 160 genannte Einstufungskriterium für die Gefahrenklasse der Karzinogenität ist nämlich für die beiden jeweiligen Gefahrenkategorien stets das gleiche, denn die beiden Kategorien unterscheiden sich gemäß den oben in Rn. 38 angeführten Bestimmungen von Abschnitt 3.6.2.1 und Tabelle 3.6.1 des Anhangs I der Verordnung Nr. 1272/2008 nur durch die Aussagekraft der Nachweise und das Gewicht der Hinweise.

163    Das Vorbringen der Kommission und der sie unterstützenden Streithelfer stellt diese Schlussfolgerungen nicht in Frage.

164    Erstens macht die Kommission im Wesentlichen geltend, dass der Begriff der „intrinsischen“ Eigenschaft im Einklang mit Art. 5 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 8 Abs. 6 und Art. 9 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1272/2008 so zu verstehen sei, dass er sich auf die intrinsische Gefahr beziehe, die sich sowohl aus einem Stoff als auch aus einer bestimmten Form oder einem bestimmten physikalischen Zustand eines Stoffes oder eines Gemischs ergebe.

165    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 5 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 8 Abs. 6 und Art. 9 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1272/2008, auf die sich die Kommission beruft, das in Titel V dieser Verordnung vorgesehene Verfahren zur Harmonisierung der Einstufung und Kennzeichnung von Stoffen nicht unmittelbar betreffen und erst recht nicht zu den Kriterien zählen, die für die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung eines Stoffes als karzinogen festgelegt worden sind.

166    Diese Bestimmungen betreffen vielmehr die oben in Rn. 31 genannte Verpflichtung zur Selbsteinstufung eines Stoffes oder Gemischs durch den Hersteller, den Importeur oder den nachgeschalteten Anwender, wenn der Stoff oder das Gemisch keine harmonisierte Einstufung hat und gefährliche Eigenschaften aufweist. Daher müssen sich die Informationen, die relevant sind, um zu bestimmen, ob mit einem Stoff eine Gefahr verbunden ist, sowie die Bewertung dieser Informationen und gegebenenfalls die Anwendung der Einstufungskriterien für jede Gefahrenklasse auf die Formen oder Aggregatzustände beziehen, in denen der Stoff in Verkehr gebracht oder von den Personen oder Unternehmen verwendet wird, denen eine solche Verpflichtung auferlegt wird.

167    Selbst wenn man davon ausgeht, dass sich die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung, wie die Kommission geltend macht, auf eine intrinsische Gefahr beziehen kann, die von einer bestimmten Form oder einem bestimmten Aggregatzustand eines Stoffes ausgeht, ist es, um die Kriterien für die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung zu erfüllen, dennoch entscheidend, dass sich die Gefahr entweder aus den intrinsischen Eigenschaften des Stoffes oder aus den intrinsischen Eigenschaften eines bestimmten Aggregatzustands oder einer bestimmten Form des Stoffes ergibt, was im vorliegenden Fall aus den oben in den Rn. 157 und 158 angegebenen Gründen nicht der Fall ist.

168    Zweitens bringt die Kommission vor, die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung habe sich auf physikalisch-chemische Eigenschaften der Titandioxidpartikel gestützt, ohne jedoch konkret etwas vorzutragen, was die Tatsache in Frage stellen könnte, dass die beobachtete Toxizität nach dem Wortlaut der Stellungnahme des RAC nicht den Partikeln als solchen beigemessen wird, sondern ihrer Ablagerung in der Lunge in Mengen, die zu einer signifikanten Beeinträchtigung der Reinigungsmechanismen für Partikel führen, was erst überprüft werden kann, wenn die Partikelexposition einen bestimmten Schwellenwert erreicht.

169    Außerdem wird die beobachtete Karzinogenität, wie sich aus der Stellungnahme des RAC ergibt, weder den gelösten Titandioxidmolekülen noch dem unmittelbaren Kontakt der Titandioxidpartikel mit den epithelialen Lungenzellen noch der Fasermorphologie oder einer aus toxikologischer Sicht relevanten Oberflächenbeschichtung dieser Partikel zugeschrieben (siehe oben, Rn. 151 und 153).

170    Drittens ist festzustellen, dass die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung entgegen dem Vorbringen der Kommission und der sie unterstützenden Streithelfer nicht mit den harmonisierten Einstufungen und Kennzeichnungen, auf die sie Bezug nehmen, vergleichbar ist.

171    So ist in Bezug auf Blei festzustellen, dass sowohl massives Blei als auch Bleipulver eingestuft wurden, und zwar in beiden Fällen in die Gefahrenklasse „reproduktionstoxisch“, mit dem Unterschied, dass für Bleipulver eine spezifische Konzentrationsgrenze festgelegt wurde (vgl. Anhang VI Teil 3 Tabelle 3 der Verordnung Nr. 1272/2008).

172    Ebenso wurden sowohl Nickel massiv als auch Nickelpulver in die Gefahrenklasse Karzinogenität Kategorie 2 eingestuft, mit dem Unterschied, dass Nickelpulver auch als „wassergefährdend“ eingestuft wurde (vgl. Anhang VI Teil 3 Tabelle 3 der Verordnung Nr. 1272/2008).

173    Daraus folgt, dass die Einstufungen von Nickel und Blei sowie ihrer jeweiligen Pulver nicht mit der Einstufung von Titandioxid vergleichbar sind, bei dem nur die Partikel einer bestimmten Größe, nicht aber der massive Stoff den Gegenstand der angefochtenen Einstufung und Kennzeichnung bilden, die sich zudem auf eine andere Klasse von Gesundheitsgefahren bezieht.

174    Was Asbestfasern betrifft, wird der Stoff als solcher und nicht seine Partikel einer bestimmten Größe als karzinogen eingestuft (vgl. Anhang VI Teil 3 Tabelle 3 der Verordnung Nr. 1272/2008).

175    In Bezug auf die (E‑)Glas-Mikrofasern ergibt sich aus den Stellungnahmen des RAC vom 4. Dezember 2014, auf deren Grundlage ihre Einstufung vorgenommen wurde (vgl. Verordnung [EU] 2016/1179 der Kommission vom 19. Juli 2016 zur Änderung der Verordnung Nr. 1272/2008 zwecks Anpassung an den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt [ABl. 2016, L 195, S. 11]), dass die Einstufung dieser Fasern als karzinogen auf einer Toxizität beruht, die im Wesentlichen durch ihre Form und Größe, aber auch ihre Oberflächenchemie und Biopersistenz begründet wird. Daraus folgt, dass diese Einstufung nicht mit der Einstufung von Titandioxid vergleichbar ist, dessen getestete Partikel aus toxikologischer Sicht eine geringe oder gar keine Oberflächenbeschichtung hatten (siehe oben, Rn. 153).

176    Feuerfeste Keramikfasern wurden als karzinogen der Kategorie 1B eingestuft (vgl. Anhang VI Teil 3 Tabelle 3 der Verordnung Nr. 1272/2008). Wie sich aus der Antwort der Kommission auf eine im Wege einer prozessleitenden Maßnahme in den verbundenen Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20 gestellte Frage sowie aus ihrer Antwort auf eine Frage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung vom 12. Mai 2022 ergibt, beruhte diese Einstufung auf einer Wirkungsweise der Karzinogenität, die – wie bei den WHO-Fasern – mit den Eigenschaften dieser Fasern wie Länge, Durchmesser und Biopersistenz zusammenhängt. Im Gegensatz zu den feuerfesten Keramikfasern wiesen die getesteten Titandioxidpartikel jedoch keine Biopersistenz und Fasermorphologie auf und erfüllten daher nicht die Kriterien der WHO für WHO‑Fasern, wie sich aus der Stellungnahme des RAC ergibt (siehe oben, Rn. 153).

177    Somit veranschaulichen die oben genannten Beispiele nur Fälle, in denen zwar Form und Größe der Partikel berücksichtigt wurden, aber dennoch bestimmte Eigenschaften, die den in Rede stehenden Stoffen eigen sind, für ihre Einstufung ausschlaggebend waren, was dem vorliegenden Fall nicht entspricht. Die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung ist daher entgegen dem Vorbringen der Kommission mit keinem der angeführten Beispiele vergleichbar.

178    Nach alledem ist dem zweiten Teil stattzugeben, ohne dass das übrige Vorbringen der Klägerinnen im Rahmen dieses Teils geprüft zu werden braucht.

179    Demzufolge ist dem zweiten Klagegrund, dem ersten und dem fünften Teil des siebten Klagegrundes und dem Vorbringen der Klägerinnen zu 2 in ihren Streithilfeschriftsätzen in den verbundenen Rechtssachen T‑279/20 und T‑288/20 sowie dem ersten Klagegrund in der Rechtssache T‑283/20 stattzugeben, mit denen offensichtliche Beurteilungsfehler und ein Verstoß gegen die in der Verordnung Nr. 1272/2008 festgelegten Kriterien für die Einstufung und Kennzeichnung eines Stoffes als karzinogen gerügt werden.

180    Die angefochtene Verordnung ist daher für nichtig zu erklären, soweit sie die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung betrifft, ohne dass die übrigen Klagegründe und Argumente der Klägerinnen geprüft zu werden brauchen.

 Kosten

181    Nach Art. 134 Art. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission unterlegen ist, sind ihr gemäß den Anträgen der Klägerinnen und der sie unterstützenden Streithelfer neben ihren eigenen Kosten die Kosten aufzuerlegen, die in der Rechtssache T‑279/20 der Klägerin zu 1, den Klägerinnen zu 2, der Ettengruber GmbH Abbruch und Tiefbau, der Ettengruber GmbH Recyling und Verwertung und TIGER Coatings, in der Rechtssache T‑283/20 den Klägerinnen zu 2, Cefic, CEPE, BCF, ACA, Mytilineos und Delfi-Distomon sowie in der Rechtssache T‑288/20 den Klägerinnen zu 3, den Klägerinnen zu 2, Sto und Rembrandtin Coatings entstanden sind.

182    Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten und die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Nach Art. 1 Abs. 2 Buchst. f der Verfahrensordnung bezeichnet der Begriff „Organe“ die in Art. 13 Abs. 1 EUV genannten Organe der Union und die Einrichtungen oder sonstigen Stellen, die durch die Verträge oder einen zu deren Durchführung erlassenen Rechtsakt geschaffen worden sind und die in Verfahren vor dem Gericht Partei sein können. Gemäß Art. 100 der Verordnung Nr. 1907/2006 ist die ECHA eine Einrichtung der Union. Folglich tragen das Königreich Dänemark, die Französische Republik, das Königreich der Niederlande, das Königreich Schweden, die Republik Slowenien, das Parlament, der Rat und die ECHA ihre eigenen Kosten.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Neunte erweiterte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die verbundenen Rechtssachen T279/20 und T288/20 sowie die Rechtssache T283/20 werden zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.

2.      Die Delegierte Verordnung (EU) 2020/217 der Kommission vom 4. Oktober 2019 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen zwecks Anpassung an den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt und zur Berichtigung der Verordnung wird für nichtig erklärt, soweit sie die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung von Titandioxid in Pulverform mit mindestens 1 % Partikel mit aerodynamischem Durchmesser von höchstens 10 μm betrifft.

3.      Die Europäische Kommission trägt neben ihren eigenen Kosten die Kosten, die in der Rechtssache T279/20 der CWS Powder Coatings GmbH, der Billions Europe Ltd und den weiteren Streithelferinnen, deren Namen im Anhang aufgeführt sind, der Ettengruber GmbH Abbruch und Tiefbau, der Ettengruber GmbH Recycling und Verwertung und der TIGER Coatings GmbH & Co. KG, in der Rechtssache T283/20 der Billions Europe Ltd und den weiteren Klägerinnen, deren Namen im Anhang aufgeführt sind, dem Conseil européen de l’industrie chimique – European Chemical Industry Council (Cefic), dem Conseil européen de l’industrie des peintures, des encres d’imprimerie et des couleurs d’art (CEPE), der British Coatings Federation Ltd (BCF), der American Coatings Association, Inc. (ACA), der Mytilineos SA und der Delfi-Distomon Anonymos Metalleftiki Etaireia sowie in der Rechtssache T288/20 der Brillux GmbH & Co. KG, der Daw SE, der Billions Europe Ltd und den weiteren Streithelferinnen, deren Namen im Anhang aufgeführt sind, der Sto SE & Co. KGaA und der Rembrandtin Coatings GmbH entstanden sind.

4.      Das Königreich Dänemark, die Französische Republik, das Königreich der Niederlande, das Königreich Schweden, die Republik Slowenien, das Europäische Parlament, der Rat der Europäischen Union und die Europäische Chemikalienagentur (ECHA) tragen ihre eigenen Kosten.

Costeira

Kancheva

Perišin

Zilgalvis

 

Dimitrakopoulos

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 23. November 2022.

Der Kanzler

 

Der Präsident

E. Coulon

 

S. Papasavvas


Inhaltsverzeichnis


I. Vorgeschichte des Rechtsstreits

II. Anträge der Parteien

III. Rechtliche Würdigung

A. Vorbemerkungen zur harmonisierten Einstufung und Kennzeichnung, nach der von Stoffen die Gefahr einer karzinogenen Wirkung ausgeht

B. Vorbemerkungen zur Intensität der Kontrolle durch das Gericht

C. Zu den Klagegründen und Argumenten, mit denen offensichtliche Beurteilungsfehler und ein Verstoß gegen die in der Verordnung Nr. 1272/2008 festgelegten Kriterien für die Einstufung eines Stoffes als karzinogen gerügt werden

1. Zum ersten Teil: Offensichtliche Beurteilungsfehler und Verstoß gegen die in der Verordnung Nr. 1272/2008 festgelegten Kriterien für die Einstufung und Kennzeichnung eines Stoffes als karzinogen hinsichtlich der Anerkennung und Zuverlässigkeit der Heinrich-Studie, auf der die Stellungnahme des RAC beruht

1) Zur Intensität der Kontrolle durch das Gericht

2) Zur Relevanz der Heinrich-Studie für die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung

3) Zum offensichtlichen Beurteilungsfehler in Bezug auf den Wert der Partikeldichte

2. Zum zweiten Teil: Offensichtliche Beurteilungsfehler und Verstoß gegen die in der Verordnung Nr. 1272/2008 festgelegten Kriterien für die Einstufung und Kennzeichnung eines Stoffes als karzinogen, da die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung keinen Stoff mit der intrinsischen Eigenschaft, Krebs zu erzeugen, betreffe

Kosten


*      Verfahrenssprachen: Deutsch und Englisch.


1      Die Liste der weiteren Streithelferinnen ist nur der den Parteien zugestellten Fassung als Anhang beigefügt.


2      Die Liste der weiteren Klägerinnen ist nur der den Parteien zugestellten Fassung als Anhang beigefügt.


3      Die Liste der weiteren Streithelferinnen ist nur der den Parteien zugestellten Fassung als Anhang beigefügt.