Language of document : ECLI:EU:C:2024:271

BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

18. März 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 2, 206 und 273 – Grundsatz der steuerlichen Neutralität – Ermäßigung der Mehrwertsteuer, die von den vom Erdbeben in den Abruzzen am 6. April 2009 betroffenen Steuerpflichtigen geschuldet wird“

In der Rechtssache C‑37/23 [Giocevi](i)

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) mit Entscheidung vom 16. Januar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Januar 2023, in dem Verfahren

Agenzia delle Entrate

gegen

PR

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra (Berichterstatter) sowie der Richter N. Jääskinen und M. Gavalec,

Generalanwältin: L. Medina,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von PR, vertreten durch F. Camerini und A. Rossi, Avvocati,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Herold, J. Jokubauskaitė und F. Tomat als Bevollmächtigte,

aufgrund der nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,

folgenden

Beschluss

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der im Urteil vom 17. Juli 2008, Kommission/Italien (C‑132/06, EU:C:2008:412), und im Beschluss vom 15. Juli 2015, Nuova Invincibile (C‑82/14, EU:C:2015:510), aufgestellten Grundsätze zum gemeinsamen Mehrwertsteuersystem.

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Agenzia delle Entrate (Agentur der Einnahmen, Italien, im Folgenden: Steuerverwaltung) und PR, einem Notar, über dessen Antrag auf Rückerstattung von 60 % der von ihm für den Zeitraum von April 2009 bis Dezember 2010 gezahlten Mehrwertsteuer.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Der 45. Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) lautet:

„Die Pflichten der Steuerpflichtigen sollten soweit wie möglich harmonisiert werden, um die erforderliche Gleichmäßigkeit bei der [Erhebung der Mehrwertsteuer] in allen Mitgliedstaaten sicherzustellen.“

4        Art. 2 der Richtlinie bestimmt:

„(1)      Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:

a)      Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt;

c)      Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt;

…“

5        Art. 206 der Richtlinie sieht vor:

„Jeder Steuerpflichtige, der die [Mehrwertsteuer] schuldet, hat bei der Abgabe der Mehrwertsteuererklärung nach Artikel 250 den sich nach Abzug der Vorsteuer ergebenden Mehrwertsteuerbetrag zu entrichten. Die Mitgliedstaaten können jedoch einen anderen Termin für die Zahlung dieses Betrags festsetzen oder Vorauszahlungen erheben.“

6        Art. 273 der Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.

…“

 Italienisches Recht

 Decreto-legge Nr. 78 vom 31. Mai 2010

7        Art. 39 Abs. 1 des Decreto-legge n. 78 – Misure urgenti in materia di stabilizzazione finanziaria e di competitività economica (Decreto-legge Nr. 78 über Sofortmaßnahmen auf dem Gebiet der Finanzstabilisierung und der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit, mit Änderungen in ein Gesetz umgewandelt durch das Gesetz Nr. 122 vom 30. Juli 2010) vom 31. Mai 2010 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 125 vom 31. Mai 2010) bestimmt, dass für natürliche Personen mit Unternehmenseinkünften oder Einkünften aus selbständiger Erwerbstätigkeit und für andere als natürliche Personen mit einem Umsatz von nicht mehr als 200 000 Euro die Frist für die Aussetzung von Steuerpflichten und Steuerzahlungen bis zum 20. Dezember 2010 verlängert wird, ohne dass bereits gezahlte Beträge rückerstattet werden. Art. 39 Abs. 3 sieht vor, dass die Frist für die Aussetzung der Sozialversicherungs- und Vorsorgebeiträge sowie der Beiträge zur Pflichtversicherung gegen Unfälle und Berufskrankheiten für all diese Personen bis zum 15. Dezember 2010 verlängert wird, ohne dass bereits gezahlte Beträge rückerstattet werden. Diese Maßnahmen gelten nicht für die Quellensteuern, die auf andere Einkünfte als solche aus beruflicher oder selbständiger Tätigkeit und damit zusammenhängende Zahlungen zu erheben sind.

 Gesetz Nr. 183/2011

8        Art. 33 Abs. 28 der Legge n. 183 – Disposizioni per la formazione del bilancio annuale e pluriennale dello Stato (legge di stabilità 2012) (Gesetz Nr. 183 mit Bestimmungen zur Festlegung des jährlichen und mehrjährigen Staatshaushalts [Stabilitätsgesetz 2012]) vom 12. November 2011 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 265 vom 14. November 2011) in der für den Ausgangsrechtsstreit geltenden Fassung (im Folgenden: Gesetz Nr. 183/2011) sieht vor, dass zur Ermöglichung der Rückkehr aus der Notlage, die durch das Erdbeben in den Abruzzen (Italien) vom 6. April 2009 verursacht wurde, die Erhebung der in Art. 39 des Decreto-legge Nr. 78 vom 31. Mai 2010 vorgesehenen Steuern ohne Anwendung von Strafzuschlägen, Zinsen und Nebenkosten durch Zahlung von 120 gleichen Monatsraten ab Januar 2012 wiederaufgenommen wird und dass der Betrag, der für alle zuvor ausgesetzten Steuern und Beiträge geschuldet wird, abzüglich der bereits geleisteten Zahlungen auf 40 % reduziert wird.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

9        PR, ein Notar, beantragte die Rückerstattung eines Betrags von 102 088 Euro in Bezug auf die für den Zeitraum von April 2009 bis Dezember 2010 gezahlte Mehrwertsteuer auf der Grundlage von Art. 33 Abs. 28 des Gesetzes Nr. 183/2011, der eine Ermäßigung der Abgaben, deren Zahlung infolge des Erdbebens in den Abruzzen vom 6. April 2009 ausgesetzt worden war, um 60 % vorsieht.

10      Die Steuerverwaltung lehnte diesen Antrag mit der Begründung ab, dass die geltend gemachte Bestimmung die Rückerstattung bereits entrichteter Mehrwertsteuerbeträge ausschließe.

11      Gegen diesen Bescheid erhob PR erfolglos Klage vor der Commissione tributaria provinciale di L’Aquila (Provinzfinanzkommission L’Aquila, Italien).

12      PR legte bei der Commissione tributaria regionale dell’Abruzzo (Regionale Finanzkommission Abruzzen, Italien) Berufung ein und machte geltend, dass sich die Steuerpflichtigen, die die Mehrwertsteuer noch nicht gezahlt hätten und daher in den Genuss der Ermäßigung der zu leistenden Zahlung kommen könnten, in derselben Situation befänden wie die Steuerpflichtigen, die diese Zahlungen geleistet hätten und denen es daher möglich sein müsse, die Rückerstattung der zu viel gezahlten Beträge zu fordern.

13      Die Steuerverwaltung beantragte ihrerseits die Aussetzung des Verfahrens bis zur abschließenden Entscheidung der Europäischen Kommission am Ende des förmlichen Verfahrens zur Prüfung staatlicher Beihilfen nach Art. 108 AEUV, das mit Beschluss vom 17. Oktober 2012, Staatliche Beihilfen SA.33083 (2012/C) (ex 2012/NN) & SA.35083 (2012/C) (ex 2012/NN) – Ermäßigte Steuern und Versicherungsbeiträge im Zusammenhang mit Naturkatastrophen und Ermäßigte Steuern und Versicherungsbeiträge im Zusammenhang mit dem Erdbeben von 2009 in den Abruzzen (alle Wirtschaftszweige außer Landwirtschaft) (ABl. 2012, C 381, S. 32), eröffnet worden war.

14      Mit Urteil vom 6. März 2014 gab die Commissione tributaria regionale dell’Abruzzo (Regionale Finanzkommission Abruzzen) der Klage statt und erklärte die Weigerung, PR die Mehrwertsteuer rückzuerstatten, für rechtswidrig.

15      Gegen dieses Urteil legte die Steuerverwaltung bei der Corte suprema di Cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien), dem vorlegenden Gericht, Kassationsbeschwerde ein. Zur Begründung ihres Rechtsmittels machte sie insbesondere einen Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV und Art. 11 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [108 AEUV] (ABl. 1999, L 83, S. 1) geltend.

16      Insofern ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission mit ihrem Beschluss (EU) 2016/195 vom 14. August 2015 über die Maßnahmen SA.33083 (12/C) (ex 12/NN) (die [die Italienische Republik] durchgeführt hat, über ermäßigte Steuern und Versicherungsbeiträge im Zusammenhang mit Naturkatastrophen [alle Wirtschaftszweige außer Landwirtschaft]) und SA.35083 (12/C) (ex 12/NN) (die [die Italienische Republik] durchgeführt hat, über ermäßigte Steuern und Versicherungsbeiträge im Zusammenhang mit dem Erdbeben von 2009 in den Abruzzen [alle Wirtschaftszweige außer Landwirtschaft]) (ABl. 2016, L 43, S. 1), der am Ende des in Rn. 13 des vorliegenden Beschlusses genannten Verfahrens erlassen wurde, die Unvereinbarkeit der in Rede stehenden Maßnahmen, insbesondere der auf der Grundlage von Art. 33 Abs. 28 des Gesetzes Nr. 183/2011 erlassenen Maßnahmen, mit dem Binnenmarkt feststellte.

17      Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass es ihm gemäß dem Grundsatz der Effektivität des Unionsrechts obliege, die Unvereinbarkeit der Maßnahmen, mit denen die Italienische Republik auf die Anwendung und/oder Erhebung der geschuldeten Mehrwertsteuer verzichtet habe, mit dem Unionsrecht festzustellen – unabhängig von den spezifischen Klagegründen, die die Parteien in der bei ihm anhängigen Rechtssache geltend gemacht hätten.

18      Es weist darauf hin, dass es keine spezifische Rechtsprechung zur Anwendung von Art. 33 Abs. 28 des Gesetzes Nr. 183/2011 gebe, und wirft die Frage auf, inwieweit die im Beschluss vom 15. Juli 2015, Nuova Invincibile (C‑82/14, EU:C:2015:510), aufgestellten Grundsätze zu den in Art. 9 Abs. 17 der Legge n. 289 – Disposizioni per la formazione del bilancio annuale e pluriennale delle Stato (legge finanziaria 2003) (Gesetz Nr. 289 mit Bestimmungen zur Festlegung des jährlichen und mehrjährigen Staatshaushalts [Haushaltsgesetz 2003]) vom 27. Dezember 2002 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 305 vom 31. Dezember 2002) (im Folgenden: Gesetz Nr. 289/2002) vorgesehenen Vorteilen auf die bei ihm anhängige Rechtssache übertragbar sind.

19      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass sich der Gerichtshof in diesem Beschluss auf das Urteil vom 17. Juli 2008, Kommission/Italien (C‑132/06, EU:C:2008:412), in dem es um die Art. 8 und 9 des Gesetzes Nr. 289/2002 gegangen sei, gestützt und auf dieser Grundlage entschieden habe, dass die damals in Rede stehenden Maßnahmen nicht dazu geführt hätten, dass die Steuerpflichtigen von der Belastung durch die Mehrwertsteuer entlastet worden seien, sondern dass es einigen von ihnen unter Verstoß gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität gestattet worden sei, vom Endverbraucher gezahlte und der Steuerverwaltung geschuldete Beträge zu behalten bzw. sich anzueignen.

20      Das vorlegende Gericht führt aus, dass die Auswirkungen der auf Art. 33 Abs. 28 des Gesetzes Nr. 183/2011 gestützten Mehrwertsteuerermäßigung dieselben seien wie diejenigen, die der Gerichtshof in den Entscheidungen, die in den Rn. 18 und 19 des vorliegenden Beschlusses angeführt sind, beanstandet habe. Es weist jedoch auf einige von PR geltend gemachte Unterschiede zwischen der von diesen Entscheidungen betroffenen italienischen Regelung und der von ihm zu beurteilenden Regelung hin, auch wenn es die Relevanz dieser Unterschiede bezweifelt. Erstens hindere das Gesetz Nr. 183/2011 im Gegensatz zum Gesetz Nr. 289/2002 die Steuerverwaltung nicht daran, Überprüfungen durchzuführen, zweitens falle die Mehrwertsteuerermäßigung im Gesetz Nr. 183/2011 niedriger aus und drittens sei der räumliche Anwendungsbereich letzteren Gesetzes enger begrenzt.

21      Unter diesen Umständen hat die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Stehen die im Beschluss vom 15. Juli 2015, Nuova Invincibile (C‑82/14, EU:C:2015:510), sowie im Urteil vom 17. Juli 2008, Kommission/Italien (C‑132/06, EU:C:2008:412), aufgestellten Grundsätze einer gesetzlichen Bestimmung wie jener in Art. 33 Abs. 28 des Gesetzes Nr. 183/2011) entgegen, die den Steuerpflichtigen angesichts des Erdbebens in den Abruzzen vom 6. April 2009 eine Rückerstattung von 60 % der zwischen April 2009 und Dezember 2010 gezahlten Mehrwertsteuer gewährt?

 Zur Vorlagefrage

22      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 2, 206 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die zugunsten der vom Erdbeben in den Abruzzen betroffenen Steuerpflichtigen eine Ermäßigung der von diesen Steuerpflichtigen zwischen April 2009 und Dezember 2010 normalerweise geschuldeten Mehrwertsteuer um 60 % vorsieht.

23      Gemäß Art. 99 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden, wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann.

24      Diese Bestimmung ist in der vorliegenden Rechtssache anzuwenden.

25      Denn obwohl die Rechtssachen, in denen das Urteil vom 17. Juli 2008, Kommission/Italien (C‑132/06, EU:C:2008:412), und der Beschluss vom 15. Juli 2015, Nuova Invincibile (C‑82/14, EU:C:2015:510), ergangen sind, nicht Art. 33 Abs. 28 des Gesetzes Nr. 183/2011 betrafen, lassen sich die Erkenntnisse aus dieser Rechtsprechung auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache übertragen.

26      Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass das nationale Recht nur eine Ermäßigung der normalerweise geschuldeten Mehrwertsteuer um 60 % – und keine Rückerstattung der bereits entrichteten Mehrwertsteuer – vorsieht, die diejenigen Mehrwertsteuerpflichtigen begünstigt, die als solche im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und c der Mehrwertsteuerrichtlinie tätig sind.

27      Insoweit ergibt sich erstens aus den Art. 2, 206 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit deren 45. Erwägungsgrund sowie aus Art. 4 Abs. 3 EUV, dass jeder Mitgliedstaat verpflichtet ist, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in seinem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Juli 2008, Kommission/Italien, C‑132/06, EU:C:2008:412, Rn. 37, und Beschluss vom 15. Juli 2015, Nuova Invincibile, C‑82/14, EU:C:2015:510, Rn. 22).

28      Zweitens ist die Mehrwertsteuerrichtlinie gemäß dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität, der dem Gemeinsamen Mehrwertsteuersystem innewohnt, auszulegen, dem zufolge Wirtschaftsteilnehmer, die gleichartige Umsätze tätigen, bei der Erhebung der Mehrwertsteuer nicht unterschiedlich behandelt werden dürfen. Jede Maßnahme der Mitgliedstaaten, die die Erhebung der Mehrwertsteuer betrifft, muss diesem Grundsatz Rechnung tragen (Beschluss vom 15. Juli 2015, Nuova Invincibile, C‑82/14, EU:C:2015:510, Rn. 23, sowie Urteil vom 7. April 2016, Degano Trasporti, C‑546/14, EU:C:2016:206, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Drittens soll die Regelung über den Vorsteuerabzug die Neutralität der Mehrwertsteuer gewährleisten, indem der Steuerpflichtige vollständig von der im Rahmen aller seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet wird, unabhängig vom Zweck oder Ergebnis dieser Tätigkeiten, sofern sie grundsätzlich der Mehrwertsteuer unterliegen (Beschluss vom 15. Juli 2015, Nuova Invincibile, C‑82/14, EU:C:2015:510, Rn. 24; vgl. Urteil vom 7. September 2023, Schütte, C‑453/22, EU:C:2023:639, Rn. 19).

30      Im Beschluss vom 15. Juli 2015, Nuova Invincibile (C‑82/14, EU:C:2015:510, Rn. 25), wurde festgestellt, dass Art. 9 Abs. 17 des Gesetzes Nr. 289/2002 – der zugunsten der vom Erdbeben in den Provinzen Catania, Ragusa und Syrakus (Italien) betroffenen Steuerpflichtigen entweder eine Ermäßigung der für die Jahre 1990 bis 1992 normalerweise geschuldeten Mehrwertsteuer um 90 % oder eine Rückerstattung der insoweit bereits entrichteten Beträge in dieser Höhe vorsah – nicht dazu geführt hatte, dass die betreffenden Steuerpflichtigen von der Belastung durch die Mehrwertsteuer entlastet wurden, sondern dass es einigen Steuerpflichtigen gestattet wurde, vom Endverbraucher gezahlte und der Steuerverwaltung geschuldete Beträge zu behalten bzw. sich anzueignen.

31      Da diese Bestimmung aufgrund der in ihr vorgesehenen Ermäßigung der normalerweise geschuldeten Mehrwertsteuer es den betreffenden Steuerpflichtigen gestattete, den größten Teil des für die Lieferung von Gegenständen und die Erbringung von Dienstleistungen vereinnahmten Mehrwertsteuerbetrags zu behalten bzw. sich anzueignen, während andere Steuerpflichtige im italienischen Hoheitsgebiet den gesamten Betrag der für diese Umsätze normalerweise geschuldeten Mehrwertsteuer an die Steuerverwaltung abführen mussten, führte sie zu einer dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität zuwiderlaufenden Ungleichbehandlung (Beschluss vom 15. Juli 2015, Nuova Invincibile, C‑82/14, EU:C:2015:510, Rn. 26; vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 17. Juli 2008, Kommission/Italien, C‑132/06, EU:C:2008:412, Rn. 44).

32      Im vorliegenden Fall führt Art. 33 Abs. 28 des Gesetzes Nr. 183/2011, wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, dieselbe Regelung ein wie das Gesetz Nr. 289/2002, nämlich eine erhebliche Ermäßigung der geschuldeten Mehrwertsteuer, die aufgrund von Notlagen infolge von Naturkatastrophen zuvor ausgesetzt wurde.

33      Insoweit ist der Umstand unerheblich, dass die in diesem Gesetz vorgesehene Ermäßigung der Mehrwertsteuer niedriger ist als die sich aus Art. 9 Abs. 17 des Gesetzes Nr. 289/2002 ergebende, um die es im Beschluss vom 15. Juli 2015, Nuova Invincibile (C‑82/14, EU:C:2015:510), ging. Eine solche Ermäßigung hat nämlich, auch wenn sie niedriger ist, dieselben Auswirkungen wie die vom Gerichtshof in den Rn. 30 und 31 des vorliegenden Beschlusses dargelegten.

34      Diese Feststellung wird nicht dadurch entkräftet, dass die im Beschluss von 2015 in Rede stehende nationale Regelung im Unterschied zu Art. 33 Abs. 28 des Gesetzes Nr. 183/2011 der Verwaltung durch ihren automatischen Charakter jede Möglichkeit nahm, die steuerlich relevanten Sachverhalte zu überprüfen.

35      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 2, 206 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die zugunsten der vom Erdbeben in den Abruzzen betroffenen Steuerpflichtigen eine Ermäßigung der von diesen Steuerpflichtigen zwischen April 2009 und Dezember 2010 normalerweise geschuldeten Mehrwertsteuer um 60 % vorsieht.

 Kosten

36      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

Die Art. 2, 206 und 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität

sind dahin auszulegen, dass

sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die zugunsten der vom Erdbeben in den Abruzzen (Italien) betroffenen Steuerpflichtigen eine Ermäßigung der von diesen Steuerpflichtigen zwischen April 2009 und Dezember 2010 normalerweise geschuldeten Mehrwertsteuer um 60 % vorsieht.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Italienisch.


i      Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.