Language of document : ECLI:EU:C:2013:787

Rechtssache C‑118/10

Europäische Kommission

gegen

Rat der Europäischen Union

„Nichtigkeitsklage – Staatliche Beihilfen – Art. 108 Abs. 1 und 2 AEUV – Durch die Republik Lettland gewährte Beihilfe für den Erwerb landwirtschaftlicher Flächen – Befugnisse des Rates der Europäischen Union – Bestehende Beihilferegelung – Beitritt der Republik Lettland zur Europäischen Union – Vor dem Beitritt gewährte Beihilfe – Zweckdienliche Maßnahmen – Untrennbarkeit zweier Beihilferegelungen – Veränderte Umstände – Außergewöhnliche Umstände – Wirtschaftskrise – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 4. Dezember 2013

1.        Staatliche Beihilfen – Befugnis des Rates, ausnahmsweise angesichts außergewöhnlicher Umstände eine Beihilfe zu genehmigen – Voraussetzungen für die Ausübung – Anrufung des Rates durch den betroffenen Mitgliedstaat vor Erlass einer Entscheidung der Kommission, mit der die Beihilfe für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt wird, und Erlass einer Entscheidung innerhalb von drei Monaten – Grenze – Vereitelung des Tätigwerdens oder einer früheren Entscheidung der Kommission

(Art. 108 Abs. 2 AEUV)

2.        Staatliche Beihilfen – Befugnis des Rates, ausnahmsweise angesichts außergewöhnlicher Umstände eine Beihilfe zu genehmigen – Voraussetzungen für die Ausübung – Beihilfe, die untrennbar mit einer von der Kommission bereits für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärten Beihilfe verbunden ist – Beachtung des Grundsatzes der Rechtssicherheit – Grenzen – Erhebliche Änderung der wirtschaftlichen und finanziellen Umstände

(Art. 107 AEUV, Art. 108 AEUV und Art. 109 AEUV)

3.        Nichtigkeitsklage – Gründe – Ermessensmissbrauch – Begriff

(Art. 263 AEUV)

4.        Landwirtschaft – Wettbewerbsregeln – Beihilfen – Ausnahmsweise Genehmigung von Beihilfen durch den Rat – Gerichtliche Nachprüfung – Grenzen – Entscheidung des Rates, mit der eine vom lettischen Staat für den Erwerb staatlicher landwirtschaftlicher Flächen nach einer Wirtschafts- und Finanzkrise gewährte Beihilfe genehmigt wird – Kein offensichtlicher Ermessensfehler

(Art. 108 Abs. 2 Unterabs. 3 AEUV)

5.        Staatliche Beihilfen – Befugnis des Rates, ausnahmsweise angesichts außergewöhnlicher Umstände eine Beihilfe zu genehmigen – Voraussetzungen für die Ausübung – Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – Fehlen – Zu berücksichtigende Gesichtspunkte

(Art. 108 Abs. 2 Unterabs. 3 AEUV)

1.        Angesichts der zentralen Rolle, die der AEU-Vertrag der Kommission bei der Feststellung der etwaigen Unvereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Binnenmarkt verleiht, regelt Art. 108 Abs. 2 Unterabs. 3 AEUV einen Ausnahme‑ und Sonderfall, so dass die dem Rat durch diese Bestimmung übertragene Befugnis offenkundig Ausnahmecharakter hat. Das bedeutet, dass diese Bestimmung zwangsläufig eng auszulegen ist.

Außerdem ist Art. 108 Abs. 2 Unterabs. 3 und 4 AEUV, wonach zum einen die Anrufung des Rates durch einen Mitgliedstaat die bei der Kommission laufende Prüfung für drei Monate aussetzt und zum anderen, wenn der Rat innerhalb dieser Frist keine Entscheidung getroffen hat, die Kommission entscheidet, dahin auszulegen, dass der Rat nach Ablauf der fraglichen Frist nicht mehr befugt ist, eine Entscheidung über die betreffende Beihilfe gemäß diesem Unterabs. 3 zu erlassen. Der Rat ist somit nicht mehr ermächtigt, die ihm nach Art. 108 Abs. 2 Unterabs. 3 AEUV übertragene Ausnahmebefugnis auszuüben, um eine Beihilfe für mit dem Binnenmarkt vereinbar zu erklären, wenn der betroffene Mitgliedstaat keinen Antrag nach dieser Bestimmung an ihn gerichtet hat, bevor die Kommission eine Beihilfe für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt und so das Verfahren nach Art. 108 Abs. 2 Unterabs. 1 AEUV abgeschlossen hat.

Durch diese Auslegung lässt sich der Erlass von Entscheidungen mit widersprüchlichem verfügenden Teil vermeiden, und sie trägt damit zur Rechtssicherheit bei.

Der Rat darf einer Entscheidung der Kommission, mit der die Unvereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Binnenmarkt festgestellt wird, nicht dadurch die Wirkung nehmen, dass er nach Art. 108 Abs. 2 Unterabs. 3 AEUV eine Beihilfe für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt, die dazu bestimmt ist, die Empfänger der rechtswidrigen Beihilfe für die Rückzahlungen zu entschädigen, zu denen sie aufgrund der fraglichen Entscheidung verpflichtet sind.

(vgl. Randnrn. 43-46, 49)

2.        Für die Anwendung von Art. 108 Abs. 2 AEUV verhalten sich die jeweiligen Befugnisse des Rates und der Kommission so zueinander, dass erstens vorrangig die Befugnis der Kommission ausgeübt wird, da der Rat nur unter außergewöhnlichen Umständen zuständig ist. Zweitens muss die Befugnis des Rates, die es diesem gestattet, in seiner Entscheidung von bestimmten Vertragsbestimmungen im Bereich der staatlichen Beihilfen abzuweichen, in einem bestimmten zeitlichen Rahmen ausgeübt werden. Drittens darf, sobald die Kommission oder der Rat endgültig über die Vereinbarkeit der fraglichen Beihilfe entschieden hat, das jeweils andere Organ keine gegenteilige Entscheidung mehr treffen.

In diesem Zusammenhang ist es unerheblich, ob die Beihilfe, die Gegenstand der Entscheidung des Rates ist, eine bestehende oder eine neue Beihilfe ist. Die Wirksamkeit der Entscheidung der Kommission wird nämlich nicht nur dann in Frage gestellt, wenn der Rat eine Entscheidung erlässt, die eine Beihilfe für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt, bei der es sich gerade um die Beihilfe handelt, über die die Kommission bereits entschieden hat, sondern auch dann, wenn die Beihilfe, die Gegenstand der Entscheidung des Rates ist, dazu bestimmt ist, die Empfänger der für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärten rechtswidrigen Beihilfe für die Rückzahlungen zu entschädigen, zu denen sie aufgrund der Entscheidung der Kommission verpflichtet sind. Unter solchen Umständen ist die zweite Beihilfe so untrennbar mit derjenigen verbunden, deren Unvereinbarkeit mit dem Binnenmarkt zuvor von der Kommission festgestellt wurde, dass eine Unterscheidung dieser Beihilfen zum Zweck der Anwendung von Art. 108 Abs. 2 AEUV willkürlich erscheint.

Wenn die Kommission unter diesen Umständen in Ausübung ihrer Befugnisse aus den Art. 107 AEUV und 108 AEUV Leitlinien erlassen kann, die Auskunft darüber geben, in welcher Weise sie bei neuen Beihilfen oder bestehenden Beihilferegelungen ihr Ermessen nach diesen Artikeln auszuüben gedenkt und den Mitgliedstaaten die zweckdienlichen Maßnahmen vorschlägt, die die fortschreitende Entwicklung oder das Funktionieren des Binnenmarkts erfordern, und wenn diese Maßnahmen von einem Mitgliedstaat anerkannt worden sind und damit ihm gegenüber bindende Wirkung haben, betreffen die Verpflichtungen, denen ein Mitgliedstaat infolge einer solchen Anerkennung dieser Vorschläge unterliegt, nur bestehende Beihilfesysteme und keine neue Beihilferegelung, die der Rat entsprechend als mit dem Binnenmarkt vereinbar ansehen kann.

Der Rat kann sich allerdings nicht bloß darauf berufen, dass eine Beihilferegelung neu sei, um eine Situation, die die Kommission bereits endgültig beurteilt hat, zu überprüfen und dieser Beurteilung damit zu widersprechen. Der Rat ist demnach nicht befugt, zu entscheiden, dass eine neue Beihilferegelung als mit dem Binnenmarkt vereinbar anzusehen ist, wenn diese so untrennbar mit einer bestehenden Beihilferegelung, zu deren Änderung oder Abschaffung sich ein Mitgliedstaat im Rahmen von Art. 108 Abs. 1 AEUV verpflichtet hat, verbunden ist, dass eine Unterscheidung zwischen diesen beiden Regelungen für die Zwecke der Anwendung von Art. 108 Abs. 2 AEUV willkürlich erscheint.

Die von der Kommission vorgenommene Beurteilung dieser Beihilferegelungen greift jedoch der Beurteilung einer Beihilferegelung nicht vor, die in einem wirtschaftlich gänzlich anderen Zusammenhang angewandt werden sollte, als er von der Kommission in ihrer Beurteilung berücksichtigt wurde. Dies ist bei einer Wirtschafts- und Finanzkrise der Fall. Folglich ist die Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt der neuen Beihilferegelung, die Gegenstand eines vom Mitgliedstaat gemäß Art. 108 Abs. 2 Unterabs. 3 AEUV an den Rat gerichteten Antrags war, nach Abschluss einer individuellen Prüfung zu beurteilen, die sich von der Beurteilung derjenigen unterscheidet, die Gegenstand der Regelung war, die die Kommission unter Berücksichtigung der zum Zeitpunkt der Gewährung der entsprechenden Beihilfen maßgeblichen wirtschaftlichen Umstände vorzunehmen hatte.

(vgl. Randnrn. 50, 52, 54, 55, 66, 67, 73, 80)

3.        Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Randnr. 87)

4.        Der Rat verfügt bei der Anwendung von Art. 108 Abs. 2 Unterabs. 3 AEUV über ein weites Ermessen, das er nach Maßgabe komplexer wirtschaftlicher und sozialer Wertungen ausübt, die auf die Union als Ganzes zu beziehen sind. In diesem Rahmen ist die gerichtliche Nachprüfung der Ausübung dieses Ermessens auf die Überprüfung der Beachtung der Verfahrens- und Begründungsvorschriften sowie auf die Kontrolle der inhaltlichen Richtigkeit der festgestellten Tatsachen und des Fehlens von Rechtsfehlern, von offensichtlichen Fehlern bei der Bewertung der Tatsachen und von Ermessensmissbrauch beschränkt. Angesichts des ungewöhnlichen und unvorhersehbaren Charakters sowie des Ausmaßes der Auswirkungen der Wirtschafts‑ und Finanzkrise auf die lettische Landwirtschaft hat der Rat jedoch keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen, indem er davon ausgegangen ist, dass diese Auswirkungen außergewöhnliche Umstände im Sinne von Art. 108 Abs. 2 Unterabs. 3 AEUV darstellten. Der Umstand, dass die Wirtschafts‑ und Finanzkrise auch in anderen Mitgliedstaaten erhebliche Auswirkungen hatte, ist nicht maßgeblich, da dieser Umstand den außergewöhnlichen Charakter der Auswirkungen dieser Krise in Bezug auf die Entwicklung der wirtschaftlichen Situation der lettischen Landwirte unberührt lässt.

(vgl. Randnrn. 104-106)

5.        Was die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit betrifft, kann eine auf der Grundlage von Art. 108 Abs. 2 Unterabs. 3 AEUV erlassene Maßnahme nur dann rechtswidrig sein, wenn sie zur Erreichung des Ziels, das der Rat verfolgt, offensichtlich ungeeignet ist. Angesichts des Umfangs des Ermessens, über das der Rat verfügt, kann in einer Entscheidung, mit der dieser eine staatliche Beihilfe genehmigt, nicht bloß deshalb ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gesehen werden, weil es denkbar gewesen wäre, dass der fragliche Mitgliedstaat Ziele, die darin bestehen, die Armut im ländlichen Raum zu bekämpfen, mit einer Beihilferegelung anderer Art verfolgt. Insoweit entbindet das weite Ermessen, über das der Rat verfügt, diesen nicht davon, bei seiner Beurteilung die bestehenden Maßnahmen zu berücksichtigen, die speziell dazu bestimmt sind, den außergewöhnlichen Umständen zu begegnen, die die Genehmigung der fraglichen Beihilferegelung gerechtfertigt haben.

(vgl. Randnrn. 119, 120, 127, 128)