Language of document : ECLI:EU:C:2011:809

Rechtssache C‑371/08

Nural Ziebell

gegen

Land Baden-Württemberg

(Vorabentscheidungsersuchen des

Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg)

„Assoziierungsabkommen EWG–Türkei – Freizügigkeit der Arbeitnehmer – Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich und Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats – Richtlinien 64/221/EWG, 2003/109/EG und 2004/38/EG – Aufenthaltsrecht eines türkischen Staatsangehörigen, der im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats geboren ist und sich dort mehr als zehn Jahre ununterbrochen als Kind eines türkischen Arbeitnehmers rechtmäßig aufgehalten hat – Strafrechtliche Verurteilungen – Rechtmäßigkeit einer Ausweisungsverfügung – Voraussetzungen“

Leitsätze des Urteils

1.        Völkerrechtliche Verträge – Assoziierungsabkommen EWG–Türkei – Durch das Assoziierungsabkommen EWG–Türkei geschaffener Assoziationsrat – Beschluss Nr. 1/80 – Freizügigkeit – Arbeitnehmer – Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind – Umfang – Langfristig Aufenthaltsberechtigte

(Richtlinie 2003/109 des Rates, Art. 12; Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG–Türkei, Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich und 14 Abs. 1)

2.        Völkerrechtliche Verträge – Assoziierungsabkommen EWG–Türkei – Durch das Assoziierungsabkommen EWG–Türkei geschaffener Assoziationsrat – Beschluss Nr. 1/80 – Ausweisungsschutz – Langfristig Aufenthaltsberechtigte

(Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 28 Abs. 3 Buchst. a; Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG–Türkei, Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich und 14 Abs. 1)

1.        Für die Anwendung von Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG–Türkei wird für einen Ausländer, der sich seit mehr als zehn Jahren ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhält, der unionsrechtliche Bezugsrahmen mangels günstigerer Vorschriften im Assoziationsrecht EWG–Türkei durch Art. 12 der Richtlinie 2003/109 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen gebildet, der eine Vorschrift zum Mindestschutz vor Ausweisungen von Drittstaatsangehörigen darstellt, die in einem Mitgliedstaat die Rechtsstellung von langfristig Aufenthaltsberechtigten besitzen.

Darüber hinaus stellt die Ausnahme der öffentlichen Ordnung im Bereich der Freizügigkeit von Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Union, wie sie durch den Vertrag vorgesehen und im Rahmen der Assoziation EWG–Türkei entsprechend anwendbar ist, eine Abweichung von der genannten Grundfreiheit dar, die eng auszulegen ist und deren Umfang nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden kann. Entsprechend können Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind, nur getroffen werden, wenn sich nach einer Einzelfallprüfung durch die zuständigen nationalen Behörden herausstellt, dass das individuelle Verhalten der betroffenen Person eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bei dieser Prüfung müssen die Behörden zudem sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wahren. Eine solche Maßnahme kann daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung oder zum Zweck der Generalprävention, um andere Ausländer vor der Begehung von Straftaten abzuschrecken, angeordnet werden. Wenn der Umstand, dass mehrere frühere strafrechtliche Verurteilungen vorliegen, somit für sich genommen ohne Bedeutung für die Rechtfertigung einer Ausweisung ist, die einem türkischen Staatsangehörigen Rechte nimmt, die er unmittelbar aus dem Beschluss Nr. 1/80 ableitet, muss das Gleiche erst recht für eine Rechtfertigung gelten, die auf die Dauer der Inhaftierung des Betroffenen gestützt wird. Das nationale Gericht muss daher anhand der gegenwärtigen Situation dieser Person die Notwendigkeit des beabsichtigten Eingriffs in ihr Aufenthaltsrecht zum Schutz des vom Aufnahmemitgliedstaat verfolgten berechtigten Ziels gegen tatsächlich vorliegende Integrationsfaktoren abwägen, die die Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft dieses Staates ermöglichen.

(vgl. Randnrn. 78-79, 81-83, 85)

2.        Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG–Türkei ist dahin auszulegen, dass

–        der den türkischen Staatsangehörigen durch diese Vorschrift gewährte Ausweisungsschutz nicht denselben Umfang aufweist wie der Schutz, den die Unionsbürger nach Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, genießen, so dass die für Unionsbürger geltende Regelung des Ausweisungsschutzes nicht entsprechend auf türkische Staatsangehörige angewandt werden kann, um die Bedeutung und die Tragweite dieses Art. 14 Abs. 1 zu bestimmen;

–        diese Vorschrift des Beschlusses Nr. 1/80 dem nicht entgegensteht, dass eine auf Gründe der öffentlichen Ordnung gestützte Ausweisungsmaßnahme gegen einen türkischen Staatsangehörigen getroffen wird, der eine Rechtsposition nach Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich dieses Beschlusses besitzt, sofern das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats darstellt und die Maßnahme für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. Es obliegt dem nationalen Gericht, unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Gesichtspunkte der Situation des betreffenden türkischen Staatsangehörigen zu prüfen, ob eine solche Maßnahme in einem konkreten Fall rechtlich zulässig ist.

(vgl. Randnr. 86 und Tenor)