Language of document : ECLI:EU:C:2019:882

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

ELEANOR SHARPSTON

vom 17. Oktober 2019(1)

Rechtssache C341/18

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

gegen

J. u. a.,

Beigeladene:

C. und H. u. a.

(Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State [Staatsrat, Niederlande])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EU) 2016/399 – Art. 11 Abs. 1 – Bedeutung der ‚Ausreise‘ – Überwachung der Außengrenzen – Abstempeln der Reisedokumente von Seeleuten – Zeitpunkt der Anbringung des Stempels – Zeitpunkt des Verlassens des Schengenraums“






1.        Mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen ersucht der Raad van State (Staatsrat, Niederlande) den Gerichtshof um Hinweise zur Auslegung der Verordnung (EU) 2016/399 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen(2). Er möchte die Bedeutung des Begriffs „Ausreise“ in Bezug auf die Verpflichtung der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten klären, beim Überschreiten der Außengrenze und Verlassen des Schengenraums einen Ausreisestempel in den Reisedokumenten von Drittstaatsangehörigen anzubringen.

2.        Alle Drittstaatsangehörigen im Ausgangsverfahren arbeiten als Seeleute. Sie reisen auf dem Luftweg in den Schengenraum ein und begeben sich sodann zu den Schiffen, denen sie bereits als Besatzung zugeordnet worden sind. Die Schiffe verbringen eine lange Liegezeit im Hafen, bevor die Seeleute einreisen. Es stellt sich die Frage, ob die Seeleute den Schengenraum in dem Zeitpunkt verlassen, in dem sie auf ihrem Schiff als Besatzung anmustern (oder anheuern), oder ob sie ihn erst verlassen, wenn sie an Bord des Schiffes arbeiten und das Schiff den Hafen verlässt.

 Das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen

3.        In Art. 2 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (im Folgenden: Seerechtsübereinkommen) heißt es:

„(1)      Die Souveränität eines Küstenstaats erstreckt sich jenseits seines Landgebiets und seiner inneren Gewässer sowie im Fall eines Archipelstaats jenseits seiner Archipelgewässer auf einen angrenzenden Meeresstreifen, der als Küstenmeer bezeichnet wird.

(2)      Diese Souveränität erstreckt sich sowohl auf den Luftraum über dem Küstenmeer als auch auf den Meeresboden und Meeresuntergrund des Küstenmeers.

(3)      Die Souveränität über das Küstenmeer wird nach Maßgabe [des] dieses Übereinkommens und der sonstigen Regeln des Völkerrechts ausgeübt.“

4.        Gemäß Art. 3 hat jeder Staat das Recht, die Breite seines Küstenmeers bis zu einer Grenze festzulegen, die höchstens zwölf Seemeilen von der Niedrigwasserlinie an der Küste entfernt sein darf.

 Unionsrecht

 Das Schengen-System im Überblick

5.        Schlüsselelemente des Schengen-Systems sind die Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen zwischen den Teilnehmerstaaten(3), die Reisefreiheit zwischen diesen Staaten für alle Personen, die sich rechtmäßig in diesen Staaten aufhalten oder sie besuchen, und eine gemeinsame Visapolitik für kurzfristige Aufenthalte. Die Vorschriften für das Schengen-System wurden zunächst im Schengener Übereinkommen und den zugehörigen detaillierten Bestimmungen zu seiner Durchführung festgelegt(4). Die Anwendung des Schengener Grenzkodex wird ergänzt durch das Schengener Informationssystem (im Folgenden: SIS), ein System für Ausschreibungen zur Einreiseverweigerung für Drittstaatsangehörige, denen grundsätzlich die Einreise verweigert werden soll(5). Die Europäische Union hat außerdem die Verordnung (EU) 2017/2226(6) erlassen, mit der u. a. ein Einreise‑/Ausreisesystem zur Erfassung der Grenzübertritte aller Drittstaatsangehörigen eingeführt wurde, um festzustellen, ob sie die zulässige Dauer ihres Aufenthalts überzogen haben.

6.        Das Schengener Übereinkommen (Kapitel 3 Art. 9 bis 18) enthielt ursprünglich Bestimmungen über die Erteilung von Visa(7). Das Visa-Antragssystem wird durch das durch die Verordnung (EG) Nr. 767/2008(8) eingeführte Visa‑Informationssystem (im Folgenden: VIS) unterstützt. In der Verordnung (EG) Nr. 539/2001(9) sind diejenigen Länder aufgeführt, deren Staatsangehörige für die Einreise in das Hoheitsgebiet des Schengenraums ein Visum benötigen, sowie diejenigen, deren Staatsangehörige kein Visum benötigen.

 Der Schengener Grenzkodex

7.        Folgende Erklärungen in den Erwägungsgründen zum Schengener Grenzkodex sind einschlägig:

–        Der Erlass von Maßnahmen nach Art. 77 AEUV, die sicherstellen, dass Personen beim Überschreiten der Binnengrenzen nicht kontrolliert werden, ist Teil des Ziels der Europäischen Union, einen Raum ohne Binnengrenzen aufzubauen, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist(10).

–        Die gemeinsame Politik bezüglich des Überschreitens der Außengrenzen ist eine flankierende Maßnahme zur Schaffung eines Raums des freien Personenverkehrs innerhalb der Europäischen Union.(11)

–        Gemeinsame Maßnahmen bezüglich des Überschreitens der Binnengrenzen durch Personen sowie bezüglich der Grenzkontrollen an den Außengrenzen sollten dem Schengen-Besitzstand Rechnung tragen.(12)

–        Grenzkontrollen liegen nicht nur im Interesse des Mitgliedstaats, an dessen Außengrenzen sie erfolgen, sondern auch im Interesse sämtlicher Mitgliedstaaten, die die Grenzkontrollen an den Binnengrenzen abgeschafft haben. Grenzkontrollen sollten zur Bekämpfung der illegalen Zuwanderung und des Menschenhandels sowie zur Vorbeugung jeglicher Bedrohung der inneren Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Gesundheit und der internationalen Beziehungen der Mitgliedstaaten beitragen(13).

–        Die Mitgliedstaaten sollten vermeiden, dass der wirtschaftliche, soziale und kulturelle Austausch durch die Kontrollverfahren an den Außengrenzen stark behindert wird.(14)

8.        Gemäß Art. 1 enthält der Schengener Grenzkodex Regeln darüber, dass keine Grenzkontrollen in Bezug auf Personen stattfinden, die die Binnengrenzen zwischen den Mitgliedstaaten der Union überschreiten, und für die Grenzkontrollen in Bezug auf Personen, die die Außengrenzen des Schengenraums überschreiten.

9.        Folgende Begriffsbestimmungen sind in Art. 2 enthalten:

„2.      ‚Außengrenzen‘ [bezeichnet] die Landgrenzen der Mitgliedstaaten, einschließlich der Fluss- und Binnenseegrenzen, der Seegrenzen und der Flughäfen sowie der Flussschifffahrts‑, See- und Binnenseehäfen, soweit sie nicht Binnengrenzen sind;

6.      ‚Drittstaatsangehöriger‘ [bezeichnet] jede Person, die nicht Unionsbürger im Sinne des Artikels 20 Absatz 1 AEUV ist und die nicht unter Nummer 5 des [Art. 2] fällt;[(15)]

8.      ‚Grenzübergangsstelle‘ [bezeichnet] einen von den zuständigen Behörden für das Überschreiten der Außengrenzen zugelassenen Ort des Grenzübertritts;

10.      ‚Grenzkontrollen‘ [bezeichnet] die an einer Grenze nach Maßgabe und für die Zwecke [des Schengener Grenzkodex] unabhängig von jedem anderen Anlass ausschließlich aufgrund des beabsichtigten oder bereits erfolgten Grenzübertritts durchgeführten Maßnahmen, die aus Grenzübertrittskontrollen und Grenzüberwachung bestehen;

11.      ‚Grenzübertrittskontrollen‘ [bezeichnet] die Kontrollen, die an den Grenzübergangsstellen erfolgen, um festzustellen, ob die betreffenden Personen mit ihrem Fortbewegungsmittel und den von ihnen mitgeführten Sachen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einreisen oder aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ausreisen dürfen.“

10.      In Art. 3 heißt es, dass der Schengener Grenzkodex auf alle Personen Anwendung findet, die die Binnengrenzen oder die Außengrenzen eines Mitgliedstaats überschreiten(16).

11.      Titel II trägt die Überschrift „Außengrenzen“. In Kapitel I („Überschreiten der Außengrenzen und Einreisevoraussetzungen“) dieses Titels bestimmt Art. 5 Abs. 1, dass die Außengrenzen nur an den Grenzübergangsstellen und während der festgesetzten Verkehrsstunden überschritten werden dürfen. Bestimmte Ausnahmen von dieser Verpflichtung sind in Art. 5 Abs. 2 Buchst. c für bestimmte Arten von Grenzen (z. B. Seegrenzen) und besondere Kategorien von Personen (z. B. Seeleute) niedergelegt(17).

12.      Für Drittstaatsangehörige gelten die Einreisebedingungen gemäß Art. 6. Dazu gehören der Besitz eines gültigen Reisedokuments, ein gültiges Visum (falls erforderlich), Belege für den Zweck und die Umstände des beabsichtigten Aufenthalts, dass sie nicht im SIS zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben sind und dass sie keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaats darstellen(18).

13.      In Art. 8 Abs. 1 heißt es, dass der grenzüberschreitende Verkehr an den Außengrenzen den Kontrollen durch die Grenzschutzbeamten nach Maßgabe von Kapitel II („Grenzkontrollen an den Außengrenzen und Einreiseverweigerung“) des Schengener Grenzkodex unterliegt. Gemäß Art. 8 Abs. 3 werden alle Drittstaatsangehörigen bei der Einreise in den Schengenraum und der Ausreise aus dem Schengenraum eingehend kontrolliert. Die eingehende Kontrolle umfasst die Überprüfung, ob die betreffende Person ein für den Grenzübertritt gültiges Dokument hat, ob sie echte Reisedokumente hat und (soweit möglich) ob sie nicht als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit oder die internationalen Beziehungen eines der Mitgliedstaaten angesehen wird. Zusätzliche eingehende Kontrollen bei der Ausreise können die Überprüfung umfassen, ob die Person im Besitz eines gültigen Visums ist und ob sie die zulässige Höchstdauer im Schengenraum überschritten hat, sowie den Abruf relevanter Ausschreibungssysteme(19).

14.      In Kapitel II bestimmt Art. 11:

„(1)      Die Reisedokumente von Drittstaatsangehörigen werden bei der Einreise und bei der Ausreise systematisch abgestempelt. Ein Einreise- oder Ausreisestempel wird insbesondere angebracht in

a)      den Grenzübertrittspapieren von Drittstaatsangehörigen, in denen sich ein gültiges Visum befindet;

(3)      Von der Anbringung des Einreise- und Ausreisestempels wird abgesehen

c)      in den Reisedokumenten von Seeleuten, die sich nur während der Liegezeit des Schiffes in dem Gebiet des angelaufenen Hafens im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten;

d)      in den Reisedokumenten der Besatzung und der Passagiere von Kreuzfahrtschiffen, die nicht den Grenzübertrittskontrollen nach Nummer 3.2.3 des Anhangs VI unterliegen;

…“

15.      Gemäß Art. 19 (Teil des Kapitels IV „Sonderbestimmungen für Grenzübertrittskontrollen“) gelten Sonderbestimmungen für Seegrenzen für die in Anhang VI Nr. 3 festgelegten Kontrollen. Die allgemeinen Kontrollverfahren sehen vor: „Die Kontrolle erfolgt im Ankunfts- oder im Abfahrtshafen oder in einer in unmittelbarer Nähe des Schiffes dazu vorgesehenen Anlage oder an Bord des Schiffes im Küstenmeer, wie dieses im Seerechtübereinkommen... definiert ist. Die Mitgliedstaaten dürfen Abkommen schließen, nach denen … Kontrollen auch während der Fahrt oder bei der Ankunft oder der Abfahrt des Schiffes im Hoheitsgebiet eines Drittstaats zulässig sind. [U. a. der] Schiffsführer... erstellt eine Liste der Besatzung und gegebenenfalls der Passagiere; die Liste enthält die Informationen, die nach den Formularen 5 (Besatzungsliste) und 6 (Passagierliste) des Übereinkommens zur Erleichterung des internationalen Seeverkehrs (FAL-Übereinkommen)[(20)] erforderlich sind, sowie gegebenenfalls die Nummern der Visa oder der Aufenthaltstitel …“(21)

16.      Gemäß Art. 20 und Anhang VII Nr. 3 gelten für Kontrollen von Seeleuten Sonderbestimmungen: „Abweichend von den Artikeln 5 und 8 dürfen die Mitgliedstaaten erlauben, dass Seeleute mit einem gültigen Reisepapier für Seeleute, das gemäß [internationalem Recht(22)] sowie den einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften ausgestellt wurde, für einen Aufenthalt an Land im Hafenort oder in den angrenzenden Gemeinden in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einreisen oder durch Rückkehr auf ihr Schiff aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ausreisen, ohne sich an einer Grenzübergangsstelle ausweisen zu müssen, sofern sie in der Musterrolle ihres Schiffes eingetragen sind, die zuvor den zuständigen Behörden zur Kontrolle vorgelegt wurde.“

 Der Visakodex

17.      In Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft(23) heißt es, dass der Visakodex die Verfahren und Voraussetzungen für die Erteilung von Visa für die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder für geplante Aufenthalte in diesem Gebiet von höchstens 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen festlegt(24).

18.      Art. 2 Abs. 2 Buchst. a definiert den Begriff „Visum“ als „die von einem Mitgliedstaat erteilte Genehmigung im Hinblick auf die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder einen geplanten Aufenthalt in diesem Gebiet von höchstens 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen“.

19.      Gemäß Art. 35 können Visa in Ausnahmefällen an den Grenzübergangsstellen erteilt werden.

20.      Art. 36 bestimmt, dass einem Seemann, der beim Überschreiten der Außengrenzen des Schengenraums auf der Durchreise im Besitz eines Visums sein muss, an der Grenze ein Visum erteilt werden kann, wenn er die in Art. 35 Abs. 1 festgelegten Voraussetzungen erfüllt und er die Grenze überschreitet, um auf einem Schiff, auf dem er als Seemann arbeiten wird, anzumustern oder wieder anzumustern oder von einem Schiff, auf dem er als Seemann arbeitet, abzumustern. Bei der Erteilung des Visums befolgen die zuständigen nationalen Behörden die Regelung in Anhang IX des Visakodex.(25)

 Richtlinie 2010/65/EU

21.      Die Richtlinie 2010/65/EU über Meldeformalitäten für Schiffe beim Einlaufen in und/oder Auslaufen aus Häfen der Mitgliedstaaten(26) verfolgt den Zweck, die Verwaltungsverfahren und Meldeformalitäten im Seeverkehr durch die Standardisierung der allgemeinen Nutzung elektronischer Systeme für die Datenübermittlung für Schiffe beim Einlaufen in und beim Auslaufen aus Häfen der Mitgliedstaaten zu vereinfachen, zu harmonisieren und zu rationalisieren.

22.      Gemäß Art. 7 müssen die Mitgliedstaaten FAL-Formulare zur Erfüllung der Meldeformalitäten akzeptieren. Der Anhang der Richtlinie enthält die Angaben, die in das FAL-Formular aufzunehmen sind, um diese Formalitäten zu erfüllen. Diese Angaben umfassen die Meldeformalitäten für Schiffe beim Einlaufen in und beim Auslaufen aus Häfen der Mitgliedstaaten (Teil A Nr. 1), Grenzübertrittskontrollen von Personen nach Art. 8 des Schengener Grenzkodex (Teil A Nr. 2) und die Besatzungsliste (Teil B Nr. 5).

 Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

23.      Zu verschiedenen Zeitpunkten im Januar, Februar und März 2016 reisten einige Drittstaatsangehörige über den Flughafen Schiphol in die Niederlande ein und weiter in den Hafen von Rotterdam. Alle Beteiligten waren als Schiffsbesatzung angestellt und beschäftigt, um auf Schiffen zu arbeiten, die bereits in Rotterdam lagen. Sie reisten vom Flughafen Schiphol zum Hafen, wo sie an demselben Tag, an dem sie in den Niederlanden ankamen, als Besatzungsmitglieder anmusterten. Die betreffenden Schiffe sollten auf Hohe See stechen und die niederländischen Hoheitsgewässer zu einem Zeitpunkt verlassen, der an dem Tag, an dem die Seeleute in die Niederlande einreisten, noch nicht feststand.

24.      Ein Teil der Seeleute verbrachte die gesamte vertragliche Arbeitszeit an Bord von Schiffen, die an ihren Liegeplätzen in Rotterdam blieben. Am Ende ihres Dienstes an Bord verließen sie die Niederlande (und damit den Schengenraum) mit dem Flugzeug über den Flughafen Schiphol. Andere blieben, nachdem sie eine Zeitlang an Bord eines in Rotterdam liegenden Schiffes gearbeitet hatten, an Bord und verließen die niederländischen Hoheitsgewässer als Besatzungsmitglieder auf diesem Schiff.

25.      Die Seeleute waren Baufachleute, deren Arbeit u. a. die Errichtung von Ölplattformen (Riggs) und Pipelines auf See beinhaltete. Ihre Arbeit umfasste auch die Vorbereitung liegender Schiffe auf eine neue Reise. Die Dauer der Arbeit und die Liegezeit des Schiffs hingen vom Umfang der Arbeiten und dem betreffenden Schiff ab. Die Arbeits- und Beschäftigungspraxis war nicht neu. Die Seeleute beantragten bei der Zeehavenpolitie Rotterdam (Wasserschutzpolizei Rotterdam, im Folgenden: ZHP) die Ausstellung und das Anbringen von Ausreisestempeln in ihren Reisedokumenten. Bis zu Beginn des Jahres 2016 haben Seeleute immer einen Ausreisestempel in ihren Reisedokumenten erhalten, wenn sie als Schiffsbesatzung in Rotterdam angemustert haben (im Folgenden: frühere Praxis).

26.      Nach diesem Zeitpunkt lehnte die ZHP alle entsprechenden Anträge ab mit der Begründung, dass sich nicht feststellen lasse, wann das betreffende Schiff den Hafen verlassen werde (im Folgenden: neue Praxis).

27.      Als Drittstaatsangehörige konnten die Seeleute nach dem Schengener Grenzkodex höchstens 90 Tage innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen im Schengenraum verbleiben(27). Die Seeleute legten dar, dass die zulässige Aufenthaltsdauer durch die neue Praxis im Vergleich zur früheren Praxis im Ergebnis verringert werde, da die Zeit, während der sie als Schiffsbesatzung an Bord eines Schiffes arbeiteten, nunmehr auf diesen 90-Tageszeitraum angerechnet werde. Unter der früheren Praxis sei die Arbeitszeit an Bord nicht angerechnet und daher nicht von dem 90-Tageszeitraum abgezogen worden. Da sie vor der Rückkehr in den Schengenraum 180 Tage lang warten müssten, arbeiteten sie darüber hinaus weniger und erzielten dementsprechend geringere Einnahmen(28).

28.      Im Juli 2016 verwarf der Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie (niederländischer Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, im Folgenden: Staatssecretaris) die von verschiedenen Betreibern von Schiffen (C. und H. u. a., im Folgenden: Betreiber) gegen die Entscheidung der ZHP, Anträge auf Anbringen des Ausreisestempels abzulehnen, eingelegten Rechtsbehelfe als unzulässig. Der Staatssecretaris wies außerdem die von den Seeleuten (J. u. a.) selbst eingelegten Rechtsbehelfe als unbegründet zurück.

29.      Die Rechtbank Den Haag (Gericht erster Instanz Den Haag, Niederlande) wies die Klagen der Betreiber gegen die Entscheidung des Staatssecretaris in vier Urteilen vom 17. Mai 2017 als unbegründet ab. Den Klagen der Seeleute gab das Gericht jedoch statt. Der Staatssecretaris legte sodann gegen diese Urteile Berufung ein, während die Betreiber Anschlussberufung bei dem vorlegenden Gericht einlegten.

30.      Aus dem Vorlagebeschluss geht hervor, dass der Hafen von Rotterdam Teil der Außengrenze des Schengenraums im Sinne des Schengener Grenzkodex ist und dass durchschnittlich 160 Schiffe pro Jahr mit langer Liegezeit in diesem Hafen anlegen. Weiter heißt es darin, dass die Koninklijke Vereniging van Nederlandse Reders (Königlicher Verband niederländischer Reeder) darauf hingewiesen habe, dass andere europäische Häfen Ausreisestempel in den Reisedokumenten von Seeleuten anbrächten, wenn Besatzung anmustere. Das vorlegende Gericht wies den Vortrag des Staatssecretaris, wonach die der ZHP vergleichbaren Behörden in anderen Mitgliedstaaten nicht zwangsläufig einen Ausreisestempel anbrächten, wenn Besatzungsmitglieder anmusterten, ausdrücklich zurück.

31.      Das vorlegende Gericht war der Ansicht, dass Wettbewerbsverzerrungen in der Offshore‑Industrie der Union entstünden, wenn der Zeitpunkt, in dem Seeleute den Schengenraum im Sinne des Schengener Grenzkodex verließen, in den Häfen der verschiedenen Mitgliedstaaten unterschiedlich bestimmt werde.

32.      Das vorlegende Gericht ist daher zu der Auffassung gelangt, dass es zur Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erforderlich sei, den Gerichtshof um Hinweise zur Auslegung von Art. 11 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex zu ersuchen, insbesondere zur Bedeutung des Wortes „Ausreise“ in dieser Bestimmung. Es legt dem Gerichtshof daher folgende Frage zur Vorabentscheidung vor:

Ist Art. 11 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex dahin auszulegen, dass ein Drittstaatsangehöriger, der vorher in den Schengenraum eingereist ist, z. B. über einen internationalen Flughafen, im Sinne des Schengener Grenzkodex ausreist, sobald er als Seemann auf einem Seeschiff, das bereits in einem Seehafen als Außengrenze liegt, anmustert, ungeachtet dessen, ob, und falls ja, wann er diesen Seehafen mit diesem Schiff verlassen wird? Oder muss, damit eine Ausreise vorliegt, zunächst feststehen, dass der Seemann den Seehafen mit dem betreffenden Seeschiff verlassen wird, und falls ja, gilt dann eine Höchstfrist, innerhalb der die Abfahrt erfolgen muss, und wann muss der Ausreisestempel in dem Fall angebracht werden? Oder gilt ein anderer Zeitpunkt, gegebenenfalls unter anderen Voraussetzungen, als „Ausreise“?

33.      J. u. a. und C. und H. u. a. (die Seeleute und die Betreiber der Schiffe), die Regierungen von Deutschland, Griechenland und den Niederlanden sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Diese Parteien haben in der Sitzung vom 6. Juni 2019 mündlich verhandelt.

 Würdigung

 Vorbemerkungen

34.      Zu welchem Zeitpunkt sollte unter den besonderen Umständen des Ausgangsverfahrens ein Ausreisestempel in den Reisedokumenten von Seeleuten gemäß Art. 11 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex angebracht werden? Auch wenn der Vorlagebeschluss des vorlegenden Gerichts keine Angaben zur Staatsangehörigkeit der betreffenden Seeleute enthält, geht aus dem Sachverhalt hervor, dass es sich bei allen um Drittstaatsangehörige handelt, die in den Anwendungsbereich von Art. 1 Abs. 1 und Anhang I der Verordnung Nr. 539/2001 fallen. Daher sind sie Personen, die beim Überschreiten der Außengrenze der Mitgliedstaaten im Besitz eines Visums sein müssen(29). Ein solches Visum muss bei der Einreise in den Schengenraum und bei der Ausreise aus dem Schengenraum zur Kontrolle vorgezeigt und gestempelt werden(30).

35.      Art. 11 Abs. 3 des Schengener Grenzkodex sieht bestimmte Ausnahmen von diesen Vorschriften vor. Gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. c wird in den Reisedokumenten von Seeleuten, die sich nur während der Liegezeit des Schiffes in dem Gebiet des angelaufenen Hafens im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten, von der Anbringung des Einreise- oder Ausreisestempels abgesehen. Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass diese Ausnahme vorliegend nicht anwendbar ist.

36.      Ich teile diesen Standpunkt.

37.      Meines Erachtens gilt die Ausnahme in Art. 11 Abs. 3 Buchst. c für Seeleute, wenn sie an Bord eines Schiffes einreisen, das in einem Hafen im Schengenraum anlegt. Sie können dann Landgang beantragen, der ihnen gewährt werden kann. Dieses Personal fällt tatsächlich in den Anwendungsbereich der Ausnahme in Art. 11 Abs. 3 des Schengener Grenzkodex und der Ausnahme in Art. 20 und Anhang VII Nr. 3 dieser Verordnung. Die im Vorlagebeschluss beschriebenen Sachverhalte und Umstände der Seeleute im Ausgangsverfahren fallen jedoch nicht in den Anwendungsbereich dieser Vorschriften. Sie sind nicht an Bord eines Schiffes in den Hafen von Rotterdam gesegelt. Sie erreichten die Niederlande auf dem Luftweg und kamen am Flughafen Schiphol an.

38.      Daher versuchen die Seeleute in diesem Verfahren nicht, sich auf die Sonderbestimmungen für den Landgang nach dem Schengener Grenzkodex zu berufen. Sie überschreiten die Außengrenzen im Hafen von Rotterdam, um als Besatzungsmitglieder anzumustern. Sie gönnen sich keine kurze Pause von ihren Pflichten an Bord, indem sie sich verabschieden, um die Annehmlichkeiten des Hafengebiets zu genießen.

39.      Auch ist das vorlegende Gericht meines Erachtens zu Recht davon ausgegangen, dass die Art. 35 und 36 des Visakodex (die die Erteilung von Visa an den Außengrenzen regeln) für die Auslegung von Art. 11 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex zur Klärung der vorliegenden Streitfrage nicht einschlägig sind. Gemäß Art. 35 des Visakodex können die zuständigen Behörden in Ausnahmefällen Visa an der Außengrenze erteilen. Art. 36 und Anhang IX des Visakodex sehen besondere Bestimmungen für die Erteilung solcher Visa an der Außengrenze an Seeleute auf der Durchreise vor. Das Ausgangsverfahren betrifft jedoch nicht die Erteilung von Transitvisa. Vielmehr stellt sich die Frage, ob ein Ausreisestempel in ihren Reisedokumenten hätte angebracht werden müssen, als sie als Besatzung angemustert haben. Diese Umstände haben nichts mit der Frage zu tun, ob sich die Seeleute auf der Durchreise in den Niederlanden aufgehalten haben.

40.      In meiner Untersuchung der Bedeutung des Wortes „Ausreise“ in Art. 11 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex werde ich daher nicht weiter auf die Sonderregelung für den Landgang von Seeleuten oder die Regelung für die Erteilung von Visa an der Außengrenze für Seeleute auf der Durchreise eingehen.

 Begründetheit

41.      Was bedeutet „Ausreise“ im Sinne von Art. 11 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex?

42.      Diese Frage stellt sich in dem besonderen Kontext von Seeleuten, die auf dem Luftweg in einen Mitgliedstaat einreisen. Sie reisen zu ihrem Schiff, das bereits in einem Hafen liegt, der einen Teil der Schengen-Außengrenze bildet. Sie mustern für eine bestimmte Zeit als Besatzung an Bord des festgemachten Schiffes an. Einige von ihnen kehren auf dem Luftweg in einen Drittstaat zurück. Andere bleiben als Besatzung auf dem Schiff, wenn es den Hafen (und kurz darauf die niederländischen Hoheitsgewässer) verlässt. Das vorlegende Gericht ersucht darüber hinaus um Hinweise zur Anwendung des Schengener Grenzkodex für den Fall, dass davon ausgegangen wird, dass die Seeleute den Schengenraum erst verlassen, wenn das Datum bekannt ist, an dem das Schiff, auf dem sie arbeiten, den Hafen verlassen wird.

43.      Die Drittstaatsangehörigen und die Betreiber vertreten die Auffassung, dass die Seeleute unter solchen Umständen aus dem Schengenraum „ausreisen“, wenn sie persönlich an einer Außengrenze vorstellig werden und als Besatzung auf einem Schiff anmustern, das in einem Seehafen, wie z. B. Rotterdam, liegt. Die griechische Regierung teilt diese Auffassung.

44.      Deutschland, die Niederlande und die Kommission stimmen dieser Auffassung nicht zu.

45.      Die deutsche Regierung macht geltend, dass Seeleute den Schengenraum erst verließen, wenn das Schiff, auf dem sie angemustert hätten, den Hafen tatsächlich verlasse. Daher solle ein Ausreisestempel in den Reisedokumenten eines Seemannes erst angebracht werden, wenn das Abfahrtsdatum bekannt sei. Die niederländische Regierung trägt ebenfalls vor, dass das Anmustern als Besatzung und das Verlassen des Festlandgebietes des Hafens zur Arbeit auf dem Schiff keine „Ausreise“ aus dem Schengenraum im Sinne von Art. 11 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex sei. Ein Drittstaatsangehöriger verlasse den Schengenraum erst, wenn er die geografische Außengrenze eines der Schengen-Staaten verlasse. Die Seeaußengrenze sei durch das Seerechtsübereinkommen festgelegt und befinde sich zwölf Seemeilen vor der Küstenlinie(31). Um einen Ausreisestempel zu erhalten, müsse ein Seemann darlegen, dass er den Schengenraum an Bord des fraglichen Schiffes verlassen werde und dass das Schiff, sobald der Ausreisestempel angebracht sei, innerhalb kurzer Zeit danach ablegen (oder Anker lichten)(32) werde.

46.      Die Kommission legt dar, dass ein Seemann den Schengenraum nicht im Sinne von Art. 11 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex verlasse, wenn er auf einem Schiff als Besatzung anmustere. Zunächst müsse festgestellt werden, dass der betreffende Seemann den Hafen an Bord des Schiffes verlassen werde, und der entsprechende Stempel dürfe erst dann an seinen Reisedokumenten angebracht werden, wenn die Abreise unmittelbar bevorstehe.

47.      Aus den Angaben im Vorlagebeschluss und den Ausführungen der Seeleute und Betreiber in der mündlichen Verhandlung in Beantwortung der Fragen des Gerichtshofs geht hervor, dass die Seeleute normalerweise an demselben Tag, an dem sie auf dem Luftweg in die Niederlande eingereist sind, in den Hafen von Rotterdam weiterreisten und ihren Einreisestempel bekamen. Nach der früheren Praxis musterten sie als Besatzung an, bekamen einen Ausreisestempel von der ZHP und gingen an Bord des Schiffes, das für eine lange Liegezeit angelegt hatte, und das alles an demselben Tag. Die auf diese Weise in den Niederlanden verbrachte Zeit im Sinne des Schengener Grenzkodex und des Visakodex betrug daher nie mehr als einen Tag. Nach der neuen Praxis blieb der Zeitpunkt des Einreisestempels unverändert (bei der Einreise), während der Ausreisestempel erst angebracht wurde, nachdem die Arbeit des Seemanns an Bord beendet war oder das Schiff, auf dem er arbeitete, unmittelbar vor dem Ablegen stand. Das hatte für die Seeleute zur Folge, dass sie einen erheblichen Teil der nach dem Visakodex erlaubten 90 Tage innerhalb eines 180-Tageszeitraums in Anspruch nahmen(33). Dadurch konnten sie weniger Dienstzeiten übernehmen, und ihre Einnahmen verringerten sich entsprechend.

 Auslegung des Begriffs „Ausreise“

48.      In Art. 11 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex heißt es, dass die Reisedokumente von Drittstaatsangehörigen bei der Einreise in den Schengenraum und bei der Ausreise aus dem Schengenraum systematisch abgestempelt werden. Die Begriffe „Einreise“ und „Ausreise“ sind in dieser Verordnung nicht definiert.

49.      Das vorlegende Gericht beginnt seine Würdigung von Art. 11 Abs. 1 mit einem Vergleich der unterschiedlichen sprachlichen Fassungen des Wortlauts. Es kommt zu dem Schluss, dass eine Betrachtung der englischen, der französischen, der deutschen und der niederländischen Fassung keinen Hinweis auf die Bedeutung des Begriffs „Ausreise“ gebe. Da zwischen den verschiedenen sprachlichen Fassungen dieser Bestimmung, die ich geprüft habe(34), keine offensichtliche Divergenz besteht, werde ich diesen Ansatz nicht weiter verfolgen.

50.      Wie der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung entschieden hat, ist die Auslegung eines im Gesetz verwendeten Begriffs entsprechend seinem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch sowie unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem er verwendet wird, und der Ziele, die mit der Regelung verfolgt werden, zu der er gehört, zu bestimmen. Nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch bedeutet „ausreisen“ „hinausgehen aus oder fortgehen von“ einem Ort. Das Wort „Ausreise“ wird auch im Sinne von „Befugnis“ oder „Erlaubnis, ein Land zu verlassen“ verstanden(35).

51.      Zur Bedeutung des Begriffs „Ausreise“ in Art. 11 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex sind zwei gegensätzliche Ansichten geäußert worden. Deutschland, die Niederlande und die Kommission sind der Ansicht, dass das Anmustern als Besatzung an Bord eines Schiffes an einer Grenzübergangsstelle keine Ausreise aus dem Schengenraum darstelle. Deutschland und die Niederlande machen darüber hinaus geltend, dass Seeleute die geografische Seeaußengrenze auf dem betreffenden Schiff physisch überschreiten müssten, um auszureisen (im Folgenden: Möglichkeit 1).

52.      Die Kläger des Ausgangsverfahrens (Seeleute und Betreiber gleichermaßen) machen, unterstützt von Griechenland, geltend, dass die Seeleute durch das Anmustern den Schengenraum verließen. Der entsprechende Ausreisestempel müsse daher zu diesem Zeitpunkt in ihren Reisedokumenten angebracht werden (im Folgenden: Möglichkeit 2). Beide Auffassungen scheinen mir in überzeugender Weise vom gewöhnlichen Sprachgebrauch des Begriffs „Ausreise“ erfasst zu sein. Daher stellen der Zusammenhang und die Systematik des Schengener Grenzkodex die entscheidenden Faktoren bei der Entscheidung über die Auslegung dar.

53.      Ich beginne mit der Untersuchung von Möglichkeit 1.

 Möglichkeit 1

54.      Der offensichtliche Vorzug der Möglichkeit 1 besteht darin, dass sie die Ausreise aus dem Schengenraum mit dem physischen Standort des Betroffenen verbindet. Nach dieser Logik hat der Seemann, solange er sich physisch im Hafen von Rotterdam aufhält – ob er den Kai entlang läuft oder auf einem Schiff, das am Kai angelegt hat, oder ob er auf einem Schiff arbeitet, das in 50 Metern Entfernung im Wasser vor Anker liegt –, die Niederlande noch nicht „verlassen“. Er hat daher keinen Anspruch auf Anbringung eines Ausreisestempels in seinem Visum, weil er sein Visum noch verwendet, um einen Mitgliedstaat der Union zu besuchen.

55.      Bei genauerer Betrachtung stößt dieser einfache Ansatz der „physischen Präsenz“ zur Klärung einer Rechtsfrage jedoch auf Schwierigkeiten.

56.      Zunächst weise ich darauf hin, dass der Gerichtshof festgestellt hat, dass „auch bei genauer Übereinstimmung der sprachlichen Fassungen zu beachten [ist], dass das [Unions‑]Recht eine eigene, besondere Terminologie verwendet. Im Übrigen ist hervorzuheben, dass Rechtsbegriffe im [Unions‑]Recht und in den verschiedenen nationalen Rechten nicht unbedingt den gleichen Gehalt haben müssen“(36). Der Begriff „Ausreise“ in Art. 11 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex wird somit im Unionsrecht eine autonome Bedeutung haben und muss in allen Mitgliedstaaten einheitlich ausgelegt werden. Er hat im nationalen Recht nicht unbedingt die gleiche Bedeutung. Darüber hinaus folgt hieraus nicht zwangsläufig, dass der Begriff der „Ausreise“ im Unionsrecht gleichbedeutend sein muss mit dem Überschreiten der geografischen Außengrenze eines Mitgliedstaats im Sinne des Seerechtsübereinkommens(37). Folglich ist es ohne Bedeutung, ob die Schengengrenze und die geografische Außengrenze zufällig übereinstimmen.

57.      Ich stimme daher dem Vorbringen Deutschlands und der Niederlande nicht zu, wonach aus dem Schengener Grenzkodex folge, dass ein Drittstaatsangehöriger die geografische Außengrenze eines Mitgliedstaats überschreiten müsse, um aus dem Schengenraum im Sinne von Art. 11 Abs. 1 dieser Verordnung auszureisen.

58.      Zweitens müssen, wie Generalanwalt Fenelly in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Kommission/Rat ausgeführt hat(38), zwei Aspekte unterschieden werden, wenn eine Person eine Grenze überschreitet. Der erste Aspekt betrifft die Ausreise aus einem Mitgliedstaat im physischen Sinne, ohne dass zwangsläufig eine Grenzübergangsstelle überschritten wird. Der zweite Aspekt betrifft die Ausreise aus dem Schengenraum im rechtlichen Sinne, wenn die betreffende Person eine Grenzübergangsstelle überschreitet und die erforderlichen Kontrollen durchgeführt werden(39). All diese Verfahren weisen darauf hin, dass der Betroffene die Außengrenze des Schengenraums auch physisch überschreitet.

59.      Vorliegend möchte das vorlegende Gericht insbesondere wissen, ob für das Anbringen eines Ausreisestempels in den Reisedokumenten der Seeleute der Nachweis erforderlich ist, dass die betreffenden Seeleute die Außengrenze sowohl im physischen als auch (in demselben Moment) im rechtlichen Sinne überschreiten.

60.      Gemäß Art. 8 Abs. 3 Buchst. g des Schengener Grenzkodex werden Drittstaatsangehörige bei der Ausreise eingehend kontrolliert. Dies umfasst die Überprüfung, ob der Drittstaatsangehörige über ein gültiges Visum verfügt (Art. 8 Abs. 3 Buchst. h und i). Solche Kontrollen umfassen einen Teil des zweiten Aspektes: Die Bestätigung, dass die Person den Schengenraum im rechtlichen Sinne verlässt. Wie der Gerichtshof in der Rechtssache Kommission/Rat(40) erklärt hat, erlaubt ein Visum dem Inhaber, die Grenzübergangsstelle bei der Einreise zu passieren, und nicht nur, die geografischen Grenzen eines Mitgliedstaats zu überschreiten. Wenn ein Drittstaatsangehöriger aus einem Mitgliedstaat ausreist, bestätigt der Vorgang des Anbringens eines Stempels in den Reisedokumenten, dass der Ausreisende dieselbe Person ist wie die, die in den Schengenraum eingereist ist, und er gibt an, dass der Zeitraum, für den das Visum erteilt worden war, eingehalten worden ist. Daher ist das Visum ein Rechtsdokument, das das Passieren einer Grenzübergangsstelle an einer Außengrenze erlaubt und bestätigt.

61.      Das Ausgangsverfahren wirft einen dritten (möglicherweise) zu berücksichtigenden Gesichtspunkt auf. Muss auch festgestellt werden, dass die Person das nach internationalem Recht definierte geografische Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats verlassen hat?

62.      Dieser dritte Aspekt fällt meines Erachtens nicht in den Anwendungsbereich des Schengener Grenzkodex, der die Außengrenze im Sinne dieser Verordnung in Art. 2 Abs. 2 definiert. Das Ziel besteht darin, das Überschreiten der Schengen-Außengrenzen zu kontrollieren, und nicht die geografische Grenze als solche (wenn beide nicht übereinstimmen).

63.      Meines Erachtens betont Möglichkeit 1 zu sehr den physischen Standort des Drittstaatsangehörigen im geografischen Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats, statt die Situation dieser Person anhand des Zwecks der Grenzkontrollen und der Visapolitik zu beurteilen, die dem Schengener Grenzkodex hinsichtlich der Kontrolle der Bewegungen von Drittstaatsangehörigen, die aus dem Schengenraum ausreisen, zugrunde liegen. Ich bin daher nicht davon überzeugt, dass es der richtige Ansatz ist, auf Kosten des rechtlichen Sinns der Ausreise über die Außengrenze, den diese Vorschriften regeln sollen, den Schwerpunkt auf den physischen Standort der Seeleute zu legen.

64.      In diesem Zusammenhang darf nicht vergessen werden, dass ein Seemann, sobald er an Bord eines Schiffes als Besatzung angemustert hat, nicht mehr sein eigener Herr ist. Er hat keine Kontrolle über seine Dienstzeiten, seine Pausen oder darüber, ob (und wenn ja, wann und wie lange) er Landgang bekommt. Er hat kein Mitspracherecht in Bezug darauf, ob das Schiff während seiner Dienstzeit dort bleibt, wo es sich befindet (angelegt oder vor Anker), ob es an einem anderen Liegeplatz anlegt oder ob es den Hafen verlässt. Mit anderen Worten, es ist ihm nicht mehr möglich, über seinen physischen Standort zu entscheiden. Als Besatzungsmitglied unterliegt er den Anweisungen des Schiffsführers.

65.      Ein – hinkender – Vergleich ist an dieser Stelle vielleicht hilfreich. Stellen sie sich einen Fluggast (einen Drittstaatsangehörigen) vor, der die Sicherheits- und Passkontrolle durchlaufen hat und das Flugzeug zu seinem Reiseziel bestiegen hat. Als er die Passkontrolle passierte, wurde ein Ausreisestempel in seinem Schengenvisum angebracht. Sobald der Passagier an Bord des Flugzeugs ist, verliert er die Kontrolle über seinen physischen Standort. Der Kapitän entscheidet, ob und wann das Flugzeug startet. Wenn aufgrund der Flugsicherung eine Verspätung entsteht, entscheidet der Kapitän, ob die Passagiere geduldig an Bord des Flugzeugs warten oder ob sie (wenn die Verspätung groß ist) aus dem Flugzeug aussteigen und zu einem späteren Zeitpunkt wieder einsteigen. Im letzteren Fall befindet sich der Passagier nach dem Aussteigen wieder im Terminalgebäude, wenn auch „luftseitig“. Wenn er wollte, könnte er erneut durch die Passkontrolle gehen und in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats wiedereinreisen (in diesem Zeitpunkt würde ein neuer Einreisestempel in seinem Schengenvisum angebracht). Aber solange er „luftseitig“ verbleibt, ist es unzweifelhaft, dass er ausgereist ist – und das unabhängig davon, dass er sich nicht mehr an Bord des Flugzeugs befindet, sondern im Terminalgebäude einen Kaffee trinkt und eine Kleinigkeit isst.

66.      Drittens hängt Möglichkeit 1 davon ab, dass der Zeitpunkt, in dem der Seemann aus dem Schengenraum ausreist, an das Abfahrtsdatum des Schiffs gebunden ist, auf dem er arbeitet. In der Praxis führt dies zu Unsicherheiten. Es ist möglich, das planmäßige Abfahrtsdatum des Schiffs zu ermitteln, aber es gibt keine Garantie dafür, dass das Schiff zu diesem Zeitpunkt tatsächlich ausläuft. Faktoren wie das Wetter und der Fortschritt der Arbeiten an Bord können zu einer Änderung des Abfahrtsdatums führen.

67.      Möglichkeit 1 steht daher nicht im Einklang mit der Vorgabe nach Art. 11 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex, systematisch Ausreisestempel in den Reisedokumenten anzubringen. Wenn ein Tatbestandsmerkmal wie „kurz vor der Abfahrt“ eingeführt wird (wie die Kommission vorträgt), können diese Worte von den verschiedenen Mitgliedstaaten und auch von den Behörden in unterschiedlichen Häfen desselben Mitgliedstaats zu leicht unterschiedlich ausgelegt werden. Daher wäre eine solche Voraussetzung unvereinbar mit einer einheitlichen Auslegung von Art. 11 Abs. 1.

68.      Ich weise darauf hin, dass es nach dem Sachverhalt vorliegend zwei Kategorien von Seeleuten gibt. Manche reisen auf dem Luftweg ein, erfüllen ihren Dienst an Bord und reisen auf dem Luftweg aus. Andere reisen auf dem Luftweg ein, beginnen ihren Dienst an Bord und reisen, bevor der Dienst beendet ist, auf dem Seeweg aus. Möglichkeit 1 führt zu einer unterschiedlichen Behandlung beider Kategorien von Seeleuten. Eine solche Unterscheidung scheint es nach dem bisherigen System nicht gegeben zu haben, da beide Kategorien bei Anmusterung als Besatzung Ausreisestempel an der Grenzübergangsstelle erhalten haben.

69.      Wie die Seeleute und Betreiber in der mündlichen Verhandlung ausgeführt haben, kommt es darüber hinaus nach Möglichkeit 1 für die Frage, ob ein Ausreisestempel angebracht wird, darauf an, ob feststeht, dass das betreffende Schiff den Schengenraum tatsächlich verlässt. Demnach bekämen Drittstaatsangehörige, die an Bord eines Schiffs arbeiten, das Rotterdam in Richtung Las Palmas (Kanarische Inseln und daher ein Teil Spaniens) verlässt, keinen Ausreisestempel, weil sie im Schengenraum verbleiben. Drittstaatsangehörige hingegen, die an Bord eines Schiffs arbeiten, das Rotterdam in Richtung Kairo (Ägypten) verlässt, bekämen auf der Grundlage des angegebenen Bestimmungshafens des Schiffs (vermutlich) einen Ausreisestempel. An dieser Stelle weise ich auf die Erläuterungen in den Vorarbeiten zum Schengener Grenzkodex hin, wonach „ausgehend von der Definition der Seebinnen- und Seeaußengrenzen … Häfen in der Regel Außengrenzen [sind]; somit ist jedes Schiff bei jedem Anlaufen eines Hafens und jedem Auslaufen aus einem Hafen zu kontrollieren, da nicht feststellbar ist, was außerhalb der Häfen, in Hoheitsgewässern oder in internationalen Gewässern, geschieht (Ein-/Ausschiffen von Personen oder Ein-/Ausladen von Gütern). …“(41)

70.      Bei genauerer Betrachtung ist die in Möglichkeit 1 vorgeschlagene Auslegung daher nicht in vollem Umfang mit den Verpflichtungen gemäß Art. 11 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex vereinbar. Das Überschreiten der Außengrenze zwecks Ausreise aus dem Schengenraum sollte nicht mit dem Überschreiten der geografischen Grenzen eines Mitgliedstaats gleichgesetzt werden.

 Möglichkeit 2

71.      Nach Möglichkeit 2 reisen die Drittstaatsangehörigen aus dem Schengenraum aus, wenn sie die Grenzübergangsstelle im Hafen passieren und auf dem Schiff, dem sie zugewiesen worden sind, als Besatzung anmustern.

72.      Art. 11 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex ist im Zusammenhang mit Art. 2 Abs. 2 dieser Verordnung zu lesen, der besagt, dass die Außengrenzen die „Seehäfen“ einschließen. Es ist unstreitig, dass der Hafen von Rotterdam unter diese Definition fällt.

73.      Gemäß Art. 3 des Schengener Grenzkodex findet die Verordnung auf alle Personen Anwendung, die (die Binnengrenzen oder) die Außengrenzen eines Mitgliedstaats überschreiten. Die Grundregel lautet, dass Grenzen nur an zuständigen Grenzübergangsstellen während der festgesetzten Verkehrsstunden überschritten werden dürfen. Bei der Ein- und Ausreise werden Drittstaatsangehörige wie in Art. 8 des Schengener Grenzkodex vorgeschrieben eingehend kontrolliert. Der gesetzliche Gesamtkontext umfasst die Visavorschriften, in denen die Voraussetzungen für die Einreise in den Schengenraum und die Ausreise aus dem Schengenraum festgelegt sind. Diese Vorschriften werden durch die Systeme VIS und SIS ergänzt, die es den Mitgliedstaaten ermöglichen, Kontrollen durchzuführen, um sicherzustellen, dass die betreffenden Personen keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit oder die öffentliche Gesundheit der Mitgliedstaaten darstellen (sechster Erwägungsgrund). Solche Kontrollen erfolgen an der Grenzübergangsstelle(42).

74.      Darüber hinaus dürfen die Außengrenzen gemäß Art. 5 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex nur an den Grenzübergangsstellen überschritten werden. Nichts deutet darauf hin, dass die im Ausgangsverfahren streitigen Umstände eine der Ausnahmen gemäß Art. 5 Abs. 2 erfüllen, einschließlich der besonderen Ausnahmen für Seeleute (Art. 5 Abs. 2 Buchst. c)(43).

75.      Daher untergräbt Möglichkeit 2 nicht die Ziele des Schengener Grenzkodex. Die Seeleute erkennen an, dass sie den normalen Vorschriften unterliegen: Sie müssen über Visa und gültige Reisedokumente verfügen, sie müssen eine Grenzübergangsstelle passieren und werden bei der Ein- und Ausreise kontrolliert, und in ihren Dokumenten müssen nach dem Schengener Grenzkodex Stempel angebracht werden. Die Frage der illegalen Einwanderung stellt sich daher nicht. Die betreffenden Seeleute bleiben zu jeder Zeit erfasst und innerhalb des Systems(44). Fraglich sind allein der Zeitpunkt und der Ort der Durchführung der Grenzkontrollen. Wirtschaftlich gesehen ist diese Frage jedoch für Seeleute und Betreiber gleichermaßen von großer Bedeutung.

76.      Ich bin der Ansicht, dass Möglichkeit 2 der Möglichkeit 1 vorzuziehen ist.

77.      Erstens ist Möglichkeit 2 mit dem Wortlaut, der Systematik und dem Zweck des Schengener Grenzkodex vereinbar; insbesondere berücksichtigt sie die Definition in Art. 2 Abs. 2, wonach ein Seehafen die Außengrenze eines Mitgliedstaats bilden kann sowie die Vorgabe, dass Außengrenzen nur an den Grenzübergangsstellen überschritten werden dürfen; der Hafen von Rotterdam ist eine solche Stelle. Möglichkeit 1 erfüllt dieses Kriterium nicht.

78.      Zweitens führt Möglichkeit 2 sowohl zu einer einheitlichen Auslegung als auch zu einer einheitlichen Anwendung des Schengener Grenzkodex in allen Mitgliedstaaten. Kontrollen können an der Grenzübergangsstelle erfolgen (in Fällen wie dem vorliegenden also im Hafen), wo die betreffenden Drittstaatsangehörigen als Besatzung anmustern und an Bord gehen. Stempel können zu diesem Zeitpunkt gemäß Art. 11 Abs. 1 systematisch angebracht werden.

79.      Drittens verursacht Möglichkeit 2 weniger Anomalien als Möglichkeit 1, da Zeitpunkt und Ort des Anbringens des Stempels feststehen.

80.      Viertens gibt es den praktischen Vorteil, dass alle Seeleute gleich behandelt würden. Es wird nicht unterschieden zwischen denen, die nach Beendigung ihrer Arbeit auf dem Luftweg ausreisen, und denen, die mit dem Schiff segeln, wenn es den Hafen verlässt.

81.      Schließlich möchte ich daran erinnern, dass das vorlegende Gericht ausführt, dass die Rotterdamer Hafenbehörden früher Ausreisestempel in den Reisedokumenten von Seeleuten wie den Klägern im Ausgangsverfahren in dem Zeitpunkt angebracht haben, in dem sie als Besatzung anmusterten, dass diese Praxis sich aber zu Beginn des Jahres 2016 änderte. Es ist unklar, was diese Änderung veranlasst hat. Es gab keine Hinweise darauf, dass sie auf Gründen beruhte, die mit der Anwendung von Unionsrecht zu tun hatten. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die neue Praxis nicht mit der Praxis in anderen Häfen in den Niederlanden, die einen Teil der Außengrenze bilden, und mit vergleichbaren Häfen in anderen Mitgliedstaaten in Einklang stehe. Die neue Praxis scheint daher zu Verzerrungen zu führen, die möglicherweise den im 17. Erwägungsgrund des Schengener Grenzkodex genannten Zielen (Vermeidung einer starken Behinderung u. a. des wirtschaftlichen Austauschs) zuwiderlaufen.

 Ergebnis

82.      In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Raad van State (Staatsrat, Niederlande) gestellten Fragen wie folgt zu beantworten:

Wenn ein Drittstaatsangehöriger auf dem Luftweg in einen Mitgliedstaat einreist und sodann auf einem Schiff, das bereits in einem Hafen liegt, der eine Außengrenze im Sinne von Art. 2 Abs. 2 der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen bildet, als Besatzung anmustert, ist Art. 11 Abs. 1 dieser Verordnung dahin auszulegen, dass die betreffende Person den Schengenraum verlässt, sobald sie als Besatzung anmustert, auch wenn der Zeitpunkt, in dem das fragliche Schiff den Hafen verlassen wird, nicht feststeht.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2016, L 77, S. 1).


3      Von den 28 Mitgliedstaaten der Union nehmen 22 am Schengen-Besitzstand in vollem Umfang teil. Bulgarien, Kroatien und Rumänien sollen vollwertige Teilnehmer werden. Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz beteiligen sich auf der Grundlage bilateraler Abkommen mit der Europäischen Union am Schengen-Besitzstand. Ich bezeichne die Staaten, die am Schengen-Besitzstand teilnehmen, in diesem Text als Schengen‑Staaten. Der guten Ordnung halber weise ich darauf hin, dass für Irland und das Vereinigte Königreich Sonderbestimmungen gelten. Gemäß Art. 4 des dem EUV und dem AEUV beigefügten Protokolls Nr. 19 über den Schengen-Besitzstand sind Irland und das Vereinigte Königreich berechtigt, sich an einigen oder allen Schengen-Maßnahmen zu beteiligen. Gemäß Art. 1 des dem EUV und dem AEUV beigefügten Protokolls Nr. 22 über die Position Dänemarks beteiligt sich dieser Mitgliedstaat nicht an der Annahme von Maßnahmen, die nach dem Dritten Teil („Die internen Politiken und Maßnahmen der Union“) Titel V („Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) AEUV vorgeschlagen werden, durch den Rat.


4      Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19). Das Übereinkommen ist noch in Kraft, wurde jedoch in Teilen durch den Schengener Grenzkodex ersetzt, durch den die Art. 2 bis 8 des Übereinkommens aufgehoben wurden. Siehe auch den Beschluss des Exekutivausschusses vom 28. April 1999 bezüglich der Aufhebung von Altfassungen des Gemeinsamen Handbuches und der Gemeinsamen Konsularischen Instruktion und Annahme der Neufassungen (SCH/Com-ex[99]13, ABl. 2000, L 239, S. 317). Eine aktualisierte Fassung des Gemeinsamen Handbuchs ist – mit Ausnahme einiger vertraulicher Anlagen – im ABl. 2002, C 313, S. 97, veröffentlicht worden.


5      Art. 24 der Verordnung (EG) Nr. 1987/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems der zweiten Generation (SIS II) (ABl. 2006, L 381, S. 4).


6      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2017 über ein Einreise-/Ausreisesystem (EES) zur Erfassung der Ein- und Ausreisedaten sowie der Einreiseverweigerungsdaten von Drittstaatsangehörigen an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten und zur Festlegung der Bedingungen für den Zugang zum EES zu Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungszwecken und zur Änderung des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen sowie der Verordnungen (EG) Nr. 767/2008 und (EU) Nr. 1077/2011 (ABl. 2017, L 327, S. 20).


7      Diese Vorschriften wurden durch Umsetzungsmaßnahmen ergänzt. Siehe dazu unten, Nr. 17.


8      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Juli 2008 über das Visa‑Informationssystem (VIS) und den Datenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten über Visa für einen kurzfristigen Aufenthalt (VIS-Verordnung) (ABl. 2008, L 218, S. 60).


9      Verordnung des Rates vom 15. März 2001 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind (ABl. 2001, L 81, S. 1).


10      Zweiter Erwägungsgrund.


11      Dritter Erwägungsgrund.


12      Vierter Erwägungsgrund.


13      Sechster Erwägungsgrund.


14      17. Erwägungsgrund.


15      Art. 2 Nr. 5 definiert „Personen, die nach Unionsrecht Anspruch auf freien Personenverkehr haben“ als „die Unionsbürger im Sinne des Artikels 20 Absatz 1 AEUV sowie Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige eines sein Recht auf freien Personenverkehr ausübenden Unionsbürgers sind, die unter die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates [vom 29. April 2004] [Freizügigkeits- oder Unionsbürgerrichtlinie] fallen[, sowie] Drittstaatsangehörige und ihre Familienangehörigen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, die aufgrund von Übereinkommen zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und den betreffenden Drittstaaten andererseits ein Recht auf freien Personenverkehr genießen, das dem der Unionsbürger gleichwertig ist“.


16      Das heißt unbeschadet der Rechte der Personen, die das Recht auf freien Personenverkehr nach Unionsrecht genießen, sowie unbeschadet der Rechte der Flüchtlinge und Personen, die um internationalen Schutz ersuchen.


17      Siehe darüber hinaus Art. 19 und 20 sowie Anhänge VI und VII (unten, Nrn. 15 und 16).


18      In Anhang I sind nicht abschließend die Belege aufgeführt, deren Vorlage von einem Drittstaatsangehörigen verlangt werden kann.


19      Art. 8 Abs. 3 Buchst. g und h. Zum Betrieb des SIS siehe oben, Nr. 5.


20      Übereinkommen der Internationalen Seeschiffahrtsorganisation zur Erleichterung des Internationalen Seeverkehrs (FAL) vom 9. April 1965 in geänderter Fassung, in Kraft getreten am 5. März 1967.


21      Anhang VI Nrn. 3.1.1 bzw. 3.1.2.


22      Die einschlägigen internationalen Rechtsinstrumente sind die Übereinkommen Nr. 108 (1958) und Nr. 185 (2003) der Internationalen Arbeitsorganisation über Ausweise für Seeleute und das am 9. April 1965 angenommene FAL-Übereinkommen. Die Hauptziele des FAL-Übereinkommens bestehen darin, unnötige Verzögerungen im Seeverkehr zu vermeiden, die Zusammenarbeit zwischen den Regierungen zu fördern und das höchstmögliche Maß an Einheitlichkeit bei den Formalitäten und anderen Verfahren für den Seeverkehr zu gewährleisten. Siehe unten, Nr. 22.


23      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 (Visakodex) (ABl. 2009, L 243, S. 1).


24      Der Visakodex ist auf Drittstaatsangehörige anwendbar, die nach der Verordnung Nr. 539/2001 im Besitz eines Visums sein müssen, wenn sie die Außengrenzen eines Mitgliedstaats überschreiten.


25      Anhang IX legt die Vorschriften für die Erteilung von Visa an der Grenze an Seeleute auf der Durchreise fest, wenn diese Personen der Visumpflicht unterliegen.


26      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 zur Aufhebung der Richtlinie 2002/6/EG (ABl. 2010, L 283, S. 1).


27      Siehe Art. 6 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex und Art. 2 Abs. 2 des Visakodex. Das vorlegende Gericht führt weiter aus, dass die zulässige Aufenthaltsdauer im Allgemeinen kürzer sei, wenn die Seeleute ein Visum benötigten, nämlich 45 Tage innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen (siehe Nr. 3.3 des Vorlagebeschlusses).


28      Siehe unten, Nr. 47.


29      Siehe oben, Nrn. 6 und 12.


30      Siehe oben, Nr. 12.


31      Siehe oben, Nrn. 3 und 4.


32      Der Sachverhalt vor dem Gericht deutet darauf hin, dass zwar einige Schiffe möglicherweise am Kai angelegt haben, andere aber im weiteren Hafengebiet vor Anker gelegen haben dürften.


33      Siehe oben, Nr. 18.


34      Den anderen Sprachen, deren Übersetzung mir keine Schwierigkeiten bereitete, habe ich entnommen, dass folgende Begriffe verwendet werden: „udrejse“ (dänisch), „dell’uscita“ (italienisch), „wyjazd“ (polnisch), „de saída“ (portugiesisch), „vystup“ (slowakisch) und „la salida“ (spanisch).


35      Für die Verwendung des in der englischen Originalfassung verwendeten Begriffs „exit“: The Concise Oxford English Dictionary.


36      Urteil vom 6. Oktober 1982, Cilfit u. a. (283/81, EU:C:1982:335, Rn. 19).


37      Siehe oben, Nr. 4.


38      C‑170/96, EU:C:1998:43, Nr. 24.


39      Art. 2 Abs. 8, 10 und 11 des Schengener Grenzkodex, siehe auch Art. 5 Abs. 1 dieser Verordnung.


40      Urteil vom 12. Mai 1998 (C‑170/96, EU:C:1998:219, Rn. 23).


41      Vorschlag für eine Verordnung des Rates über den Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen KOM(2004) 391 endg. vom 26. Mai 2004, S. 28.


42      Siehe darüber hinaus die neuen Vorschriften in der Verordnung 2017/2226, die u. a. ein Einreise-/Ausreisedatensystem einführen, das jedes Überschreiten der oben unter Nr. 5 erwähnten Schengen-Außengrenzen durch Drittstaatsangehörige erfasst.


43      Siehe oben, Nrn. 11, 16 und 34 bis 38.


44      Siehe oben, Nrn. 21 und 22.