Language of document : ECLI:EU:T:2019:338

URTEIL DES GERICHTS (Neunte erweiterte Kammer)

16. Mai 2019(*)

„Staatliche Beihilfen – Polnische Einzelhandelssteuer – Progressive Steuer auf den Umsatz – Beschluss zur Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens – Abschließender Beschluss, mit dem die Maßnahme als mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe eingestuft wird – Begriff der staatlichen Beihilfe – Voraussetzung der Selektivität“

In den verbundenen Rechtssachen T‑836/16 und T‑624/17,

Republik Polen, vertreten durch B. Majczyna, M. Rzotkiewicz und A. Kramarczyk-Szaładzińska als Bevollmächtigte,

Klägerin,

unterstützt durch

Ungarn, vertreten in der Rechtssache T‑836/16 durch M. Fehér, G. Koós und E. Tóth und in der Rechtssache T‑624/17 durch M. Fehér und G. Koós als Bevollmächtigte,

Streithelfer,

gegen

Europäische Kommission, vertreten durch K. Herrmann und P.‑J. Loewenthal als Bevollmächtigte,

Beklagte,

betreffend Klagen nach Art. 263 AEUV auf Nichtigerklärung zum einen des Beschlusses C(2016) 5596 final der Kommission vom 19. September 2016 über die staatliche Beihilfe SA.44351 (2016/C) (ex 2016/NN) – Polen – Polnische Einzelhandelssteuer, mit dem das förmliche Prüfverfahren nach Art. 108 Abs. 2 AEUV in Bezug auf diese Maßnahme eingeleitet wurde, und zum anderen des Beschlusses (EU) 2018/160 der Kommission vom 30. Juni 2017 über die staatliche Beihilfe SA.44351 (2016/C) (ex 2016/NN), die Polen in Bezug auf die Einzelhandelssteuer gewährt hat (ABl. 2018, L 29, S. 38), mit dem das Verfahren abgeschlossen wurde und wonach diese Maßnahme eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe darstellt und rechtswidrig in Kraft gesetzt wurde,

erlässt

DAS GERICHT (Neunte erweiterte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten S. Gervasoni, der Richter L. Madise (Berichterstatter) und R. da Silva Passos, der Richterin K. Kowalik-Bańczyk sowie des Richters C. Mac Eochaidh,

Kanzler: F. Oller, Verwaltungsrat,

auf das schriftliche Verfahren und auf die mündliche Verhandlung vom 26. September 2018

folgendes

Urteil

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

1        Zu Beginn des Jahres 2016 fasste die polnische Regierung die Einführung einer neuen Einzelhandelssteuer ins Auge. Wenngleich zu bestimmten Modalitäten dieser Steuer noch verschiedene Konsultationen stattfinden sollten, sollte die Steuer grundsätzlich auf den Umsatz erhoben werden und progressiv sein.

2        Nachdem sie von diesem Vorhaben Kenntnis bekommen hatte, übermittelte die Europäische Kommission den polnischen Behörden Auskunftsersuchen und führte unter Verweis auf ihre im Juli 2015 abgegebene Stellungnahme zur Änderung der Gebühr für die Kontrolle der Lebensmittelkette in Ungarn, die ebenfalls auf dem Grundsatz einer progressiven Besteuerung des Umsatzes beruhte, aus:

„Die Sätze der von den Unternehmen gezahlten progressiven Umsatzsteuer knüpfen de facto an die Größe des Unternehmens an und nicht an seine Rentabilität oder Solvenz. Sie führen zu einer Diskriminierung zwischen Unternehmen und sind geeignet, schwerwiegende Störungen des Marktes zu verursachen. Da sie zu einer Ungleichbehandlung von Unternehmen führen, wurden sie als selektiv angesehen. Da alle Voraussetzungen des Art. 107 Abs. 1 AEUV erfüllt sind, [führen sie zu staatlichen Beihilfen im Sinne dieses Artikels].“

3        Am 6. Juli 2016 verabschiedete der Sejm Rzeczypospolitej Polskiej (Sejm der Republik Polen) das Gesetz über die Einzelhandelssteuer, dessen wesentliche Merkmale letztlich Folgende waren. Betroffen ist der Sektor des Verkaufs von Waren im Einzelhandel an natürliche Personen als Verbraucher. Steuerschuldner sind alle Einzelhändler ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform. Bemessungsgrundlage ist der monatliche Umsatz über 17 Mio. polnische Zloty (PLN), d. h. ungefähr 4 Mio. Euro. Der Steuersatz beträgt 0,8 % für die Umsatzstufe zwischen 17 Mio. und 170 Mio. PLN pro Monat und 1,4 % für den Teil des monatlichen Umsatzes, der darüber liegt. Das fragliche Gesetz trat am 1. September 2016 in Kraft.

4        Nach einigem Schriftwechsel zwischen den polnischen Behörden und der Kommission eröffnete diese mit Beschluss vom 19. September 2016 über die staatliche Beihilfe SA.44351 (2016/C) (ex 2016/NN) (im Folgenden: Eröffnungsbeschluss/erster angefochtener Beschluss) das Verfahren nach Art. 108 Abs. 2 AEUV in Bezug auf die in Rede stehende Maßnahme. Mit diesem Beschluss setzte die Kommission den Beteiligten nicht nur eine Frist zur Äußerung, sondern gab den polnischen Behörden auch gemäß Art. 13 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates vom 13. Juli 2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 [AEUV] (ABl. 2015, L 248, S. 9) auf, unverzüglich „die Anwendung des progressiven Steuersatzes [auszusetzen], bis die Kommission einen Beschluss über seine Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt erlassen hat“.

5        Während des gesamten Verfahrens wandten sich die polnischen Behörden, die die Anwendung der in Rede stehenden Maßnahme in der Tat aussetzten, gegen deren Einstufung als staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV.

6        Die polnische Regierung klagte ferner beim Gericht parallel zu den Gesprächen mit der Kommission auf Nichtigerklärung des Eröffnungsbeschlusses/ersten angefochtenen Beschlusses (Rechtssache T‑836/16).

7        Die Kommission beendete das Verfahren mit dem Beschluss (EU) 2018/160 vom 30. Juni 2017 über die staatliche Beihilfe SA.44351 (2016/C) (ex 2016/NN), die Polen in Bezug auf die Einzelhandelssteuer gewährt hat (ABl. 2018, L 29, S. 38) (im Folgenden: abschließender Beschluss/zweiter angefochtener Beschluss). Die Kommission führte darin aus, die in Rede stehende Maßnahme stelle eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe dar und sei rechtswidrig in Kraft gesetzt worden. Die polnischen Behörden müssten auf alle gemäß dem Eröffnungsbeschluss/ersten angefochtenen Beschluss ausgesetzten Zahlungen endgültig verzichten. Da die in Rede stehende Maßnahme nicht tatsächlich durchgeführt worden war, sei keine Rückforderung eines Beihilfenelements von den Begünstigten vorzunehmen.

8        Die polnische Regierung klagte beim Gericht ebenfalls auf Nichtigerklärung des abschließenden Beschlusses/zweiten angefochtenen Beschlusses (Rechtssache T‑624/17).

9        Im Eröffnungsbeschluss/ersten angefochtenen Beschluss und im abschließenden Beschluss/zweiten angefochtenen Beschluss (im Folgenden gemeinsam: angefochtene Beschlüsse), mit ergänzenden Ausführungen zu bestimmten Aspekten im abschließenden Beschluss/zweiten angefochtenen Beschluss, begründete die Kommission die Einstufung der in Rede stehenden Maßnahme als staatliche Beihilfe im Hinblick auf die Definition in Art. 107 Abs. 1 AEUV im Wesentlichen wie folgt.

10      Zunächst vertrat die Kommission in Bezug auf die Zurechenbarkeit der in Rede stehenden Maßnahme an den Staat und ihre Finanzierung aus staatlichen Mitteln die Ansicht, manche der betroffenen Unternehmen, nämlich jene mit geringem Umsatz, profitierten aufgrund des Gesetzes über die Einzelhandelssteuer von einer steuerlichen Vergünstigung gegenüber anderen Unternehmen, die diese Steuer zu entrichten hätten, und der Verzicht des Staates auf Steuereinnahmen, die er verbucht hätte, wenn alle Unternehmen zu demselben effektiven Durchschnittssteuersatz besteuert worden wären, führe zu einer Übertragung von staatlichen Mitteln auf begünstigte Unternehmen.

11      Hinsichtlich des Vorliegens eines Vorteils wies die Kommission darauf hin, dass Maßnahmen, die Belastungen verminderten, die ein Unternehmen normalerweise zu tragen hätte, ebenso wie positive Leistungen einen Vorteil darstellten. Im vorliegenden Fall hätten der Null-Steuersatz bzw. der niedrigere Durchschnittssteuersatz für Unternehmen mit geringem Umsatz im Vergleich zu den höheren Durchschnittssteuersätzen für Unternehmen mit einem höheren Umsatz ersteren einen Vorteil verschafft. Im abschließenden Beschluss/zweiten angefochtenen Beschluss fügte die Kommission hinzu, nach dem Franchise-Prinzip organisierte Vertriebsstrukturen würden gegenüber integrierten Vertriebsstrukturen bevorzugt, da der Umsatz bei ersteren in so viele Teile aufgeteilt werde, wie es Franchisenehmer gebe, während er bei letzteren zusammengerechnet werde.

12      Zur Begünstigung bestimmter Unternehmen durch den festgestellten Vorteil (Kriterium der Selektivität) führte die Kommission aus, da es sich um einen Steuervorteil handle, müsse die Prüfung in mehreren Stufen erfolgen. Zunächst müsse das Referenzsteuersystem ermittelt werden, sodann sei abzuklären, ob die betreffende Maßnahme eine Abweichung von diesem System darstelle, insofern sie Unternehmen, die sich unter Berücksichtigung der immanenten Ziele des Systems in einer tatsächlich und rechtlich vergleichbaren Situation befänden, unterschiedlich behandle, und schließlich sei, wenn dies der Fall sei, festzustellen, ob diese Abweichung durch die Natur oder den inneren Aufbau des Referenzsteuersystems gerechtfertigt sei. Eine verneinende Antwort auf der zweiten Stufe oder gegebenenfalls eine bejahende Antwort auf der dritten Stufe schließe das Vorliegen eines selektiven Vorteils zugunsten bestimmter Unternehmen aus, wohingegen eine bejahende Antwort auf der zweiten Stufe und eine verneinende Antwort auf der dritten Stufe den Schluss zulasse, dass ein Vorteil vorliege.

13      Im vorliegenden Fall vertrat die Kommission zunächst die Ansicht, dass das Referenzsystem die Umsatzsteuer im Einzelhandel sei, einschließlich der Unternehmen mit einem Umsatz unter 17 Mio. PLN, aber ohne die progressive Struktur der Besteuerung (Steuersätze von 0 % – entsprechend dem nicht steuerbaren Teil des Umsatzes – von 0,8 % und von 1,4 % und die entsprechenden Umsatzstufen).

14      Die Kommission führte sodann aus, da die progressive Struktur der Besteuerung für die Unternehmen nicht nur unterschiedliche Grenzsteuersätze, sondern auch unterschiedliche Durchschnittssteuersätze zur Folge habe, stelle sie eine Abweichung vom Referenzsystem mit unterstelltem Einheitssteuersatz dar. Im abschließenden Beschluss/zweiten angefochtenen Beschluss, gab die Kommission ein konkretes Beispiel für die Besteuerung von drei Einzelhandelsunternehmen, wobei das erste einen monatlichen Umsatz von 10 Mio. PLN erzielt, das zweite von 100 Mio. PLN und das dritte von 750 Mio. PLN. Der Durchschnittssteuersatz des ersten Unternehmens beträgt Null, der des zweiten 0,664 % und der des dritten 1,246 %.

15      Die Kommission war schließlich der Auffassung, die in der progressiven Struktur der Besteuerung liegende Abweichung vom Referenzsystem sei nicht durch die Natur oder den inneren Aufbau des Systems gerechtfertigt. Im Eröffnungsbeschluss/ersten angefochtenen Beschluss wies die Kommission darauf hin, dass Ziele sektorieller Politik wie der Regionalpolitik, der Umweltpolitik oder der Industriepolitik insoweit nicht berücksichtigt werden könnten. Da die polnischen Behörden angegeben hatten, mit der progressiven Besteuerung werde ein Umverteilungsziel verfolgt, das damit begründet wurde, dass Unternehmen mit einem hohen Umsatz von Skaleneffekten, besseren Lieferbedingungen oder Steuerstrategien profitieren könnten, die kleineren Unternehmen nicht zugänglich seien, führte die Kommission aus, ein solches Umverteilungsziel stehe nicht mit einer Umsatzsteuer im Einklang, die die Unternehmen nur abhängig vom Umfang ihrer Tätigkeit, jedoch nicht abhängig von ihren Belastungen, ihrer Profitabilität, ihrer Zahlungskraft oder den Vorteilen treffe, die nach Auffassung der polnischen Behörden nur großen Unternehmen zugutekämen. Nach Ansicht der Kommission kann eine progressive Steuer auf den Umsatz gerechtfertigt sein, um den Eintritt bestimmter möglicher negativer und mit dem Umsatz steigender Auswirkungen der betreffenden Tätigkeit (negative externe Effekte) auszugleichen oder zu verhindern, aber eine solche Situation sei im vorliegenden Fall nicht nachgewiesen worden.

16      Im Übrigen stellte die Kommission fest, dass die in Rede stehende Maßnahme den Wettbewerb verfälsche oder zu verfälschen drohe und den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtige. Insbesondere sei der Einzelhandel in Polen für den Wettbewerb offen, an dem Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten teilnähmen, und die durch die niedrigsten Steuersätze begünstigten Unternehmen erhielten somit Betriebsbeihilfen. Das Vorbringen der polnischen Behörden, wonach die progressive Besteuerung die Erhaltung kleiner Einzelhandelsbetriebe gegenüber großen Handelsketten ermögliche, wertete die Kommission als Beleg für den Versuch, die Wettbewerbsstruktur auf dem Markt zu beeinflussen.

 Verfahren und Anträge der Beteiligten

17      Am 30. November 2016 hat die Republik Polen Klage auf Nichtigerklärung des Eröffnungsbeschlusses/ersten angefochtenen Beschlusses erhoben (Rechtssache T‑836/16).

18      Am 21. Februar 2017 hat die Kommission die Klagebeantwortung eingereicht.

19      Am 17. März 2017 hat Ungarn beantragt, als Streithelfer zur Unterstützung der Republik Polen zugelassen zu werden. Durch Beschluss des Präsidenten der Neunten Kammer des Gerichts vom 27. April 2017 ist diesem Antrag stattgegeben worden.

20      Am 11. Mai, 19. Juni und 2. August 2017 haben die Republik Polen, Ungarn und die Kommission eine Erwiderung, einen Streithilfeschriftsatz und eine Gegenerwiderung eingereicht.

21      Am 13. September 2017 hat die Republik Polen Klage auf Nichtigerklärung des abschließenden Beschlusses/zweiten angefochtenen Beschlusses erhoben (Rechtssache T‑624/17).

22      Am 20. Oktober 2017 haben die Republik Polen und die Kommission ihre Stellungnahmen zum Streithilfeschriftsatz Ungarns in der Rechtssache T‑836/16 eingereicht.

23      Mit Schreiben vom 21. November 2017 hat die Republik Polen einen mit Gründen versehenen Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung in der Rechtssache T‑836/16 gestellt.

24      Am 29. November 2017 hat die Kommission die Klagebeantwortung in der Rechtssache T‑624/17 eingereicht.

25      Am 30. November 2017 hat die Kommission die Verbindung der Rechtssachen T‑836/16 und T‑624/17 zu gemeinsamem mündlichen Verfahren beantragt.

26      Am 15. Dezember 2017 hat Ungarn beantragt, als Streithelfer zur Unterstützung der Republik Polen in der Rechtssache T‑624/17 zugelassen zu werden. Durch Beschluss des Präsidenten der Neunten Kammer des Gerichts vom 12. Januar 2018 ist diesem Antrag stattgegeben worden.

27      Am 20. Februar 2018 hat Ungarn den Streithilfeschriftsatz in der Rechtssache T‑624/17 eingereicht. Die Republik Polen sowie die Kommission haben ihre Stellungnahmen dazu am 9. und am 19. April 2018 eingereicht.

28      Mit Schreiben vom 15. Mai 2018 hat die Republik Polen einen mit Gründen versehenen Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung in der Rechtssache T‑624/17 gestellt.

29      Auf Bericht des Berichterstatters hat das Gericht beschlossen, die mündliche Verhandlung in den Rechtssachen T‑836/16 und T‑624/17 zu eröffnen. Das Gericht hat auch beschlossen, den Beteiligten eine Frage zur Beantwortung in der Verhandlung zu stellen.

30      Auf Vorschlag der Neunten Kammer hat das Gericht die Rechtssachen gemäß Art. 28 der Verfahrensordnung des Gerichts an einen erweiterten Spruchkörper verwiesen.

31      Mit Beschluss des Gerichts vom 4. Juli 2018 sind die Rechtssachen T‑836/16 und T‑624/17 gemäß Art. 68 Abs. 2 der Verfahrensordnung zu gemeinsamem mündlichen Verfahren verbunden worden.

32      Die Beteiligten haben in der Sitzung vom 26. September 2018 mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet. Bei dieser Gelegenheit hat der Präsident der Neunten erweiterten Kammer des Gerichts nach Anhörung der Parteien beschlossen, die Rechtssachen T‑836/16 und T‑624/17 auch zu gemeinsamer Entscheidung zu verbinden.

33      In der Rechtssache T‑836/16 beantragt die Republik Polen,

–        den Eröffnungsbeschluss/ersten angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären;

–        der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

34      In der Rechtssache T‑624/17 beantragt die Republik Polen,

–        den abschließenden Beschluss/zweiten angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären;

–        der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

35      In den Rechtssachen T‑836/16 und T‑624/17 beantragt die Kommission,

–        die Klagen abzuweisen;

–        der Republik Polen die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

36      In den Rechtssachen T‑836/16 und T‑624/17 beantragt Ungarn, den Klagen stattzugeben.

37      In der Rechtssache T‑836/16 beantragt Ungarn zudem, der Kommission die Kosten der ungarischen Regierung aufzuerlegen.

 Rechtliche Würdigung

38      In der Rechtssache T‑836/16 macht die polnische Regierung vier Klagegründe gegen den Eröffnungsbeschluss/ersten angefochtenen Beschluss geltend: zunächst einen Fehler bei der rechtlichen Einstufung der in Rede stehenden Maßnahme als staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV, sodann Verstöße gegen Art. 13 Abs. 1 der Verordnung 2015/1589 und gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wegen der Aufforderung, unverzüglich „die Anwendung des progressiven Steuersatzes [auszusetzen], bis die Kommission einen Beschluss über seine Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt erlassen hat“, und schließlich eine fehlerhafte und unzureichende Begründung.

39      In der Rechtssache T‑624/17 macht die polnische Regierung zwei Klagegründe gegen den abschließenden Beschluss/zweiten angefochtenen Beschluss geltend: zum einen einen Fehler bei der rechtlichen Einstufung der in Rede stehenden Maßnahme als staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV und zum anderen eine fehlerhafte und unzureichende Begründung.

40      Im vorliegenden Fall erachtet es das Gericht für zweckmäßig, zuerst die Klagegründe zu prüfen, mit denen ein Fehler bei der rechtlichen Einstufung der in Rede stehenden Maßnahme als staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV in den angefochtenen Beschlüssen geltend gemacht wird.

41      Die polnische Regierung trägt vor, die Kommission habe zu Unrecht festgestellt, dass die Einzelhandelssteuer eine selektive Maßnahme darstelle, die aufgrund des progressiven Charakters ihrer auf die Bemessungsgrundlage des Umsatzes angewendeten Steuersätze bestimmte Unternehmen bevorzuge. Es handle sich vielmehr um eine allgemeine und nicht um eine selektive Maßnahme, bzw. um eine Maßnahme, die möglicherweise dem ersten Anschein nach als selektiv angesehen werden könne, die jedoch letztlich nicht selektiv sei, da sie durch die Natur und den inneren Aufbau des Systems gerechtfertigt sei.

42      Nach den Ausführungen der polnischen Regierung in einer ersten Reihe von Argumenten kann die Einzelhandelssteuer nicht von vornherein als selektiv angesehen werden, weil ihre Struktur, die nach Ansicht der Kommission ihre Selektivität begründe, vom Referenzsystem nicht abweiche, zu dem die Steuer gehöre, da diese Struktur Bestandteil dieses Systems sei. Die polnische Regierung macht im Einzelnen Folgendes geltend.

43      Der progressive Charakter der Sätze der Einzelhandelssteuer, den die Kommission als Ausdruck eines selektiven Vorteils zugunsten bestimmter Unternehmen ansehe, sei vielmehr integraler Bestandteil des Referenzsystems, das sich aus dieser Steuer mit ihren Merkmalen hinsichtlich der Bemessungsgrundlage, der Steuerpflichtigen, des Steuertatbestands und der Struktur der Steuersätze zusammensetze. Der progressive Charakter der Steuersätze sei daher nicht als Abweichung vom Referenzsystem anzusehen. Die Kommission habe das Referenzsystem fälschlich auf die in Rede stehende Steuer ohne ihre Steuersätze eingeschränkt, was zu der seltsamen Situation führe, dass das von ihr ermittelte Referenzsteuersystem keinen „normalen“ Steuersatz enthalte, in Bezug auf den das Vorliegen eines selektiven Vorteils beurteilt werden könne, wie aus den Erwägungsgründen 26 und 51 des Eröffnungsbeschlusses/ersten angefochtenen Beschlusses sowie aus den Erwägungsgründen 47 und 49 des abschließenden Beschlusses/zweiten angefochtenen Beschlusses hervorgehe. Die Kommission begnüge sich mit der Erwägung, dass es nur einen einzigen Steuersatz geben sollte, den die polnischen Behörden gegebenenfalls auf den maximalen Grenzsteuersatz von 1,4 % bzw. den höchsten für die Steuerpflichtigen festgestellten effektiven Durchschnittssteuersatz festsetzen könnten.

44      Die Steuersätze seien, auch im Falle eines progressiven Tarifs, notwendigerweise Teil jeder Steuer, wie im Übrigen die Kommission in Nr. 134 ihrer Bekanntmachung zum Begriff der staatlichen Beihilfe im Sinne des Artikels 107 Absatz 1 des [AEUV] (ABl. 2016, C 262, S. 1; im Folgenden: Bekanntmachung zum Begriff der staatlichen Beihilfe) ausgeführt habe. Indem sie einen einheitlichen Steuersatz für eine Steuer auferlegen wolle, greife die Kommission zudem in die steuerlichen Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten ein.

45      Die polnische Regierung betont, im vorliegenden Fall sei der in Rede stehende progressive Tarif klar und verständlich und die Steuersätze würden auf einem relativ niedrigen Niveau auf lineare Weise festgesetzt, wobei der höhere Steuersatz von 1,4 % nur 1,75 Mal höher als der erste Steuersatz von 0,8 % sei. Es gebe keinen Schwelleneffekt, denn unabhängig vom Umsatz der betreffenden Unternehmen gelte für alle eine Steuerbefreiung für den monatlichen Umsatz bis 17 Mio. PLN, ein Steuersatz von 0,8 % für den Teil des monatlichen Umsatzes zwischen 17 Mio. und 170 Mio. PLN und ein Steuersatz von 1,4 % für den Teil des monatlichen Umsatzes über 170 Mio. PLN. Das System sei weder diskriminierend noch willkürlich und kenne keine Ausnahmen.  Die Struktur der Einzelhandelssteuer sei auch nicht mit der vollständigen Steuerbefreiung der „Offshore“-Gesellschaften in Gibraltar vergleichbar, die im Urteil vom 15. November 2011, Kommission und Spanien/Government of Gibraltar und Vereinigtes Königreich (C‑106/09 P und C‑107/09 P, EU:C:2011:732), geprüft worden sei und im Widerspruch zu dem Ziel der betreffenden Steuern gestanden habe, alle Unternehmen einem allgemeinen Besteuerungssystem zu unterwerfen, sondern diese Struktur sei mit den Mechanismen der Begrenzung dieser Steuern auf 15 % des Gewinns für alle Unternehmen vergleichbar, die in diesem Urteil nicht als selektive Begünstigung angesehen worden seien.

46      Die polnische Regierung fügt hinzu, die Einzelhandelssteuer verfolge ihrer Konzeption nach das doppelte Ziel, dem Staat Steuereinnahmen zu verschaffen und gleichzeitig die Steuerlast zwischen den Steuerpflichtigen nach ihrer Zahlungskraft gerecht aufzuteilen, und folge einer Umverteilungslogik, die wiederum darauf abziele, das Steueraufkommen zu sichern. Entgegen der Behauptung der Kommission im 29. Erwägungsgrund des Eröffnungsbeschlusses/ersten angefochtenen Beschlusses und im 49. Erwägungsgrund des abschließenden Beschlusses/zweiten angefochtenen Beschlusses beschränke sich das Ziel dieser Steuer nicht darauf, Steuereinnahmen zu erzielen oder gar „den Umsatz aller Unternehmen des Einzelhandelssektors zu besteuern“. Dies bestätige, dass die Steuersätze und die damit verbundenen Schwellenwerte Teil des Referenzsystems seien.  Zudem könnten zwar die von den Handelsketten gewählten Organisationsformen in der Tat Einfluss auf die Höhe der Steuern haben, die diese zahlen müssten, jedoch stehe es allen frei, die insoweit günstigste Organisationsform zu wählen, etwa durch Rückgriff auf Franchising. Insbesondere die Carrefour-Gruppe greife darauf ebenso in verstärktem Maße zurück wie andere große Einzelhändler ausländischer Herkunft, während bestimmte große Steuerpflichtige mit integrierter Organisation in polnischem Eigentum stehende Gesellschaften seien.

47      Auf dieses Vorbringen antwortet die Kommission zunächst mit Vorbemerkungen. Sie habe festgestellt, dass sich alle Einzelhandelsunternehmen im Hinblick auf das Ziel der in Rede stehenden Steuer in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befänden und dass die progressive Struktur ihrer Steuersätze zu einer Diskriminierung dieser Unternehmen aufgrund ihrer Größe führe, die weder durch die Logik noch durch die Natur dieser Steuer gerechtfertigt sei, da Unternehmen mit geringem Umsatz in den Genuss eines effektiven Null-Steuersatzes bzw. eines niedrigeren effektiven Durchschnittssteuersatzes kämen als Unternehmen mit höherem Umsatz. So wären beinahe alle kleinen und mittleren selbständigen Einzelhändler praktisch von der Steuer befreit oder mit effektiv unter 0,8 % ihres gesamten Umsatzes besteuert worden, während große Einzelhändler, wie beispielsweise integrierte Supermarktketten, einem näher am Spitzensteuersatz von 1,4 % liegenden effektiven Durchschnittssteuersatz unterworfen worden wären, der einen beträchtlichen Teil ihrer Gewinne ausmache. Die in polnischem Eigentum stehenden Einzelhandelsunternehmen gehörten im Allgemeinen zu den Begünstigten des Systems, während die in ausländischem Eigentum stehenden mit einem höheren Durchschnittssatz besteuert würden. Gemäß verschiedenen öffentlich zugänglichen Informationen hätten im September 2016 von beinahe 200 000 Einzelhandelsgeschäften oder ‑unternehmen nur etwa 100 die Steuer zu entrichten gehabt, wobei deren zu erwartender Erlös 114 Mio. PLN betragen hätte, wovon fast 80 Mio. PLN von den zehn größten Unternehmen zu entrichten gewesen wären. Nur zwölf Unternehmen hätten die Steuerstufe von 1,4 % erreicht. Verschiedene politische Verlautbarungen in Polen hätten im Übrigen klargemacht, dass die Steuer darauf abzielte, die Wettbewerbsbedingungen zwischen kleinen Handelsbetrieben und den internationalen Handelsketten auszugleichen. Zudem werde eine nach dem Franchising-Modell organisierte Handelskette wenig oder gar nicht besteuert, während eine integrierte Handelskette mit gleichem Umsatz viel höher besteuert werde. Die Kommission führt hierzu das Beispiel der Carrefour-Gruppe an, die teils nach dem Holding-Modell organisiert sei und für diesen Teil mit einem Durchschnittssatz von 1,2 % besteuert werde, während die polnische Einzelhandelskette Lewiatan, die nach dem Franchising-Modell arbeite, ihrerseits in 16 Gesellschaften unterteilt sei und einen höheren Gesamtumsatz erziele als Carrefour, fast zum Null-Steuersatz besteuert werde. Auch wenn ausländische Ketten wie die Carrefour-Gruppe ebenfalls auf Franchising zurückgriffen, seien gerade die Franchisenehmer polnische örtliche Unternehmen, die durch die in Rede stehende steuerliche Regelung begünstigt würden. Die Kommission hat jedoch in der mündlichen Verhandlung betont, dass sich die angefochtenen Beschlüsse für den Nachweis der Selektivität der durch die progressiven Sätze der Einzelhandelssteuer erzielten Vorteile nicht auf die Feststellung einer Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit der Steuerpflichtigen stützten.

48      Die Kommission fügt unter Verweis auf das Urteil vom 15. November 2011, Kommission und Spanien/Government of Gibraltar und Vereinigtes Königreich (C‑106/09 P und C‑107/09 P, EU:C:2011:732), hinzu, dass es für die Feststellung der selektiven Begünstigung bestimmter Unternehmen durch eine steuerliche Maßnahme nicht ausreiche, zu prüfen, ob eine Abweichung von den vom betreffenden Mitgliedstaat festgelegten Vorschriften des Referenzsystems vorliege, sondern dass auch zu prüfen sei, ob die Grenzen oder die Struktur des Referenzsystems in kohärenter Weise oder vielmehr eindeutig willkürlich oder einseitig festgelegt worden seien, um diese Unternehmen zu begünstigen, was vorliegend der Fall sei. In diesem Urteil habe der Gerichtshof entschieden, dass sich der selektive Vorteil zugunsten bestimmter Gesellschaften aus der Ausgestaltung der betreffenden Steuer selbst ergab. Das Urteil vom 21. Dezember 2016, Kommission/World Duty Free Group u. a. (C‑20/15 P und C‑21/15 P, EU:C:2016:981), bestätige diesen Ansatz.

49      Die Kommission trägt weiter vor, soweit die polnische Regierung den in Rede stehenden steuerlichen Mechanismus mit der Notwendigkeit rechtfertige, die Zahlungskraft der Unternehmen zu berücksichtigen, sei der Umsatz als Bemessungsgrundlage nicht relevant, weil ein hoher Umsatz mit Defiziten einhergehen könne und umgekehrt. Die Tatsache, dass ein Unternehmen groß sei, bedeute nicht, dass es sehr zahlungskräftig sei. Auch die von der polnischen Regierung ebenfalls angeführte Bekämpfung von Steueroptimierung und Steuerhinterziehung sei nicht relevant, da die Gefahr einer Umgehung der Bemessungsgrundlage nur im Rahmen von Gewinnsteuern bestehe.

50      Der Kommission zufolge beeinträchtigt ihre Analyse nicht die Steuerautonomie der Mitgliedstaaten. Die Republik Polen bleibe insoweit souverän, vorbehaltlich der Einhaltung der Beihilferegeln des AEU-Vertrags.

51      Was insbesondere die Diskussion über die Bestimmung des Referenzsystems angeht, so führt die Kommission aus, um die Selektivität einer vorteilhaften steuerlichen Maßnahme festzustellen, müsse dieses System als einheitlicher Satz von Regeln ermittelt werden, die allgemein auf der Grundlage objektiver Kriterien für alle Unternehmen gälten, die in den durch sein Ziel definierten Anwendungsbereich fielen; sodann müsse nachgewiesen werden, dass die in Rede stehende Maßnahme von diesem System insoweit abweiche, als sie Unterscheidungen zwischen Unternehmen einführe, die sich im Hinblick auf dieses Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befänden. Da Gegenstand der Steuer im vorliegenden Fall der Umsatz im Einzelhandel und Steuerpflichtige die Einzelhändler seien, befänden sich im Hinblick auf das Ziel dieser Steuer alle Einzelhändler unabhängig von ihrer Größe in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation. Referenzsystem sei somit die Besteuerung des Umsatzes aus Einzelhandelsverkäufen.

52      Wie in der Rechtssache, in der das Urteil vom 15. November 2011, Kommission und Spanien/Government of Gibraltar und Vereinigtes Königreich (C‑106/09 P und C‑107/09 P, EU:C:2011:732), ergangen sei, sei jedoch das von der polnischen Regierung vorgelegte Referenzsystem selbst bewusst so konzipiert, dass es selektiv sei, ohne dass dies durch das Ziel der Steuer gerechtfertigt werden könne, das darin bestehe, Einnahmen für den Staat zu erzielen. Die Kommission habe nicht übersehen, dass für alle Einzelhandelsunternehmen dieselben Steuersätze und Stufen gälten, aber die lokalen Einzelhändler würden dennoch durch einen effektiven Null-Steuersatz oder einen effektiven Durchschnittssteuersatz begünstigt, der viel niedriger sei als jener für Einzelhändler mit hohem Umsatz. Insoweit verweist die Kommission zur Veranschaulichung auf das im abschließenden Beschluss/zweiten angefochtenen Beschluss angeführte und oben in Rn. 14 wiedergegebene Zahlenbeispiel. In Ermangelung einer triftigen Rechtfertigung seitens der polnischen Behörden könne die Logik der Festlegung der Stufen nur darin liegen, kleine Einzelhändler zu bevorzugen und die größeren Unternehmen des Sektors zahlen zu lassen.

53      Das Argument der polnischen Regierung, wonach der progressive Charakter der Einzelhandelssteuer durch den doppelten Zweck gerechtfertigt sei, dem Staat Steuereinnahmen zu verschaffen und gleichzeitig die Steuerlast zwischen den Steuerpflichtigen nach ihrer Zahlungskraft gerecht aufzuteilen, gehöre nicht zur Stufe der Bestimmung des Referenzsteuersystems, sondern gegebenenfalls zur Rechtfertigung, die nach der Feststellung einer Abweichung von diesem System beizubringen sei. Jedenfalls sei das zu berücksichtigende immanente Ziel der Steuer nicht das Erzielen von Steuereinnahmen, was das Ziel jeder Steuer sei, sondern die Besteuerung des Umsatzes im Einzelhandel, ebenso wie das Ziel einer Gewinnsteuer die Besteuerung der Gewinne sei. Wie oben in Rn. 49 ausgeführt, könne das Ziel auch nicht darin liegen, die Zahlungskraft der verschiedenen Unternehmen zu berücksichtigen, die im Einzelhandel tätig seien.

54      Somit sei das Referenzsystem in den angefochtenen Beschlüssen zu Recht als Besteuerung des Umsatzes aus Einzelhandelsverkäufen ohne progressive Steuertabelle festgestellt worden, wobei jedoch entgegen dem Vorbringen der ungarischen Regierung kein konkreter linearer Steuersatz bestimmt worden sei.

55      Die oben zusammengefassten Argumente sind zu prüfen.

56      Nach Art. 107 Abs. 1 AEUV, sind, soweit in den Verträgen nicht etwas anderes bestimmt ist, staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Binnenmarkt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen.

57      Nach ständiger Rechtsprechung beschränken sich die von Art. 107 Abs. 1 AEUV erfassten Beihilfen nicht auf Subventionen, da sie nicht nur positive Leistungen wie etwa Subventionen selbst, sondern auch staatliche Maßnahmen umfassen, die in verschiedener Form die Belastungen vermindern, die ein Unternehmen normalerweise zu tragen hat, und die somit, obwohl sie keine Subventionen im strengen Sinne des Wortes darstellen, diesen nach Art und Wirkungen gleichstehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. Februar 1961, De Gezamenlijke Steenkolenmijnen in Limburg/Hohe Behörde, 30/59, EU:C:1961:2, S. 39, vom 2. Juli 1974, Italien/Kommission, 173/73, EU:C:1974:71, Rn. 33, vom 15. März 1994, Banco Exterior de España, C‑387/92, EU:C:1994:100, Rn. 13, und vom 15. November 2011, Kommission und Spanien/Government of Gibraltar und Vereinigtes Königreich, C‑106/09 P und C‑107/09 P, EU:C:2011:732, Rn. 71).

58      Für den Bereich der Steuern folgt daraus, dass eine Maßnahme, mit der die staatlichen Behörden bestimmten Unternehmen eine steuerliche Vergünstigung gewähren, die zwar nicht mit der Übertragung staatlicher Mittel verbunden ist, aber die Begünstigten finanziell besserstellt als die übrigen Abgabepflichtigen, eine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. März 1994, Banco Exterior de España, C‑387/92, EU:C:1994:100, Rn. 14, vom 15. November 2011, Kommission und Spanien/Government of Gibraltar und Vereinigtes Königreich, C‑106/09 P und C‑107/09 P, EU:C:2011:732, Rn. 72, und vom 21. Dezember 2016, Kommission/World Duty Free Group u. a., C‑20/15 P und C‑21/15 P, EU:C:2016:981, Rn. 56).

59      Um nachzuweisen, dass bestimmte Unternehmen steuerlich bevorzugt behandelt werden, d. h., dass die fragliche Maßnahme selektiver Natur ist, muss festgestellt werden, ob diese Maßnahme im Rahmen einer bestimmten rechtlichen Regelung geeignet ist, bestimmte Unternehmen gegenüber anderen zu begünstigen, die sich im Hinblick auf das mit der betreffenden Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 2. Juli 1974, Italien/Kommission, 173/73, EU:C:1974:71, Rn. 33; vgl. auch Urteil vom 15. November 2011, Kommission und Spanien/Government of Gibraltar und Vereinigtes Königreich, C‑106/09 P und C‑107/09 P, EU:C:2011:732, Rn. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung).

60      Insbesondere setzt die Einstufung einer vorteilhaften steuerlichen Maßnahme als „selektiv“ nach der in der Rechtsprechung verankerten Prüfungsmethode voraus, dass in einem ersten Schritt die in dem betreffenden Mitgliedstaat geltende allgemeine oder „normale“ Steuerregelung ermittelt und geprüft wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Dezember 2016, Kommission/World Duty Free Group u. a., C‑20/15 P und C‑21/15 P, EU:C:2016:981, Rn. 57, und vom 28. Juni 2018, Andres [Insolvenz Heitkamp BauHolding]/Kommission, C‑203/16 P, EU:C:2018:505, Rn. 88 und die dort angeführte Rechtsprechung).

61      Anhand dieser Steuerregelung ist dann in einem zweiten Schritt zu beurteilen und gegebenenfalls festzustellen, ob der mit der fraglichen Steuermaßnahme gewährte Vorteil selektiv ist, wenn nämlich dargetan wird, dass diese Maßnahme von der „normalen“ Regelung insoweit abweicht, als sie zwischen Wirtschaftsteilnehmern differenziert, die sich im Hinblick auf das mit der allgemeinen oder „normalen“ Steuerregelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. September 2011, Paint Graphos u. a., C‑78/08 bis C‑80/08, EU:C:2011:550, Rn. 49, und vom 21. Dezember 2016, Kommission/World Duty Free Group u. a., C‑20/15 P und C‑21/15 P, EU:C:2016:981, Rn. 57). Die Steuervergünstigung, d. h. die Differenzierung, kann jedoch keinen selektiven Vorteil darstellen, wenn sie durch die Natur oder den inneren Aufbau der Regelung gerechtfertigt ist, zu der sie gehört (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. November 2001, Adria-Wien Pipeline und Wietersdorfer & Peggauer Zementwerke, C‑143/99, EU:C:2001:598, Rn. 42, vom 15. Dezember 2005, Unicredito Italiano, C‑148/04, EU:C:2005:774, Rn. 51 und 52, vom 6. September 2006, Portugal/Kommission, C‑88/03, EU:C:2006:511, Rn. 52, vom 22. Dezember 2008, British Aggregates/Kommission, C‑487/06 P, EU:C:2008:757, Rn. 83, und vom 21. Dezember 2016, Kommission/World Duty Free Group u. a., C‑20/15 P und C‑21/15 P, EU:C:2016:981, Rn. 58 und 60).

62      Aus der Rechtsprechung ergibt sich, dass mit der Natur der „normalen“ Regelung das damit verfolgte Ziel gemeint ist, während unter dem inneren Aufbau der „normalen“ Regelung deren Besteuerungsvorschriften zu verstehen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. September 2006, Portugal/Kommission, C‑88/03, EU:C:2006:511, Rn. 81, und vom 7. März 2012, British Aggregates/Kommission, T‑210/02 RENV, EU:T:2012:110, Rn. 84). Der vorstehend erwähnte Begriff des Ziels oder der Natur der „normalen“ Steuerregelung bezieht sich auf die Grund- oder Leitprinzipien dieser Steuerregelung; er bezieht sich weder auf die mit dem betreffenden Steueraufkommen gegebenenfalls finanzierten Politikfelder (wie im vorliegenden Fall die Finanzierung von Maßnahmen der Familienpolitik), noch auf die mit der Einführung von Abweichungen von dieser Steuerregelung möglicherweise verfolgten Ziele.

63      Im vorliegenden Fall ist zunächst zu prüfen, welches die „normale“ Steuerregelung ist, anhand deren grundsätzlich untersucht werden muss, ob ein selektiver Vorteil vorliegt.

64      Soweit die Kommission in den angefochtenen Beschlüssen vor allem auf das Urteil vom 15. November 2011, Kommission und Spanien/Government of Gibraltar und Vereinigtes Königreich (C‑106/09 P und C‑107/09 P, EU:C:2011:732), verweist, ist festzustellen, dass die drei Steuern, die Gegenstand der Rechtssachen waren, in denen jenes Urteil ergangen ist, zusammengenommen die allgemeine Steuerregelung für alle in Gibraltar niedergelassenen Gesellschaften bildeten, während im vorliegenden Fall die von der Kommission als staatliche Beihilfe eingestufte Maßnahme Bestandteil einer den Verkauf von Waren im Einzelhandel an Privatpersonen betreffenden sektorspezifischen Steuer ist. Die „normale“ Steuerregelung kann daher jedenfalls nicht über diesen Sektor hinausgehen (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 21. Dezember 2016, Kommission/Hansestadt Lübeck, C‑524/14 P, EU:C:2016:971, Rn. 54 bis 63).

65      Die polnische Regierung weist somit zu Recht darauf hin, dass die Steuersätze vom Inhalt einer Steuerregelung nicht abstrahiert werden können, wie es die Kommission getan hat (vgl. Erwägungsgründe 22 und 29 des Eröffnungsbeschlusses/ersten angefochtenen Beschlusses und Erwägungsgründe 46 und 49 des abschließenden Beschlusses/zweiten angefochtenen Beschlusses). Unabhängig davon, ob es sich um einen einheitlichen oder progressiven Steuertarif handelt, gehört die Höhe der Belastung ebenso wie die Bemessungsgrundlage, der Steuertatbestand und der Kreis der Steuerpflichtigen zu den grundlegenden Merkmalen einer rechtlichen Regelung über die Erhebung einer Steuer. Wie die polnische Regierung hervorhebt, erklärt selbst die Kommission in Nr. 134 der Bekanntmachung zum Begriff der staatlichen Beihilfe: „Im Falle von Steuern setzt sich das Bezugssystem aus Elementen wie der Steuerbemessungsgrundlage, den Steuerpflichtigen, dem Steuertatbestand und den Steuersätzen zusammen.“ Ist die Höhe der Belastung, anhand deren sich der innere Aufbau des „normalen“ Systems bestimmen lässt, nicht festgelegt, kann auch nicht geprüft werden, ob eine Abweichung vorliegt, die bestimmte Unternehmen begünstigt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. September 2006, Portugal/Kommission, C‑88/03, EU:C:2006:511, Rn. 56, und vom 7. März 2012, British Aggregates/Kommission, T‑210/02 RENV, EU:T:2012:110, Rn. 52). Deshalb muss für den Fall, dass im Rahmen ein- und derselben Steuer für bestimmte Unternehmen andere Steuersätze sowie andere Befreiungen gelten als für andere Unternehmen, ermittelt werden, welche die „normale“ Situation in diesem Bereich ist, die von der „normalen“ Regelung erfasst wird; andernfalls kann die oben in den Rn. 60 und 61 erwähnte Prüfungsmethode nicht angewandt werden.

66      Im Übrigen ergibt sich aus den angefochtenen Beschlüssen und aus dem Verteidigungsvorbringen der Kommission, dass diese versucht hat, eine „normale“ Regelung mit einer Abgabenstruktur als Bezugssystem zu bestimmen. Insbesondere aus den Erwägungsgründen 26 und 32 des Eröffnungsbeschlusses/ersten angefochtenen Beschlusses und den Erwägungsgründen 47, 49 und 54 des abschließenden Beschlusses/zweiten angefochtenen Beschlusses geht hervor, dass im Rahmen dieser Regelung nach Ansicht der Kommission der Umsatz der Einzelhändler ab dem ersten PLN mit einem einheitlichen (linearen) Steuersatz belastet werden sollte. Die Kommission ließ außerdem ihr Bedauern darüber erkennen, dass die polnischen Behörden ihr keinen Wert für diesen Einheitssatz angegeben hätten (26. Erwägungsgrund des Eröffnungsbeschlusses/ersten angefochtenen Beschlusses und 47. Erwägungsgrund des abschließenden Beschlusses/zweiten angefochtenen Beschlusses) und schlug sogar vor, den Spitzensteuersatz von 1,4 % bzw. den höchsten für die Steuerpflichtigen festgestellten effektiven Durchschnittssteuersatz zugrunde zu legen (51. Erwägungsgrund des Eröffnungsbeschlusses/ersten angefochtenen Beschlusses). Es ist jedoch festzustellen, dass die „normale“ Regelung mit einem einheitlichen Steuersatz, auf die sich die Kommission an manchen Stellen der angefochtenen Beschlüsse bezogen hat, eine hypothetische Regelung ist, die nicht herangezogen werden konnte. Die – im Rahmen der oben in den Rn. 60 und 61 erwähnten Methode in einem zweiten Schritt vorzunehmende – Prüfung, ob ein Steuervorteil selektiver Natur ist, muss nämlich im Hinblick auf die – im Rahmen dieser Methode in einem ersten Schritt ermittelten – tatsächlich vorhandenen Merkmale der „normalen“ Steuerregelung, in die er sich einfügt, erfolgen, nicht aber im Hinblick auf Hypothesen, die von der zuständigen Behörde nicht in Betracht gezogen worden sind.

67      Die Kommission hat infolgedessen dadurch einen Rechtsfehler begangen, dass sie in den angefochtenen Beschlüssen auf eine „normale“ Regelung abgestellt hat, die entweder unvollständig (ohne Steuersatz) oder hypothetisch (einheitlicher Steuersatz) war.

68      In Anbetracht des sektoriellen Charakters der fraglichen Steuer und des Umstands, dass es keine unterschiedlich gestaffelten Steuersätze für bestimmte Unternehmen gab, konnte im vorliegenden Fall, wie die polnische Regierung vorträgt, als einzige „normale“ Regelung die Einzelhandelssteuer als solche mit ihrer durch eine progressive Steuerskala und durch Stufen gekennzeichneten Struktur herangezogen werden – entgegen dem Vorbringen dieser Regierung jedoch einschließlich des Grundfreibetrags, der für Umsätze von 0 bis 17 Mio. PLN vorgesehen ist, da dieser Freibetrag de facto Teil der Steuerstruktur ist und die entsprechende Tätigkeit, wiewohl von der Steuer befreit, in ihren sektoriellen Anwendungsbereich fällt.

69      Es ist jedoch zu prüfen, ob die Schlussfolgerung der Kommission trotz des Fehlers, der ihr bei der Bestimmung der relevanten „normalen“ Steuerregelung unterlaufen ist, nicht aus anderen Gründen gerechtfertigt ist, die sich in den angefochtenen Beschlüssen finden und aufgrund deren gegebenenfalls festgestellt werden kann, dass bestimmte Unternehmen einen selektiven Vorteil erhalten haben.

70      Die Kommission hat nämlich nicht nur angenommen, die progressive Struktur der fraglichen Besteuerung weiche von einer „normalen“ Regelung ab – die sie im vorliegenden Fall unvollständig oder hypothetisch bestimmt hatte –, sondern das Vorliegen eines selektiven Vorteils zugunsten von Unternehmen mit geringem Umsatz im Wesentlichen auch unter Berufung auf das Urteil vom 15. November 2011, Kommission und Spanien/Government of Gibraltar und Vereinigtes Königreich (C‑106/09 P und C‑107/09 P, EU:C:2011:732), begründet, das eine Steuerregelung betraf, die als solche im Hinblick auf das mit ihr angeblich verfolgte Ziel, d. h. im Hinblick auf ihre Natur, diskriminierend war. Im vorliegenden Fall ging die Kommission davon aus, dass die Struktur der Einzelhandelssteuer mit ihren progressiven Steuersätzen und ihren Steuerstufen im Widerspruch zu dem mit dieser Steuer verfolgten Ziel stehe und eine Diskriminierung zwischen den Unternehmen dieses Sektors zur Folge habe. Es ist somit zu prüfen, ob diese Beurteilung begründet ist.

71      So führte die Kommission im 23. Erwägungsgrund des Eröffnungsbeschlusses/ersten angefochtenen Beschlusses und im 46. Erwägungsgrund des abschließenden Beschlusses/zweiten angefochtenen Beschlusses aus, dass „[e]s … außerdem notwendig [ist] zu prüfen, ob die Grenzen dieses Systems durch den Mitgliedstaat konsequent oder, im gegenteiligen Fall, deutlich willkürlich oder voreingenommen festgelegt wurden, so dass bestimmte Unternehmen anderen gegenüber bevorzugt werden“. Im 47. Erwägungsgrund des abschließenden Beschlusses/zweiten angefochtenen Beschlusses stellte sie fest, dass „Unternehmen mit niedrigeren Umsätzen mit einem niedrigeren effektiven Durchschnittssteuersatz besteuert werden als Unternehmen mit höheren Umsätzen, … auch wenn sich beide Unternehmensarten im selben Bereich engagieren“. In den Erwägungsgründen 28 und 29 des Eröffnungsbeschlusses/ersten angefochtenen Beschlusses führte sie aus, dass „das erklärte Ziel der Steuer … darin [bestehe], Einnahmen für den Gesamthaushalt zu erheben“, dass „im Lichte dieses Ziels … die Kommission der Ansicht [sei], dass sich alle Einzelhändler unabhängig von ihrem Umsatz in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befänden“, dass „[e]s … daher den Anschein [habe], dass Polen die Steuer absichtlich so gestaltet habe, dass bestimmte Unternehmen willkürlich bevorzugt würden“, und dass „[d]as System … absichtlich auf eine Weise selektiv [sei], die nicht durch das Ziel der Steuer gerechtfertigt sei“. Der 49. Erwägungsgrund des abschließenden Beschlusses/zweiten angefochtenen Beschlusses enthält ähnliche Beurteilungen, jedoch wird hier, wie im 44. Erwägungsgrund dieses Beschlusses, darauf hingewiesen, dass es das Ziel der Steuer ist, „die Umsätze aller Marktteilnehmer am Einzelhandel zu besteuern“.

72      Erstens ist jedoch das in den Erwägungsgründen 28 und 29 des Eröffnungsbeschlusses/ersten angefochtenen Beschlusses ermittelte Ziel, nämlich Einnahmen für den Gesamthaushalt zu erzielen, wie die Kommission selbst in den Klagebeantwortungen festgestellt hat, allen nicht zweckgebundenen Steuern gemein, die den Großteil der Steuerregelungen ausmachen, und reicht für sich allein nicht aus, um die Natur der verschiedenen Steuern zu bestimmen, z. B. nach der Art der Steuerpflichtigen, die davon erfasst sind, danach, ob sie allgemein oder sektoriell sind, oder nach dem mit ihnen eventuell verfolgten besonderen Ziel wie etwa bei Steuern, durch die bestimmte Umweltschäden verringert werden sollen (Ökosteuern). Im Übrigen steht die progressive Struktur der Steuersätze an sich nicht im Widerspruch zu dem Ziel, Haushaltseinnahmen zu erzielen.

73      Zweitens konnte auch das in den Erwägungsgründen 44 und 49 des abschließenden Beschlusses/zweiten angefochtenen Beschlusses ermittelte Ziel, nämlich die Umsätze aller Unternehmen des betreffenden Sektors zu besteuern, nicht herangezogen werden. Aus den Akten ergibt sich kein Anhaltspunkt dafür, dass der polnische Gesetzgeber diese Absicht hatte. Vielmehr  geht sowohl aus der Begründung des Gesetzes über die Einzelhandelssteuer (vgl. insoweit den Abschnitt „Steuerpflicht und Steuersätze“) als auch aus der Stellungnahme der polnischen Behörden während des Verwaltungsverfahrens, in dem der abschließende Beschluss/zweite angefochtene Beschluss ergangen ist (vgl. insoweit 27. Erwägungsgrund dieses Beschlusses), hervor, dass das Ziel darin bestand, unter Wahrung des Grundsatzes der steuerlichen Umverteilung eine sektorielle Steuer einzuführen.

74      Insbesondere ergibt sich aus den Akten, dass mit dem Gesetz über die Einzelhandelssteuer eine Steuer auf den Umsatz der Einzelhändler, unabhängig von ihrer Rechtsform, für den Verkauf von Waren an Privatpersonen eingeführt wurde, der eine Umverteilungslogik zugrunde lag. Die fragliche Steuer sollte zum Gesamthaushalt beitragen, auch wenn sie als Steuer zur Finanzierung von familienpolitischen Maßnahmen vorgestellt wurde. Es wurde kein anderer spezieller Zweck genannt, wie etwa die Kompensation oder Vermeidung negativer Effekte der betreffenden Tätigkeit.

75      Entgegen dem Vorbringen der Kommission stand im Übrigen der durch einen progressiven Steuertarif gekennzeichnete innere Aufbau der Einzelhandelssteuer jedoch a priori im Einklang mit diesem Ziel, auch wenn die fragliche Steuer auf den Umsatz erhoben wurde. Es kann nämlich durchaus davon ausgegangen werden, dass ein Unternehmen mit hohem Umsatz wegen verschiedener Größenvorteile relativ geringere Kosten als ein Unternehmen mit niedrigem Umsatz hat – da die fixen Stückkosten (z. B. Gebäude, Grundsteuern, Ausrüstung, Personalkosten) und die variablen Stückkosten (z. B. Einkauf von Rohstoffen) mit steigendem Geschäftsvolumen abnehmen – und somit ein relativ höheres verfügbares Einkommen erzielt, weshalb es eine im Verhältnis höhere Umsatzsteuer entrichten kann.

76      Es ist daher zu bestätigen, was die polnische Regierung im Wesentlichen vorbringt, nämlich, dass das Ziel dieser Steuer darin bestand, eine sektorielle Besteuerung des Umsatzes der Einzelhändler einzuführen, die einer Umverteilungslogik folgte.

77      Die Kommission hat daher im vorliegenden Fall einen weiteren Fehler begangen, indem sie ein anderes Ziel der Einzelhandelssteuer herangezogen hat als das von den polnischen Behörden angegebene.

78      Dieser zweite Fehler hängt im Übrigen mit dem ersten Fehler der Kommission zusammen, da das von ihr zugrunde gelegte Ziel, den Umsatz „aller Unternehmen“ des betreffenden Sektors zu besteuern, nach ihrer Vorstellung in Wirklichkeit das Fehlen eines Freibetrags sowie das Vorhandensein eines einheitlichen Steuersatzes bedingte, was der hypothetischen Steuerregelung entspricht, die sie zu bestimmen versuchte, wie sich aus den gleichlautenden letzten Sätzen des 32. Erwägungsgrundes des Eröffnungsbeschlusses/ersten angefochtenen Beschlusses und des 54. Erwägungsgrundes des abschließenden Beschlusses/zweiten angefochtenen Beschlusses ergibt, in denen es heißt:

„[Das Referenzsystem … besteht] aus einem einheitlichen (pauschalen) Steuersatz … für alle in Polen im Einzelhandel tätigen Unternehmen …“

79      In diesem Stadium der Prüfung stellt sich die Frage, ob die Kommission trotz der beiden vorstehend festgestellten Fehler bei der Bestimmung des Referenzsystems und dessen Zielsetzung zu Recht Umstände ausmachen konnte, die belegen, dass die Einzelhandelssteuer unter Berücksichtigung des Bezugssystems (siehe oben, Rn. 68) und dessen Zielsetzung (siehe oben, Rn. 76), wie sie sich aus den polnischen Rechtsvorschriften ergeben, mit selektiven Vorteilen verbunden ist. Die Frage geht, genauer gesagt, dahin, ob die Kommission nachgewiesen hat, dass die von den polnischen Behörden gewählte Struktur der Besteuerung im Widerspruch zu dem mit dieser Regelung verfolgten Ziel steht.

80      Der Unionsrichter hat sich bereits mehrfach zur Frage selektiver Vorteile im Rahmen von Steuerregelungen oder ganz allgemein von Regelungen über Zwangsabgaben geäußert, die dadurch gekennzeichnet waren, dass sie Bestimmungen zur Anpassung dieser Abgaben je nach der Situation der Abgabepflichtigen enthielten. Insoweit folgt aus dem Umstand, dass eine Steuer durch eine progressive Tarifstruktur, durch Abschläge auf die Bemessungsgrundlage, durch Steuerbegrenzungen oder durch andere Anpassungsmechanismen gekennzeichnet ist und zu unterschiedlichen tatsächlichen Steuerbelastungen je nach dem Umfang der Bemessungsgrundlage der Steuerpflichtigen oder nach den Parametern der erwähnten Anpassungsmechanismen führt, nicht zwangsläufig, wie der oben in den Rn. 58 bis 62 angeführten Rechtsprechung zu entnehmen ist, dass damit ein selektiver Vorteil für bestimmte Unternehmen verbunden wäre.

81      Diese Feststellung kann insbesondere durch verschiedene konkrete Beispiele im Zusammenhang mit der oben in Rn. 79 aufgeworfenen Frage verdeutlicht werden, die zeigen, unter welchen Umständen eine Abweichung von der „normalen“ Regelung deshalb vorliegen kann, weil eine Maßnahme zur Anpassung der in Rede stehenden Steuer die Natur dieser Regelung, d. h. das mit dieser verfolgte Ziel, verkennt.

82      In den Fällen, in denen eine solche Abweichung festgestellt wurde – nämlich in den Urteilen vom 8. November 2001, Adria-Wien Pipeline und Wietersdorfer & Peggauer Zementwerke (C‑143/99, EU:C:2001:598, Rn. 49 bis 55), vom 22. Dezember 2008, British Aggregates/Kommission (C‑487/06 P, EU:C:2008:757, Rn. 86 und 87), vom 26. April 2018, ANGED (C‑233/16, EU:C:2018:280), vom 15. November 2011, Kommission und Spanien/Government of Gibraltar und Vereinigtes Königreich (C‑106/09 P und C‑107/09 P, EU:C:2011:732, Rn. 85 bis 108), und vom 21. Dezember 2016, Kommission/World Duty Free Group u. a. (C‑20/15 P und C‑21/15 P, EU:C:2016:981, Rn. 58 bis 94 in Verbindung mit Rn. 123) – und in denen es jeweils um eine Steuerbegrenzung (im ersten Urteil), um Steuerbefreiungen (in den drei folgenden Urteilen) und um Minderungen der Steuerbemessungsgrundlage (im letzten Urteil) ging, hat der Gerichtshof angesichts der mit den betreffenden Steuern verfolgten Ziele – Bekämpfung negativer externer, insbesondere ökologischer, Effekte (in den ersten drei Urteilen), Einführung einer allgemeinen Steuerregelung für sämtliche Unternehmen (im folgenden Urteil) und Abschreibung des aus dem Erwerb von Unternehmensbeteiligungen resultierenden Geschäfts- und Firmenwerts unter bestimmten Umständen von der körperschaftsteuerlichen Bemessungsgrundlage (im letzten Urteil) – entschieden, dass die Vorteile, die nur für bestimmte Unternehmen, nicht aber für andere vorgesehen waren, die sich im Hinblick auf diese Ziele in einer vergleichbaren Situation befanden, aus diesem Grund selektiver Natur waren.

83      Aus diesen Urteilen ergibt sich, dass der Vorteil – unabhängig davon, ob mit der Steuer auch ein Ziel verfolgt wird, das auf die Auswirkungen der Geschäftstätigkeit der steuerpflichtigen Unternehmen gerichtet ist, und ob der Vorteil einen besonderen Wirtschaftssektor gegenüber den übrigen steuerpflichtigen Unternehmen oder eine besondere Form der Geschäftstätigkeit betrifft oder ob er potenziell jedem steuerpflichtigen Unternehmen offensteht – selektiver Natur ist, wenn er zu Ungleichbehandlungen führt, die im Widerspruch zu dem mit der Steuer verfolgten Ziel stehen. Das mit einer Steuer verfolgte Ziel kann jedoch als solches eine Anpassung zur Verteilung oder zur Begrenzung der Steuerlast beinhalten. Es können auch besondere Situationen, bei denen bestimmte Steuerpflichtige von den anderen unterschieden werden, berücksichtigt werden, ohne dass das Ziel der Steuer verkannt würde.

84      In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof in dem oben in Rn. 82 angeführten Urteil vom 8. November 2001, Adria-Wien Pipeline und Wietersdorfer & Peggauer Zementwerke (C‑143/99, EU:C:2001:598, Rn. 33 bis 36), entschieden, dass die teilweise Vergütung von Abgaben auf den Energieverbrauch von Unternehmen, wenn die Abgaben einen bestimmten Nettoproduktionswert dieser Unternehmen übersteigen, keine staatliche Beihilfe darstellt, sofern sie allen abgabepflichtigen Unternehmen unabhängig vom Gegenstand ihrer Geschäftstätigkeit zugutekommt, auch wenn sie bei Unternehmen mit demselben Energieverbrauch zu unterschiedlichen Abgabenbelastungen führen kann.

85      Auch in dem oben in Rn. 82 angeführten Urteil vom 15. November 2011, Kommission und Spanien/Government of Gibraltar und Vereinigtes Königreich (C‑106/09 P und C‑107/09 P, EU:C:2011:732, Rn. 77 bis 83), hat der Gerichtshof entschieden, dass die Vorteile, die sich daraus ergeben konnten, dass zwei Unternehmenssteuern, deren Bemessungsgrundlage nicht der erzielte Gewinn war, allgemein auf 15 % des Gewinns begrenzt wurden, was dazu führte, dass Unternehmen mit derselben Steuerbemessungsgrundlage eventuell unterschiedlich hohe Steuern zu entrichten hatten, auf objektiven, von der Auswahl der betroffenen Unternehmen unabhängigen Kriterien beruhten und daher nicht selektiver Natur waren.

86      Im Urteil vom 8. September 2011, Paint Graphos u. a. (C‑78/08 bis C‑80/08, EU:C:2011:550, Rn. 48 bis 62), hat der Gerichtshof für Recht erkannt, dass im Rahmen der Körperschaftsteuer – der in jener Rechtssache „normalen“ Regelung – die vollständige Steuerbefreiung für Genossenschaften keinen selektiven Vorteil darstellt, da diese sich nicht in einer ähnlichen tatsächlichen und rechtlichen Situation wie Handelsgesellschaften befinden, sofern sie nachweislich unter genossenschaftsspezifischen Bedingungen tätig sind, was u. a. eine deutlich niedrigere Gewinnspanne als bei Kapitalgesellschaften bedeutet.

87      Im Urteil vom 29. März 2012, 3M Italia (C‑417/10, EU:C:2012:184, Rn. 37 bis 44), hat der Gerichtshof festgestellt – wobei er auch die besondere Situation bestimmter Unternehmen berücksichtigte –, dass ein Mechanismus zur Pauschalregelung alter Steuerstreitigkeiten, der Unternehmen offensteht, wenn sie objektive Kriterien erfüllen, aufgrund deren sie sich nicht in einer ähnlichen tatsächlichen und rechtlichen Situation wie die anderen Unternehmen befinden, keinen selektiven Vorteil verschafft, auch wenn er dazu führen kann, dass die durch ihn begünstigten Unternehmen unter sonst gleichen Umständen weniger Steuern zahlen als andere Unternehmen.

88      Auch in dem oben in Rn. 82 angeführten Urteil vom 26. April 2018, ANGED (C‑233/16, EU:C:2018:280), hat der Gerichtshof im Rahmen einer für Einzelhandelseinrichtungen erhobenen Abgabe, deren Bemessungsgrundlage im Wesentlichen aus der Verkaufsfläche bestand und mit der negative externe Effekte im Bereich des Umweltschutzes sowie der Raumordnung korrigiert und ausgeglichen werden sollten, entschieden, dass der 60%ige Abschlag bzw. die vollständige Abgabenbefreiung für Einrichtungen, die bestimmte Tätigkeiten ausübten, sowie für solche, deren Verkaufsfläche einen bestimmten Schwellenwert nicht überschritten, keine staatlichen Beihilfen darstellten, wenn diese verschiedenen Einrichtungen sich hinsichtlich der Effekte, die mit der betreffenden Abgabe korrigiert und ausgeglichen werden sollten, d. h. hinsichtlich der mit dieser Abgabe verfolgten Ziele, nachweislich in einer anderen Situation als die anderen abgabepflichtigen Einrichtungen befanden.

89      Diese Beispiele bestätigen, dass es Steuern gibt, deren Natur es nicht ausschließt, sie mit Anpassungsmechanismen zu versehen, die bis zu Steuerbefreiungen reichen können, ohne dass diese Mechanismen die Gewährung selektiver Vorteile zur Folge hätten. Es liegt, kurz gesagt, keine Selektivität vor, wenn diese Besteuerungsunterschiede und die daraus eventuell resultierenden Vorteile – selbst wenn deren Rechtfertigung nur in der Aufteilung der Steuer zwischen den Steuerpflichtigen besteht – sich aus der bloßen, nicht auf einer Ausnahme beruhenden Anwendung der „normalen“ Regelung ergeben, wenn vergleichbare Situationen gleichbehandelt werden und wenn diese Anpassungsmechanismen nicht im Widerspruch zu dem mit der betreffenden Steuer verfolgten Ziel stehen. Ebenso führen Sondervorschriften, die für bestimmte Unternehmen wegen ihrer besonderen Situation eine Steuerermäßigung oder gar eine Steuerbefreiung vorsehen, nicht zwangsläufig zu einem selektiven Vorteil, wenn diese Vorschriften nicht dem mit der betreffenden Steuer verfolgten Ziel zuwiderlaufen. In diesem Zusammenhang kann der Umstand, dass nur diejenigen Steuerpflichtigen eine Maßnahme in Anspruch nehmen können, die die Voraussetzungen für deren Anwendung erfüllen, dieser Maßnahme für sich allein keinen selektiven Charakter verleihen (vgl. Urteil vom 21. Dezember 2016, Kommission/World Duty Free Group u. a., C‑20/15 P und C‑21/15 P, EU:C:2016:981, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung). Derartige Mechanismen erfüllen die oben in Rn. 61 genannte Voraussetzung, wonach sie im Einklang mit der Natur und dem inneren Aufbau der Regelung stehen müssen, zu der sie gehören.

90      Werden Unternehmen, die sich im Hinblick auf das mit der Steuer verfolgte Ziel oder auf die Gründe für deren Anpassung in einer vergleichbaren Situation befinden, hingegen insoweit nicht gleichbehandelt, so führt diese Diskriminierung zu einem selektiven Vorteil, der, sofern die übrigen Voraussetzungen des Art. 107 Abs. 1 AEUV gegeben sind, eine staatliche Beihilfe darstellen kann.

91      Insbesondere progressive Tarifstrukturen, einschließlich erheblicher Abschläge auf die Bemessungsgrundlage, die in den Steuersystemen der Mitgliedstaaten nichts Außergewöhnliches sind, bedeuten daher als solche nicht, dass staatliche Beihilfen gegeben wären. In Nr. 139 der Bekanntmachung zum Begriff der staatlichen Beihilfe erklärt die Kommission dazu, die Progression einer Einkommensteuer könne wegen der mit einer solchen Steuer verbundenen Umverteilungslogik gerechtfertigt sein. Es gibt jedoch keinen Grund, diese Einschätzung nur auf Einkommensteuern anzuwenden, wie es die Kommission in den Erwägungsgründen 58 und 59 des abschließenden Beschlusses/zweiten angefochtenen Beschlusses tut, nicht aber auf die Besteuerung der Unternehmenstätigkeit anstelle des Nettoeinkommens oder des Gewinns der Unternehmen. Aus der oben in den Rn. 58 bis 62 wiedergegebenen Rechtsprechung geht nämlich nicht hervor, dass ein Mitgliedstaat, um zu vermeiden, dass eine Maßnahme zur Anpassung einer Steuer als selektiver Vorteil gewertet wird, nur auf bestimmte Zielsetzungen begrenzte Anpassungskriterien vorsehen könnte, wie etwa die Umverteilung des Wohlstands oder die Kompensation und Vermeidung bestimmter negativer Auswirkungen, die die betreffende Tätigkeit haben könnte. In diesem Zusammenhang kommt es darauf an, dass die gewünschte Anpassung – anders als dies in der Rechtssache der Fall war, in der das oben in Rn. 82 angeführte Urteil vom 22. Dezember 2008, British Aggregates/Kommission (C‑487/06 P, EU:C:2008:757), ergangen ist – nicht willkürlich ist, dass sie diskriminierungsfrei angewandt wird und dass sie weiterhin dem mit der fraglichen Steuer verfolgten Ziel entspricht. Die oben in den Rn. 84, 85 und 87 erwähnten Anpassungsmechanismen, die der Gerichtshof nicht als selektiv eingestuft hat, dienten beispielsweise keiner auf negative externe Effekte ausgerichteten Besteuerung und entsprachen übrigens auch keiner Umverteilungslogik, sondern verfolgten andere Ziele. Außerdem ist es, wie bereits oben in Rn. 75 dargelegt, nicht ausgeschlossen, dass eine Umverteilungslogik auch den progressiven Tarif einer Umsatzsteuer rechtfertigen kann, wie die polnische Regierung im vorliegenden Fall zu Recht bemerkt. Im Übrigen kann eine Umverteilungslogik, wie die oben in Rn. 86 erwähnte Rechtssache zeigt, sogar eine vollständige Steuerbefreiung für bestimmte Unternehmen rechtfertigen.

92      Ein Anpassungskriterium, das bei einer Umsatzsteuer die Form einer progressiven Besteuerung ab einem bestimmten Schwellenwert – selbst wenn dieser hoch ist – annimmt und das möglicherweise dem Wunsch entspricht, die Tätigkeit eines Unternehmens erst dann zu besteuern, wenn sie einen nicht unerheblichen Umfang erreicht, bedeutet daher für sich allein nicht, dass ein selektiver Vorteil gegeben wäre.

93      Aus den vorstehenden Rn. 79 bis 92 ergibt sich somit, dass die Kommission allein aus der progressiven Struktur der Einzelhandelssteuer nicht den Schluss ziehen durfte, dass mit dieser neuen Steuer selektive Vorteile verbunden seien.

94      Sollte die Kommission in den angefochtenen Beschlüssen allerdings nachweisen, dass die konkret angewandte progressive Tarifstruktur so konzipiert ist, dass das mit dieser Steuer verfolgte Ziel weitgehend seiner Substanz beraubt wird, wäre die Annahme erlaubt, dass der Vorteil selektiver Natur ist, den Unternehmen daraus ziehen können, die von einer Nullbesteuerung oder von einer im Vergleich mit anderen Unternehmen geringen Besteuerung profitieren.

95      Es ist daher noch zu prüfen, ob die Kommission in den angefochtenen Beschlüssen diesen Nachweis erbracht hat.

96      Es ist festzustellen, dass sich die Kommission in den angefochtenen Beschlüssen auf die Feststellung beschränkte, dass der Grundsatz einer progressiven Besteuerung selbst einen selektiven Vorteil herbeiführe (Erwägungsgründe 32 und 37 des Eröffnungsbeschlusses/ersten angefochtenen Beschlusses und Erwägungsgründe 47, 49 und 54 des abschließenden Beschlusses/zweiten angefochtenen Beschlusses), was unter Berücksichtigung der oben in Rn. 92 angestellten Erwägungen einen Rechtsfehler darstellt.

97      Nur im 51. Erwägungsgrund des abschließenden Beschlusses/zweiten angefochtenen Beschlusses trug die Kommission Argumente vor, die dafür sprechen könnten, dass die im vorliegenden Fall gewählte progressive Struktur für die Einzelhandelssteuer mit ihrem oben in Rn. 76 aufgeführten Ziel nicht vereinbar war. Die Kommission wies dort darauf hin, dass sie im Wesentlichen aus verschiedenen öffentlich zugänglichen Daten abgeleitet habe, dass im September 2016 nur 109 Steuerpflichtige von 200 000 im Einzelhandelssektor tätigen Unternehmen die Schwelle des monatlichen Umsatzes von 17 Mio. PLN (etwa 4 Mio. Euro) überschritten hätten, ab der der Umsatz besteuert werde.

98      Diese isolierte Tatsache, die, wie die Hauptparteien in der mündlichen Verhandlung bestätigt haben, mit den polnischen Behörden im Verwaltungsverfahren nicht erörtert wurde, ist jedoch mit keiner anderen Argumentation verbunden als mit dem Verweis auf den Grundsatz einer progressiven Besteuerung, weshalb sie jedenfalls nicht als Begründung für den Nachweis ausreicht, dass die im vorliegenden Fall für die fragliche Steuer vorgesehene progressive Tarifstruktur mit der Zielsetzung dieser Steuer unvereinbar ist.

99      Ferner hat die Kommission in den angefochtenen Beschlüssen zwar erklärt, dass die progressive Tarifstruktur der Einzelhandelssteuer zu einer Ungleichbehandlung von Unternehmen führe, die sich in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befänden, mit anderen Worten, dass sie zu einer diskriminierenden Behandlung führe. Auch wenn sie konkrete Beispiele anführte, hat sie sich insoweit jedoch hauptsächlich nur darauf berufen, dass der tatsächliche Durchschnittssteuersatz und der Grenzsteuersatz für die Unternehmen je nach ihrem Umsatz variieren müssten (Erwägungsgründe 24, 25, 27, 28, 32 und 37 des Eröffnungsbeschlusses/ersten angefochtenen Beschlusses und Erwägungsgründe 47, 49, 53 und 54 des abschließenden Beschlusses/zweiten angefochtenen Beschlusses). Diese Änderung des tatsächlichen Durchschnittssteuersatzes und des Grenzsteuersatzes je nach dem Umfang der Bemessungsgrundlage ist aber das Wesen jeder Steuerregelung mit progressiver Struktur, und wie oben in Rn. 92 erwähnt, ist eine derartige Regelung als solche und allein deswegen nicht geeignet, selektive Vorteile zu verschaffen. Wenn in der progressiven Tarifstruktur einer Steuer das mit dieser Steuer verfolgte Ziel zum Ausdruck kommt, kann im Übrigen nicht angenommen werden, dass sich zwei Unternehmen mit einer unterschiedlichen Steuerbemessungsgrundlage im Hinblick auf dieses Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen Situation befinden.

100    Die Kommission wies in den angefochtenen Beschlüssen auch darauf hin, dass die Einzelhandelssteuer de facto ausländische Unternehmen stärker belaste als polnische Unternehmen und dass sie integriert organisierte Vertriebsnetze stärker belaste als Vertriebsnetze, die in großem Umfang auf Franchisenehmer zurückgriffen.

101    Was ersteren Umstand betrifft, der von der polnischen Regierung bestritten wird, genügt die Feststellung, dass, wie oben in Rn. 47 ausgeführt, die Kommission selbst in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, dass sich die angefochtenen Beschlüsse für den Nachweis der Selektivität der durch die Tarifstruktur dieser Steuer erzielten Vorteile nicht auf die Feststellung einer Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit der Steuerpflichtigen stützten. Im Übrigen kann aus den in Rn. 100 oben angeführten Umständen – angenommen, sie wären erwiesen – sofern sie nur die Folge der Anwendung einer progressiven Steuerstruktur sind, die dem Ziel und dem inneren Aufbau der in Rede stehenden Steuer entspricht, und sofern den verschiedenen Unternehmen, die möglicherweise in den Anwendungsbereich der Steuer fallen, die Wahl ihrer Organisationsform freisteht, nicht abgeleitet werden, dass tatsächlich und rechtlich vergleichbare Situationen unterschiedlich behandelt werden oder umgekehrt. Im Übrigen wird, wie die polnische Regierung in ihren Klageschriften geltend macht, ohne dass die Kommission dem widerspricht, Franchising in Polen von ausländischen ebenso wie von polnischen Handelsketten betrieben. Zudem unterscheidet sich die Situation eines Franchisegeschäfts von der eines in eine Holding integrierten Geschäfts. Ersteres ist grundsätzlich sowohl in rechtlicher als auch in finanzieller Hinsicht unabhängig von seinem Franchisegeber, was bei einem in eine Holding integrierten Geschäft gegenüber dem Unternehmen, das es kontrolliert, nicht der Fall ist, unabhängig davon, ob es sich um eine Tochtergesellschaft oder um eine Zweigniederlassung innerhalb eines Vertriebsnetzes handelt.

102    Folglich ist es der Kommission in den angefochtenen Beschlüssen nicht gelungen, das Vorliegen eines selektiven Vorteils nachzuweisen, der zu einer Differenzierung zwischen Wirtschaftsteilnehmern führt, die sich im Hinblick auf das vom polnischen Gesetzgeber mit der Einzelhandelssteuer verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden. Die von ihr begangenen Fehler bei der Ermittlung der „normalen“ Steuerregelung sowie des mit dieser Regelung verfolgten Ziels und bei der Annahme, eine progressive Umsatzbesteuerung sei ihrem Wesen nach mit der Gewährung selektiver Vorteile verbunden, haben sie daran gehindert zu prüfen, ob der konkret gewählte progressive Tarif im Hinblick auf das Ziel der fraglichen Steuer zu einer Ungleichbehandlung von Unternehmen führte, die sich in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befanden, beispielsweise ordnungsgemäß zu prüfen, ob die fragliche sektorielle Besteuerung nicht in Wirklichkeit nur einen sehr unzureichenden Teil der Tätigkeit belastete, die sie erfassen sollte, und so zu einem selektiven Vorteil zugunsten der Unternehmen führte, die an diesem Teil nicht beteiligt sind, obwohl sie auf diesem Sektor eine umfangreiche Tätigkeit ausüben.

103    Daher ist der abschließende Beschluss/zweite angefochtene Beschluss aufgrund des Klagegrundes für nichtig zu erklären, mit dem ein Fehler bei der rechtlichen Einstufung der in Rede stehenden Maßnahme als staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV gerügt wird, ohne dass die übrigen Klagegründe und Argumente der polnischen Regierung geprüft zu werden brauchen.

104    In Bezug auf denselben Klagegrund ist hinsichtlich des Eröffnungsbeschlusses/ersten angefochtenen Beschlusses darauf hinzuweisen, dass die Kommission nach ständiger Rechtsprechung bei der Prüfung von Beihilfemaßnahmen anhand von Art. 107 AEUV zwecks Feststellung, ob diese mit dem Binnenmarkt vereinbar sind, gehalten ist, das Verfahren des Art. 108 Abs. 2 AEUV einzuleiten, wenn sie nach der Vorprüfungsphase nicht alle Schwierigkeiten hat ausräumen können, die der Annahme der Vereinbarkeit dieser Maßnahmen mit dem Binnenmarkt entgegenstehen. Gleiches gilt, wenn die Kommission auch noch Zweifel an der Einstufung der geprüften Maßnahme als Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV an und für sich hat. Der Kommission kann daher grundsätzlich nicht vorgeworfen werden, dieses Verfahren u. a. aufgrund von Zweifeln am Beihilfecharakter der fraglichen Maßnahmen im oben genannten Sinne eröffnet zu haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Mai 2005, Italien/Kommission, C‑400/99, EU:C:2005:275, Rn. 47).

105    Angesichts der Folgen der Einleitung des Verfahrens des Art. 108 Abs. 2 AEUV im Hinblick auf Maßnahmen, die als neue Beihilfen behandelt werden und nach Art. 108 Abs. 3 AEUV der vorherigen Genehmigung durch die Kommission unterliegen (im Folgenden: neue Beihilfen), während der betroffene Mitgliedstaat in der vorläufigen Prüfung vorträgt, diese Maßnahmen stellten keine Beihilfen im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV dar, muss die Kommission die Frage jedoch vor Eröffnung des Verfahrens ausreichend auf der Grundlage der ihr in diesem Stadium übermittelten Informationen prüfen, auch wenn diese Prüfung nicht zu einer abschließenden Beurteilung führt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Mai 2005, Italien/Kommission, C‑400/99, EU:C:2005:275, Rn. 48). Diese Verfahrenseinleitung bewirkt normalerweise u. a. die Aussetzung der geprüften Maßnahmen, insbesondere wenn dies, wie im vorliegenden Fall, von der Kommission dem betreffenden Mitgliedstaat gemäß Art. 13 Abs. 1 der Verordnung 2015/1589 aufgegeben wird.

106    Wenn die vorläufige Einstufung als neue Beihilfe durch die Kommission auf tatsächlichen oder wirtschaftlichen Ungewissheiten über die Natur, den Inhalt und die Auswirkungen der in Rede stehenden Maßnahme und deren Rahmenbedingungen beruht, und auch wenn sich letztlich herausstellt, dass diese Einstufung unter Berücksichtigung von in der Folge vorgetragenem neuem Vorbringen falsch war, bleibt der Beschluss zur Einleitung des Verfahrens dennoch angesichts der legitimen Zweifel, die die Kommission zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Beschlusses hatte, gerechtfertigt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Mai 2005, Italien/Kommission, C‑400/99, EU:C:2005:275, Rn. 48 und 49). In diesem Zusammenhang ist entschieden worden, dass die vom Gericht ausgeübte Kontrolle der Rechtmäßigkeit eines Beschlusses, das förmliche Prüfverfahren einzuleiten, zwangsläufig Schranken haben muss, und dass, wenn sich die Kläger gegen die Beurteilung der Kommission hinsichtlich der Einstufung der streitigen Maßnahme als staatliche Beihilfe wenden, die Kontrolle durch den Unionsrichter auf die Prüfung beschränkt ist, ob die Kommission offensichtliche Beurteilungsfehler begangen hat, als sie zu dem Ergebnis kam, dass sie bei einer ersten Prüfung der betreffenden Maßnahme diese Frage nicht ohne ernsthafte Schwierigkeiten beantworten könne (Urteile vom 21. Juli 2011, Alcoa Trasformazioni/Kommission, C‑194/09 P, EU:C:2011:497, Rn. 61, und vom 9. September 2014, Hansestadt Lübeck/Kommission, T‑461/12, EU:T:2014:758, Rn. 42).

107    Wenn somit unter Berücksichtigung der Gesichtspunkte, über die die Kommission bereits zum Zeitpunkt der Einleitung des Verfahrens verfügte, die Einstufung der in Rede stehenden Maßnahme als neue Beihilfe offensichtlich schon in diesem Stadium zu verwerfen war, muss der Beschluss zur Einleitung des Verfahrens in Bezug auf diese Maßnahme für nichtig erklärt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Mai 2005, Italien/Kommission, C‑400/99, EU:C:2005:275, Rn. 48).

108    Gleiches gilt in der vorliegenden Situation, in der die Kommission ihre vorläufige Einstufung als neue Beihilfe im Wesentlichen auf eine offensichtlich fehlerhafte Prüfung der ihr vorliegenden Gesichtspunkte gestützt hat. Der Eröffnungsbeschluss/erste angefochtene Beschluss wurde in Bezug auf das Vorliegen einer neuen Beihilfe nicht mit berechtigten Zweifeln aufgrund der Aktenlage begründet, sondern mit einer Stellungnahme aufgrund rechtlicher Argumente, die diesen Beschluss nicht zu rechtfertigen vermochten, wie aus den Rn. 63 bis 102 oben hervorgeht. Der grundsätzliche Charakter der von der Kommission vertretenen Position, wonach insbesondere ein auf eine Umsatzsteuer angewendeter progressiver Steuertarif an sich zu selektiven Vorteilen führe, wird im Übrigen dadurch bestätigt, dass ihre Argumentation ohne wesentliche Unterschiede in diesem Beschluss und im abschließenden Beschluss/zweiten angefochtenen Beschluss enthalten ist.

109    Der Eröffnungsbeschluss/erste angefochtene Beschluss ist daher ebenfalls für nichtig zu erklären, einschließlich der darin enthaltenen Anordnung, die „Anwendung des progressiven Steuersatzes“ auszusetzen, da eine solche Anordnung voraussetzt, dass die staatliche Maßnahme, auf die sie abzielt, zu Recht nach einer vorläufigen Prüfung unter den oben in den Rn. 104 bis 108 dargelegten Voraussetzungen als rechtswidrige neue Beihilfe eingestuft wurde, wie sich aus Art. 13 Abs. 1 der Verordnung 2015/1589 ergibt, wonach „[d]ie Kommission …, nachdem sie dem betreffenden Mitgliedstaat Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat, einen Beschluss erlassen [kann], mit dem dem Mitgliedstaat aufgegeben wird, alle rechtswidrigen Beihilfen so lange auszusetzen, bis die Kommission einen Beschluss über die Vereinbarkeit der Beihilfe mit dem Binnenmarkt erlassen hat“. Diese Vorschrift zielt nämlich nur auf rechtswidrige neue Beihilfen im Sinne von Art. 1 Buchst. f dieser Verordnung ab, d. h. auf Maßnahmen, die im Rahmen der oben genannten vorläufigen Prüfung der Definition einer staatlichen Beihilfe nach Art. 107 Abs. 1 AEUV entsprechen müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. April 2018, Ungarn/Kommission, T‑554/15 und T‑555/15, mit Rechtsmittel angefochten, EU:T:2018:220, Rn. 30, 153 und 154). Somit ist im vorliegenden Fall das Schicksal der Aussetzungsanordnung nicht von dem des Eröffnungsbeschlusses zu trennen und ist sie für nichtig zu erklären, ohne dass geprüft zu werden braucht, ob der von der polnischen Regierung vorgetragene Klagegrund, mit dem eine Verletzung von Art. 13 Abs. 1 der Verordnung 2015/1589 geltend gemacht wird, für sich genommen in Ansehung des Vorbringens, auf das er sich stützt, begründet ist.

110    Nach alledem ist es auch nicht mehr erforderlich, die weiteren von der polnischen Regierung gegen den Eröffnungsbeschluss/ersten angefochtenen Beschluss vorgetragenen Klagegründe und Argumente zu prüfen.

111    Nach alledem ist den beiden Nichtigkeitsklagen der Republik Polen stattzugeben.

 Kosten

112    Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Republik Polen deren Kosten aufzuerlegen.

113    Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Ungarn trägt daher seine eigenen Kosten.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Neunte erweiterte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Der Beschluss C(2016) 5596 final der Kommission vom 19. September 2016 über die staatliche Beihilfe SA.44351 (2016/C) (ex 2016/NN) – Polen – Polnische Einzelhandelssteuer wird für nichtig erklärt.

2.      Der Beschluss (EU) 2018/160 der Kommission vom 30. Juni 2017 über die staatliche Beihilfe SA.44351 (2016/C) (ex 2016/NN), die Polen in Bezug auf die Einzelhandelssteuer gewährt hat, wird für nichtig erklärt.

3.      Die Europäische Kommission trägt in den Rechtssachen T836/16 und T624/17 ihre eigenen Kosten und die Kosten der Republik Polen.

4.      Ungarn trägt in den Rechtssachen T836/16 und T624/17 seine eigenen Kosten.

Gervasoni

Madise

da Silva Passos

Kowalik-Bańczyk

 

      Mac Eochaidh

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 16. Mai 2019.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Polnisch.