Language of document : ECLI:EU:C:2010:105

Verbundene Rechtssachen C-175/08, C-176/08, C-178/08 und C-179/08

Aydin Salahadin Abdulla u. a.

gegen

Bundesrepublik Deutschland

(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts)

„Richtlinie 2004/83/EG – Mindestnormen für die Anerkennung als Flüchtling oder als Person mit subsidiärem Schutzstatus – Flüchtlingseigenschaft – Art. 2 Buchst. c – Erlöschen des Flüchtlingsstatus – Art. 11 – Änderung der Umstände – Art. 11 Abs. 1 Buchst. e – Flüchtling – Unbegründete Furcht vor Verfolgung – Beurteilung – Art. 11 Abs. 2 – Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft – Nachweis – Art. 14 Abs. 2“

Leitsätze des Urteils

1.        Vorabentscheidungsverfahren – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Grenzen

(Art. 68 EG und 234 EG)

2.        Visa, Asyl, Einwanderung – Asylpolitik – Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutzstatus – Richtlinie 2004/83 – Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft

(Richtlinie 2004/83 des Rates, Art. 2 Buchst. c, 7 Abs. 1 und 11 Abs. 1 Buchst. e)

3.        Visa, Asyl, Einwanderung – Asylpolitik – Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutzstatus – Richtlinie 2004/83 – Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft

(Richtlinie 2004/83 des Rates, Art. 2 Buchst. e, 4 und 11 Abs. 1 Buchst. e)

4.        Visa, Asyl, Einwanderung – Asylpolitik – Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutzstatus – Richtlinie 2004/83 – Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft

(Richtlinie 2004/83 des Rates, Art. 2 Buchst. c und 11 Abs. 1 Buchst. e)

5.        Visa, Asyl, Einwanderung – Asylpolitik – Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutzstatus – Richtlinie 2004/83 – Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft

(Richtlinie 2004/83 des Rates, Art. 4 Abs. 4 und 11 Abs. 1 Buchst. e)

1.        Weder aus dem Wortlaut der Art. 68 EG und 234 EG noch aus dem Zweck des durch den letztgenannten Artikel eingerichteten Verfahrens ergibt sich, dass die Verfasser des Vertrags von der Zuständigkeit des Gerichtshofs solche Vorabentscheidungsersuchen ausnehmen wollten, die sich auf eine Richtlinie in dem besonderen Fall beziehen, dass das nationale Recht eines Mitgliedstaats zur Bestimmung der auf eine rein innerstaatliche Situation anwendbaren Regelung auf den Inhalt der Bestimmungen dieser Richtlinie verweist. In einem solchen Fall besteht nämlich ein unbestreitbares Gemeinschaftsinteresse daran, dass zur Vermeidung künftiger Auslegungsdivergenzen die in Bezug genommenen gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie herangezogen werden, einheitlich ausgelegt werden.

(vgl. Randnr. 48)

2.        Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist wie folgt auszulegen:

– Die Flüchtlingseigenschaft erlischt, wenn in Anbetracht einer erheblichen und nicht nur vorübergehenden Veränderung der Umstände in dem fraglichen Drittland diejenigen Umstände, aufgrund deren der Betreffende begründete Furcht vor Verfolgung aus einem der in Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83 genannten Gründe hatte und als Flüchtling anerkannt worden war, weggefallen sind und er auch nicht aus anderen Gründen Furcht vor „Verfolgung“ im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83 haben muss.

– Für die Beurteilung einer Veränderung der Umstände müssen sich die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats im Hinblick auf die individuelle Lage des Flüchtlings vergewissern, dass der oder die nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 in Betracht kommenden Akteure, die Schutz bieten können, geeignete Schritte eingeleitet haben, um die Verfolgung zu verhindern, dass diese Akteure demgemäß insbesondere über wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, verfügen und dass der betreffende Staatsangehörige im Fall des Erlöschens seiner Flüchtlingseigenschaft Zugang zu diesem Schutz haben wird.

– Zu den in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/83 genannten Akteuren, die Schutz bieten können, können internationale Organisationen gehören, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, und zwar auch mittels der Präsenz multinationaler Truppen in diesem Gebiet.

(vgl. Randnr. 76, Tenor 1)

3.        Im Rahmen des Begriffs „internationaler Schutz“ sieht die Richtlinie 2004/83 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes zwei unterschiedliche Schutzregelungen vor, nämlich zum einen den Flüchtlingsstatus und zum anderen den durch subsidiären Schutz gewährten Status, wobei nach Art. 2 Buchst. e der Richtlinie eine Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz eine solche ist, die die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt. Folglich würden die jeweiligen Bereiche der beiden Schutzregelungen verkannt, wenn die Beendigung der Geltung Ersterer von der Feststellung abhängig gemacht würde, dass die Voraussetzungen für die Anwendung Letzterer nicht erfüllt sind.

Nach der Systematik der Richtlinie tritt das etwaige Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft unbeschadet des Rechts der betroffenen Person ein, um die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus zu ersuchen, wenn alle in Art. 4 der Richtlinie aufgeführten erforderlichen Anhaltspunkte für die Feststellung vorliegen, dass die in Art. 15 der Richtlinie normierten Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes vorliegen.

(vgl. Randnrn. 78-80)

4.        Wenn die Umstände, aufgrund deren der Betreffende als Flüchtling anerkannt wurde, weggefallen sind und die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats nachprüfen, ob nicht andere Umstände vorliegen, aufgrund deren der Betreffende die begründete Furcht haben muss, entweder aus dem gleichen Grund wie dem ursprünglichen oder aus einem anderen der in Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes genannten Gründe verfolgt zu werden, ist der Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der der Beurteilung der aus diesen anderen Umständen resultierenden Gefahr zugrunde zu legen ist, der gleiche wie der bei der Anerkennung als Flüchtling angewandte.

In beiden Prüfungsstadien steht nämlich die gleiche Frage zur Beurteilung, ob die festgestellten Umstände eine Bedrohung darstellen oder nicht, aufgrund deren der Betroffene in Anbetracht seiner individuellen Lage begründete Furcht haben kann, tatsächlich Verfolgungshandlungen zu erleiden. Diese Beurteilung der Größe der Gefahr ist in allen Fällen mit Wachsamkeit und Vorsicht vorzunehmen, da Fragen der Integrität der menschlichen Person und der individuellen Freiheiten betroffen sind, die zu den Grundwerten der Europäischen Union gehören.

(vgl. Randnrn. 89-91, Tenor 2)

5.        Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes kann, soweit ihm Anhaltspunkte hinsichtlich der Beweiskraft früherer Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung zu entnehmen sind, anwendbar sein, wenn die zuständigen Behörden die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 in Betracht ziehen und der Betreffende, um das Fortbestehen einer begründeten Furcht vor Verfolgung darzutun, andere Umstände als die geltend macht, aufgrund deren er als Flüchtling anerkannt wurde. Dies wird jedoch normalerweise nur der Fall sein können, wenn der Verfolgungsgrund ein anderer ist als der zum Zeitpunkt der Anerkennung als Flüchtling festgestellte und wenn frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung vorliegen, die eine Verknüpfung mit dem in diesem Stadium geprüften Verfolgungsgrund aufweisen.

(vgl. Randnr. 100, Tenor 3)