URTEIL DES GERICHTSHOFES (Fünfte Kammer)
6. November 1997(1)
[234s„Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie Grenzüberschreitender Personenverkehr
Ort und Grundlage der Besteuerung der Beförderungsleistung“[s
In der Rechtssache C-116/96
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag vom Bundesfinanzhof
in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
Reisebüro Binder GmbH
gegen
Finanzamt Stuttgart-Körperschaften
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung des Artikels 9
Absatz 2 Buchstabe b der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai
1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die
Umsatzsteuern Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige
Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1)
erläßt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Gulmann sowie der Richter
J. C. Moitinho de Almeida, D. A. O. Edward, J.-P. Puissochet (Berichterstatter)
und P. Jann,
Generalanwalt: A. La Pergola
Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
- der Reisebüro Binder GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt Peter Goth,
München,
- der deutschen Regierung, vertreten durch Ministerialrat Ernst Röder und
Oberregierungsrat Bernd Kloke, Bundesministerium für Wirtschaft, als
Bevollmächtigte,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch
Rechtsberater Jürgen Grunwald, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigten,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der Reisebüro Binder GmbH,
vertreten durch Rechtsanwalt Peter Goth, der deutschen Regierung, vertreten
durch Ernst Röder, und der Kommission, vertreten durch Jürgen Grunwald in der
Sitzung vom 5. Juni 1997,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. Juli
1997,
folgendes
Urteil
- Der Bundesfinanzhof hat mit Beschluß vom 8. Februar 1996, beim Gerichtshof
eingegangen am 10. April 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach
der Auslegung des Artikels 9 Absatz 2 Buchstabe b der Sechsten Richtlinie
77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern Gemeinsames
Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl.
L 145, S. 1; nachstehend: Sechste Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
- Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der Reisebüro Binder GmbH
(nachstehend: Binder GmbH) und dem Finanzamt Stuttgart-Körperschaften über
die Ermittlung der Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer für
Beförderungsleistungen, die im Rahmen grenzüberschreitender Busreisen zu einem
Pauschalpreis erbracht werden.
- Artikel 9 der Sechsten Richtlinie bestimmt:
„(1) Als Ort einer Dienstleistung gilt der Ort, an dem der Dienstleistende den
Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, von wo aus
die Dienstleistung erbracht wird, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder
einer solchen festen Niederlassung sein Wohnort oder sein üblicher Aufenthaltsort.
(2) Es gilt jedoch
...
b) als Ort einer Beförderungsleistung der Ort, an dem die Beförderung nach
Maßgabe der zurückgelegten Beförderungsstrecke jeweils stattfindet;
...“
- Nach Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie ist die
Besteuerungsgrundlage im Inland gewöhnlich „alles, was den Wert der
Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistende für diese Umsätze vom
Abnehmer oder Dienstleistungsempfänger oder von einem Dritten erhält oder
erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze
zusammenhängenden Subventionen“.
- Aus dem Vorlagebeschluß ergibt sich, daß die für den Sachverhalt des
Ausgangsverfahrens geltenden deutschen Rechtsvorschriften, die Artikel 9 Absatz
2 Buchstabe b und Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie
entsprechen, im Umsatzsteuergesetz von 1980 (nachstehend: UStG 1980) enthalten
sind.
- In § 3a Absatz 2 Nr. 2 UStG 1980 heißt es: „Eine Beförderungsleistung wird dort
ausgeführt, wo die Beförderung bewirkt wird. Erstreckt sich eine Beförderung nicht
nur auf das Erhebungsgebiet, so fällt nur der Teil der Leistung unter dieses Gesetz,
der auf das Erhebungsgebiet entfällt.“
- § 10 Absatz 1 UStG 1980 bestimmt: „Der Umsatz wird bei Lieferungen und
sonstigen Leistungen ... nach dem Entgelt bemessen. Entgelt ist alles, was der
Leistungsempfänger aufwendet, um die Leistungen zu erhalten, jedoch abzüglich
der Umsatzsteuer.“
- Die Binder GmbH veranstaltet mit eigenen Fahrzeugen Busreisen zu
Pauschalpreisen ins Ausland. Sie beantragte bei der deutschen Steuerbehörde, für
die gebietsmäßige Aufteilung der Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer
auf die Beförderungsleistung nicht nur die zurückgelegten Strecken, sondern auch
die Dauer der Nutzung der Busse und des Aufenthalts der Reiseteilnehmer im
Inland und im Ausland zu berücksichtigen. Da ihrem Antrag nicht entsprochen
wurde, brachte sie den Streit vor das zuständige Finanzgericht und schließlich im
Wege der Revision vor den Bundesfinanzhof.
- Da der Bundesfinanzhof der Ansicht ist, daß dieser Rechtsstreit ein Problem der
Auslegung der Sechsten Richtlinie aufwerfe, hat er beschlossen, dem Gerichtshof
folgende Frage vorzulegen:
Ist Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe b der Richtlinie 77/388/EWG dahin auszulegen,
daß bei einer grenzüberschreitenden Personenbeförderung zur Ermittlung der
Besteuerungsgrundlage für den auf das Inland entfallenden Beförderungsteil die
Gesamtgegenleistung
- stets nach dem Verhältnis der zurückgelegten Beförderungsstrecken
aufgeteilt werden muß, so daß Stand- und Wartezeiten zwischen den
Beförderungsteilen, z. B. bei Studienreisen, unberücksichtigt bleiben, oder
- enthält die Vorschrift nur eine Regelung über den Ort der
Beförderungsleistung, wonach lediglich dieser nach Maßgabe der
zurückgelegten Strecken zu bestimmen ist mit der Folge, daß die
Mitgliedstaaten frei sind zu regeln, nach welchem Maßstab eine
Gesamtgegenleistung auf den steuerbaren und den nichtsteuerbaren Teil der
Beförderung aufzuteilen ist?
- Die Binder GmbH und die Kommission vertreten im wesentlichen die Auffassung,
daß Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe b der Sechsten Richtlinie nur den Ort einer
Beförderungsleistung regele und für die gebietsmäßige Aufteilung der
Gegenleistung für diese Leistung andere Gesichtspunkte als die zurückgelegte
Strecke, wie z. B. die Verweildauer an den verschiedenen Orten der
Mehrwertsteuerpflicht, berücksichtigt werden könnten. Denn ein beträchtlicher Teil
der von einem Unternehmen zu tragenden Kosten hänge in erster Linie nicht von
der zurückgelegten Strecke, sondern von der für die Erbringung der
Beförderungsleistung aufgewendeten Zeit ab.
- Nach Auffassung der deutschen Regierung schreibt die fragliche Bestimmung den
Mitgliedstaaten dagegen vor, die Gesamtgegenleistung für die Beförderungsleistung
stets nach dem Verhältnis der zurückgelegten Strecken aufzuteilen. Artikel 9
Absatz 2 Buchstabe b der Sechsten Richtlinie, der dem besonderen Charakter der
Beförderungsleistungen Rechnung trage, für die die Verweildauer nicht
entscheidend sei, würde ausgehöhlt, wenn der betreffende Mitgliedstaat zur
Ermittlung der Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer eine andere
Aufteilungsmethode wählen könnte.
- Wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 4. Juli 1985 in der Rechtssache 168/84
(Berkholz, Slg. 1985, 2251, Randnr. 14) ausgeführt hat, enthält Artikel 9 der
Sechsten Richtlinie, der durch eine einheitliche Festlegung des steuerlichen
Anknüpfungspunkts bei Dienstleistungen den jeweiligen Geltungsbereich des
nationalen Mehrwertsteuerrechts angemessen abgrenzen soll, insoweit in Absatz 1
eine allgemeine Regel und in Absatz 2 eine Reihe besonderer Anknüpfungspunkte.
Durch diese Bestimmungen sollen insbesondere Kompetenzkonflikte zwischen
Mitgliedstaaten verhindert werden, die zu einer Doppelbesteuerung führen
könnten.
- So ist nach Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe b bei Beförderungsleistungen der Ort
ihrer Bewirkung und damit der Steuerpflicht der Ort, an dem die Beförderung nach
Maßgabe der zurückgelegten Beförderungsstrecke jeweils stattfindet. Wie der
Gerichtshof im Urteil vom 23. Januar 1986 in der Rechtssache 283/84 (Trans
Tirreno Express, Slg. 1986, 231, Randnr. 17) entschieden hat, ist diese Ausnahme
von der allgemeinen Regel des Absatzes 1 deshalb geboten, weil für den
Beförderer der Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit keine sinnvolle Anknüpfung
für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit im Hinblick auf die Besteuerung
darstellt. Denn schon die Art der Bewirkung dieser spezifischen Dienstleistung der
Beförderung, die sich auf das Gebiet mehrerer Mitgliedstaaten erstrecken kann,
erfordert ein anderes Kriterium, das im wesentlichen eine Abgrenzung der
jeweiligen Kompetenzen der einzelnen Mitgliedstaaten für die Zwecke der
Besteuerung erlauben muß.
- Diese besondere Anknüpfungsregelung für Beförderungsleistungen, die von der in
Artikel 9 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Regelung zur Bestimmung
des Ortes einer Dienstleistung abweicht, soll daher gewährleisten, daß jeder
Mitgliedstaat Beförderungsleistungen für die Teilstrecken besteuert, die in seinem
Gebiet zurückgelegt werden (Urteile vom 13. März 1990 in der Rechtssache
C-30/89, Kommission/Frankreich, Slg. 1990, I-691, Randnr. 16, und vom 23. Mai
1996 in der Rechtssache C-331/94, Kommission/Griechenland, Slg. 1996, I-2675,
Randnr. 10).
- Diese Regelung hat zwar auf die Art und Weise der Ermittlung der
Besteuerungsgrundlage für eine Beförderungsleistung, die entsprechend den
allgemeinen Kriterien des Artikels 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a erfolgt,
grundsätzlich keinen Einfluß, wirkt sich aber zwangsläufig auf die Aufteilung aus,
die unter den Mitgliedstaaten, in denen die Leistung stattgefunden hat,
vorzunehmen ist, wenn die Besteuerungsgrundlage pauschal ermittelt wird. Die
Bestimmung des Ortes der Beförderungsleistung nach dem Ort, an dem die
Beförderung nach Maßgabe der zurückgelegten Beförderungsstrecke jeweils
stattfindet, bedeutet, daß die Aufteilung auf die verschiedenen Leistungsorte nach
diesem besonderen Kriterium erfolgt.
- Die gegenteilige Auffassung würde dazu führen, daß diesem Kriterium jede
Wirksamkeit genommen würde und die Gefahr bestünde, daß es für ein und
dieselbe Leistung, für die die gesamte Besteuerungsgrundlage ohne besondere
Schwierigkeit gemäß Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten
Richtlinie ermittelt werden kann, zu einer Ungewißheit wegen der Anwendung
verschiedener Methoden zur Aufteilung dieser genannten Grundlage auf die
Mitgliedstaaten kommen könnte. Diese Ungewißheit könnte die Steuerpflichtigen
zudem dazu veranlassen, die nach Maßgabe der verschiedenen Rechtsvorschriften
der Mitgliedstaaten für sie jeweils günstigste Berechnungsweise zu wählen, so daß
die Aufteilung möglicherweise nicht nach einer auf einfachen und objektiven
Kriterien beruhenden Methode erfolgt.
- Wenn, wie im Ausgangsverfahren, die Ermittlung der Gesamtgegenleistung für die
Beförderungsleistung unstreitig ist und nur über die Aufteilung dieser
Gegenleistung auf die Mitgliedstaaten, in denen die Dienstleistung erfolgt ist,
gestritten wird, gebietet es daher das besondere Kriterium des Artikels 9 Absatz
2 Buchstabe b der Sechsten Richtlinie, diese Aufteilung nach dem Verhältnis der
in jedem der betroffenen Mitgliedstaaten zurückgelegten Strecke vorzunehmen.
- Somit ist auf die Vorabentscheidungsfrage zu antworten, daß Artikel 9 Absatz 2
Buchstabe b der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, daß bei einer Leistung
der grenzüberschreitenden Personenbeförderung gegen einen Pauschalpreis die
Gesamtgegenleistung für diese Leistung zur Ermittlung des in jedem der
betreffenden Mitgliedstaaten steuerbaren Teils der Beförderung nach dem
Verhältnis der dort jeweils zurückgelegten Strecken aufgeteilt werden muß.
Kosten
- Die Auslagen der deutschen Regierung und der Kommission der Europäischen
Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht
erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein
Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die
Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hatDER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
auf die ihm vom Bundesfinanzhof mit Beschluß vom 8. Februar 1996 vorgelegte
Frage für Recht erkannt:
Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe b der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom
17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über
die Umsatzsteuern Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche
steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ist dahin auszulegen, daß bei einer Leistung
der grenzüberschreitenden Personenbeförderung gegen einen Pauschalpreis die
Gesamtgegenleistung für diese Leistung zur Ermittlung des in jedem der
betreffenden Mitgliedstaaten steuerbaren Teils der Beförderung nach dem
Verhältnis der dort jeweils zurückgelegten Strecken aufgeteilt werden muß.
GulmannMoitinho de Almeida
Edward
Puissochet Jann
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Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 6. November 1997.
Der Kanzler
Der Präsident der Fünften Kammer
R. Grass
C. Gulmann
1: Verfahrenssprache: Deutsch.