Language of document : ECLI:EU:T:2022:276

Rechtssache C‑543/14

Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a.

gegen

Conseil des ministres

(Vorabentscheidungsersuchen der Cour constitutionnelle [Belgien])

„Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Gültigkeit und Auslegung der Richtlinie – Dienstleistungen von Rechtsanwälten – Mehrwertsteuerpflichtigkeit – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Waffengleichheit – Prozesskostenhilfe“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 28. Juli 2016

1.        Harmonisierung des Steuerrechts – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Dienstleistungen – Begriff – Dienstleistungen von Rechtsanwälten an Rechtsuchende, die keine Gerichtskostenhilfe erhalten – Einbeziehung – Verstoß gegen das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und gegen den Grundsatz der Waffengleichheit – Fehlen

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47; Richtlinie 2006/112 des Rates, Art. 1 Abs. 2 und 2 Abs. 1 Buchst. c)

2.        Völkerrechtliche Verträge – Abkommen der Union – Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten (Übereinkommen von Århus) – Wirkungen – Vorrang vor Rechtsakten des abgeleiteten Unionsrechts – Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Unionsrechtsakts anhand dieses Übereinkommens – Voraussetzungen – Möglichkeit, sich auf Art. 9 Abs. 4 und 5 des Übereinkommens zu berufen – Fehlen

(Übereinkommen von Århus, Art. 9 Abs. 4 und 5; Richtlinie 2006/112 des Rates, Art. 1 Abs. 2 und 2 Abs. 1 Buchst. c)

3.        Harmonisierung des Steuerrechts – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Befreiungen – Mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Leistungen, die durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen bewirkt werden – Begriff – Dienstleistungen von Rechtsanwälten an Rechtsuchende, die keine Gerichtskostenhilfe erhalten – Ausschluss

(Richtlinie 2006/112 des Rates, Art. 132 Abs. 1 Buchst. g)

1.        Die Prüfung von Art. 1 Abs. 2 und Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2006/112 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem hat im Hinblick auf das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und den Grundsatz der Waffengleichheit, die in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleistet sind, nichts ergeben, was die Gültigkeit dieser Bestimmungen berühren könnte, soweit sie Dienstleistungen von Rechtsanwälten an Rechtsuchende, die keine Gerichtskostenhilfe im Rahmen eines nationalen Systems der Gerichtskostenhilfe erhalten, der Mehrwertsteuer unterwerfen.

Zum einen erstreckt sich der aus dem in Art. 47 der Charta verbürgten Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf ergebende Schutz nicht auf die Mehrwertsteuerpflichtigkeit der Dienstleistungen von Rechtsanwälten. Hinsichtlich der Rechtsuchenden, die keinen Anspruch auf Gerichtskostenhilfe haben und bei denen nach den einschlägigen Vorschriften des nationalen Rechts davon ausgegangen wird, dass sie über ausreichende Mittel verfügen, um Zugang zu den Gerichten zu erlangen, indem sie sich durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen, garantiert das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf jedoch grundsätzlich keinen Anspruch darauf, dass die Dienstleistungen von Rechtsanwälten mehrwertsteuerfrei sind. Zudem kann die Besteuerung solcher Kosten nur dann im Hinblick auf dieses Recht in Frage gestellt werden, wenn diese Kosten ein unüberwindliches Hindernis darstellen oder wenn sie die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren. Gleichwohl lässt sich keine strikte oder gar mechanische Korrelation zwischen der Mehrwertsteuerpflichtigkeit der Dienstleistungen von Rechtsanwälten und einer Erhöhung des Preises dieser Dienstleistungen feststellen. Der in Rede stehende Mehrwertsteuerbetrag macht jedenfalls nicht den größten Anteil an den Kosten eines Gerichtsverfahrens aus. Zum anderen gebietet der Grundsatz der Waffengleichheit, der der Wahrung des Gleichgewichts zwischen den Prozessparteien dient, dass es jeder Partei angemessen ermöglicht wird, ihren Standpunkt sowie ihre Beweise unter Bedingungen vorzutragen, die sie nicht in eine gegenüber ihrem Gegner deutlich nachteilige Position versetzen, indem er ihnen gleiche Rechte und Pflichten gewährleistet, insbesondere hinsichtlich der Regeln der Beweisführung und der streitigen Verhandlung vor Gericht. Dieser Grundsatz umfasst nicht die Pflicht, die Parteien hinsichtlich der im Rahmen des Gerichtsverfahrens getragenen Kosten gleichzustellen.

(vgl. Rn. 28, 31, 35, 36, 38, 40-42, 47, Tenor 1)

2.        Art. 9 Abs. 4 und 5 des Übereinkommens über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten (Übereinkommen von Århus) kann für die Prüfung der Gültigkeit von Art. 1 Abs. 2 und Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2006/112 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem nicht geltend gemacht werden.

Die Bestimmungen eines internationalen Vertrags, dessen Vertragspartei die Union ist, können zur Begründung einer Klage auf Nichtigerklärung einer Handlung des Sekundärrechts der Union oder einer Einrede der Rechtswidrigkeit einer solchen Handlung nämlich nur unter der Voraussetzung geltend gemacht werden, dass zum einen Art und Struktur des betreffenden Vertrags dem nicht entgegenstehen und zum anderen diese Bestimmungen inhaltlich unbedingt und hinreichend genau erscheinen. Aus dem Wortlaut von Art. 9 Abs. 4 des Übereinkommens von Århus geht hervor, dass diese Vorschrift nur auf die in Art. 9 Abs. 1, 2 und 3 des Übereinkommens genannten Verfahren Anwendung findet. Die zuletzt genannten Vorschriften enthalten jedoch keine unbedingte und hinreichend genaue Pflicht, die die Rechtsstellung der Einzelnen unmittelbar regeln kann. Das Gleiche gilt für Art. 9 Abs. 5 des Übereinkommens von Århus.

(vgl. Rn. 49, 50, 55, 57, Tenor 2)

3.        Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass Dienstleistungen, die Rechtsanwälte zugunsten von Rechtsuchenden erbringen, die Gerichtskostenhilfe im Rahmen eines nationalen Systems der Gerichtskostenhilfe erhalten, nicht von der Mehrwertsteuer befreit sind.

Die Anwendung der in Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112 vorgesehenen Befreiung hängt nämlich nicht nur von der Voraussetzung eines sozialen Charakters der Dienstleistungen an – da sie eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbunden sein müssen –, sondern überdies auf Dienstleistungen beschränkt ist, die durch Einrichtungen bewirkt werden, welche als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannt sind. Insoweit kann die Berufsgruppe der Rechtsanwälte und „avoués“ als solche im Hinblick auf ihr Gesamtziel und die fehlende Dauerhaftigkeit eines etwaigen sozialen Engagements jedoch nicht als gemeinnützig angesehen werden.

(vgl. Rn. 62, 63, 68, Tenor 3)