Language of document : ECLI:EU:T:2007:144

BESCHLUSS DES PRÄSIDENTEN DES GERICHTS

21. Mai 2007(*)

„Vorläufiger Rechtsschutz – Akt zur Einführung der Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments – Antrag auf einstweilige Anordnung – Unzulässigkeit“

In der Rechtssache T‑18/07 R

Hans Kronberger, wohnhaft in Wien (Österreich), Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt W. Weh,

Antragsteller,

gegen

Europäisches Parlament, vertreten durch H. Krück, N. Lorenz und M. Windisch als Bevollmächtigte,

Antragsgegner,

wegen einstweiliger Anordnung, die Zuteilung eines Mandats für das Europäische Parlament an den derzeitigen Inhaber vorläufig für unwirksam zu erklären und dieses Mandat dem Antragsteller vorläufig zuzuweisen,

erlässt

DER PRÄSIDENT DES GERICHTS ERSTER INSTANZ
DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN

folgenden

Beschluss

 Rechtlicher Rahmen

1        Art. 8 des Akts zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten der Versammlung (ABl. 1976, L 278, S. 5), zuletzt geändert und umnummeriert durch den Beschluss 2002/772/EG, Euratom des Rates vom 25. Juni 2002 und 23. September 2002 (ABl. L 283, S. 1, im Folgenden: Akt von 1976) sieht vor:

„Vorbehaltlich der Vorschriften dieses Akts bestimmt sich das Wahlverfahren in jedem Mitgliedstaat nach den innerstaatlichen Vorschriften.

Diese innerstaatlichen Vorschriften, die gegebenenfalls den Besonderheiten in den Mitgliedstaaten Rechnung tragen können, dürfen das Verhältniswahlsystem insgesamt nicht in Frage stellen.“

2        Art. 12 des Akts von 1976 lautet:

„Das Europäische Parlament prüft die Mandate seiner Mitglieder. Zu diesem Zweck nimmt das Europäische Parlament die von den Mitgliedstaaten amtlich bekanntgegebenen Wahlergebnisse zur Kenntnis und befindet über die Anfechtungen, die gegebenenfalls auf Grund der Vorschriften dieses Akts – mit Ausnahme der innerstaatlichen Vorschriften, auf die darin verwiesen wird – vorgebracht werden könnten.“

3        § 77 Abs. 7 des Bundesgesetzes über die Wahl der von Österreich zu entsendenden Abgeordneten zum Europäischen Parlament (im Folgenden: Europawahlordnung) sieht vor:

„Die zu vergebenden Mandate werden zunächst der Reihe nach jenen Bewerbern zugewiesen, die im Bundesgebiet Vorzugsstimmen im Ausmaß von mindestens 7% der auf ihre Parteiliste entfallenen gültigen Stimmen erzielt haben …“

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

4        Am 13. Juni 2004 fanden in Österreich die Wahlen der österreichischen Mitglieder des Europäischen Parlaments statt.

5        Der Antragsteller war Spitzenkandidat für die Gruppe Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ). Auf dem dritten Platz dieser Liste kandidierte Herr Mölzer.

6        Das Wahlergebnis wurde am 30. Juni 2004 im Amtsblatt der Wiener Zeitung veröffentlicht.

7        Die FPÖ erhielt insgesamt 157 722 Stimmen. Nach österreichischem Recht stand ihr nur ein einziges Mandat zu.

8        Herr Mölzer erhielt 21 980 Vorzugsstimmen. Die genaue Zahl der vom Antragsteller erreichten Vorzugsstimmen lässt sich den Akten nicht entnehmen. Er gibt jedoch an, dass er ungefähr halb so viele Vorzugsstimmen erhalten habe wie Herr Mölzer.

9        Die Bundeswahlbehörden sprachen das Mandat der FPÖ Herrn Mölzer zu und erklärten den Antragsteller zum ersten Ersatzmann.

10      Mit seinem Beschluss über die Prüfung der Mandate vom 14. Dezember 2004 (ABl. 2005, C 226 E, S. 51) erklärte das Parlament das Mandat von Herrn Mölzer für gültig.

11      In der Zwischenzeit führte der Antragsteller gegen die Entscheidung der Bundeswahlbehörden Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof. Diese Beschwerde wurde mit Beschluss vom 18. August 2004 aus formalen Gründen zurückgewiesen.

12      Sodann focht der Antragsteller mit Schreiben vom 20. Dezember 2004 an den Parlamentspräsidenten die Wahl von Herrn Mölzer an. In diesem Schreiben beantragte er, das Mandat von Herrn Mölzer für ungültig zu erklären und ihm selbst als gewähltem Mandatar zuzusprechen.

13      Der Parlamentspräsident leitete dieses Schreiben an den Rechtsausschuss des Parlaments weiter, der die Beschwerde in seiner Sitzung vom 21. April 2005 prüfte und den Parlamentspräsidenten mit Schreiben vom 22. April 2005 über das Ergebnis seiner Prüfung unterrichtete.

14      In seiner Sitzung vom 28. April 2005 folgte das Parlament der Empfehlung des Rechtsausschusses und verwarf die Wahlprüfungsbeschwerde des Antragstellers.

15      Der Antragsteller wurde mit Schreiben des Stellvertretenden Generalsekretärs des Parlaments vom 28. November 2006 über das endgültige Ergebnis der Wahlprüfung und die Gründe für deren Verwerfung unterrichtet.

 Verfahren und Anträge der Parteien

16      Mit Klageschrift, die am 29. Januar 2007 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat der Antragsteller nach Art. 230 Abs. 4 EG Nichtigkeitsklage erhoben.

17      Mit besonderem Schriftsatz, der am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat der Antragsteller den vorliegenden Antrag auf einstweilige Anordnung gestellt, zu dem das Parlament am 23. Februar 2007 Stellung genommen hat.

18      Am 8. März 2007 hat der Antragsteller seine Stellungnahme zur Stellungnahme des Parlaments bei der Kanzlei des Gerichts eingereicht. Das Parlament hat seine abschließende Stellungnahme am 21. März 2007 eingereicht.

19      In seiner Antragsschrift beantragt der Antragsteller, die Mandatszuteilung an Herrn Mölzer vorläufig – „bis zur Endentscheidung des Parlaments“ – für unwirksam und den Antragsteller vorläufig zum legitimen Träger des Mandats der FPÖ zu erklären.

20      In seiner Stellungnahme beantragt das Parlament, den Antrag als unzulässig oder, hilfsweise, als unbegründet abzuweisen und dem Antragsteller die Kosten aufzuerlegen.

 Rechtliche Würdigung

21      Da die schriftlichen Stellungnahmen der Parteien alle Informationen enthalten, die für die Entscheidung über den Antrag auf einstweilige Anordnung erforderlich sind, besteht kein Anlass, sie mündlich anzuhören.

22      Nach den Art. 242 EG und 243 EG sowie Art. 225 Abs. 1 EG kann das Gericht, wenn es dies den Umständen nach für nötig hält, die Durchführung der angefochtenen Handlung aussetzen oder die erforderlichen einstweiligen Anordnungen treffen.

23      Art. 104 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts bestimmt, dass die Anträge auf einstweilige Anordnungen den Streitgegenstand bezeichnen und die Umstände anführen müssen, aus denen sich die Dringlichkeit ergibt; ferner ist die Notwendigkeit der beantragten Anordnung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft zu machen (fumus boni iuris) (Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 19. Juli 1995, Kommission/Atlantic Container Line u. a., C‑149/95 P[R], Slg. 1995, I‑2165, Randnr. 22). Diese Voraussetzungen sind kumulativ, so dass der Antrag auf einstweilige Anordnungen zurückzuweisen ist, sofern eine von ihnen fehlt (Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 14. Oktober 1996, SCK und FNK/Kommission, C‑268/96 P[R], Slg. 1996, I‑4971, Randnr. 30).

24      Zudem verfügt der Richter im Verfahren der einstweiligen Anordnung im Rahmen dieser Gesamtprüfung über ein weites Ermessen und kann im Hinblick auf die Besonderheiten des Einzelfalls die Art und Weise, in der diese verschiedenen Voraussetzungen zu prüfen sind, sowie die Reihenfolge dieser Prüfung frei bestimmen, da keine Vorschrift des Gemeinschaftsrechts ihm ein feststehendes Prüfungsschema für die Beurteilung der Erforderlichkeit einer vorläufigen Entscheidung vorschreibt (Beschluss Kommission/Atlantic Container Line u. a., oben in Randnr. 23 angeführt, Randnr. 23, und Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 17. Dezember 1998, Emesa Sugar/Kommission, C‑364/98 P[R], Slg. 1998, I‑8815, Randnr. 44).

25      Im vorliegenden Fall ist zunächst die Zulässigkeit des Antrags zu prüfen.

26      Art. 104 § 1 Abs. 1 der Verfahrensordnung sieht vor, dass Anträge auf Aussetzung des Vollzugs von Maßnahmen eines Organs im Sinne des Art. 242 EG nur zulässig sind, wenn der Antragsteller die betreffende Maßnahme durch Klage beim Gericht angefochten hat. Im vorliegenden Fall hat der Antragsteller Nichtigkeitsklage erhoben, deren Zulässigkeit das Parlament in Frage stellt.

27      Nach ständiger Rechtsprechung ist die Zulässigkeit der Klage grundsätzlich nicht im Verfahren der einstweiligen Anordnung zu prüfen, damit der Entscheidung zur Hauptsache nicht vorgegriffen wird. Wird geltend gemacht, dass die Klage, zu der der Antrag auf einstweilige Anordnung hinzutritt, offensichtlich unzulässig sei, kann es sich jedoch als erforderlich erweisen, zu klären, ob Anhaltspunkte vorliegen, aus denen dem ersten Anschein nach auf die Zulässigkeit der Klage geschlossen werden kann (Beschluss des Präsidenten des Gerichts vom 15. Januar 2001, Stauner u. a./Parlament und Kommission, T‑236/00 R, Slg. 2001, II‑15, Randnr. 42). Damit nämlich ein Antrag auf einstweilige Anordnung für zulässig erklärt werden kann, muss der Antragsteller Anhaltspunkte liefern, aus denen dem ersten Anschein nach auf die Zulässigkeit der Klage, zu der sein Antrag hinzutritt, geschlossen werden kann, um auszuschließen, dass er über den einstweiligen Rechtsschutz in den Genuss einstweiliger Anordnungen kommt, auf die er kein Recht hätte, wenn seine Klage für unzulässig erklärt würde (Beschluss des Präsidenten des Gerichts vom 24. März 2006, Sumitomo Chemical Agro Europe und Philagro France/Kommission, T‑454/05 R, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 46).

28      Daher ist zu prüfen, ob der Antragsteller Anhaltspunkte geliefert hat, aus denen dem ersten Anschein nach geschlossen werden kann, dass die Nichtigkeitsklage nicht offensichtlich unzulässig ist.

29      Nach Ansicht des Antragstellers ist die Klage zulässig, weil, erstens, das Parlament die Wahlanfechtung für zulässig erklärt habe, zweitens, die Zuteilung des Mandats an Herrn Mölzer ihn unmittelbar und individuell betreffe, und, drittens, er die Klage innerhalb von weniger als zwei Monaten nach Zustellung der Entscheidung des Parlaments über die „Annahme der Mandatszuteilung an [Herrn] Mölzer“ erhoben habe.

30      Das Parlament hält die Klage hingegen für offensichtlich unzulässig.

31      Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass sich der Streitgegenstand der Klage nicht klar aus den Schriftsätzen des Antragstellers ergibt. Denn nach der Antragsschrift ist die in der Hauptsache angefochtene Entscheidung die des Parlaments vom 28. April 2005, mit der die vom Antragsteller nach Art. 12 des Akts von 1976 eingebrachte Wahlanfechtung verworfen wird. Der Antrag zur Hauptsache ist jedoch dieser Antragsschrift zufolge darauf gerichtet, dass „die Entscheidung des Parlaments, das Mandat des [Herrn] Mölzer für gültig zu erklären, … aufgehoben [wird]“, d. h., sie betreffen den Beschluss des Parlaments über die Prüfung der Mandate vom 14. Dezember 2004.

32      Abgesehen von den Fragen, die diese Ungenauigkeit für die formelle Zulässigkeit des Antrags auf einstweilige Anordnung aufwirft, ist daran zu erinnern, dass nach Art. 230 Abs. 5 EG „[d]ie in diesem Artikel vorgesehenen Klagen binnen zwei Monaten zu erheben [sind]; diese Frist läuft je nach Lage des Falles von der Bekanntgabe der betreffenden Handlung, ihrer Mitteilung an den Kläger oder in Ermangelung dessen von dem Zeitpunkt an, zu dem der Kläger von dieser Handlung Kenntnis erlangt hat“.

33      Soweit, zum einen, die Klage gegen den Beschluss des Parlaments über die Prüfung der Mandate vom 14. Dezember 2004 gerichtet sein sollte, der im Amtsblatt der Europäischen Union vom 15. September 2005 (ABl. C 226 E, S. 51) veröffentlicht worden ist, ist die Klagefrist des Art. 230 Abs. 5 EG in Verbindung mit den Art. 101 und 102 der Verfahrensordnung am 9. Dezember 2005 abgelaufen, d. h. weit vor der Klageerhebung am 29. Januar 2007.

34      Daher ist die Klage, soweit sie sich gegen den Beschluss des Parlaments vom 14. Dezember 2004 richtet, dem ersten Anschein nach offensichtlich unzulässig.

35      Soweit, zum anderen, die Klage als auf die Nichtigerklärung der Entscheidung des Parlaments vom 28. April 2005 gerichtet anzusehen sein sollte, die dem Antragsteller mit Schreiben des Stellvertretenden Generalsekretärs des Parlaments vom 28. November 2006 bekannt gegeben worden ist, hat der Antragsteller keine Anhaltspunkte geliefert, die den fumus boni iuris begründen könnten.

36      Wie sich aus dem Antrag auf einstweilige Anordnung ergibt, hat der Antragsteller zur Stützung seiner Anträge zur Hauptsache nur einen Klagegrund angeführt, mit dem er rügt, dass die Entscheidung des Parlaments vom 28. April 2005 auf § 77 Abs. 7 der Europawahlordnung beruhe, die im Hinblick auf den Akt von 1976 und den Grundsatz der demokratischen Repräsentation rechtswidrig sei.

37      Hierzu ist daran zu erinnern, dass das Gericht im Rahmen einer Klage nach Art. 230 EG nicht für die Entscheidung über die Rechtsmäßigkeit einer Handlung einer nationalen Behörde zuständig ist.

38      Das gilt auch dann, wenn diese Handlung Teil eines gemeinschaftlichen Entscheidungsprozesses in dem Sinne ist, dass sich aus der in diesem Bereich geltenden Zuständigkeitsverteilung zwischen den nationalen Behörden und den Gemeinschaftsorganen eindeutig ergibt, dass die Handlung der nationalen Behörde die gemeinschaftliche Beschlussinstanz bindet und demzufolge den Inhalt der zu treffenden Gemeinschaftsentscheidung bestimmt (Urteil des Gerichtshofs vom 3. Dezember 1992, Oleificio Borelli/Kommission, C‑97/91, Slg. 1992, I‑6313, Randnr. 10).

39      Im vorliegenden Fall hat das Parlament nur eine Entscheidung getroffen, mit der es gemäß Art. 12 des Akts von 1976 die Wahlergebnisse zur Kenntnis genommen hat, die von der Republik Österreich gemäß Art. 8 des Akts von 1976 in Anwendung des Wahlverfahrens nach der Europawahlordnung offiziell verkündet worden waren.

40      Somit können sich etwaige Fehler der Europawahlordnung, in der dieses Wahlverfahren vorgesehen ist, unter keinen Umständen auf die Gültigkeit der Entscheidung auswirken, mit der das Parlament die Wahlanfechtung des Antragstellers verwirft, nachdem es gemäß Art. 12 des Akts von 1976 festgestellt hat, dass die Anforderungen, die der Akt von 1976 aufstellt, erfüllt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil Oleificio Borelli/Kommission, oben in Randnr. 38 angeführt, Randnr. 12).

41      Es ist daher Sache der nationalen Gerichte – gegebenenfalls nach einem Vorabentscheidungsersuchen im Sinne von Art. 234 EG an den Gerichtshof –, über die Rechtmäßigkeit der Europawahlordnung zu entscheiden.

42      Aus den angeführten Gründen ist festzustellen, dass der Antragsteller weder einen Anhaltspunkt dafür geliefert hat, dass das Verfahren zur Hauptsache dem ersten Anschein nach nicht offensichtlich unzulässig ist, noch einen fumus boni iuris nachgewiesen hat, und dass deshalb der vorliegende Antrag auf einstweilige Anordnung zurückzuweisen ist.

Aus diesen Gründen hat

DER PRÄSIDENT DES GERICHTS

beschlossen:

1.      Der Antrag auf einstweilige Anordnung wird zurückgewiesen.

2.      Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.

Luxemburg, den 21. Mai 2007

Der Kanzler

 

       Der Präsident

E. Coulon

 

      B. Vesterdorf


* Verfahrenssprache: Deutsch.