Language of document : ECLI:EU:T:2009:381

Rechtssache T‑324/05

Republik Estland

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

„Landwirtschaft – Gemeinsame Marktorganisation – Aufgrund des Beitritts neuer Mitgliedstaaten zu treffende Übergangsmaßnahmen – Verordnung (EG) Nr. 832/2005 mit Übergangsmaßnahmen für den Zuckersektor – Nichtigkeitsklage – Kollegialprinzip – Begriff ‚Bestände‘ – Umstände, unter denen die Bestände gebildet wurden – Begründung – Ordnungsgemäße Verwaltung – Treu und Glauben – Verbot der Diskriminierung – Eigentumsrecht – Verhältnismäßigkeit“

Leitsätze des Urteils

1.      Verfahren – Prozessleitende Maßnahmen – Antrag, interne Dokumente aus der Akte zu entfernen

2.      Kommission – Kollegialprinzip – Bedeutung – Rückgriff auf eine Bevollmächtigungsregelung für den Erlass von Maßnahmen der Geschäftsführung und der Verwaltung

(Art. 213 EG, Art. 217 Abs. 1 EG und Art. 219 EG; Verordnung Nr. 832/2005 der Kommission)

3.      Beitritt neuer Mitgliedstaaten zu den Gemeinschaften – Beitrittsakte von 2003 – Landwirtschaft – Gemeinsame Marktorganisation – Übergangsmaßnahmen für den Zuckersektor

(Beitrittsakte von 2003, Anhang IV Kapitel 4 Nr. 2; Verordnung Nr. 60/2004 der Kommission)

4.      Beitritt neuer Mitgliedstaaten zu den Gemeinschaften – Beitrittsakte von 2003 – Landwirtschaft – Gemeinsame Marktorganisation – Übergangsmaßnahmen für den Zuckersektor

(Beitrittsakte von 2003, Anhang IV Kapitel 4 Nr. 2; Verordnung Nr. 60/2004 der Kommission)

5.      Beitritt neuer Mitgliedstaaten zu den Gemeinschaften – Beitrittsakte von 2003 – Landwirtschaft – Gemeinsame Marktorganisation – Übergangsmaßnahmen für den Zuckersektor

(Beitrittsakte von 2003, Anhang IV Kapitel 4 Nr. 2; Verordnung Nr. 60/2004 der Kommission, Art. 6 Abs. 2)

6.      Beitritt neuer Mitgliedstaaten zu den Gemeinschaften – Protokolle und Anhänge der Beitrittsakte – Geltung der rechtlichen Regelung für primärrechtliche Bestimmungen

7.      Landwirtschaft – Gemeinsame Agrarpolitik – Ziele – Stabilisierung der Märkte – Sicherstellung der Versorgung – Gewährleistung eines angemessenen Einkommens für die Erzeuger – Gemeinsame Marktorganisation für Zucker

(Art. 33 EG und 34 EG)

8.      Beitritt neuer Mitgliedstaaten zu den Gemeinschaften – Beitrittsakte von 2003 – Landwirtschaft – Gemeinsame Marktorganisation – Übergangsmaßnahmen für den Zuckersektor

(Beitrittsakte von 2003, Anhang IV Kapitel 4 Nr. 2; Verordnung Nr. 60/2004 der Kommission, Art. 6 Abs. 1 Buchst. c)

9.      Beitritt neuer Mitgliedstaaten zu den Gemeinschaften – Landwirtschaft – Gemeinsame Marktorganisation – Übergangsmaßnahmen für den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen

1.      Weder die etwaige Vertraulichkeit der zu den Akten einer Rechtssache genommenen Dokumente noch der Umstand, dass sie möglicherweise nicht auf rechtmäßige Weise erlangt wurden, ist ein Hinderungsgrund dafür, sie in den Akten zu belassen. Zum einen verbietet nämlich keine Rechtsvorschrift ausdrücklich, unrechtmäßig erlangte Beweise zu verwerten, und zum anderen ist es nicht ausgeschlossen, dass selbst interne Dokumente in bestimmten Fällen rechtmäßig Teil der Akten sein können.

Bei bestimmten Sachverhalten braucht eine Partei, die zur Stützung ihres Standpunkts ein vertrauliches Dokument heranzieht, nicht nachzuweisen, dass sie dieses Dokument rechtmäßig erlangt hat. Bei einer Abwägung der zu schützenden Interessen kann der Gemeinschaftsrichter befinden, dass geprüft werden muss, ob besondere Umstände wie etwa die Entscheidungserheblichkeit der Vorlage des Dokuments, um die Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Verfahrens zum Erlass der angefochtenen Handlung sicherzustellen oder um das Vorliegen eines Ermessensmissbrauchs nachzuweisen, es rechtfertigen, ein Dokument in den Akten zu belassen.

(vgl. Randnrn. 51-52, 54-55)

2.      Der Kommission ist – unter Wahrung des Kollegialprinzips – die Befugnis zuzuerkennen, bestimmte ihrer Mitglieder damit zu betrauen, eine, und sei es noch so komplexe, buchhalterische Berechnung durchzuführen, um die im Hoheitsgebiet bestimmter Mitgliedstaaten vorhandene Menge eines bestimmten landwirtschaftlichen Erzeugnisses festzustellen, da andernfalls ihre Fähigkeit zur wirksamen Gestaltung der gemeinsamen Agrarpolitik schwer beeinträchtigt würde, bei der es sich um einen Bereich handelt, in dem Daten über die Erzeugung, die Bestände und andere Größen, wie sie sich aus Berechnungen wie den im Rahmen der Verordnung Nr. 832/2005 über die Feststellung der Überschussmengen an Zucker, Isoglucose und Fructose für die Tschechische Republik, Estland, Zypern, Lettland, Litauen, Ungarn, Malta, Polen, Slowenien und die Slowakei vorgenommenen ergeben, zeitgleich und schnell verarbeitet werden müssen.

(vgl. Randnr. 78)

3.      Der Grundsatz der Beseitigung der Überschüsse, der mit der Verordnung Nr. 60/2004 mit Übergangsmaßnahmen für den Zuckersektor infolge des Beitritts der Tschechischen Republik, Estlands, Zyperns, Lettlands, Litauens, Ungarns, Maltas, Polens, Sloweniens und der Slowakei durchgeführt werden soll, ist in einer Vorschrift des Primärrechts niedergelegt, in der der Begriff „Bestände“ eine zentrale Rolle spielt, nämlich in Anhang IV Kapitel 4 Nr. 2 der Akte über den Beitritt dieser Staaten, auf die im siebten Erwägungsgrund dieser Verordnung verwiesen wird. Der Begriff „Bestände“ im Sinne der Verordnung Nr. 60/2004 ergibt sich also aus demjenigen im Sinne von Anhang IV Kapitel 4 Nr. 2 der Beitrittsakte, mit dem, was Zucker angeht, insbesondere bezweckt wird, jegliche Störung des ordnungsgemäßen Funktionierens der Gemeinsamen Marktordnung (GMO) für Zucker zu verhindern, vor allem solche, die Auswirkungen auf die Preisbildung haben und die auf die Anhäufung von anormalen Zuckermengen in den neuen Mitgliedstaaten vor deren Beitritt zur Europäischen Union zurückzuführen sind.

Für die Abgrenzung des Begriffs „Bestände“ ist also zu prüfen, ob die Anhäufung beachtlicher Haushaltsvorräte in den neuen Mitgliedstaaten vor dem Beitritt einen möglichen Störfaktor für die GMO Zucker bildet.

Es würde sich schädlich auf die Stabilität und die Finanzierung der GMO Zucker auswirken und für diese eine erhebliche Störung darstellen, wenn nach dem Beitritt der neuen Mitgliedstaaten zur Europäischen Union in den Mitgliedstaaten, in denen Haushaltsvorräte bestehen, Mengen, die von den Privathaushalten auf dem Gemeinschaftsmarkt gekauft worden wären, durch diese Vorräte substituiert würden. Wenn die Haushaltsvorräte nicht unter den Begriff „Bestände“ im Sinne der Verordnung Nr. 60/2004 zu fassen wären, hätten die Angehörigen der neuen Mitgliedstaaten, in denen der Zuckerpreis deutlich unter dem Gemeinschaftspreis liegt, ein Interesse daran, möglichst große Vorräte zu bilden, um die preislichen Auswirkungen der GMO Zucker auf ihren Wohnsitzstaat hinauszuzögern. Da der Zuckerpreis in allen neuen Mitgliedstaaten unter oder gar weit unter dem Gemeinschaftspreis lag, würde eine solche Ausnahme darauf hinauslaufen, eine massive Bildung von Haushaltsvorräten zu begünstigen, was einen erheblichen Rückgang oder in einigen Fällen sogar einen völligen Wegfall der Nachfrage nach Zucker in diesen Staaten in dem Zeitraum unmittelbar nach deren Beitritt zur Europäischen Union nach sich ziehen würde.

Im Übrigen würde durch eine Berechnung der gemeinschaftlichen Quoten auf der Grundlage einer anormal niedrigen Nachfrage lediglich die volle Anwendung der GMO Zucker in den neuen Mitgliedstaaten verzögert, und zwar zulasten der Erzeuger, deren Beschäftigungslage und Lebensstandard durch die GMO Zucker weiter gesichert werden soll. Aus den Art. 2 und 10 der Beitrittsakte von 2003 ergibt sich aber, dass diese auf dem Grundsatz der sofortigen vollständigen Anwendung der Vorschriften des Gemeinschaftsrechts auf die neuen Mitgliedstaaten beruht, wobei Abweichungen nur insoweit zulässig sind, als sie in den Übergangsbestimmungen ausdrücklich vorgesehen sind.

Folglich ist der Begriff „Bestände“ im Sinne der Verordnung Nr. 60/2004 und von Anhang IV Kapitel 4 Nr. 2 der Beitrittsakte nicht dahin auszulegen, dass die Haushaltsvorräte von vornherein nicht darunter fallen.

(vgl. Randnrn. 106, 119-120, 129-130, 134, 136)

4.      Durch die Verordnung Nr. 60/2004 mit Übergangsmaßnahmen für den Zuckersektor infolge des Beitritts der Tschechischen Republik, Estlands, Zyperns, Lettlands, Litauens, Ungarns, Maltas, Polens, Sloweniens und der Slowakei soll nicht nur rein kommerziellen Spekulationsgeschäften entgegengewirkt, sondern auch Störungen der Mechanismen der Gemeinsamen Marktorganisation (GMO) für Zucker vorgebeugt und möglichen schädlichen Auswirkungen für deren Stabilität begegnet werden, die auf vor dem Beitritt angehäufte anormale Mengen Zucker in den neuen Mitgliedstaaten zurückzuführen sind. Die Störung des Zuckermarkts, die durch anormale Haushaltsvorräte hervorgerufen werden kann, ist nicht auf den Verkauf von Zucker unter dem von der GMO Zucker garantierten Preis zurückzuführen, sondern auf einen möglichen Rückgang des Verbrauchs in den Mitgliedstaaten, in denen solche Vorräte gebildet worden sind, was zu einem Missverhältnis zwischen den im Rahmen der GMO Zucker zugeteilten Quoten und dem Gemeinschaftsverbrauch zulasten der Erzeuger und gegebenenfalls des Gemeinschaftshaushalts führen würde.

(vgl. Randnrn. 163, 167)

5.      Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 60/2004 mit Übergangsmaßnahmen für den Zuckersektor infolge des Beitritts der Tschechischen Republik, Estlands, Zyperns, Lettlands, Litauens, Ungarns, Maltas, Polens, Sloweniens und der Slowakei sieht vor, dass der betreffende neue Mitgliedstaat gewährleistet, dass eine dem von der Kommission festgestellten Überschuss entsprechende Menge Zucker oder Isoglucose ohne Gemeinschaftsintervention vom Markt genommen wird. Dieser Mitgliedstaat muss somit nicht den am 1. Mai 2004 als Überschuss angesehenen Zucker vom Markt nehmen, sondern eine der von der Kommission als Überschuss angesehenen Menge entsprechende Menge Zucker, die auch nach diesem Zeitpunkt gekauft oder erzeugt worden sein kann. Die für die neuen Mitgliedstaaten, bei denen die Kommission Überschüsse festgestellt hat, geltende Verpflichtung, Mengen vom Markt zu nehmen, bezieht sich also nicht auf den am 1. Mai 2004 angehäuften Zuckerüberschuss, sondern schlicht auf eine Menge, die diesem entspricht. Selbst wenn der für einen neuen Mitgliedstaat festgestellte Überschuss zu einem Teil in Form von anormalen Haushaltsvorräten bestand und diese Vorräte nicht nach den in Art. 6 Abs. 2 vorgesehenen Modalitäten vom Markt genommen werden konnten, könnte der betreffende Mitgliedstaat seiner Verpflichtung, die Mengen vom Markt zu nehmen, somit noch nachkommen, indem er sich eine den Haushaltsvorräten entsprechende Menge Zucker beschafft, um sie nach diesen Modalitäten vom Markt zu nehmen. Dadurch würde der betreffende Mitgliedstaat einen Anstieg der Gemeinschaftsnachfrage bewirken, der dem künstlichen Sinken entspräche, das durch seine Haushaltsvorräte hervorgerufen worden ist, und der deren negative Auswirkungen auf die Stabilität der Gemeinsamen Marktorganisation für Zucker ausgleichen würde.

(vgl. Randnrn. 171, 177-178)

6.      Die Protokolle und Anhänge einer Beitrittsakte sind primärrechtliche Bestimmungen, die, soweit in der Beitrittsakte nicht etwas anderes vorgesehen ist, nur in den für die Revision der ursprünglichen Verträge vorgesehenen Verfahren ausgesetzt, geändert oder aufgehoben werden können.

Grundsätzlich kann die Tragweite einer primärrechtlichen Bestimmung aber nicht im Licht der von den Organen gegebenenfalls zu ihrer Anwendung erlassenen Bestimmungen des abgeleiteten Rechts ausgelegt werden. Vielmehr ist das abgeleitete Recht im Fall seiner Auslegungsbedürftigkeit möglichst so auszulegen, dass es mit den primärrechtlichen Bestimmungen vereinbar ist.

(vgl. Randnrn. 207-208)

7.      Die in Art. 33 EG angeführten Ziele der Agrarpolitik sind so zu verstehen, dass sie den Gemeinschaftsorganen erlauben, ihre Aufgaben unter Berücksichtigung der dazu erforderlichen Mechanismen zu erfüllen, Marktstörungen zu verhindern und das für die in diesem Sektor tätigen Personen als angemessen angesehene Pro‑Kopf‑Einkommen zu gewährleisten.

Nach Art. 34 Abs. 2 EG kann die nach Abs. 1 dieses Artikels gestaltete gemeinsame Organisation alle zur Durchführung des Art. 33 EG erforderlichen Maßnahmen einschließen, insbesondere Preisregelungen, Beihilfen für die Erzeugung und die Verteilung der verschiedenen Erzeugnisse, Einlagerungs- und Ausgleichsmaßnahmen und gemeinsame Einrichtungen zur Stabilisierung der Ein- oder Ausfuhr.

Die Kontrolle der in den neuen Mitgliedstaaten vor ihrem Beitritt zur Europäischen Union eingelagerten anormalen Zuckermengen, u. a. der Haushaltsvorräte, ist somit zwingend erforderlich, um etwaige Störungen der Gemeinsamen Marktorganisation für Zucker zu verhindern, insbesondere infolge des vorhersehbaren künstlichen Sinkens der Nachfrage, das darauf zurückzuführen ist, dass mit diesen Vorräten Mengen, die sonst auf dem Markt gekauft worden wären, substituiert werden auf Kosten des Einkommens der Gemeinschaftserzeuger und des Gemeinschaftshaushalts.

Folglich gehört die Berücksichtigung der Haushaltsvorräte bei der Berechnung der gesamten in den neuen Mitgliedstaaten vorhandenen Überschüsse, die erforderlich ist, um das Auftreten der oben genannten Probleme zu verhindern, zu den im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik zu erlassenden Maßnahmen.

(vgl. Randnrn. 220-224)

8.      Nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 60/2004 mit Übergangsmaßnahmen für den Zuckersektor infolge des Beitritts der Tschechischen Republik, Estlands, Zyperns, Lettlands, Litauens, Ungarns, Maltas, Polens, Sloweniens und der Slowakei berücksichtigt die Kommission bei der Feststellung der Überschüsse der neuen Mitgliedstaaten insbesondere die Umstände, unter denen die Bestände gebildet wurden. Angesichts des mit dieser Verordnung verfolgten Ziels, Störungen des gemeinschaftlichen Zuckermarkts auf Kosten des Gemeinschaftshaushalts und der Erzeuger zu verhindern, darf durch die Berücksichtigung dieser Umstände indessen nicht die Gefahr einer Marktstörung begründet werden. Folglich dürfen nach dieser Vorschrift von der Berechnung der Überschüsse nur bestimmte gebildete Bestände ausgenommen werden, die nach den anderen Kriterien gemäß Art. 6 Abs. 1 als Überschüsse berücksichtigt werden müssten, aber angesichts der Umstände des Einzelfalls keine Gefahr einer Marktstörung darstellen.

(vgl. Randnrn. 241, 246-247)

9.      Die bei einem einzelnen Beitritt im Bereich der Landwirtschaft zu erlassenden Übergangsmaßnahmen sind auf die konkreten Gefahren von Störungen der Agrarmärkte abzustimmen, die dieser Beitritt begründen kann. Folglich sind die Organe nicht verpflichtet, bei zwei aufeinanderfolgenden Erweiterungen dieselben Übergangsmaßnahmen anzuwenden.

(vgl. Randnr. 330)