Language of document : ECLI:EU:C:2017:631

Verbundene Rechtssachen C643/15 und C647/15

Slowakische Republik
und
Ungarn

gegen

Rat der Europäischen Union

„Nichtigkeitsklage – Beschluss (EU) 2015/1601 – Vorläufige Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten der Hellenischen Republik und der Italienischen Republik – Notlage bestimmter Mitgliedstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in ihr Hoheitsgebiet – Umsiedlung dieser Drittstaatsangehörigen in das Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten – Umsiedlungskontingente – Art. 78 Abs. 3 AEUV – Rechtsgrundlage – Anwendungsvoraussetzungen – Begriff ‚Gesetzgebungsakt‘ – Art. 289 Abs. 3 AEUV – Zwingender Charakter von Schlussfolgerungen des Europäischen Rates für den Rat der Europäischen Union – Art. 15 Abs. 1 EUV und Art. 68 AEUV – Wesentliche Formvorschriften – Änderung des Vorschlags der Europäischen Kommission – Erfordernis einer erneuten Anhörung des Europäischen Parlaments und der Einstimmigkeit im Rat der Europäischen Union – Art. 293 AEUV – Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 6. September 2017

1.        Handlungen der Organe – Rechtsnatur – Gesetzgebungsakt – Begriff – Vorläufige Maßnahmen des Rates zugunsten bestimmter Mitgliedstaaten, die sich aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage befinden – Ausschluss

(Art. 78 Abs. 3 AEUV, 289 AEUV und 294 AEUV)

2.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Vorläufige Maßnahmen des Rates zugunsten bestimmter Mitgliedstaaten, die sich aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage befinden – Tragweite

(Art. 78 Abs. 2 und 3 AEUV)

3.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Vorläufige Maßnahmen des Rates zugunsten bestimmter Mitgliedstaaten, die sich aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage befinden – Möglichkeit der Abweichung von Bestimmungen in Gesetzgebungsakten – Grenzen – Erfordernis eines vorläufigen Charakters der Maßnahmen

(Art. 78 Abs. 2 und 3 AEUV; Beschluss 2015/1601 des Rates)

4.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Vorläufige Maßnahmen des Rates zugunsten bestimmter Mitgliedstaaten, die sich aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage befinden – Festlegung der Dauer – Beurteilungskriterien

(Art. 78 Abs. 3 AEUV; Beschluss 2015/1601 des Rates)

5.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Vorläufige Maßnahmen des Rates zugunsten bestimmter Mitgliedstaaten, die sich aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage befinden – Begriff „plötzlich“

(Art. 78 Abs. 3 AEUV)

6.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Vorläufige Maßnahmen des Rates zugunsten bestimmter Mitgliedstaaten, die sich aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage befinden – Erfordernis einer engen Verbindung zwischen der Notlage und dem Zustrom

(Art. 78 Abs. 3 AEUV)

7.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Vorläufige Maßnahmen des Rates zugunsten bestimmter Mitgliedstaaten, die sich aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage befinden – Ermessen des Rates bei der Wahl der zu treffenden Maßnahmen – Möglichkeit, Anpassungsmechanismen vorzusehen, die es gestatten, auf die Entwicklung der Lage zu reagieren

(Art. 78 Abs. 3 AEUV)

8.        Kommission – Befugnisse – Gesetzgeberisches Initiativrecht – Ausübung unter Beachtung der Grundsätze der Zuweisung von Befugnissen und des institutionellen Gleichgewichts – Anwendung auf Vorschläge für Gesetzgebungsakte und Rechtsakte, die keine Gesetzgebungsakte sind

(Art. 13 Abs. 2 EUV; Art. 68 AEUV und 78 Abs. 3 AEUV)

9.        Handlungen der Organe – Verfahren des Zustandekommens – Ordnungsgemäße Anhörung des Parlaments – Obligatorische erneute Anhörung im Fall einer wesentlichen Änderung des ursprünglichen Vorschlags – Umfang der Verpflichtung

(Art. 113 AEUV)

10.      Kommission – Befugnisse – Gesetzgeberisches Initiativrecht – Befugnis zur Änderung eines Vorschlags – Voraussetzungen für die Ausübung – Vorschlag für Maßnahmen zugunsten von Mitgliedstaaten, die sich aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage befinden

(Art. 78 Abs. 3 AEUV und 293 Abs. 2 AEUV)

11.      Kommission – Befugnisse – Gesetzgeberisches Initiativrecht – Befugnis zur Änderung eines Vorschlags – Möglichkeit des Kollegiums der Kommissionsmitglieder, bestimmte Mitglieder zur Vornahme der Änderung zu ermächtigen

(Art. 293 Abs. 2 AEUV; Geschäftsordnung der Kommission, Art. 13)

12.      Rat – Beratungen – Sprachenregelung – Möglichkeit, eine Änderung des Entwurfs eines Rechtsakts in nur einer Amtssprache der Union vorzuschlagen – Zulässigkeit – Voraussetzung – Kein Einspruch eines Mitgliedstaats

(Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 4 EUV; Beschluss 2009/937 des Rates, Anhang, Art. 14)

13.      Recht der Europäischen Union – Grundsätze – Verhältnismäßigkeit – Tragweite – Ermessen des Unionsgesetzgebers – Gerichtliche Nachprüfung – Grenzen – Beurteilung anhand der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses des Rechtsakts

(Art. 5 Abs. 4 EUV; Art. 78 Abs. 3 AEUV)

14.      Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Vorläufige Maßnahmen des Rates zugunsten bestimmter Mitgliedstaaten, die sich aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage befinden – Umsiedlung dieser Staatsangehörigen in das Gebiet anderer Mitgliedstaaten – Gerichtliche Nachprüfung – Grenzen – Bezifferte Aufteilung der zwischen den Mitgliedstaaten umzusiedelnden Personen – Zulässigkeit – Beachtung des Grundsatzes der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten

(Art. 78 Abs. 3 AEUV und 80 AEUV)

15.      Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Vorläufige Maßnahmen des Rates zugunsten bestimmter Mitgliedstaaten, die sich aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage befinden – Umsiedlung dieser Staatsangehörigen in das Gebiet anderer Mitgliedstaaten – Pflicht zur Berücksichtigung der Existenz kultureller oder sprachlicher Verbindungen zwischen jedem Staatsangehörigen und dem Umsiedlungsmitgliedstaat – Fehlen

(Art. 78 Abs. 3 AEUV und 80 AEUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 21)

16.      Gerichtliches Verfahren – Streithilfe – Andere Angriffs- und Verteidigungsmittel als die der unterstützten Partei – Zulässigkeit – Voraussetzung – Anknüpfung an den Streitgegenstand

(Satzung des Gerichtshofs, Art. 40; Verfahrensordnung des Gerichtshofs, Art. 129 und 132 Abs. 2 Buchst. b)

17.      Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Vorläufige Maßnahmen des Rates zugunsten bestimmter Mitgliedstaaten, die sich aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage befinden – Umsiedlung dieser Staatsangehörigen in das Gebiet anderer Mitgliedstaaten – Pflicht zur Gewährleistung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die Umsiedlungsentscheidung

Art. 78 Abs. 3 AEUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47)

18.      Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Vorläufige Maßnahmen des Rates zugunsten bestimmter Mitgliedstaaten, die sich aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage befinden – Umsiedlung dieser Staatsangehörigen in das Gebiet anderer Mitgliedstaaten – Beschluss 2015/1601 des Rates über Maßnahmen zugunsten von Griechenland und Italien – Modalitäten zur Aufteilung der Staatsangehörigen – Berücksichtigung der Präferenzen eines Staatsangehörigen für einen Aufnahmemitgliedstaat – Ausschluss

Art. 78 Abs. 3 AEUV; Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 13 Abs. 1; Beschluss 2015/1601 des Rates, Art. 5 Abs. 3)

19.      Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Vorläufige Maßnahmen des Rates zugunsten bestimmter Mitgliedstaaten, die sich aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage befinden – Umsiedlung dieser Staatsangehörigen in das Gebiet anderer Mitgliedstaaten – Einstufung der Umsiedlung als Abschiebung in einen Drittstaat – Ausschluss

(Art. 78 Abs. 3 AEUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 18)

1.      Ein Rechtsakt kann nur dann als Gesetzgebungsakt der Union eingestuft werden, wenn er auf der Grundlage einer Bestimmung der Verträge angenommen wurde, die ausdrücklich auf das ordentliche Gesetzgebungsverfahren oder auf das besondere Gesetzgebungsverfahren Bezug nimmt. Folglich kann aus der Bezugnahme auf das Erfordernis einer Anhörung des Parlaments in der Bestimmung der Verträge, die als Rechtsgrundlage des fraglichen Rechtsakts dient, nicht geschlossen werden, dass für die Annahme dieses Rechtsakts das besondere Gesetzgebungsverfahren gilt.

Da Art. 78 Abs. 3 AEUV vorsieht, dass der Rat die dort genannten vorläufigen Maßnahmen auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Parlaments erlässt, und keine ausdrückliche Bezugnahme auf das ordentliche Gesetzgebungsverfahren oder auf das besondere Gesetzgebungsverfahren enthält, ist davon auszugehen, dass die Maßnahmen, die auf seiner Grundlage erlassen werden können, als Rechtsakte, die keine Gesetzgebungsakte sind, einzustufen sind, weil sie nicht nach einem Gesetzgebungsverfahren angenommen werden.

(vgl. Rn. 62, 64-66)

2.      Die Bestimmungen in Art. 78 Abs. 2 und 3 AEUV ergänzen sich und gestatten es der Union, im Rahmen ihrer gemeinsamen Politik im Asylbereich vielfältige Maßnahmen zu erlassen, um sich u. a. die nötigen Werkzeuge für eine effektive, sowohl kurz- als auch langfristige Reaktion auf Migrationskrisen zu verschaffen. In Anbetracht dessen muss der Begriff der vorläufigen Maßnahmen in Art. 78 Abs. 3 AEUV weit genug sein, um es den Unionsorganen zu gestatten, alle vorläufigen Maßnahmen zu erlassen, die erforderlich sind, um effektiv und schnell auf eine aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen eintretende Notlage zu reagieren.

(vgl. Rn. 74, 77)

3.      Vorläufige Maßnahmen, die auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV erlassen werden, können zwar grundsätzlich von Bestimmungen in Gesetzgebungsakten abweichen, doch muss der Anwendungsbereich solcher Abweichungen sowohl inhaltlich als auch zeitlich in der Weise begrenzt sein, dass sie sich darauf beschränken, schnell und effektiv durch eine vorläufige Regelung auf eine ganz bestimmte Krisensituation zu reagieren. Dies schließt es aus, dass solche Maßnahmen die dauerhafte und generelle Ersetzung oder Änderung der Gesetzgebungsakte zum Gegenstand haben oder bewirken können und damit das in Art. 78 Abs. 2 AEUV vorgesehene ordentliche Gesetzgebungsverfahren umgehen.

Diesem Erfordernis genügen die im Beschluss 2015/1601 zur Einführung von vorläufigen Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten von Italien und Griechenland vorgesehenen Abweichungen. Die darin vorgesehenen Abweichungen gelten nämlich, vorbehaltlich einer Verlängerungsmöglichkeit, nur für einen Zeitraum von zwei Jahren. Überdies betreffen sie eine begrenzte Zahl von Drittstaatsangehörigen, die in Griechenland oder Italien internationalen Schutz beantragt haben, eine der im Beschluss 2015/1601 genannten Staatsangehörigkeiten besitzen, aus einem dieser beiden Mitgliedstaaten umgesiedelt werden und während eines bestimmten Zeitraums in diesen Mitgliedstaaten eingetroffen sind oder eintreffen werden.

(vgl. Rn. 78-80)

4.      Art. 78 Abs. 3 AEUV belässt, auch wenn er verlangt, dass die Maßnahmen, auf die er sich bezieht, vorläufig sind, dem Rat einen Spielraum bei der Festlegung ihrer Geltungsdauer anhand der Umstände des jeweiligen Einzelfalls und insbesondere der Besonderheiten der Notlage, die sie rechtfertigen.

Mit der Festlegung der Dauer der im Beschluss 2015/1601 zur Einführung von vorläufigen Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten von Italien und Griechenland vorgesehenen Maßnahmen auf 24 Monate hat der Rat sein Ermessen nicht offensichtlich überschritten. Diese Wahl erscheint in Anbetracht dessen gerechtfertigt, dass die Umsiedlung einer bedeutenden Zahl von Personen ein noch nie dagewesener und komplexer Vorgang ist, der insbesondere bei der Koordinierung zwischen den Verwaltungen der Mitgliedstaaten eine gewisse Vorbereitungs- und Umsetzungszeit erfordert, bevor er konkrete Wirkungen entfaltet. Insoweit kann nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, der Beschluss 2015/1601 habe keinen vorläufigen Charakter, weil er langfristige Wirkungen habe. Wäre bei der Beurteilung des vorläufigen Charakters im Sinne von Art. 78 Abs. 3 AEUV die Dauer der Auswirkungen einer Umsiedlungsmaßnahme auf die umgesiedelten Personen zu berücksichtigen, könnte nämlich keine Maßnahme zur Umsiedlung von Personen, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigen, auf diese Bestimmung gestützt werden, da einer Umsiedlung solche mehr oder weniger langfristigen Auswirkungen inhärent sind.

(vgl. Rn. 92, 96-99)

5.      Als „plötzlich“ im Sinne von Art. 78 Abs. 3 AEUV kann ein Zustrom von Drittstaatsangehörigen bezeichnet werden, der solchen Umfang hat, dass er unvorhersehbar war. Dies gilt auch dann, wenn er im Rahmen einer Migrationskrise stattfindet, die sich über mehrere Jahre erstreckt, sofern er die normale Funktionsweise des gemeinsamen Asylsystems der Union unmöglich macht.

(vgl. Rn. 114)

6.      Zur Auslegung des die Notlage im Sinne von Art. 78 Abs. 3 AEUV qualifizierenden Begriffs ist festzustellen, dass in den meisten Sprachfassungen von Art. 78 Abs. 3 AEUV ein Begriff wie „gekennzeichnet“ verwendet wird, in einer Minderzahl dagegen ein Begriff wie „verursacht“. Beide Begriffe sind im Kontext dieser Bestimmung und im Hinblick auf ihr Ziel, den schnellen Erlass vorläufiger Maßnahmen zu gewährleisten, die dazu dienen, wirksam auf eine Notlage im Bereich der Migration zu reagieren, im gleichen Sinne zu verstehen, und zwar so, dass eine hinreichend enge Verbindung zwischen der fraglichen Notlage und dem plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen bestehen muss.

(vgl. Rn. 125)

7.      In Anbetracht dessen, dass es den Migrationsströmen immanent ist, dass sie eine rasche Entwicklung durchlaufen und sich namentlich in andere Mitgliedstaaten verlagern können, steht Art. 78 Abs. 3 AEUV Anpassungsmechanismen, die zu den aufgrund dieser Bestimmung getroffenen vorläufigen Maßnahmen hinzutreten, nicht entgegen. Er verleiht nämlich dem Rat ein weites Ermessen bei der Wahl der Maßnahmen, die getroffen werden können, um rasch und wirksam auf eine konkrete Notlage sowie auf etwaige Entwicklungen, die sie durchlaufen könnte, zu reagieren. Auf eine Notlage zu reagieren, schließt nicht aus, dass die Reaktion einen Wandel und eine Anpassung erfährt, vorausgesetzt, sie bleibt vorläufig.

(vgl. Rn. 131-134)

8.      Die Grundsätze der Zuweisung von Befugnissen und des institutionellen Gleichgewichts gelten für das Initiativrecht der Kommission im Rahmen des Erlasses, auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV, von Rechtsakten, die wie ein Beschluss, mit dem vorläufige Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten bestimmter Mitgliedstaaten eingeführt werden, keine Gesetzgebungsakte sind. Insoweit macht Art. 78 Abs. 3 AEUV das Initiativrecht der Kommission nicht von der vorherigen Festlegung von Leitlinien durch den Europäischen Rat gemäß Art. 68 AEUV abhängig

Überdies gestattet Art. 78 Abs. 3 AEUV dem Rat, Maßnahmen mit qualifizierter Mehrheit zu erlassen. Der Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts verbietet es, dass der Europäische Rat diese Abstimmungsregel ändert und dem Rat mittels Schlussfolgerungen, die gemäß Art. 68 AEUV ergangen sind, vorschreibt, einstimmig zu entscheiden. Da die Grundsätze über die Willensbildung der Unionsorgane in den Verträgen festgelegt sind und nicht zur Disposition der Mitgliedstaaten oder der Organe selbst stehen, können jedoch allein die Verträge ein Organ in besonderen Fällen dazu ermächtigen, ein von ihnen geschaffenes Entscheidungsverfahren zu ändern.

(vgl. Rn. 146-149)

9.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 160-162)

10.    Nach Art. 293 Abs. 2 AEUV kann die Kommission ihren Vorschlag, solange kein Beschluss des Rates zu ihm ergangen ist, jederzeit im Verlauf der Verfahren zur Annahme eines Rechtsakts der Union ändern. Die von der Kommission angenommenen geänderten Vorschläge müssen nicht notwendigerweise Schriftform aufweisen, sofern sie Teil des Verfahrens zum Erlass von Rechtsakten der Union sind, das sich durch eine gewisse Flexibilität auszeichnet, die erforderlich ist, um zwischen den Organen eine Meinungsübereinstimmung zu erreichen.

Im speziellen Rahmen von Art. 78 Abs. 3 AEUV kann davon ausgegangen werden, dass die Kommission von der ihr nach Art. 293 Abs. 2 AEUV zustehenden Änderungsbefugnis Gebrauch gemacht hat, wenn aus ihrer Beteiligung am Verfahren zum Erlass des betreffenden Rechtsakts klar hervorgeht, dass der geänderte Vorschlag von ihr gebilligt wurde. Eine solche Auslegung entspricht dem Ziel von Art. 293 Abs. 2 AEUV, das Initiativrecht der Kommission zu schützen.

(vgl. Rn. 177, 179, 181)

11.    Aus Art. 13 der Geschäftsordnung der Kommission ergibt sich bei einer Auslegung im Licht des Ziels von Art. 293 Abs. 2 AEUV, der das Initiativrecht der Kommission schützen soll, dass das Kollegium der Kommissionsmitglieder bestimmte Mitglieder ermächtigen kann, im Lauf des Verfahrens den Vorschlag der Kommission innerhalb vorab von ihm festgelegter Grenzen zu ändern.

(vgl. Rn. 185)

12.    Auch wenn die Union der Erhaltung der Mehrsprachigkeit verbunden ist, deren Bedeutung in Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 4 EUV hervorgehoben wird, ist der Rat nicht daran gehindert, Art. 14 seiner Geschäftsordnung dahin auszulegen, dass sein Abs. 1 verlange, dass Entwürfe, die als „Grundlage“ für die Beratungen des Rates dienten, grundsätzlich in allen Amtssprachen der Union vorliegen müssten, während Abs. 2 eine vereinfachte Regelung für die Änderungsvorschläge vorsehe, nach der sie nicht zwingend in allen Amtssprachen der Union verfügbar sein müssten. Nur wenn ein Mitgliedstaat Einspruch erhebe, müssten auch die von ihm bezeichneten Sprachfassungen dem Rat vorgelegt werden, bevor dieser seine Beratungen fortsetzen könne. Diese Auslegung beruht nämlich auf einem ausgewogenen und flexiblen Ansatz, der die Effizienz und die Schnelligkeit der Arbeiten des Rates begünstigt.

(vgl. Rn. 201, 203)

13.    Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 206-208, 221)

14.    In dem besonderen Kontext einer ernsten Notlage, die durch einen plötzlichen massiven Zustrom von Drittstaatsangehörigen in Mitgliedstaaten gekennzeichnet ist, muss der Beschluss, gemäß Art. 78 Abs. 3 AEUV einen verbindlichen Mechanismus für die Umsiedlung von 120 000 Personen vorzusehen, zwar auf objektiven Kriterien beruhen, kann aber vom Gerichtshof nur beanstandet werden, wenn sich herausstellt, dass der Rat, als er den angefochtenen Beschluss erließ, im Licht der zu diesem Zeitpunkt verfügbaren Informationen und Daten einen offensichtlichen Beurteilungsfehler dahin gehend begangen hat, dass binnen der gleichen Frist eine andere, weniger belastende, aber ebenso wirksame Maßnahme hätte getroffen werden können.

Insoweit lässt die Argumentation, dass der angefochtene Beschluss eine unverhältnismäßige Maßnahme darstelle, weil er unnötigerweise einen verbindlichen Mechanismus mit einer bezifferten und obligatorischen Aufteilung der zwischen den Mitgliedstaaten umzusiedelnden Personen in Form von Kontingenten vorschreibe, nicht den Schluss zu, dass der Rat bei seiner Entscheidung, einen solchen verbindlichen Umsiedlungsmechanismus vorzuschreiben, einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat. Der Rat war nämlich im Rahmen des ihm insoweit zuzuerkennenden weiten Ermessens zu der Annahme berechtigt, dass der verbindliche Charakter der Aufteilung der umzusiedelnden Personen angesichts der besonderen Notlage, die den Erlass des angefochtenen Beschlusses erforderlich machte, geboten war. Überdies war der Rat beim Erlass des angefochtenen Beschlusses in der Tat verpflichtet, den Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten, einschließlich in finanzieller Hinsicht, anzuwenden, der nach Art. 80 AEUV bei der Umsetzung der gemeinsamen Politik der Union im Asylbereich gilt. Daher kann dem Rat nicht vorgeworfen werden, einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen zu haben, als er sich gehalten sah, angesichts der besonderen Dringlichkeit der Lage auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV, im Licht von Art. 80 AEUV und des dort verankerten Grundsatzes der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, vorläufige Maßnahmen zu treffen, die in der Festlegung eines verbindlichen Umsiedlungsmechanismus bestanden.

(vgl. Rn. 235, 236, 245, 246, 252, 253)

15.    Befinden sich ein oder mehrere Mitgliedstaaten in einer Notlage im Sinne von Art. 78 Abs. 3 AEUV, müssen die Belastungen, die mit den aufgrund dieser Vorschrift zugunsten der betreffenden Mitgliedstaaten erlassenen vorläufigen Maßnahmen verbunden sind, grundsätzlich auf alle anderen Mitgliedstaaten aufgeteilt werden, im Einklang mit dem Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten, der nach Art. 80 AEUV für die Politik der Union im Asylbereich gilt. Somit gehen die Kommission und der Rat beim Erlass eines Beschlusses, mit dem vorläufige Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten bestimmter Mitgliedstaaten eingeführt werden, zu Recht davon aus, dass die Verteilung der umzusiedelnden Antragsteller auf alle Mitgliedstaaten im Einklang mit dem in Art. 80 AEUV verankerten Grundsatz ein fundamentaler Bestandteil dieses Beschlusses ist.

Wenn die Umsiedlung strikt von der Existenz kultureller oder sprachlicher Verbindungen zwischen jedem Antragsteller und dem Umsiedlungsmitgliedstaat abhängig gemacht werden müsste, würde dies nämlich eine Verteilung dieser Antragsteller auf alle Mitgliedstaaten unter Beachtung des durch Art. 80 AEUV auferlegten Grundsatzes der Solidarität und damit den Erlass eines verbindlichen Umsiedlungsmechanismus unmöglich machen. Erwägungen, die an die ethnische Herkunft der Antragsteller anknüpfen, können jedenfalls nicht berücksichtigt werden, da sie offenkundig gegen das Unionsrecht und insbesondere gegen Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verstoßen.

(vgl. Rn. 291, 292, 304, 305)

16.    Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 303)

17.    Nach Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union muss auf nationaler Ebene ein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen jede Entscheidung gewährleistet sein, die eine nationale Behörde im Rahmen eines Umsiedlungsverfahrens gemäß Art. 78 Abs. 3 AEUV trifft.

(vgl. Rn. 325)

18.    Das durch den Beschluss 2015/1601 zur Einführung von vorläufigen Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten von Italien und Griechenland geschaffene System beruht wie das durch die Verordnung Nr. 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, geschaffene System auf objektiven Kriterien und nicht auf einer vom Antragsteller zum Ausdruck gebrachten Präferenz. Insbesondere knüpft die in Art. 13 Abs. 1 der genannten Verordnung vorgesehene Regel der Zuständigkeit des Mitgliedstaats der ersten Einreise, bei der es sich um die einzige in dieser Verordnung vorgesehene Regel zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats handelt, von der der Beschluss 2015/1601 abweicht, nicht an die Präferenzen des Antragstellers für einen bestimmten Aufnahmemitgliedstaat an und soll nicht speziell gewährleisten, dass eine sprachliche, kulturelle oder soziale Verbindung zwischen ihm und dem zuständigen Mitgliedstaat besteht.

Außerdem verfügen die Behörden der begünstigten Mitgliedstaaten zwar über einen gewissen Spielraum, wenn sie gemäß Art. 5 Abs. 3 des Beschlusses 2015/1601 die einzelnen Antragsteller bestimmen, die in einen bestimmten Umsiedlungsmitgliedstaat umgesiedelt werden können, doch ist ein solcher Spielraum angesichts des Ziels dieses Beschlusses gerechtfertigt, das darin besteht, das griechische und das italienische Asylsystem von einer bedeutenden Zahl von Antragstellern zu entlasten, indem sie innerhalb kurzer Zeit und in effektiver Weise unter Beachtung des Unionsrechts und insbesondere der durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierten Grundrechte in andere Mitgliedstaaten umgesiedelt werden. Überdies kann ein Antragsteller nach dem Unionsrecht den für die Prüfung seines Antrags zuständigen Mitgliedstaat nicht selbst auswählen. Die in der Verordnung Nr. 604/2013 vorgesehenen Kriterien zur Bestimmung des für die Bearbeitung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats knüpfen nämlich nicht an die Präferenzen des Antragstellers für einen bestimmten Aufnahmemitgliedstaat an.

(vgl. Rn. 333, 334, 337, 339)

19.    Die Überstellung im Rahmen der Umsiedlung einer Person, die internationalen Schutz beantragt, gemäß Art. 78 Abs. 3 AEUV von einem Mitgliedstaat in einen anderen, die dazu dient, die Prüfung seines Antrags binnen angemessener Fristen zu gewährleisten, kann nicht als Abschiebung in einen Drittstaat angesehen werden. Es handelt sich vielmehr um eine auf Unionsebene getroffene Maßnahme zur Krisenbewältigung, die gewährleisten soll, dass das in Art. 18 der Charta verankerte Grundrecht auf Asyl unter Beachtung des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge wirksam ausgeübt werden kann.

(vgl. Rn. 342, 343)