Language of document : ECLI:EU:T:2021:716

URTEIL DES GERICHTS (Siebte Kammer)

20. Oktober 2021(*)

„Öffentlicher Dienst – Beamte – Disziplinarverfahren – Art. 266 AEUV – Verwaltungsuntersuchungen – Grundsatz der guten Verwaltung – Grundsatz der Unparteilichkeit – Aufhebungs- und Schadensersatzklage“

In der Rechtssache T‑220/20,

Petrus Kerstens, wohnhaft in La Forclaz (Schweiz), Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt C. Mourato,

Kläger,

gegen

Europäische Kommission, vertreten durch B. Mongin und A.‑C. Simon als Bevollmächtigte,

Beklagte,

betreffend eine Klage nach Art. 270 AEUV auf Aufhebung der Mitteilung der Kommission vom 27. März 2017, mit der der Kläger über die Wiederaufnahme eines Disziplinarverfahrens informiert wurde, und der Entscheidung vom 11. Juli 2019, mit der ihm gegenüber eine Ermahnung ausgesprochen wurde, sowie auf Ersatz des Schadens, der ihm aufgrund des Verlaufs und der Dauer von drei Disziplinarverfahren entstanden sein soll,

erlässt

DAS GERICHT (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten R. da Silva Passos sowie der Richter V. Valančius (Berichterstatter) und L. Truchot,

Kanzler: L. Ramette, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. April 2021

folgendes

Urteil

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

1        Der Kläger, Herr Petrus Kerstens, ist ein ehemaliger Beamter der Europäischen Kommission. Er arbeitete beim Amt für die Feststellung und Abwicklung individueller Ansprüche (PMO), bei dem er zwischen 2003 und 2011 Referatsleiter war, und danach als Berater bei der Generaldirektion (GD) „Humanressourcen und Sicherheit“. Seit dem 1. April 2016 befindet er sich im Ruhestand.

2        Der Kläger verfasste zunächst am 20. Juli 2012 im Rahmen der Beilegung einer Streitigkeit zwischen ihm und der Kommission eine interne Mitteilung, woraufhin die Kommission beschloss, ein Disziplinarverfahren mit dem Aktenzeichen CMS 12/063 einzuleiten, weil diese Mitteilung Äußerungen enthalte, die als beleidigend anzusehen seien. Dieses Verfahren führte zum Erlass der Entscheidung vom 15. April 2014, mit der ein Verweis gegen den Kläger verhängt wurde (im Folgenden: Entscheidung vom 15. April 2014).

3        Mit Urteil vom 18. März 2016, Kerstens/Kommission (F‑23/15, EU:F:2016:65), wies das Gericht für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union die Klage gegen die Entscheidung vom 15. April 2014 ab.

4        Gegen dieses Urteil legte der Kläger ein Rechtsmittel ein, dem das Gericht mit Urteil vom 14. Februar 2017, Kerstens/Kommission (T‑270/16 P, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:74), stattgab.

5        In den Rn. 62 bis 70 des Urteils vom 14. Februar 2017, Kerstens/Kommission (T‑270/16 P, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:74), stellte das Gericht fest, dass das Disziplinarverfahren CMS 12/063 eingeleitet worden sei, ohne dass zuvor eine Verwaltungsuntersuchung durchgeführt, der Rechtsmittelführer zuvor angehört und nach Abschluss einer solchen Untersuchung ein Untersuchungsbericht ordnungsgemäß erstellt worden sei. Daher habe die Kommission gegen die ihr obliegenden Pflichten verstoßen. In den Rn. 88 und 89 dieses Urteils gelangte das Gericht zu dem Schluss, dass das Disziplinarverfahren, das die Anstellungsbehörde auf der Grundlage einer solchen Untersuchung und eines entsprechenden Abschlussberichts sowie nach Anhörung des Rechtsmittelführers hätte einleiten müssen, aufgrund dieser Versäumnisse mit wesentlichen Fehlern behaftet sei, so dass nicht auszuschließen sei, dass dieses Verfahren zu einem anderen Ergebnis hätte führen können, wenn die einschlägigen Vorschriften beachtet und der Rechtsmittelführer angehört worden wäre. Das Gericht hob die Entscheidung vom 15. April 2014 folglich auf.

6        Mit Mitteilung vom 6. April 2017 informierte die Anstellungsbehörde den Kläger darüber, dass sie zur Durchführung des Urteils vom 14. Februar 2017, Kerstens/Kommission (T‑270/16 P, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:74), das Untersuchungs- und Disziplinaramt (IDOC) der Kommission angewiesen habe, zum einen das Disziplinarverfahren CMS 12/063 ab initio und unter einer neuen CMS‑Nummer wieder aufzunehmen, und zum anderen den mit der Entscheidung vom 15. April 2014 gegen den Kläger verhängten Verweis aus seiner Personalakte zu entfernen.

7        Am 18. April 2017 legte der Kläger Beschwerde gegen die Mitteilung der Anstellungsbehörde vom 6. April 2017 ein.

8        Am 25. Juli 2017 wies die Anstellungsbehörde diese Beschwerde zurück.

9        In einem weiteren Fall beschloss die Anstellungsbehörde am 7. September 2015 wegen des Verdachts auf Offenlegung vertraulicher Informationen gegenüber einer Person außerhalb des Organs, ein weiteres Disziplinarverfahren mit dem Aktenzeichen CMS 15/017 gegen den Kläger einzuleiten. Der Disziplinarrat gab am 7. April 2016 eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der er die Auffassung vertrat, dass der Kläger seiner Treuepflicht nicht nachgekommen sei und eine Disziplinarstrafe mit finanziellen Folgen gerechtfertigt sei. Aufgrund des vom Kläger gegen das Urteil vom 18. März 2016, Kerstens/Kommission (F‑23/15, EU:F:2016:65), eingelegten Rechtsmittels entschied die Anstellungsbehörde jedoch, dieses Disziplinarverfahren bis zum Abschluss des Rechtsmittelverfahrens auszusetzen, und setzte den Kläger mit Mitteilung vom 19. September 2016 darüber in Kenntnis.

10      Mit Mitteilung vom 27. März 2017 teilte die Kommission dem Kläger mit, dass im Anschluss an das Urteil vom 14. Februar 2017, Kerstens/Kommission (T‑270/16 P, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:74), das Disziplinarverfahren CMS 15/017 wieder aufgenommen worden sei und dass sie das IDOC in Anbetracht der Tatsache, dass dieses vor der Anhörung des Klägers keine Verwaltungsuntersuchung nach Art. 3 des Anhangs IX des Statuts der Beamten der Europäischen Union (im Folgenden: Statut) durchgeführt habe, angewiesen habe, dieses Disziplinarverfahren in dem Stadium wieder aufzunehmen, in dem es zu diesem Versäumnis gekommen sei, das dem vom Gericht in Bezug auf das Verfahren CMS 12/063 festgestellten entspreche. Die vom Kläger am 18. April 2017 gegen diese Mitteilung eingelegte Beschwerde wurde von der Anstellungsbehörde am 25. Juli 2017 zurückgewiesen.

11      Am 10. November 2017 erhob der Kläger eine Aufhebungsklage gegen die Mitteilung vom 27. März 2017 sowie gegen die oben in Rn. 6 genannte Mitteilung vom 6. April 2017. Mit Beschluss vom 26. Juni 2018, Kerstens/Kommission (T‑757/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:391), entschied das Gericht, dass die angefochtenen Mitteilungen keine beschwerenden Maßnahmen darstellten, da sie als vorbereitende Handlungen im Rahmen laufender Disziplinarverfahren einzustufen seien. Dieser Beschluss wurde im Rechtsmittelverfahren mit Beschluss vom 22. Januar 2019, Kerstens/Kommission (C‑577/18 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:129), bestätigt.

12      In einem dritten Fall leitete die Anstellungsbehörde am 27. September 2016 aufgrund des „statutswidrigen Verhaltens“ des Klägers gegenüber Mitgliedern der Verwaltung im Rahmen des Disziplinarverfahrens CMS 15/017 ein weiteres Disziplinarverfahren mit dem Aktenzeichen CMS 16/009 gegen ihn ein.

13      Mit Mitteilung vom 21. Juni 2017 übermittelte das IDOC dem Kläger die Untersuchungsaufträge in den Verfahren CMS 15/017 (jetzt CMS 17/009) und CMS 12/063 (jetzt CMS 17/010). Auf Antrag des Klägers wurde seine Anhörung im Rahmen dieser Verfahren und im Rahmen des Verfahrens CMS 16/009 wiederholt verschoben. Am 4. April 2018 übermittelte das IDOC dem Kläger eine Mitteilung über den ihm zur Last gelegten Sachverhalt und forderte ihn auf, innerhalb einer Frist von zehn Tagen Stellung zu nehmen. Der Bericht über die Verwaltungsuntersuchung wurde der GD Humanressourcen und Sicherheit am 1. August 2018 übermittelt. Die Anhörung des Klägers fand am 28. Januar 2019 statt.

14      Mit Entscheidung vom 11. Juli 2019 (im Folgenden: angefochtene Entscheidung), mit der die Verfahren CMS 16/009, CMS 17/009 und CMS 17/010 abgeschlossen wurden, stellte die Anstellungsbehörde fest, dass das Verhalten des Klägers einen Verstoß gegen die Art. 11, 12 und 17 des Statuts darstelle. Sie beschloss jedoch, kein Disziplinarverfahren gegen den Kläger einzuleiten und ihm gegenüber eine Ermahnung nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. b des Anhangs IX des Statuts auszusprechen.

15      Am 29. August 2019 legte der Kläger Beschwerde gegen diese Entscheidung ein. Diese Beschwerde wurde durch Entscheidung der Anstellungsbehörde vom 19. Dezember 2019 zurückgewiesen.

 Verfahren und Anträge der Parteien

16      Mit Schriftsatz, der am 16. April 2020 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat der Kläger die vorliegende Klage erhoben.

17      Das schriftliche Verfahren ist am 4. November 2020 abgeschlossen worden.

18      Am 30. November 2020 hat der Kläger gemäß Art. 106 der Verfahrensordnung des Gerichts die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.

19      Auf Vorschlag des Berichterstatters hat das Gericht (Siebte Kammer) dem Antrag des Klägers stattgegeben und das mündliche Verfahren eröffnet.

20      Die Parteien haben in der Sitzung vom 22. April 2021 mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet.

21      Der Kläger beantragt,

–        die angefochtene Entscheidung sowie die Mitteilung der Anstellungsbehörde vom 27. März 2017, mit der er über die Wiederaufnahme des Verfahrens CMS 15/017 (jetzt CMS 17/009) informiert wurde, aufzuheben;

–        die Kommission zu verurteilen, ihm einen Betrag von 30 000 Euro als Ersatz des erlittenen immateriellen Schadens zu zahlen;

–        der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

22      Die Kommission beantragt im Wesentlichen,

–        die Klage in vollem Umfang abzuweisen;

–        dem Kläger die Kosten aufzuerlegen.

 Rechtliche Würdigung

 Zu den Aufhebungsanträgen

23      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht mit Beschluss vom 26. Juni 2018, Kerstens/Kommission (T‑757/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:391), bereits entschieden hat, dass die Mitteilung vom 27. März 2017 keine beschwerende Maßnahme darstellt. Daher ist festzustellen, dass der Antrag auf Aufhebung dieser Mitteilung unzulässig ist.

24      Zur Stützung seiner Aufhebungsanträge macht der Kläger drei Klagegründe geltend. Erstens rügt er einen Verstoß gegen Art. 266 AEUV, da die Kommission ungeeignete Maßnahmen zur Durchführung des Urteils vom 14. Februar 2017, Kerstens/Kommission (T‑270/16 P, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:74), bezüglich der Entscheidung vom 15. April 2014, mit der im Rahmen des Disziplinarverfahrens CMS 12/063 (jetzt CMS 17/010) ein Verweis gegen ihn verhängt worden sei, ergriffen und gegen den Grundsatz ne bis in idem verstoßen habe. Zweitens macht er einen Verstoß gegen Art. 266 AEUV, den Grundsatz der guten Verwaltung einschließlich der Pflicht zur unparteiischen und gerechten Behandlung von Angelegenheiten, den Grundsatz der Unschuldsvermutung und die Verteidigungsrechte geltend. Drittens rügt er schließlich einen Verstoß gegen Art. 266 AEUV, die Verfahrensvorschriften für Verwaltungsuntersuchungen und Disziplinarverfahren, die Verteidigungsrechte und die Begründungspflicht.

25      Zunächst ist der zweite Klagegrund zu prüfen.

26      Im Rahmen dieses Klagegrundes macht der Kläger im Wesentlichen geltend, dass in jedem neuen Disziplinarverfahren die Unparteilichkeit und eine gerechte Behandlung garantiert werden müssten, wie es der in Art. 41 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerte Grundsatz der guten Verwaltung vorsehe. Der Grundsatz der Unparteilichkeit habe sowohl eine subjektive als auch eine objektive Dimension, was bedeute, dass die Disziplinarbehörde zum einen nicht voreingenommen handeln oder persönliche Vorurteile an den Tag legen dürfe und zum anderen objektiv unparteilich sein und sämtliche hinreichenden Garantien bieten müsse, um insoweit jeden berechtigten Zweifel in dieser Hinsicht auszuschließen.

27      Nach Ansicht des Klägers hatte die Wiederaufnahme der Disziplinarverfahren im vorliegenden Fall zur Folge, dass dieselben Verwaltungsbehörden und dieselben Verantwortlichen die von ihnen bereits bearbeiteten Akten unter Verstoß der oben in Rn. 26 angeführten Grundsätze erneut hätten prüfen müssen.

28      Ferner habe die Anstellungsbehörde dadurch gegen ihre Pflicht zur objektiven Unparteilichkeit verstoßen, dass sie die drei Disziplinarverfahren CMS 12/063 (jetzt CMS 17/010), CMS 15/017 (jetzt CMS 17/009) und CMS 16/009 zu einer einheitlichen Untersuchung verbunden habe. Diese Verbindung der Verfahren zeige nämlich, dass die Anstellungsbehörde die Vorwürfe gegen den Kläger schwerer gewichten und das Verfahren CMS 12/063 (jetzt CMS 17/010) durch einen Disziplinarrat habe prüfen lassen wollen. Die drei Verwaltungsuntersuchungen seien getrennt durchgeführt worden, und erst am Ende dieser Untersuchungen seien die drei Berichte dem einheitlichen Abschlussbericht des IDOC als Anlagen beigefügt worden.

29      Der Kläger weist schließlich darauf hin, dass es sich bei der Person, die innerhalb des IDOC für die Untersuchungen in Bezug auf die beiden Disziplinarverfahren CMS 12/063 (jetzt CMS 17/010) und CMS 15/017 (jetzt CMS 17/009) zuständig gewesen sei, um die Person handele, die den im Rahmen des letztgenannten Verfahrens geprüften Sachverhalt gemeldet habe. Er stellt ihre subjektive Unparteilichkeit sowie die der Generaldirektorin der GD Humanressourcen und Sicherheit, die an mehreren Verfahren gegen ihn beteiligt gewesen sei, in Frage. Er stellt auch die objektive Unparteilichkeit des einheitlichen Untersuchungsverfahrens in Frage, weil die Person, die die Meldung vorgenommen habe, als Verantwortliche für die Durchführung dieses Verfahrens an selbigem beteiligt gewesen sei.

30      Die Kommission macht geltend, dass die drei Disziplinarverfahren gegen den Kläger aus Gründen der Verfahrensökonomie verbunden worden seien. Das IDOC und die Anstellungsbehörde hätten damit nicht versucht, die Lage des Klägers zu verschlechtern oder zu seinem Nachteil zu handeln, sondern es vielmehr ermöglicht, dass gegen den Kläger für den gesamten, diesen drei Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalt lediglich eine Ermahnung ausgesprochen worden sei.

31      Was die in Frage gestellte Unparteilichkeit der Leiterin der Untersuchungen sowie der Generaldirektorin der GD Humanressourcen und Sicherheit betreffe, bringe der Kläger lediglich Andeutungen oder Befürchtungen vor, die nicht verifiziert werden könnten. Gleiches gelte für die Infragestellung der Unparteilichkeit des Untersuchungsverfahrens, weil die Person, die den dem Verfahren CMS 15/017 (jetzt CMS 17/009) zugrunde liegenden Sachverhalt gemeldet habe, als Leiterin am Untersuchungsverfahren beteiligt gewesen sei.

32      Es ist darauf hinzuweisen, dass Art. 41 der Charta, die nach Art. 6 Abs. 1 EUV mit den Verträgen rechtlich gleichrangig ist, das Recht auf eine gute Verwaltung verankert. Dieses Recht umfasst nach Art. 41 Abs. 1 der Charta u. a. das Recht jeder Person darauf, dass ihre Angelegenheiten von den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union unparteiisch behandelt werden.

33      Nach der Rechtsprechung ist die Verwaltung gemäß dem Grundsatz der guten Verwaltung dazu verpflichtet, alle relevanten Aspekte des ihr unterbreiteten Falls sorgfältig und unparteiisch zu prüfen, alle für die Ausübung ihres Ermessens erforderlichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände zusammenzutragen sowie den sachgerechten Ablauf und die Effizienz der von ihr durchgeführten Verfahren zu gewährleisten (vgl. Urteil vom 26. September 2014, B&S Europe/Kommission, T‑222/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:837, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34      Es ist ferner darauf hinzuweisen, dass das Unparteilichkeitsgebot zum einen die subjektive Unparteilichkeit in dem Sinne umfasst, dass kein Mitglied des betroffenen Organs, das mit der Sache befasst ist, Voreingenommenheit oder persönliche Vorurteile an den Tag legen darf, und zum anderen die objektive Unparteilichkeit in dem Sinne, dass das Organ hinreichende Garantien bieten muss, um jeden berechtigten Zweifel in dieser Hinsicht auszuschließen (vgl. Urteil vom 7. November 2019, ADDE/Parlament, T‑48/17, EU:T:2019:780, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung). Bei der Prüfung der Unparteilichkeit eines Kollegialverfahrens ist der Umstand, dass die Zweifel hinsichtlich des äußeren Eindrucks von Unparteilichkeit nur eine einzige Person innerhalb eines Kollegialorgans betreffen, nicht unbedingt entscheidend, da diese Person bei den Beratungen möglicherweise einen entscheidenden Einfluss hatte (Urteil vom 7. November 2019, ADDE/Parlament, T‑48/17, EU:T:2019:780, Rn. 58).

35      Was die subjektive Unparteilichkeit betrifft, ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass diese bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird (vgl. Urteil vom 27. November 2018, Mouvement pour une Europe des nations et des libertés/Parlament, T‑829/16, EU:T:2018:840, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36      Hierzu ist festzustellen, dass der Kläger im vorliegenden Fall keine Beweise vorgelegt hat, die Zweifel an der subjektiven Unparteilichkeit des Untersuchungsverfahrens begründen würden.

37      Was die objektive Unparteilichkeit einer Untersuchung anbelangt, so hat das Gericht bereits anerkannt, dass diese nicht gegeben ist, wenn einer der Untersuchungsbeauftragten nachgewiesenermaßen vor Einleitung der Untersuchung Kenntnis des ihr zugrunde liegenden Sachverhalts hatte, da er von einem Beschwerdeführer persönlich konsultiert worden war, und das betreffende Organ eine Person als Untersuchungsbeauftragten hätte benennen können, die keine Vorkenntnisse über den Sachverhalt hatte und somit keine berechtigten Zweifel an ihrer Unparteilichkeit beim Gegenüber hätte aufkommen lassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. September 2019, UZ/Parlament, T‑47/18, mit Rechtsmittel angefochten, EU:T:2019:650, Rn. 51 bis 56).

38      Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass es sich bei der Person, die für die Durchführung der für die drei Verfahren CMS 16/009, CMS 15/017 (jetzt CMS 17/009) und CMS 12/063 (jetzt CMS 17/010) eingeleiteten einheitlichen Untersuchung verantwortlich war, um jene handelte, die den dem Verfahren CMS 15/017 (jetzt CMS 17/009) zugrunde liegenden Sachverhalt gemeldet hatte, nämlich die Leiterin des Referats „HR IDOC 1“.

39      Außerdem steht fest, dass diese Person als Leiterin der einheitlichen Untersuchung für die drei Disziplinarverfahren anschließend bei der im Rahmen des Verfahrens CMS 15/017 (jetzt CMS 17/009) durchgeführten Untersuchung eine aktive Rolle einnehmen konnte. Zum einen wies diese Person den Kläger mit Mitteilung vom 21. Juni 2017 nämlich darauf hin, dass sie am 1. Juni 2017 zur Leiterin dieser Untersuchung berufen worden sei und zu diesem Zweck zwei Untersuchungsbeauftragte bestimmt habe. Zum anderen wurde der Abschlussbericht der Untersuchung von ihr unterzeichnet, wodurch ihre tatsächliche Beteiligung an der Untersuchung belegt wird.

40      Hierzu hat die Kommission in der mündlichen Verhandlung eingeräumt, dass die aktive Rolle dieser Person zwar nicht konkret festgelegt gewesen sei, dass sie aber in ihrer Eigenschaft als für die Durchführung, die Qualität und die Vollständigkeit der betreffenden Untersuchung Verantwortliche bei Erhalt des Untersuchungsentwurfs habe eingreifen können.

41      In diesem Sinne ist bereits entschieden worden, dass ein Untersuchungsbeauftragter seine Untersuchungsbefugnisse unter der Aufsicht des für die Verwaltungsuntersuchung Verantwortlichen ausübt, der ihm Weisungen erteilen kann (Urteil vom 5. Oktober 2020, Broughton/Eurojust, T‑87/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2020:464, Rn. 70). Daraus folgt, dass sich die Funktion des für eine Verwaltungsuntersuchung Verantwortlichen nicht auf eine passive Rolle beschränkt und dieser stets über die Möglichkeit verfügt, in eine laufende Untersuchung einzugreifen.

42      Somit ist davon auszugehen, dass in der in Rede stehenden Situation, die durch die oben in Rn. 38 festgestellte Personenidentität geprägt war, die objektive Gefahr bestand, dass die für die Durchführung der einheitlichen Untersuchung Verantwortliche hinsichtlich der Frage, ob und inwieweit der Kläger in den ihm im Verfahren CMS 15/017 (jetzt CMS 17/009) zur Last gelegten Sachverhalt verwickelt war, bereits vor der Untersuchung eine vorgefasste Meinung oder Vorurteile hatte. Insbesondere angesichts der Rolle dieser Person im Verlauf der Untersuchung und des Einflusses, den sie auf den Inhalt des Abschlussberichts haben konnte, ist davon auszugehen, dass eine solche Situation beim Kläger berechtigte Zweifel an der objektiven Unparteilichkeit dieser Untersuchung hervorrufen kann. Insoweit ist das Gericht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht verpflichtet, zu prüfen, ob die für die Durchführung der einheitlichen Untersuchung Verantwortliche gegenüber dem Kläger tatsächlich Vorurteile hatte, da es genügt, dass ein berechtigter Zweifel besteht und nicht ausgeräumt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. März 2019, August Wolff und Remedia/Kommission, C‑680/16 P, EU:C:2019:257, Rn. 37).

43      Unter diesen Umständen macht der Kläger zu Recht geltend, dass die Kommission das im Rahmen der Wiederaufnahme der drei Disziplinarverfahren durchgeführte Untersuchungsverfahren nicht so organisiert habe, dass ihm hinreichende Garantien hinsichtlich der objektiven Unparteilichkeit dieses Verfahrens geboten worden seien. Dieser Umstand kann dazu führen, dass das Disziplinarverfahren insgesamt fehlerhaft ist.

44      Nach ständiger Rechtsprechung kann ein Verfahrensfehler jedoch nur dann die Aufhebung einer Maßnahme rechtfertigen, wenn das Verfahren ohne diesen Fehler zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Februar 2017, Kerstens/Kommission, T‑270/16 P, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:74, Rn. 74 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45      Im Rahmen dieser Prüfung sind sämtliche Umstände des Falles und insbesondere die Art der Rügen und der Umfang der Verfahrensfehler zu berücksichtigen, die hinsichtlich der Garantien, die der Beamte in Anspruch nehmen konnte, begangen wurden (Urteil vom 15. April 2015, Pipiliagkas/Kommission, F‑96/13, EU:F:2015:29, Rn. 65).

46      Das Disziplinarverfahren nach Anhang IX des Statuts sieht zwei verschiedene Abschnitte vor. Im ersten Abschnitt wird eine unparteiische Verwaltungsuntersuchung durchgeführt, die durch eine Entscheidung der Anstellungsbehörde eingeleitet wird, an die sich die Erstellung eines Untersuchungsberichts anschließt und die, nachdem der Betroffene zu dem ihm zur Last gelegten Sachverhalt gehört wurde, mit aus diesem Bericht gezogenen Schlussfolgerungen beendet wird. Der zweite Abschnitt ist das eigentliche Disziplinarverfahren, das von der Anstellungsbehörde auf der Grundlage des Untersuchungsberichts eingeleitet wird. In diesem Abschnitt wird entweder ein Disziplinarverfahren ohne Befassung des Disziplinarrats eingeleitet, oder dieser wird auf der Grundlage eines Berichts befasst, den die Anstellungsbehörde entsprechend den Schlussfolgerungen der Untersuchung und der diesbezüglichen Stellungnahme des Betroffenen erstellt hat.

47      Daraus folgt, dass der Verwaltungsuntersuchung wesentliche Bedeutung zukommt und sie sich auf das Disziplinarverfahren auswirken kann. Die Anstellungsbehörde beurteilt nämlich auf der Grundlage dieser Untersuchung und der Anhörung des betroffenen Beamten erstens, ob ein Disziplinarverfahren einzuleiten ist, zweitens, ob dabei gegebenenfalls der Disziplinarrat zu befassen ist, und drittens, wenn das Verfahren vor dem Disziplinarrat eingeleitet wird, mit welchem Sachverhalt dieser befasst wird.

48      Daher lässt sich nicht ausschließen, dass die Verwaltungsuntersuchung, wäre sie unter Wahrung sämtlicher Garantien für die Unparteilichkeit durchgeführt worden, zu einer anderen Bewertung des Sachverhalts und somit zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Februar 2017, Kerstens/Kommission, T‑270/16 P, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:74, Rn. 82).

49      Unter diesen Umständen konnte der Kläger berechtigte Zweifel an der objektiven Unparteilichkeit der Untersuchung und folglich der gegen ihn gerichteten Disziplinarverfahren hegen.

50      Nach alledem ist dem zweiten Klagegrund stattzugeben und damit die angefochtene Entscheidung aufzuheben, ohne dass die übrigen vom Kläger geltend gemachten Klagegründe geprüft zu werden brauchen.

 Zum Antrag auf Schadensersatz

51      Der Kläger beantragt, die Kommission zu verurteilen, ihm insgesamt 30 000 Euro als Ersatz seines immateriellen Schadens zu zahlen. Die drei in Rede stehenden Disziplinarverfahren mit einer Dauer von fast acht Jahren bzw. sechs Jahren und vier Jahren hätten ihm Stress und gesundheitliche Probleme verursacht. Außerdem hätten sie sein Ansehen und seinen Ruf geschädigt, obwohl sein beruflicher Werdegang bis dahin untadelig gewesen sei.

52      Die Kommission tritt dem Vorbringen des Klägers entgegen und beantragt, den Schadensersatzantrag zurückzuweisen.

53      Es ist darauf hinzuweisen, dass die Haftung der Union im Bereich des öffentlichen Dienstes nach ständiger Rechtsprechung von der Erfüllung mehrerer Voraussetzungen abhängt, nämlich davon, dass das dem betreffenden Unionsorgan vorgeworfene Verhalten rechtswidrig war, dass tatsächlich ein Schaden eingetreten ist und dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem behaupteten Verhalten und dem geltend gemachten Schaden besteht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 1. Juni 1994, Kommission/Brazzelli Lualdi u. a., C‑136/92 P, EU:C:1994:211, Rn. 42, und vom 16. Dezember 2010, Kommission/Petrilli, T‑143/09 P, EU:T:2010:531, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung). Diese drei Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein, was bedeutet, dass eine Haftung der Union ausscheidet, wenn eine von ihnen nicht vorliegt (vgl. Urteil vom 26. Oktober 2017, Paraskevaidis/Cedefop, T‑601/16, EU:T:2017:757, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung).

54      Folglich haftet, auch wenn ein Verstoß eines Organs oder einer Einrichtung oder sonstigen Stelle der Union nachgewiesen ist, die Union nur dann, wenn insbesondere der Kläger nachweisen konnte, dass sein Schaden tatsächlich entstanden ist (vgl. Urteil vom 26. Oktober 2017, Paraskevaidis/Cedefop, T‑601/16, EU:T:2017:757, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55      Es ist ferner daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung die Aufhebung einer rechtswidrigen Maßnahme als solche eine angemessene und grundsätzlich hinreichende Wiedergutmachung für den gesamten immateriellen Schaden sein kann, den diese Maßnahme möglicherweise verursacht hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. Juli 1987, Hochbaum und Rawes/Kommission, 44/85, 77/85, 294/85 und 295/85, EU:C:1987:348, Rn. 22, und vom 9. November 2004, Montalto/Rat, T‑116/03, EU:T:2004:325, Rn. 127 und die dort angeführte Rechtsprechung).

56      Hingegen kann die Aufhebung einer rechtswidrigen Maßnahme als solche keine angemessene Wiedergutmachung sein, wenn die klagende Partei nachweist, dass sie einen von der Rechtswidrigkeit, auf der die Aufhebung beruht, abtrennbaren immateriellen Schaden erlitten hat, der durch diese Aufhebung nicht in vollem Umfang wiedergutgemacht werden kann (vgl. Urteil vom 19. November 2009, Michail/Kommission, T‑49/08 P, EU:T:2009:456, Rn. 88 und die dort angeführte Rechtsprechung).

57      Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass der vom Kläger behauptete immaterielle Schaden unmittelbar auf der Rechtswidrigkeit des im Zuge der Wiederaufnahme der drei in Rede stehenden Disziplinarverfahren eingeleiteten Untersuchungsverfahrens beruht.

58      Der Kläger behauptet zwar, dass diese Verfahren aufgrund ihrer Dauer zu Stress und gesundheitlichen Problemen geführt sowie sein Ansehen und seinen Ruf geschädigt hätten, bringt aber zur Stützung seiner Behauptungen keinen konkreten Anhaltspunkt vor, der einen solchen Schaden belegen könnte.

59      Daher ist das Gericht der Auffassung, dass sämtliche immaterielle Schäden, die der Kläger möglicherweise erlitten hat, durch die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung angemessen und hinreichend wiedergutgemacht werden.

60      Folglich ist der Schadensersatzantrag zurückzuweisen.

61      Nach alledem ist der Klage stattzugeben, soweit sie auf die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung gerichtet ist. Im Übrigen ist die Klage abzuweisen.

 Kosten

62      Nach Art. 134 Abs. 3 der Verfahrensordnung trägt, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt, jede Partei ihre eigenen Kosten. Das Gericht kann jedoch entscheiden, dass eine Partei außer ihren eigenen Kosten einen Teil der Kosten der Gegenpartei trägt, wenn dies in Anbetracht der Umstände des Einzelfalls gerechtfertigt erscheint.

63      Da der Klage teilweise stattgegeben worden ist, erscheint es bei angemessener Berücksichtigung der Umstände des Falles geboten, dem Kläger ein Drittel seiner eigenen Kosten und der Kommission die übrigen Kosten des Klägers sowie ihre eigenen Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Siebte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Entscheidung der Europäischen Kommission vom 11. Juli 2019, mit der Herrn Petrus Kerstens gegenüber eine Ermahnung ausgesprochen wurde, wird aufgehoben.

2.      Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

3.      Die Kommission trägt ihre eigenen Kosten sowie zwei Drittel der Kosten von Herrn Kerstens.

da Silva Passos

Valančius

Truchot

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 20. Oktober 2021.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Französisch.