Language of document : ECLI:EU:C:2022:879

Rechtssache C646/20

Senatsverwaltung für Inneres und Sport, Standesamtsaufsicht

gegen

TB

(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs)

 Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 15. November 2022

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Ehescheidung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Art. 2 Nr. 4 und Art. 21 – Begriff ‚Entscheidung‘ – Anerkennung einer Eheauflösung in einem Mitgliedstaat, über die die Ehegatten in einer Vereinbarung übereingekommen sind und die von einem Standesbeamten eines anderen Mitgliedstaats ausgesprochen wurde – Kriterium für die Feststellung, ob eine ‚Entscheidung‘ vorliegt“

Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung Nr. 2201/2003 – Anerkennung und Vollstreckung – Begriff „Entscheidung“ – Bedeutung – Scheidungsurkunde, die von einem Standesbeamten eines Mitgliedstaats unter den im Recht dieses Staates vorgesehenen Bedingungen errichtet wurde – Einbeziehung

(Übereinkommen vom 27. September 1968, Art. 25; Verordnung Nr. 2201/2003 des Rates, Art. 2 Nr. 4, Art. 21, 22 und 46, und Verordnung 2019/1111 des Rates, 14. Erwägungsgrund sowie Art. 30 und 65)

(vgl. Rn. 48, 49, 53-55, 59-61, 67 und Tenor)


Zusammenfassung

TB, eine sowohl deutsche als auch italienische Staatsangehörige, schloss 2013 die Ehe mit RD, einem italienischen Staatsangehörigen, in Berlin (Deutschland), wo die Ehe im Eheregister beurkundet wurde. 2017 leiteten beide beim Standesamt Parma (Italien) ein außergerichtliches Ehescheidungsverfahren ein. Getreu dem italienischen Recht(1) erschienen sie mehrmals vor dem Standesbeamten, um ihren Willen, ihre Ehe aufzulösen, zu bekunden und zu bestätigen. Am Ende dieses Verfahrens stellte der Standesbeamte TB die Bescheinigung nach Art. 39 der Brüssel‑IIa-Verordnung(2) aus, mit der ihre Scheidung von RD bestätigt wird.

TB ersuchte daraufhin um Beurkundung der Ehescheidung im Eheregister Berlin. Daraus entstand ein Rechtsstreit über die Frage, ob die Beurkundung der Ehescheidung nicht eine vorherige Anerkennung durch die zuständige Landesjustizverwaltung voraussetzt, die nach deutschem Recht für ausländische Entscheidungen in Ehesachen vorgesehen ist. Der mit einer Rechtsbeschwerde befasste Bundesgerichtshof (Deutschland) beschloss, dem Gerichtshof Fragen zum Begriff der „Entscheidung“ über eine Ehescheidung im Sinne der Brüssel‑IIa-Verordnung vorzulegen. Er sieht sich insbesondere vor die Frage gestellt, ob die Regelungen dieser Verordnung über die Anerkennung von Entscheidungen über Ehescheidungen im Fall einer außergerichtlichen Scheidung wie der im italienischen Recht vorgesehenen zur Anwendung gelangen, womit es in Deutschland keines vorherigen Anerkennungsverfahrens bedürfte.

Der Gerichtshof (Große Kammer) urteilt, dass eine von einem Standesbeamten eines Mitgliedstaats errichtete Scheidungsurkunde, die eine Vereinbarung der Ehegatten über die Ehescheidung enthält, die sie vor dem Standesbeamten getreu den in den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen bestätigt haben, namentlich für die Zwecke der Anwendung der Anerkennungsregel von Art. 21 Abs. 1 der Brüssel‑IIa-Verordnung eine „Entscheidung“ im Sinne von Art. 2 Nr. 4 dieser Verordnung darstellt.

Würdigung durch den Gerichtshof

Als Erstes stellt der Gerichtshof unter Verweis u. a. auf die Definitionen der Begriffe „Entscheidung“ und „Gericht“ in Art. 2 Nrn. 1 und 4 der Brüssel‑IIa-Verordnung fest, dass diese Verordnung Entscheidungen in einem Mitgliedstaat(3) über Ehescheidungen am Ende nicht nur eines gerichtlichen, sondern auch eines außergerichtlichen Verfahrens erfasst, sofern das Recht der Mitgliedstaaten auch nicht gerichtlichen Behörden Zuständigkeiten in Ehescheidungssachen zuweist. Daher muss jede Entscheidung solcher nicht gerichtlichen Behörden grundsätzlich nach Art. 21 der Brüssel‑IIa-Verordnung in den anderen Mitgliedstaaten automatisch anerkannt werden.

Als Zweites stellt der Gerichtshof zum Grad der Kontrolle, die von der in Ehescheidungssachen zuständigen Behörde auszuüben ist, damit die von ihr namentlich im Rahmen einer einvernehmlichen Scheidung errichtete Scheidungsurkunde als „Entscheidung“ eingestuft werden kann, unter Verweis auf seine Rechtsprechung(4) zur Anerkennung von Entscheidungen klar, dass jede Behörde, die eine „Entscheidung“ im Sinne von Art. 2 Nr. 4 der Brüssel‑IIa-Verordnung zu treffen hat, die Kontrolle über den Ausspruch der Ehescheidung behalten muss. Diese Voraussetzung impliziert im Rahmen einvernehmlicher Ehescheidungen, dass die Behörde eine Prüfung der Scheidungsvoraussetzungen anhand des nationalen Rechts vornimmt und prüft, ob das Einvernehmen der Ehegatten über die Scheidung tatsächlich gegeben und gültig ist.

Im Übrigen stellt der Gerichtshof fest, dass diese Voraussetzung unter dem Blickwinkel der Kontinuität auch in die Brüssel‑IIb-Verordnung(5) übernommen wurde, mit der die Brüssel‑IIa-Verordnung neu gefasst und mit Wirkung vom 1. August 2022 aufgehoben wurde. Aus der Entstehungsgeschichte der Brüssel‑IIb-Verordnung ergibt sich nämlich, dass es dem Unionsgesetzgeber nicht um die Einführung neuer Regelungen ging, sondern um die „Präzisierung“ zum einen der Tragweite der bereits in Art. 46 der Brüssel‑IIa-Verordnung enthaltenen Regelung über öffentliche Urkunden und Vereinbarungen zwischen den Parteien und zum anderen des Kriteriums zur Abgrenzung des Begriffs „Entscheidung“ von den Begriffen „öffentliche Urkunde“ und „Vereinbarung zwischen den Parteien“, bei dem es sich um das Kriterium der Prüfung in der Sache handelt.

Daher ist eine Ehescheidungsvereinbarung, wenn sie von einer zuständigen nicht gerichtlichen Behörde nach einer Prüfung in der Sache gebilligt wurde, als „Entscheidung“ gemäß Art. 21 der Brüssel‑IIa-Verordnung und Art. 30 der Brüssel‑IIb-Verordnung anzuerkennen. Hingegen werden andere Ehescheidungsvereinbarungen, die im Ursprungsmitgliedstaat verbindliche Rechtswirkung haben, je nach Fall als öffentliche Urkunden oder Vereinbarungen gemäß Art. 46 der Brüssel‑IIa-Verordnung und Art. 65 der Brüssel‑IIb-Verordnung anerkannt.

In Anbetracht dieser Erwägungen gelangt der Gerichtshof im vorliegenden Fall zu dem Ergebnis, dass eine „Entscheidung“ im Sinne von Art. 2 Nr. 4 der Brüssel‑IIa-Verordnung vorliegt.

Nach italienischem Recht(6) muss der Standesbeamte nämlich von jedem Ehegatten persönlich und zweimal im Abstand von mindestens 30 Tagen die betreffenden Erklärungen einholen, was bedeutet, dass er sich vergewissert, dass ihr Einvernehmen zur Scheidung gültig, aus freien Stücken und in Kenntnis der Sachlage erteilt wird. Im Übrigen prüft der Standesbeamte den Inhalt der Ehescheidungsvereinbarung, indem er sich insbesondere vergewissert, dass sie sich nur auf die Auflösung der Ehe oder die Beendigung der zivilen Wirkungen der Ehe unter Ausschluss jeder Übertragung von Vermögenswerten bezieht und dass die Ehegatten weder minderjährige Kinder noch volljährige geschäftsunfähige, schwerbehinderte oder wirtschaftlich unselbständige Kinder haben. Sind eine oder mehrere der nach italienischem Recht vorgesehenen rechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt, ist der Standesbeamte nicht befugt, die Ehescheidung nach italienischem Recht auszusprechen.


1      Art. 12 des Decreto-legge n. 132 – Misure urgenti di degiurisdizionalizzazione ed altri interventi per la definizione dell’arretrato in materia di processo civile (Gesetzesdekret Nr. 132 über Dringlichkeitsmaßnahmen zur außergerichtlichen Streitbeilegung und sonstige Maßnahmen zur Auflösung der Rückstände bei der Bearbeitung von Zivilverfahren) vom 12. September 2014 (GURI Nr. 212 vom 12. September 2014), das mit Änderungen durch die Legge n. 162 (Gesetz Nr. 162) vom 10. November 2014 (GURI Nr. 261 vom 10. November 2014) in ein Gesetz umgewandelt wurde (im Folgenden: Gesetzesdekret Nr. 132/2014).


2      Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1, im Folgenden: Brüssel‑IIa-Verordnung).


3      Nach Art. 2 Nr. 3 der Brüssel‑IIa-Verordnung erfasst der Begriff „Mitgliedstaat“ jeden Mitgliedstaat der Union mit Ausnahme des Königreichs Dänemark.


4      Urteile vom 2. Juni 1994, Solo Kleinmotoren (C‑414/92, EU:C:1994:221), und vom 20. Dezember 2017, Sahyouni (C‑372/16, EU:C:2017:988).


5      Verordnung (EU) 2019/1111 des Rates vom 25. Juni 2019 über die Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und über internationale Kindesentführungen (ABl. 2019, L 178, S. 1, im Folgenden: Brüssel‑IIb-Verordnung).


6      Art. 12 des Gesetzesdekrets Nr. 132/2014.