Language of document : ECLI:EU:C:2024:299

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)

11. April 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Zollunion – Verordnung (EU) Nr. 952/2013 – Erstinstanzliche Urteile, mit denen Zollmaßnahmen in Bezug auf die traditionellen Eigenmittel der Europäischen Union aufgehoben werden – Sofortige Vollstreckbarkeit dieser Urteile – Keine Aussetzung der Vollziehung der Urteile“

In der Rechtssache C‑770/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte di giustizia tributaria di primo grado di Genova (vormals Commissione tributaria provinciale di Genova) (Finanzgericht erster Instanz Genua, vormals Provinzfinanzkommission Genua, Italien) mit Entscheidung vom 22. November 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Dezember 2022, in dem Verfahren

OSTP Italy Srl

gegen

Agenzia delle Dogane e dei Monopoli, Ufficio delle Dogane di Genova 1,

Agenzia delle Dogane e dei Monopoli, Ufficio delle Dogane di Genova 2,

Agenzia delle Entrate – Riscossione – Genova

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten Z. Csehi, des Präsidenten der Fünften Kammer E. Regan (Berichterstatter) und des Richters D. Gratsias,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der OSTP Italy Srl, vertreten durch R. Dominici, A. Macchi, F. Munari und S. Pedemonte, Avvocati,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von F. Meloncelli, Avvocato dello Stato,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Clotuche‑Duvieusart und F. Moro als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 43 bis 45 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (ABl. 2013, L 269, S. 1, im Folgenden: Zollkodex der Union).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der OSTP Italy Srl (im Folgenden: OSTP) auf der einen und der Agenzia delle Dogane e dei Monopoli, Ufficio delle Dogane di Genova 1 (Zoll- und Monopolagentur, Zollamt Genua 1, Italien), der Agenzia delle Dogane e dei Monopoli, Ufficio delle Dogane di Genova 2 (Zoll- und Monopolagentur, Zollamt Genua 2, Italien) (im Folgenden zusammen: Zoll- und Monopolagentur) sowie der Agenzia delle Entrate – Riscossione – Genova (Agentur der Einnahmen – Erhebung – Genua, Italien) (im Folgenden: Finanzverwaltung) auf der anderen Seite. Der Rechtsstreit betrifft die Vollstreckung eines sich auf traditionelle Eigenmittel der Europäischen Union beziehenden Anspruchs, wobei die Vollstreckung durch eine Entscheidung eines nationalen Gerichts aufgehoben worden war, gegen die aber ein Rechtsmittel anhängig ist.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Zollkodex der Union

3        Art. 43 („Von einem Gericht erlassene Entscheidungen“) des Zollkodex der Union bestimmt:

„Die Artikel 44 und 45 gelten nicht für Rechtsbehelfe, die im Hinblick auf die Rücknahme, den Widerruf oder die Änderung einer von einem Gericht oder von einer Zollbehörde, die als Gericht handelt, im Zusammenhang mit der Anwendung der zollrechtlichen Vorschriften erlassenen Entscheidung eingelegt werden.“

4        Art. 44 („Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs“) des Zollkodex der Union bestimmt:

„(1)      Jede Person hat das Recht, einen Rechtsbehelf gegen eine von den Zollbehörden im Zusammenhang mit der Anwendung der zollrechtlichen Vorschriften erlassene Entscheidung einzulegen, die sie unmittelbar und persönlich betrifft.

Jede Person, deren Antrag auf Erlass einer Entscheidung durch die Zollbehörden nicht innerhalb der in Artikel 22 Absatz 3 genannten Frist entsprochen wird, ist ebenfalls berechtigt, einen Rechtsbehelf einzulegen.

(2)      Das Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs kann in einem mindestens zweistufigen Verfahren ausgeübt werden:

a)      auf der ersten Stufe bei einer Zollbehörde oder einem Gericht oder einer von den Mitgliedstaaten für diesen Zweck benannten anderen Stelle,

b)      auf der zweiten Stufe bei einer höheren unabhängigen Stelle, bei der es sich nach Maßgabe der geltenden Vorschriften der Mitgliedstaaten um ein Gericht oder eine gleichwertige spezialisierte Stelle handeln kann.

(3)      Der Rechtsbehelf wird in dem Mitgliedstaat eingelegt, in dem die Entscheidung erlassen oder beantragt worden ist.

(4)      Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass das Rechtsbehelfsverfahren eine umgehende Bestätigung oder Berichtigung der von den Zollbehörden erlassenen Entscheidung ermöglicht.“

5        Art. 45 („Aussetzung der Vollziehung“) des Zollkodex der Union bestimmt:

„(1)      Die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung hat keine aufschiebende Wirkung.

(2)      Die Zollbehörden setzen jedoch die Vollziehung der Entscheidung ganz oder teilweise aus, wenn sie begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung haben oder wenn dem Beteiligten ein unersetzbarer Schaden entstehen könnte.

(3)      In den in Absatz 2 genannten Fällen, in denen aus der angefochtenen Entscheidung die Pflicht zur Entrichtung von Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben erwächst, wird die Vollziehung der Entscheidung nur gegen Sicherheitsleistung ausgesetzt, es sei denn, es wird auf der Grundlage einer dokumentierten Bewertung festgestellt, dass durch die Leistung einer solchen Sicherheit dem Schuldner ernste wirtschaftliche oder soziale Schwierigkeiten entstehen könnten.“

6        Art. 90 („Zwingend vorgeschriebene Sicherheitsleistung“) Abs. 1 Unterabs. 1 des Zollkodex der Union sieht vor:

„Ist die Leistung einer Sicherheit zwingend vor[ge]schrieben, so setzen die Zollbehörden den Betrag dieser Sicherheitsleistung in der Höhe des genauen Betrags der der Zollschuld entsprechenden Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben und anderen Abgaben fest, sofern dieser zu dem Zeitpunkt, zu dem die Sicherheitsleistung verlangt wird, zweifelsfrei bemessen werden kann.“

7        In Art. 98 („Freigabe der Sicherheit“) des Zollkodex der Union heißt es:

„(1)      Die Zollbehörden geben die Sicherheit umgehend frei, wenn die Zollschuld oder eine andere Abgabenschuld erloschen ist oder nicht mehr entstehen kann.

(2)      Ist die Zollschuld oder eine andere Abgabenschuld teilweise erloschen oder kann sie nur noch in Höhe eines Teils des gesicherten Betrages entstehen, so wird die geleistete Sicherheit auf Antrag des Beteiligten in entsprechender Höhe freigegeben, es sei denn, der betreffende Betrag rechtfertigt dies nicht.“

8        Art. 124 („Erlöschen“) Abs. 1 des Zollkodex der Union bestimmt:

„Unbeschadet der geltenden Vorschriften über die Nichterhebung des der Zollschuld entsprechenden Einfuhr- oder Ausfuhrabgabenbetrags im Falle einer gerichtlich festgestellten Insolvenz des Zollschuldners erlischt die Einfuhr- oder Ausfuhrzollschuld:

b)      durch Entrichtung des Einfuhr- oder Ausfuhrabgabenbetrags,

d)      wenn im Falle von Waren, die zu einem Zollverfahren angemeldet worden sind, das die Verpflichtung zur Entrichtung von Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben enthält, die Zollanmeldung für ungültig erklärt wird,

…“

 Verordnung Nr. 609/2014

9        Art. 2 („Zeitpunkt der Feststellung traditioneller Eigenmittel“) Abs. 1 der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 609/2014 des Rates vom 26. Mai 2014 zur Festlegung der Methoden und Verfahren für die Bereitstellung der traditionellen, der MwSt.‑ und der BNE‑Eigenmittel sowie der Maßnahmen zur Bereitstellung der erforderlichen Kassenmittel (ABl. 2014, L 168, S. 39) bestimmt in der durch die Verordnung (EU, Euratom) 2016/804 des Rates vom 17. Mai 2016 (ABl. 2016, L 132, S. 85) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 609/2014):

„Für diese Verordnung gilt ein Anspruch der Union auf traditionelle Eigenmittel nach Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe a des Beschlusses 2014/335/EU, Euratom [des Rates vom 26. Mai 2014 über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union (ABl. 2014, L 168, S. 105)] als festgestellt, sobald die Bedingungen der Zollvorschriften für die buchmäßige Erfassung des Betrags der Abgabe und dessen Mitteilung an den Abgabenschuldner erfüllt sind.“

10      Art. 13 („Uneinbringliche Beträge“) der Verordnung Nr. 609/2014 sieht in Abs. 1 und 2 vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten haben alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit die Beträge, die den gemäß Artikel 2 festgestellten Ansprüchen entsprechen, der [Europäischen] Kommission nach Maßgabe dieser Verordnung zur Verfügung gestellt werden.

(2)      Die Mitgliedstaaten sind nicht verpflichtet, der Kommission die den gemäß Artikel 2 festgestellten Ansprüchen entsprechenden Beträge zur Verfügung zu stellen, wenn diese aus einem der folgenden Gründe uneinbringlich sind:

a)      aus Gründen höherer Gewalt,

b)      aus anderen, nicht von den Mitgliedstaaten zu vertretenden Gründen.

Die Mitgliedstaaten können von der Pflicht, der Kommission die Beträge zur Verfügung zu stellen, die den gemäß Artikel 2 festgestellten Ansprüchen entsprechen, entbunden werden, wenn sich diese Ansprüche als uneinbringlich erweisen, weil die buchmäßige Erfassung oder Mitteilung der Zollschuld aufgeschoben wurde, um strafrechtliche Ermittlungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Union nicht zu beeinträchtigen.

Beträge festgestellter Ansprüche werden durch eine Entscheidung der zuständigen Verwaltungsbehörde für uneinbringlich erklärt, nachdem diese sich von der Unmöglichkeit ihrer Einziehung überzeugt hat.

Als uneinbringlich gelten Beträge festgestellter Ansprüche spätestens nach Ablauf einer Frist von fünf Jahren, gerechnet ab dem Zeitpunkt ihrer Feststellung gemäß Artikel 2 oder, falls ein administratives oder gerichtliches Rechtsmittel eingelegt wurde, ab dem Zeitpunkt, an dem die endgültige Entscheidung über das Rechtsmittel ergangen ist bzw. mitgeteilt oder veröffentlicht wurde.

…“

 Beschluss 2014/335

11      Der Beschluss 2014/335 hat den Beschluss 2007/436/EG, Euratom des Rates vom 7. Juni 2007 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 2007, L 163, S. 17) aufgehoben und ersetzt.

12      Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Beschlusses 2014/335, der Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Beschlusses 2007/436 aufgreift, bestimmt:

„Folgende Einnahmen stellen in den Haushaltsplan der Union einzusetzende Eigenmittel dar:

a)      traditionelle Eigenmittel in Form von Abschöpfungen, Prämien, Zusatz- oder Ausgleichsbeträgen, zusätzlichen Teilbeträgen und anderen Abgaben, Zöllen des Gemeinsamen Zolltarifs und anderen Zöllen auf den Warenverkehr mit Drittländern, die von den Organen der Union eingeführt worden sind oder noch eingeführt werden, Zöllen auf die unter den ausgelaufenen Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl fallenden Erzeugnisse sowie Abgaben, die im Rahmen der gemeinsamen Marktorganisation für Zucker vorgesehen sind;

…“

 Italienisches Recht

13      Art. 47 des Decreto legislativo n. 546 – Disposizioni sul processo tributario in attuazione della delega al Governo contenuta nell’art. 30 della legge 30 dicembre 1991, n. 413 (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 546 mit Vorschriften über das abgabenrechtliche Verfahren in Ausübung der Befugnis der Regierung nach Art. 30 des Gesetzes Nr. 413 vom 30. Dezember 1991) vom 31. Dezember 1992 (GURI Nr. 9 vom 13. Januar 1993, Supplemento ordinario Nr. 8) (im Folgenden: Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 546/1992) sieht im Wesentlichen vor, dass ein Kläger, der sich gegen einen Rechtsakt der Finanzbehörde wendet, der ihm einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden zufügen kann, die vorläufige Aussetzung der Vollziehung dieses Rechtsakts bis zur Prüfung der Hauptsache beantragen kann.

14      Art. 67bis des gesetzesvertretenden Dekrets über die vorläufige Vollstreckbarkeit sieht vor, dass die Urteile der Finanzgerichte vollstreckbar sind.

15      Art. 68 („Entrichtung der Abgabe während des anhängigen Verfahrens“) des gesetzesvertretenden Dekrets bestimmt:

„1.      Auch ungeachtet der Regelungen in den einzelnen Steuergesetzen ist in den Fällen, in denen die fraktionierte Abgabenerhebung vorgesehen ist, die Gegenstand eines Verfahrens vor den [Finanz‑]Kommissionen ist, die Abgabe mit den von den Steuergesetzen vorgesehenen Zinsen zu zahlen:

a)      in Höhe von zwei Dritteln nach Erlass des Urteils der Commissione tributaria provinciale [Provinzfinanzkommission], mit dem die Klage abgewiesen wird;

b)      in Höhe des Betrags, der sich aus dem Urteil der Commissione tributaria provinciale [Provinzfinanzkommission] ergibt, und jedenfalls nicht mehr als zu zwei Dritteln, wenn in dem Urteil der Klage teilweise stattgegeben wird;

c)      in Höhe des verbleibenden Betrags, der von der Commissione tributaria regionale [Regionale Finanzkommission] in ihrem Urteil festgesetzt wird;

c-bis)      in Höhe des geschuldeten Betrags, bis die Entscheidung im ersten Rechtszug im Nachgang zu dem Erlass des Urteils der Corte [suprema] di cassazione [Kassationsgerichtshof] ergeht, mit dem das Urteil aufgehoben und die Rechtssache zurückverwiesen wurde, und in Höhe des gesamten im angefochtenen Rechtsakt genannten Betrags, wenn die Rechtssache nicht zurückverwiesen wird.

In den in den vorstehenden Unterabsätzen genannten Fällen sind die bereits entrichteten Beträge in jedem Fall von den zu zahlenden Beträgen abzuziehen.

2.      Wird der Klage stattgegeben, sind die Abgaben, die in Bezug auf die Festsetzungen im Urteil der Commissione tributaria provinciale [Provinzfinanzkommission] zu viel entrichtet wurden, sowie die damit zusammenhängenden und in den Steuergesetzen vorgesehenen Zinsen innerhalb von 90 Tagen nach der Zustellung des Urteils von Amts wegen zu erstatten. Erfolgt keine Erstattung, kann der Abgabenschuldner die Erstattung gemäß Art. 70 bei der Commissione tributaria provinciale [Provinzfinanzkommission] beantragen oder, wenn gegen das Urteil im späteren Verfahrensstadium ein Rechtsmittel eingelegt worden ist, bei der Commissione tributaria regionale [Regionale Finanzkommission].

3.      …

3bis.      Bis zur Verkündung des Urteils richtet sich die Zahlung der in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Beschlusses [2007/436] genannten traditionellen Eigenmittel und der bei der Einfuhr erhobenen Mehrwertsteuer weiterhin nach der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 [zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. 1992, L 302, S. 1)] in der durch den [Zollkodex der Union] geänderten Fassung und den anderen einschlägigen Bestimmungen der Europäischen Union in diesem Bereich.“

16      Art. 69 („Vollstreckung von Urteilen zugunsten des Abgabenschuldners“) des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 546/1992 bestimmt:

„1.      Urteile, mit denen die Zahlung von Beträgen zugunsten des Abgabenschuldners angeordnet wird, und Urteile, die auf einen Rechtsbehelf gegen Bescheide zu den in Art. 2 Abs. 2 genannten Katastervorgängen ergehen, sind sofort vollstreckbar. Die Zahlung von Beträgen, die 10 000 Euro überschreiten und keine Prozesskosten sind, kann jedoch vom Gericht auch unter Berücksichtigung der Zahlungsfähigkeit des Antragstellers von der Leistung einer angemessenen Sicherheit abhängig gemacht werden.

4.      Die Zahlung der aufgrund des Urteils geschuldeten Beträge ist innerhalb von 90 Tagen nach seiner Zustellung oder der Leistung der in Abs. 2 genannten Sicherheit, sofern diese fällig ist, vorzunehmen.

5.      Wird das Urteil nicht vollstreckt, kann der Abgabenschuldner die Vollstreckung gemäß Art. 70 bei der Commissione tributaria provinciale [Provinzfinanzkommission] beantragen oder, wenn gegen das Urteil im späteren Verfahrensstadium ein Rechtsmittel eingelegt worden ist, bei der Commissione tributaria regionale [Regionale Finanzkommission].“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

17      Die Zoll- und Monopolagentur, Zollamt Genua 2, stellte OSTP am 9. Oktober 2019 ergänzende und berichtigende Abgabenbescheide über Antidumpingzölle zu, die sich auf die Einfuhr von Stahlrohren mit Herkunft aus einem Drittland bezogen, und begründete dies u. a. damit, dass diese Rohre als aus Indien eingeführt deklariert worden seien, während sie in Wirklichkeit aus China stammten. Im Nachgang zu diesen Bescheiden wurden mit am folgenden Tag zugestellten Entscheidungen Sanktionen gegen OSTP verhängt.

18      Die Zoll- und Monopolagentur, Zollamt Genua 1, stellte OSTP aus dem gleichen Grund ebenfalls einen berichtigenden Abgabenbescheid zu; sodann erging eine Entscheidung, mit der ihr gegenüber Sanktionen verhängt wurden.

19      Alle Abgaben- und Sanktionsbescheide wurden in vollem Umfang vom vorlegenden Gericht mit Urteilen vom 17. und 19. Mai 2021 aufgehoben.

20      Die Zoll- und Monopolagentur legte gegen diese Urteile Berufung bei der Corte di giustizia tributaria di secondo grado della Liguria (vormals Commissione tributaria regionale della Liguria) (Finanzgericht zweiter Instanz Ligurien, vormals Regionale Finanzkommission Ligurien, Italien) ein, die keine förmliche Entscheidung zur Aussetzung der Vollstreckung der Urteile erließ.

21      Am 26. Januar 2022 stellte die Finanzverwaltung OSTP einen Vorabbescheid über die Eintragung einer Hypothek zu, mit der sie OSTP darüber in Kenntnis setzte, dass im Fall der Nichtzahlung der in den Abgabenbescheiden genannten Beträge eine Hypothek auf ihre Grundstücke in Höhe des doppelten Betrags der Schuld eingetragen werde.

22      OSTP focht diesen Bescheid vor dem vorlegenden Gericht an und trug vor, dass nach den nationalen Rechtsvorschriften über die Erhebung von Zöllen und Abgaben dann, wenn ein erstinstanzliches Gericht einer Klage gegen einen Abgabenbescheid ganz oder teilweise stattgegeben habe, die gemäß diesem Bescheid geforderten Beträge nicht mehr fällig seien.

23      Die Zoll- und Monopolagentur trat diesem zweiten Rechtsstreit bei. Der Rechtsstreit sei erledigt, da OSTP die in den aufgehobenen Abgabenbescheiden genannten Beträge inzwischen vollständig bezahlt habe, wodurch der Rechtsstreit in Wegfall geraten sei.

24      Hilfsweise beruft sich die Zoll- und Monopolagentur zur Stützung der von der Finanzverwaltung vertretenen Ansicht auf den Beschluss der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) Nr. 22012 vom 13. Oktober 2020.

25      In diesem Beschluss stellte die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) im Wesentlichen fest, dass nach Art. 45 des Zollkodex die Einlegung eines verwaltungsrechtlichen oder gerichtlichen Rechtsbehelfs die Vollstreckbarkeit einer Entscheidung über die Anwendung der zollrechtlichen Vorschriften nicht aussetze und dass nach Art. 98 des Zollkodex die für eine Zollschuld geleistete Sicherheit insbesondere nicht freigegeben werden könne, wenn diese Schuld nicht erloschen sei.

26      Der Kassationsgerichtshof zog daraus zunächst den Schluss, dass die von der Zollverwaltung getroffenen Maßnahmen als sofort vollstreckbar anzusehen seien. Des Weiteren folgerte er daraus, dass davon auszugehen sei, dass der Schutz des Abgabenschuldner vor einem möglicherweise nicht wiedergutzumachenden Schaden, der ihm durch einen rechtswidrigen Abgabenbescheid entstehen könne, dadurch gewährleistet werde, dass die Möglichkeit bestehe, einen Antrag auf Erlass der Abgaben, einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des berichtigenden Abgabenbescheids oder im Lauf des Verfahrens einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Abgabenbescheids zu stellen. Schließlich gelangte der Kassationsgerichtshof zu dem Schluss, dass eine nicht rechtskräftige Entscheidung der Gerichte zugunsten des Abgabenschuldners diesem keinen Anspruch auf Erstattung der bereits entrichteten Zölle gewähre, da die gezahlten Beträge als Sicherheit für die Begleichung der Zollschuld bis zu deren endgültigen Erlöschen einbehalten blieben.

27      Im Hinblick darauf und in Anbetracht dessen, dass die Mitgliedstaaten, wenn eine Maßnahme der Verwaltungsbehörde nach den Zollkodizes nicht ausgesetzt wurde, die Pflicht trifft, rechtzeitig tätig zu werden, um die Eigenmittel der Union zu schützen, worauf der Gerichtshof im Urteil vom 11. Juli 2019, Kommission/Italien (Eigenmittel – Einziehung einer Zollschuld) (C‑304/18, EU:C:2019:601), hingewiesen hat, kam das vorlegende Gericht zu dem Schluss, dass, „was an den Grenzen erhobene Abgaben anbelangt, die Eigenmittel der [Union] darstellen, das nicht rechtskräftige Urteil, das vorsieht, dass dem Abgabenschuldner die als nicht geschuldet erachteten Zölle erstattet werden, nicht als gemäß Art. 69 Abs. 1 des gesetzesvertretenden Dekrets [Nr. 546/1992] … als sofort vollstreckbar anzusehen ist, [da diese] Bestimmung … mit dem Zollkodex [der Union] unvereinbar [ist]“.

28      In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht ausschließlich wissen, ob sich im Wesentlichen aus Art. 45 des Zollkodex oder gar aus dessen Art. 43 und 44 tatsächlich ableiten lässt, dass es den Mitgliedstaaten verwehrt ist, erstinstanzliche Urteile als sofort vollstreckbar einzustufen, mit denen Abgabenbescheide, die traditionelle Eigenmittel der Union betreffen, aufgehoben wurden. Insbesondere möchte das vorlegende Gericht wissen, ob ein solcher Ansatz nicht gegen das in Art. 44 des Zollkodex normierte Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs in Verbindung mit dem in Art. 19 EUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleisteten Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes verstößt, der die Mitgliedstaaten verpflichte, die Aussetzung der Vollziehung für jede von einem erstinstanzlichen Gericht aufgehobene Verwaltungsentscheidung vorzusehen, und zwar um den in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen Rechtsbehelfen für den Rechtsuchenden einen tatsächlichen Nutzen zu verleihen.

29      Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, dass OSTP zwar letztlich die geforderten Beträge entrichtet habe, es aber aus seiner Sicht erforderlich sei, derartige Zweifel auszuräumen. Denn zum einen sei nicht ausgeschlossen, dass diese Gesellschaft aus Furcht vor der Eintragung einer Hypothek in gleicher oder doppelter Höhe der geforderten Beträge dementsprechend gehandelt habe, und zum anderen wirke sich die Frage der Begründetheit des Vorbringens der Zoll- und Monopolagentur auf die Verfahrenskosten aus, über die das vorlegende Gericht noch befinden müsse.

30      Unter diesen Umständen hat die Corte di giustizia tributaria di primo grado di Genova (vormals Commissione tributaria provinciale di Genova) (Finanzgericht erster Instanz Genua, vormals Provinzfinanzkommission Genua, Italien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Können die Art. 43 bis 45 des Zollkodex der Union dahin ausgelegt werden, dass danach nationale Rechtsvorschriften, die die sofortige Vollstreckbarkeit von erstinstanzlichen Urteilen nationaler Gerichte vorsehen, mit denen Abgabenbescheide, die die Eigenmittel der Union betreffen, ganz oder teilweise aufgehoben werden, mit dem Unionsrecht unvereinbar sind?

 Zur Vorlagefrage

 Zur Zulässigkeit

31      Die italienische Regierung trägt vor, das Vorabentscheidungsersuchen sei unzulässig, da der Ausgangsrechtsstreit gegenstandslos geworden sei, nachdem die Klägerin die geforderten Beträge entrichtet habe, und da das vorlegende Gericht in seinem Ersuchen angegeben habe, dass es seine Frage eingedenk des Falles stelle, dass ein Abgabenschuldner die geforderten Beträge noch nicht gezahlt habe.

32      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung in dem Verfahren nach Art. 267 AEUV, das auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, allein das nationale Gericht für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits sowie die Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts zuständig ist. Ebenso hat nur das nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteile vom 7. August 2018, Banco Santander und Escobedo Cortés, C‑96/16 und C‑94/17, EU:C:2018:643, Rn. 50, sowie vom 24. November 2022, Varhoven administrativen sad [Aufhebung der angefochtenen Bestimmung], C‑289/21, EU:C:2022:920, Rn. 24).

33      Folglich kann die Vermutung der Erheblichkeit der von den nationalen Gerichten zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen nur in Ausnahmefällen ausgeräumt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juni 2005, Pupino, C‑105/03, EU:C:2005:386, Rn. 30). So kann der Gerichtshof die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 24. Juli 2023, Lin, C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606, Rn. 62).

34      Im vorliegenden Fall kann zwar den im Vorabentscheidungsersuchen enthaltenen Informationen entnommen werden, dass die von der Klägerin des Ausgangsverfahrens vorgenommene Zahlung der geforderten Beträge die drohende Gefahr der Eintragung einer Hypothek auf ihre Grundstücke beseitigt hat. Jedoch behält die gestellte Frage insofern ihre Berechtigung, als sich vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht die Klägerin des Ausgangsverfahrens je nachdem, wie die Antwort des Gerichtshofs ausfällt, den Maßnahmen zur Erhebung nicht fälliger Beträge, wie im Ausgangsverfahren geschehen, widersetzen und ihr Recht auf Erstattung der bereits bezahlten Beträge geltend machen könnte. Außerdem weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass es eine Antwort auf die Vorlagefrage benötige, um nach nationalem Recht über die Verteilung der Kosten zu entscheiden, wobei diese Entscheidung von der Begründetheit des Rechtsbehelfs abhänge.

35      Da das vorlegende Gericht insbesondere nicht bereits in der Sache über den Ausgangsrechtsstreit entschieden hat, ist es nicht offensichtlich, dass die erbetene Auslegung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder dass das aufgeworfene Problem seiner Natur nach hypothetisch geworden wäre (vgl. entsprechend Urteil vom 28. November 2018, Amt Azienda Trasporti e Mobilità u. a., C‑328/17, EU:C:2018:958, Rn. 35 bis 38).

36      Diese Beurteilung wird nicht durch das Vorbringen der italienischen Regierung in Frage gestellt, das vorlegende Gericht habe in seinem Ersuchen angegeben, dass es seine Frage eingedenk des Falles stelle, dass ein Abgabenschuldner die geforderten Beträge noch nicht gezahlt habe. Eine solche Angabe lässt sich dem Vorabentscheidungsersuchen nämlich nicht entnehmen. Zwar hat sich das vorlegende Gericht in diesem Ersuchen auf den „Fall, dass der Abgabenschuldner noch keine Zahlung geleistet hat“, bezogen, dies jedoch nur, um auf den Standpunkt der Zoll- und Monopolagentur zu einem Beschluss der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) einzugehen, der seiner Ansicht nach darin besteht, „den von [diesem Gerichtshof] zum Ausdruck gebrachten Rechtsgrundsatz auch auf den Fall zu erstrecken, dass der Abgabenschuldner noch nicht gezahlt hat“.

37      Da der Gerichtshof außerdem über alle tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Frage erforderlich sind, ist das Vorabentscheidungsersuchen daher für zulässig zu erklären.

 Zur Beantwortung der Vorlagefrage

38      Zunächst steht fest, dass die vom vorlegenden Gericht geäußerten Zweifel mit der von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) in ihrem Beschluss Nr. 22012 vom 13. Oktober 2020 vorgenommenen Auslegung zusammenhängen. In diesem Beschluss hat der Kassationsgerichtshof nämlich die Anwendung von Art. 69 Abs. 1 des gesetzesvertretenen Dekrets Nr. 546/1992, der die sofortige Vollstreckbarkeit von Urteilen vorsieht, mit denen die Zahlung von Beträgen zugunsten des Abgabenschuldners angeordnet wird, im Wesentlichen mit der Begründung ausgeschlossen, dass nach Art. 45 des Zollkodex der Union die Vollstreckung jedes erstinstanzlichen Urteils, mit dem Abgabenbescheide über traditionelle Eigenmittel der Union aufgehoben würden, auszusetzen sei, solange dieses Urteil nicht rechtskräftig geworden sei. Das vorlegende Gericht fragt sich jedoch, ob die von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) vorgenommene Auslegung mit Art. 45 des Zollkodex der Union in Verbindung mit dessen Art. 43 vereinbar ist.

39      Somit möchte das vorlegende Gericht mit seiner Frage im Wesentlichen wissen, ob die Art. 43 bis 45 des Zollkodex der Union dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die die sofortige Vollstreckbarkeit noch nicht rechtskräftig gewordener erstinstanzlicher Urteile vorsehen, wenn es um traditionelle Eigenmittel der Union geht.

40      Von vornherein ist festzustellen, dass für die Beurteilung der Vereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften, die die sofortige Vollstreckbarkeit erstinstanzlicher Urteile vorsehen, mit dem Unionsrecht weder Art. 44 noch Art. 45 des Zollkodex der Union einschlägig sein können, und zwar auch dann nicht, wenn diese Urteile die vollständige oder teilweise Aufhebung von Abgabenbescheiden zur Folge haben, die traditionelle Eigenmittel der Union betreffen.

41      In Art. 43 des Zollkodex heißt es nämlich ausdrücklich, dass die Art. 44 und 45 des Zollkodex nicht für Rechtsbehelfe gelten, die im Hinblick auf die Rücknahme, den Widerruf oder die Änderung einer von einem Gericht im Zusammenhang mit der Anwendung der zollrechtlichen Vorschriften erlassenen Entscheidung eingelegt werden. Auch wenn Art. 44 Abs. 2 des Zollkodex den Fall betrifft, dass das Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs, das dieser Vorschrift zufolge in einem zweistufigen Verfahren ausgeübt werden können muss, nacheinander vor zwei Gerichten geltend gemacht wird, gilt daher gleichwohl die in Art. 45 Abs. 1 des Zollkodex der Union aufgestellte Regel, wonach die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung keine aufschiebende Wirkung hat, nur in Bezug auf Rechtsbehelfe, die gegen Entscheidungen der Zollbehörden im Zusammenhang mit der Anwendung der zollrechtlichen Vorschriften eingelegt wurden, nicht aber in Bezug auf Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen von Gerichten, die über solche Rechtsbehelfe befunden haben.

42      Da sowohl die Frage der sofortigen Vollstreckbarkeit erstinstanzlicher Urteile als auch die gesetzlichen Bestimmungen über die Berufung nicht in den Anwendungsbereich der Art. 44 und 45 des Zollkodex der Union fallen, können diese Bestimmungen weder nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die die sofortige Vollstreckbarkeit noch nicht rechtskräftig gewordener erstinstanzlicher Urteile vorsehen, noch verlangen sie, dass nationale Rechtsvorschriften vorsehen, dass solche Urteile diese Wirkung haben müssen.

43      Diese Auslegung wird nicht durch die von der italienischen Regierung in ihren Schriftsätzen angeführte Verpflichtung der Mitgliedstaaten aus Art. 13 der Verordnung Nr. 609/2014 in Verbindung mit dem Beschluss 2014/335 in Frage gestellt, der Kommission die Beträge zur Verfügung zu stellen, die den Ansprüchen der Union auf die traditionellen Eigenmittel entsprechen.

44      Zwar hat nach Art. 45 Abs. 1 des Zollkodex der Union die Einlegung eines Rechtsbehelfs keine aufschiebende Wirkung, so dass ein Abgabenschuldner, wenn er sich gegen einen berichtigenden Abgabenbescheid wendet, die geforderten Beträge grundsätzlich bereits gezahlt haben wird, wenn über seinen Rechtsbehelf in erster Instanz entschieden wird, oder zumindest, falls ihm die Zollbehörden eine Aussetzung der Vollziehung nach Art. 45 Abs. 2 des Zollkodex gewährt haben, gemäß Art. 45 Abs. 3 des Zollkodex eine Sicherheit geleistet haben wird. Wird im Anschluss an ein von den Zollbehörden eingelegtes Rechtsmittel ein erstinstanzliches Urteil, mit dem berichtigende Abgabenbescheide aufgehoben wurden, seinerseits aufgehoben, so wird mithin davon ausgegangen, dass der Mitgliedstaat bereits über den Betrag verfügt, der den Ansprüchen der Union auf die traditionellen Eigenmittel entspricht und den er der Kommission gemäß Art. 13 der Verordnung Nr. 609/2014 in Verbindung mit dem Beschluss 2014/335 zur Verfügung stellen muss.

45      Entgegen der offenbar von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) in ihrem Beschluss Nr. 22012 vom 13. Oktober 2020 vertretenen Auffassung kann daraus jedoch nicht abgeleitet werden, dass Art. 45 Abs. 1 des Zollkodex der Union, um die Erhebung der nach Art. 2 der Verordnung Nr. 609/2014 festgestellten Abgaben durch die Union zu gewährleisten, dahin auszulegen ist, dass er die Mitgliedstaaten verpflichtet, es den Zollbehörden zu gestatten, wenn diese nicht zügig die Beitreibung des von ihnen erlassenen berichtigenden Abgabenbescheids vorgenommen haben, dies auch nach Erlass eines erstinstanzlichen Urteils, mit dem dieser Abgabenbescheid aufgehoben wurde, noch tun zu können, solange dieses Urteil nicht rechtskräftig geworden ist.

46      Entgegen der Prämisse, auf der diese Beurteilung zu beruhen scheint, ist eine solche Auslegung schon nicht erforderlich, um die Erhebung der gemäß Art. 2 der Verordnung Nr. 609/2014 festgestellten Abgaben durch die Union zu gewährleisten. Der Gerichtshof hat nämlich bereits darauf hingewiesen, dass die von den Zollbehörden eines Mitgliedstaats begangenen Fehler diesen nicht von seiner Verpflichtung entbinden, der Union die Abgaben abzuführen, die er hätte feststellen müssen, gegebenenfalls zuzüglich Verzugszinsen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2019, Kommission/Italien [Eigenmittel – Einziehung einer Zollschuld], C‑304/18, EU:C:2019:601, Rn. 61). Auch mangelnde Sorgfalt der Zollbehörden kann den Mitgliedstaat von dieser Verpflichtung nicht entbinden.

47      Vor allem aber kann es, da der Wortlaut von Art. 43 des Zollkodex der Union in Bezug auf die Unanwendbarkeit der Art. 44 und 45 des Zollkodex auf Rechtsbehelfe, die gegen eine Entscheidung eines Gerichts eingelegt werden, ganz klar und eindeutig ist, keine andere Auslegung dieser Bestimmungen geben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. September 2019, Kommission/Spanien [Wasser – Aktualisierung der Bewirtschaftungspläne für die Kanarischen Inseln], C‑556/18, EU:C:2019:785, Rn. 34).

48      Daher ist, ohne dass geprüft zu werden braucht, ob die in Art. 19 EUV und in Art. 47 der Charta der Grundrechte niedergelegten Grundsätze im vorliegenden Fall einschlägig sind, auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 43 bis 45 des Zollkodex der Union dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen, die die sofortige Vollstreckbarkeit noch nicht rechtskräftig gewordener erstinstanzlicher Urteile vorsehen, wenn es um traditionelle Eigenmittel der Union geht.

 Kosten

49      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:

Die Art. 43 bis 45 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union

sind dahin auszulegen, dass

sie nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen, die die sofortige Vollstreckbarkeit noch nicht rechtskräftig gewordener erstinstanzlicher Urteile vorsehen, wenn es um traditionelle Eigenmittel der Europäischen Union geht.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Italienisch.