Language of document : ECLI:EU:C:2020:493

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PRIIT PIKAMÄE

vom 25. Juni 2020(1)

Rechtssache C808/18

Europäische Kommission

gegen

Ungarn

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Richtlinie 2013/32/EU – Nationales Verfahren zur Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz – Art. 6 – Effektiver Zugang – Art. 43 – Verfahrensgarantien – Art. 46 Abs. 5 und 6 – Fehlende aufschiebende Wirkung der Rechtsbehelfsanträge gegen behördliche Entscheidungen, mit denen die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgelehnt wird – Richtlinie 2013/33/EU – Art. 2 Buchst. h – Zwangsweise Unterbringung in Transitzonen – Begriff ‚Haft‘ – Richtlinie 2008/115/EG – Art. 5, Art. 6 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger“






Inhaltsverzeichnis



1.        Im Rahmen der vorliegenden Rechtssache hat die Europäische Kommission beim Gerichtshof gemäß Art. 258 Abs. 2 AEUV Klage auf Feststellung erhoben, dass Ungarn gegen seine Verpflichtungen aus bestimmten Vorschriften der Richtlinie 2013/32/EU(2), der Richtlinie 2013/33/EU(3) und der Richtlinie 2008/115/EG(4) verstoßen hat.

2.        Diese Klage von äußerst großer Tragweite stellt die Vereinbarkeit eines wesentlichen Teils der ungarischen Rechtsvorschriften betreffend die Verfahren zur Prüfung von Asylanträgen und die Verfahren zur Rückführung von illegal im Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen mit dem Unionsrecht in Frage. Die rechtlichen Fragen, die sie aufwirft, sind von erheblichem Interesse, insbesondere im Hinblick auf die Frage, ob die Situation von Asylbewerbern, die in Transitzonen an der serbisch-ungarischen Grenze untergebracht sind, als „Haft“ im Sinne der Richtlinie 2013/33 zu qualifizieren ist.

3.        Der sensible Charakter des anstehenden Urteils wird dadurch unterstrichen, dass die Auslegung des Gerichtshofs in der gegenwärtigen Situation, in der andere Mitgliedstaaten ihre nationalen Rechtsvorschriften in diesem Bereich verschärfen, Auswirkungen haben könnte, die weit über die vorliegende Rechtssache hinausgehen.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      Richtlinie 2008/115

4.        In Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 heißt es:

„Die Mitgliedstaaten können beschließen, diese Richtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden:

a)      die einem Einreiseverbot nach Artikel 13 des Schengener Grenzkodex unterliegen oder die von den zuständigen Behörden in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze eines Mitgliedstaats auf dem Land‑, See- oder Luftwege aufgegriffen bzw. abgefangen werden und die nicht anschließend die Genehmigung oder das Recht erhalten haben, sich in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten;

…“

5.        Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:

„Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.“

6.        Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Rückkehrentscheidungen sowie – gegebenenfalls – Entscheidungen über ein Einreiseverbot oder eine Abschiebung ergehen schriftlich und enthalten eine sachliche und rechtliche Begründung sowie Informationen über mögliche Rechtsbehelfe.“

7.        Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor.

„Die betreffenden Drittstaatsangehörigen haben das Recht, bei einer zuständigen Justiz‑ oder Verwaltungsbehörde oder einem zuständigen Gremium, dessen Mitglieder unparteiisch sind und deren Unabhängigkeit garantiert wird, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 einzulegen oder die Überprüfung solcher Entscheidungen zu beantragen.“

2.      Richtlinie 2013/32

8.        In Art. 3 der Richtlinie 2013/32 heißt es:

„(1)      Diese Richtlinie gilt für alle Anträge auf internationalen Schutz, die im Hoheitsgebiet – einschließlich an der Grenze, in den Hoheitsgewässern oder in den Transitzonen – der Mitgliedstaaten gestellt werden, sowie für die Aberkennung des internationalen Schutzes.

…“

9.        Art. 6 dieser Richtlinie lautet:

„(1)      Stellt eine Person einen Antrag auf internationalen Schutz bei einer Behörde, die nach nationalem Recht für die Registrierung solcher Anträge zuständig ist, so erfolgt die Registrierung spätestens drei Arbeitstage nach Antragstellung.

Wird der Antrag auf internationalen Schutz bei anderen Behörden gestellt, bei denen derartige Anträge wahrscheinlich gestellt werden, die aber nach nationalem Recht nicht für die Registrierung zuständig sind, so gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass die Registrierung spätestens sechs Arbeitstage nach Antragstellung erfolgt.

(2)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass eine Person, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, tatsächlich die Möglichkeit hat, diesen so bald wie möglich förmlich zu stellen. Stellt der Antragsteller keinen förmlichen Antrag, so können die Mitgliedstaaten Artikel 28 entsprechend anwenden.

(3)      Unbeschadet des Absatzes 2 können die Mitgliedstaaten verlangen, dass Anträge auf internationalen Schutz persönlich und/oder an einem bestimmten Ort gestellt werden.

(5)      Beantragt eine große Zahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gleichzeitig internationalen Schutz, so dass es in der Praxis sehr schwierig ist, die Frist nach Absatz 1 einzuhalten, so können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass diese Frist auf 10 Arbeitstage verlängert wird.“

10.      Art. 24 Abs. 3 der Richtlinie bestimmt:

„Wird festgestellt, dass Antragsteller besondere Verfahrensgarantien benötigen, so stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass diese Antragsteller angemessene Unterstützung erhalten, damit sie während der Dauer des Asylverfahrens die Rechte aus dieser Richtlinie in Anspruch nehmen und den sich aus dieser Richtlinie ergebenden Pflichten nachkommen können.

Kann eine solche angemessene Unterstützung nicht im Rahmen der Verfahren nach Artikel 31 Absatz 8 und Artikel 43 geleistet werden, insbesondere wenn die Mitgliedstaaten der Auffassung sind, dass der Antragsteller besondere Verfahrensgarantien benötigt, da er Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten hat, so wenden die Mitgliedstaaten Artikel 31 Absatz 8 und Artikel 43 nicht oder nicht mehr an. Wenden die Mitgliedstaaten Artikel 46 Absatz 6 auf Antragsteller an, auf die Artikel 31 Absatz 8 und Artikel 43 nach dem vorliegenden Unterabsatz nicht angewandt werden können, so gewähren sie zumindest die Garantien gemäß Artikel 46 Absatz 7.“

11.      Art. 26 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten nehmen eine Person nicht allein deshalb in Gewahrsam, weil sie einen Antrag gestellt hat. Die Gründe für den Gewahrsam und die Gewahrsamsbedingungen und die Garantien für in Gewahrsam befindliche Antragsteller bestimmen sich nach der Richtlinie 2013/33/EU.“

12.      Art. 43 („Verfahren an der Grenze“) der Richtlinie lautet:

„(1)      Die Mitgliedstaaten können nach Maßgabe der Grundsätze und Garantien nach Kapitel II Verfahren festlegen, um an der Grenze oder in Transitzonen des Mitgliedstaats über Folgendes zu entscheiden:

a)      die Zulässigkeit eines an derartigen Orten gestellten Antrags gemäß Artikel 33 und/oder

b)      die Begründetheit eines Antrags in einem beschleunigten Verfahren nach Artikel 31 Absatz 8.

(2)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass eine Entscheidung im Rahmen der Verfahren nach Absatz 1 innerhalb einer angemessenen Frist ergeht. Ist innerhalb von vier Wochen keine Entscheidung ergangen, so wird dem Antragsteller die Einreise in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats gestattet, damit sein Antrag nach Maßgabe der anderen Bestimmungen dieser Richtlinie bearbeitet werden kann.

(3)      Wenn es aufgrund der Ankunft einer erheblichen Anzahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen an der Grenze oder in Transitzonen, die förmlich Anträge auf internationalen Schutz stellen, in der Praxis nicht möglich ist, die Bestimmungen des Absatzes 1 anzuwenden, können die genannten Verfahren auch in diesen Fällen und für die Zeit angewandt werden, in der die Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen normalerweise in der Nähe der Grenze oder Transitzone untergebracht werden.“

13.      In Art. 46 der Richtlinie heißt es:

„…

(5)      Unbeschadet des Absatzes 6 gestatten die Mitgliedstaaten den Antragstellern den Verbleib im Hoheitsgebiet bis zum Ablauf der Frist für die Ausübung des Rechts der Antragsteller auf einen wirksamen Rechtsbehelf und, wenn ein solches Recht fristgemäß ausgeübt wurde, bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf.

(6)      Im Fall einer Entscheidung,

a)      einen Antrag im Einklang mit Artikel 32 Absatz 2 als offensichtlich unbegründet oder nach Prüfung gemäß Artikel 31 Absatz 8 als unbegründet zu betrachten, es sei denn, diese Entscheidungen sind auf die in Artikel 31 Absatz 8 Buchstabe h aufgeführten Umstände gestützt,

b)      einen Antrag gemäß Artikel 33 Absatz 2 Buchstaben a, b oder d als unzulässig zu betrachten,

c)      die Wiedereröffnung des nach Artikel 28 eingestellten Verfahrens des Antragstellers abzulehnen oder

d)      gemäß Artikel 39 den Antrag nicht oder nicht umfassend zu prüfen,

ist das Gericht befugt, entweder auf Antrag des Antragstellers oder von Amts wegen darüber zu entscheiden, ob der Antragsteller im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats verbleiben darf, wenn die Entscheidung zur Folge hat, das Recht des Antragstellers auf Verbleib in dem Mitgliedstaat zu beenden und wenn in diesen Fällen das Recht auf Verbleib in dem betreffenden Mitgliedstaat bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf im nationalen Recht nicht vorgesehen ist.

(8)      Die Mitgliedstaaten gestatten dem Antragsteller, bis zur Entscheidung in dem Verfahren nach den Absätzen 6 und 7 darüber, ob der Antragsteller im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats verbleiben darf, im Hoheitsgebiet zu verbleiben.

…“

3.      Richtlinie 2013/33

14.      Art. 8 der Richtlinie 2013/33 hat folgenden Wortlaut:

„(1)      Die Mitgliedstaaten nehmen eine Person nicht allein deshalb in Haft, weil sie ein Antragsteller im Sinne der Richtlinie [2013/32] ist.

(2)      In Fällen, in denen es erforderlich ist, dürfen die Mitgliedstaaten auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung den Antragsteller in Haft nehmen, wenn sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen.

(3)      Ein Antragsteller darf nur in Haft genommen werden,

a)      um seine Identität oder Staatsangehörigkeit festzustellen oder zu überprüfen;

b)      um Beweise zu sichern, auf die sich sein Antrag auf internationalen Schutz stützt und die ohne Haft unter Umständen nicht zu erhalten wären, insbesondere wenn Fluchtgefahr des Antragstellers besteht;

c)      um im Rahmen eines Verfahrens über das Recht des Antragstellers auf Einreise in das Hoheitsgebiet zu entscheiden;

d)      wenn er sich aufgrund eines Rückkehrverfahrens gemäß der Richtlinie [2008/115] zur Vorbereitung seiner Rückführung und/oder Fortsetzung des Abschiebungsverfahrens in Haft befindet und der betreffende Mitgliedstaat auf der Grundlage objektiver Kriterien, einschließlich der Tatsache, dass der Antragsteller bereits Gelegenheit zum Zugang zum Asylverfahren hatte, belegen kann, dass berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass er den Antrag auf internationalen Schutz nur [stellt], um die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung zu verzögern oder zu vereiteln;

e)      wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist;

f)      wenn dies mit Artikel 28 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, in Einklang steht.

Haftgründe werden im einzelstaatlichen Recht geregelt.

…“

15.      In Art. 9 dieser Richtlinie heißt es:

„…

(2)      Die Haft der Antragsteller wird von einer Justiz‑ oder Verwaltungsbehörde schriftlich angeordnet. In der Anordnung werden die sachlichen und rechtlichen Gründe für die Haft angegeben.

(3)      Wird die Haft von einer Verwaltungsbehörde angeordnet, so sorgen die Mitgliedstaaten von Amts wegen und/oder auf Antrag des Antragstellers für eine zügige gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme. Findet eine derartige Überprüfung von Amts wegen statt, so wird so schnell wie möglich nach Beginn der Haft entschieden. Findet die Überprüfung auf Antrag des Antragstellers statt, so wird über sie so schnell wie möglich nach Einleitung des diesbezüglichen Verfahrens entschieden. Zu diesem Zweck legen die Mitgliedstaaten in ihrem einzelstaatlichen Recht die Frist fest, in der die gerichtliche Überprüfung von Amts wegen und/oder die gerichtliche Überprüfung auf Antrag des Antragstellers durchzuführen ist.

Falls sich die Haft infolge der gerichtlichen Überprüfung als unrechtmäßig herausstellt, wird der betreffende Antragsteller unverzüglich freigelassen.

…“

16.      Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie lautet:

„Minderjährige dürfen nur im äußersten Falle in Haft genommen werden, und nachdem festgestellt worden ist, dass weniger einschneidende alternative Maßnahmen nicht wirksam angewandt werden können. Eine derartige Haft wird für den kürzest möglichen Zeitraum angeordnet, und es werden alle Anstrengungen unternommen, um die in Haft befindlichen Minderjährigen aus dieser Haft zu entlassen und in für sie geeigneten Unterkünften unterzubringen.

…“

B.      Ungarisches Recht

1.      Asylgesetz

17.      § 71/A des A Menedékjogról szóló 2007. évi LXXX. törvény (Gesetz Nr. LXXX von 2007 über das Asylrecht, im Folgenden: Asylgesetz) sieht vor:

„(1)      Stellt der Ausländer seinen förmlichen Antrag in der Transitzone

a)      vor der Einreise in das ungarische Hoheitsgebiet oder

b)      nachdem er im ungarischen Hoheitsgebiet innerhalb eines Streifens von acht Kilometern ab der Außengrenze im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex)[(5)] oder von Grenzmarken abgefangen und dann zum Eingang einer Anlage zum Schutz der Ordnung an der Grenze im Sinne des Gesetzes über die Staatsgrenzen geführt worden ist,

gilt dieses Kapitel vorbehaltlich der nachstehenden Bestimmungen.

(4)      Sind seit Antragstellung vier Wochen verstrichen, gestattet die Einwanderungsbehörde die Einreise nach Maßgabe des Gesetzes.

(5)      Ist der Antrag nicht unzulässig, so gestattet die Einwanderungsbehörde die Einreise nach Maßgabe der anwendbaren Rechtsvorschriften.

(6)      Wird die Einreise in das ungarische Hoheitsgebiet gestattet, führt die Asylbehörde das Asylverfahren nach den allgemeinen Vorschriften durch.

(7)      Die Vorschriften über das Verfahren an der Grenze finden auf schutzbedürftige Personen keine Anwendung.“

18.      § 31/A Abs. 1 dieses Gesetzes gibt wortwörtlich die in Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2013/33 vorgesehenen Haftgründe wieder. § 31/A Abs. 2 lautet: „Asylbewerber können nach einer Einzelfallprüfung nur dann in Haft genommen werden, wenn das verfolgte Ziel nicht durch eine Maßnahme erreicht werden kann, die gewährleistet, dass die betreffende Person weiterhin zur Verfügung steht“; § 31/A Abs. 5 bestimmt: „Die Inhaftnahme von Asylbewerbern wird durch eine Entscheidung angeordnet, die mit ihrer Bekanntgabe vollstreckbar ist.“

19.      In § 31/B des Gesetzes heißt es:

„(1)      Eine Inhaftnahme kann nicht allein deshalb angeordnet werden, weil ein Asylantrag gestellt wurde.

(2)      Gegen einen unbegleiteten Minderjährigen darf keine Inhaftnahme angeordnet werden.

(3)      Eine Inhaftnahme von Familien mit minderjährigen Kindern kann nur als letztes Mittel unter vorrangiger Berücksichtigung des Wohls der Kinder angeordnet werden.

…“

20.      § 80/H des Asylgesetzes lautet:

„In einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation sind die Bestimmungen der Kapitel I bis IV und V/A bis VIII vorbehaltlich der in den §§ 80/I bis 80/K vorgesehenen Ausnahmen anzuwenden.“

21.      § 80/I Buchst. i des Asylgesetzes schließt die Anwendung der §§ 30 und 31 (Buchst. a) sowie der §§ 71/A bis 72 (Buchst. i) des Asylgesetzes aus.

22.      § 80/J dieses Gesetzes bestimmt:

„(1)      Der Asylantrag ist persönlich bei der zuständigen Behörde und ausschließlich in der Transitzone zu stellen, es sei denn, der Asylbewerber

a)      ist Gegenstand einer die persönliche Freiheit beschränkenden Zwangsmaßnahme, Maßnahme oder Verurteilung,

b)      ist Gegenstand einer von der Asylbehörde angeordneten Haftmaßnahme,

c)      hält sich rechtmäßig im ungarischen Hoheitsgebiet auf und beantragt nicht die Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung.

(2)      Der Asylbewerber unterliegt dem Asylverfahren ab der Einreichung seines Antrags auf internationalen Schutz bei der zuständigen Behörde bis zur Zustellung der am Ende des Verfahrens erlassenen Entscheidung, wenn sie unanfechtbar geworden ist.

(4)      Während des Verfahrens genießen Asylbewerber, die sich in der Transitzone aufhalten, nicht die Rechte nach § 5 Abs. 1 Buchst. a und c.

(5)      Die Asylbehörde weist dem Asylbewerber die Transitzone als Aufenthaltsort zu, bis der Überstellungsbeschluss nach der Dublin-Verordnung oder die unanfechtbar gewordene Entscheidung vollstreckbar geworden ist. Der Asylbewerber kann die Transitzone über den Ausgang verlassen.

(6)      Handelt es sich bei dem Asylbewerber um einen unbegleiteten Minderjährigen unter 14 Jahren, führt die Asylbehörde das Asylverfahren nach seiner Einreise in das Land gemäß den allgemeinen Vorschriften durch. Sie stellt ihm unverzüglich eine vorläufige Unterkunft zur Verfügung und beantragt gleichzeitig bei der Vormundschaftsbehörde die Bestellung eines Vormundes zum Schutz und zur Vertretung des Minderjährigen. Der Vormund ist binnen acht Tagen nach Eingang des Antrags der Asylbehörde zu bestellen. Die Vormundschaftsbehörde teilt dem unbegleiteten Minderjährigen und der Asylbehörde unverzüglich den Namen des bestellten Vormundes mit.“

23.      In § 80/K des Asylgesetzes heißt es:

„…

(2)      Die Asylbehörde trifft eine Entscheidung nach Lage der Akten oder beendet das Verfahren, wenn der Asylbewerber

d)      die Transitzone verlässt.

(4)      Die Entscheidung, mit der das Verfahren gemäß Abs. 2 beendet wird, ist nicht im Verwaltungsrechtsweg anfechtbar.

…“

2.      Gesetz über die Staatsgrenzen

24.      § 15/A des Az államhatárról szóló 2007. évi LXXXIX (Gesetz Nr. LXXXIX von 2007 über die Staatsgrenzen, im Folgenden: Gesetz über die Staatsgrenzen) bestimmt:

„(1)      In dem in § 5 Abs. 1 genannten Gebiet kann eine Transitzone eingerichtet werden, um als vorübergehender Aufenthalt für Personen zu dienen, die um Asyl oder subsidiären Schutz ersuchen [im Folgenden: Asylbewerber], und als Ort, an dem die Asyl- und Einwanderungsverfahren durchgeführt werden und an dem sich die zu diesem Zweck erforderlichen Einrichtungen befinden.

(2)      Ein Asylbewerber, der sich in einer Transitzone befindet, darf in das ungarische Hoheitsgebiet einreisen, wenn

a)      die Asylbehörde eine Entscheidung trifft, mit der ihm internationaler Schutz gewährt wird,

b)      die Voraussetzungen für die Durchführung eines Asylverfahrens gemäß den allgemeinen Vorschriften erfüllt sind oder

c)      die Bestimmungen des § 71/A Abs. 4 und 5 des Asylgesetzes anzuwenden sind.

(2a)      In einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation kann einem Asylbewerber, der sich in einer Transitzone befindet, in den in Abs. 2 Buchst. a und b genannten Fällen die Einreise in das ungarische Hoheitsgebiet gestattet werden.

…“

II.    Vorverfahren

25.      Am 11. Dezember 2015 richtete die Kommission ein Mahnschreiben an Ungarn wegen Verstoßes gegen Art. 46 Abs. 1, 3, 5 und 6 der Richtlinie 2013/32, ausgelegt im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), sowie von Art. 3 Abs. 8 der Richtlinie 2010/64/EU(6). Die Kommission äußerte darin ihre Bedenken hinsichtlich der Wirkung der Rechtsbehelfe in Verfahren an der Grenze, der fehlenden automatischen aufschiebenden Wirkung von Rechtsbehelfen gegen negative Asylentscheidungen, der Gewährleistung einer persönlichen Anhörung im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle von Entscheidungen, mit denen Anträge als unzulässig abgelehnt werden, und von nach Durchführung eines beschleunigten Verfahrens erlassenen Entscheidungen, der autonomen verfahrensrechtlichen Zuständigkeit der an Verfahren zur gerichtlichen Kontrolle beteiligten Richter und schließlich der Nichtbeachtung der unionsrechtlichen Vorschriften betreffend das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren.

26.      Ungarn beantwortete das Mahnschreiben mit einem Schreiben, das am 12. Februar 2016 bei der Kommission einging und in dem es geltend machte, die einschlägigen ungarischen Rechtsvorschriften seien mit dem Unionsrecht vereinbar.

27.      Am 7. März 2017 erließ Ungarn das Gesetz Nr. XX von 2017 zur Änderung des Asylgesetzes. Die Kommission war der Ansicht, dass dieses Gesetz neue Bedenken aufwerfe, die zu den im Mahnschreiben vom 11. Dezember 2015 dargelegten hinzukämen und folgende Punkte beträfen: die Abschiebung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger unter Verstoß gegen die in der Richtlinie 2008/115 festgelegten Verfahren, die fehlende Garantie für einen effektiven Zugang zum Asylverfahren, die rechtswidrige Ausweitung des Verfahrens an der Grenze, die generelle Inhaftnahme von Asylbewerbern, die Nichtbeachtung der vorgesehenen Verfahrensgarantien, die unangemessene Anwendung des Grundsatzes des sicheren Drittstaats, die Nichtzahlung des Tagessatzes an Personen, die internationalen Schutz beantragen, die Verletzung der Unionsvorschriften über die Deckung der Kosten im Zusammenhang mit den Aufnahmebedingungen, und die Verringerung der Frist für die Stellung der Anträge auf Prüfung der erstinstanzlichen Entscheidungen, mit denen ein Asylantrag abgelehnt wird, von acht Tagen auf drei.

28.      Am 18. März 2017 übersandte die Kommission Ungarn ein ergänzendes Mahnschreiben, in dem sie ihm vorwarf, seinen Verpflichtungen aus Art. 5, Art. 6 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115, den Art. 3, 6 und 7, Art. 24 Abs. 3, Art. 31 Abs. 8, den Art. 33, 38 und 43 sowie Art. 46 Abs. 1, 3, 5 und 6 der Richtlinie 2013/32 sowie den Art. 2, 8, 9 und 11 und Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. g und mit Art. 17 Abs. 3 und 4 dieser Richtlinie und schließlich aus den Art. 6, 18 und 47 der Charta nicht nachzukommen.

29.      Ungarn beantwortete das ergänzende Mahnschreiben mit Schreiben vom 18. Juli 2017 und ergänzte seine Antwort am 20. Oktober 2017 und am 20. November 2017. Es erklärte zwar, dass es die betreffenden ungarischen Rechtsvorschriften für mit dem Unionsrecht vereinbar halte, nahm aber in bestimmten Punkten eine Anpassung dieser Rechtsvorschriften an das Unionsrecht vor.

30.      Daraufhin übersandte die Kommission Ungarn am 8. Dezember 2017 eine mit Gründen versehene Stellungnahme, die am selben Tag zugestellt wurde und in der sie ausführte, Ungarn sei dadurch, dass es

–        im Rechtsbehelfsverfahren gegen eine Entscheidung, mit der ein Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt werde, die Prüfung nach Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 auf die tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte beschränke, die im Rahmen des Erlasses der Entscheidung geprüft worden seien;

–        Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 nicht in nationales Recht umgesetzt habe und Vorschriften erlassen habe, die in Fällen, die nicht Art. 46 Abs. 6 dieser Richtlinie unterlägen, von der allgemeinen Regel der automatischen aufschiebenden Wirkung abwichen;

–        illegal im ungarischen Hoheitsgebiet aufhältige Drittstaatsangehörige auf die andere Seite des Grenzzauns zurückbringe, ohne die in Art. 5, Art. 6 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 festgelegten Verfahren und Garantien einzuhalten;

–        bestimme, dass der Asylantrag persönlich bei der zuständigen Behörde und ausschließlich in der Transitzone gestellt werden müsse;

–        bestimme, dass auf alle Asylbewerber (mit Ausnahme von Kindern unter 14 Jahren) ein Verfahren anzuwenden sei, das zur Folge habe, dass diese Asylbewerber in Einrichtungen einer Transitzone, die sie nur in Richtung Serbien verlassen könnten, während der gesamten Dauer des Asylverfahrens in Haft bleiben müssten, ohne dass dies mit angemessenen Garantien verbunden sei;

–        die Frist für die Stellung eines Antrags auf Überprüfung von erstinstanzlichen Entscheidungen, mit denen ein Asylantrag abgelehnt werde, um acht auf drei Tage verkürzt habe,

seinen Verpflichtungen aus Art. 5, Art. 6 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115, den Art. 3 und 6, Art. 24 Abs. 3, Art. 43 und Art. 46 Abs. 3, 5 und 6 der Richtlinie 2013/32 und schließlich aus Art. 2 Buchst. h sowie den Art. 8, 9 und 11 der Richtlinie 2013/33 in Verbindung mit den Art. 6, 18 und 47 Charta nicht nachgekommen.

31.      Ungarn antwortete auf die mit Gründen versehene Stellungnahme am 8. Februar 2018. Es wiederholte seine Auffassung zur Vereinbarkeit der in Rede stehenden ungarischen Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht und rechtfertigte sie unter Berufung auf die durch eine massive Zuwanderung herbeigeführte Krisensituation und auf Art. 72 AEUV.

32.      Da die von Ungarn vorgebrachten Argumente die Kommission nicht überzeugten, hat diese am 21. Dezember 2018 den Gerichtshof angerufen. Ungarn hat am 11. März 2019 seine Klagebeantwortung eingereicht. Am 23. April 2019 bzw. am 4. Juni 2019 haben die Parteien sodann eine Erwiderung bzw. eine Gegenerwiderung eingereicht.

33.      In der Sitzung vom 10. Februar 2020 haben die Kommission und Ungarn mündlich verhandelt und Fragen des Gerichtshofs beantwortet.

34.      Gemäß Art. 62 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs sind die Parteien vom Berichterstatter aufgefordert worden, die ihnen vorliegenden Statistiken über die durchschnittliche Dauer der Unterbringung von Asylbewerbern in Transitzonen an der serbisch-ungarischen Grenze sowie bestimmte, in den Schriftsätzen nicht enthaltene nationale Vorschriften vorzulegen. Die Parteien haben ihre Antworten fristgerecht eingereicht. Am 20. Mai 2020 hat der Gerichtshof diese Antworten an die Parteien übermittelt und sie aufgefordert, gegebenenfalls bis zum 1. Juni 2020 eine Stellungnahme abzugeben. Nur Ungarn kam dieser Aufforderung nach. In seiner Stellungnahme hat Ungarn unter anderem ausgeführt, nach der in Durchführung des Urteils in der Rechtssache FMS u. a.(7) erfolgten Schließung der Transitzonen und der Verbringung der sich dort aufhaltenden Personen in offene Aufnahmezentren sei der Umstand weggefallen, auf dem das in der Klageschrift der Kommission vorgetragene Argument einer generellen Inhaftnahme aller Asylbewerber aufgrund ihres Aufenthalts in der Transitzone beruht habe. Folglich sei dieser Teil der vorliegenden Klage gegenstandslos geworden.

III. Würdigung

35.      Vorab ist lediglich anzumerken, dass die von Ungarn erhobene Einrede der Unzulässigkeit, die auf die kürzlich erfolgte Schließung der Transitzonen gestützt ist, im Lichte der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der das Interesse der Kommission an der Erhebung einer Vertragsverletzungsklage auch dann besteht, wenn die gerügte Vertragsverletzung nach Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist abgestellt wurde, nicht durchgreifen kann(8). In einem solchen Fall ist nämlich noch ein Rechtsschutzinteresse insoweit gegeben, als die Grundlage für eine Haftung geschaffen wird, die einen Mitgliedstaat wegen seiner Pflichtverletzung möglicherweise gegenüber denjenigen trifft, die aus dieser Vertragsverletzung Ansprüche herleiten(9). In Anbetracht dessen scheint es mir möglich, eine Beurteilung der Begründetheit der vorliegenden Klage insgesamt vorzunehmen.

36.      Die vorliegende Klage besteht im Wesentlichen aus fünf Rügen, die nacheinander zu prüfen sind.

A.      Zum fehlenden effektiven Zugang zum Asylverfahren

1.      Vorbringen der Parteien

37.      Mit ihrer ersten Rüge macht die Kommission geltend, Ungarn verstoße dadurch gegen seine Verpflichtungen aus den Art. 3 und 6 der Richtlinie 2013/32, dass es vorschreibe, dass der Asylantrag persönlich bei der zuständigen nationalen Behörde und ausschließlich in der Transitzone eingereicht werden müsse, in die nur wenige Personen eingelassen würden.

38.      Die Kommission weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das Asylgesetz durch das Gesetz Nr. XX von 2017 insoweit geändert worden sei, als für die Zeit einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation ein abweichendes Verfahren eingeführt worden sei, das – abgesehen von wenigen Ausnahmen – als allgemeine Regel vorsehe, dass der Asylantrag persönlich und ausschließlich in den beiden Transitzonen an der serbisch-ungarischen Grenze, nämlich Röszke und Tompa, gestellt werden müsse.

39.      Die Kommission legt zunächst ihre Bedenken hinsichtlich der Lebensbedingungen in diesen Transitzonen dar und weist dann darauf hin, dass die zuständigen ungarischen Behörden nur eine sehr begrenzte Zahl von Zugängen in diese Transitzonen gestatteten. Den Berichten des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) und des Sonderbeauftragten des Generalsekretärs des Europarats für Migration und Flüchtlinge sei nämlich zu entnehmen, dass sich die Höchstzahl der von Ungarn zugelassenen Personen, die internationalen Schutz beantragen, schrittweise verringert habe, bis Ungarn im Mai 2018 die Grenzen für diese Antragsteller praktisch geschlossen habe.

40.      Aus diesen Berichten gehe weiter hervor, dass sich einige Personen in einem schmalen Landstreifen vor dem Eingang zur Transitzone befänden und dass der Einlass in die Zone auf der Grundlage einer informellen Warteliste erfolge, die von „Anführern von Gemeinschaften“ an die ungarischen Behörden übermittelt werde. Selbst wenn Ungarn eine Beteiligung an der Erstellung einer solchen Warteliste leugne, bestreite es nicht deren Existenz. Da es in dem besagten Landstreifen keine Infrastruktur gebe und der Einlass in die Transitzone, der vor allem seit Januar 2018 nur tröpfchenweise und im Allgemeinen auf der Grundlage dieser Warteliste erfolge, harrten nur wenige Personen vor der Transitzone aus. Aus diesen Berichten gehe auch hervor, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen wollten, mehrere Monate warten müssten, bevor sie in die Transitzone eingelassen würden, wobei diese Wartezeit bis zu 18 Monate betragen könne.

41.      Aus den Art. 3 und 6 der Richtlinie 2013/32 ergebe sich, dass die Mitgliedstaaten dafür zu sorgen hätten, dass jede Person, die internationalen Schutz erhalten wolle, in ihrem Hoheitsgebiet einen Antrag stellen und nach ihrer Ankunft im Hoheitsgebiet Zugang zum Verfahren zur Zuerkennung dieses Schutzes habe. Die in Art. 6 dieser Richtlinie niedergelegte Verpflichtung, Anträge auf internationalen Schutz spätestens drei Arbeitstage nach Antragstellung zu registrieren, beziehe sich auch auf Anträge, die an der Grenze eines Mitgliedstaats gestellt würden. Überdies würde die praktische Wirksamkeit der Verpflichtung zur Gewährung internationalen Schutzes, wie sie in Art. 18 der Charta vorgesehen sei, verkannt, wenn die Mitgliedstaaten die Registrierung von an ihrer Grenze gestellten Anträgen ablehnen könnten.

42.      Zusammenfassend trägt die Kommission vor, Ungarn gebe dadurch, dass es nur Personen, die sich in der Transitzone befänden, erlaube, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen und registrieren zu lassen, und den Zugang zu dieser Zone äußerst streng beschränke, Personen, die sich an den ungarischen Grenzen befänden, nicht die Möglichkeit, innerhalb der in der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen Frist einen Antrag zu stellen und registrieren zu lassen.

43.      Außerdem verstoße die unter dem Vorwand, dass nur einige Personen vor der Transitzone warteten, aufgestellte Behauptung, nur wenige Menschen wollten einen Antrag auf internationalen Schutz in Ungarn stellen, gegen Treu und Glauben. In Anbetracht dessen, dass die dem Einlass in die Transitzone vorausgehende Wartezeit nur in einem schmalen Landstreifen ohne die geringste Infrastruktur verbracht werden könne, dass die Zahl der in die Zone eingelassenen Personen schrittweise auf eine einzige Person täglich reduziert worden sei und dass der Einlass auf der Grundlage einer informellen Warteliste erfolge, sei es nämlich kaum vorstellbar, dass die Antragsteller während der Wintermonate ohne Dach und ohne Nahrung in einer Warteschlange stünden, ohne die geringste reale Chance, in die Transitzone zu gelangen.

44.      Jedenfalls stehe eine Regelung, die den in Art. 6 der Richtlinie 2013/32 eingeräumten Registrierungsanspruch von der Stellung des Antrags an einem bestimmten Ort, zu dem der Zugang über einen langen Zeitraum beschränkt sei, abhängig mache, ganz unabhängig von der genauen Zahl der noch nicht beschiedenen Personen, nicht mit der in diesem Artikel enthaltenen Regel in Einklang, wonach der Zugang zum Verfahren fristgerecht zu gewährleisten sei.

45.      Ungarn macht geltend, dass Personen, die internationalen Schutz beantragten, kein Recht auf die Wahl ihres Asyllandes hätten und dass nicht nur Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32, sondern auch die Abs. 2 und 3 dieser Bestimmung zu berücksichtigen seien, aus denen sich ergebe, dass der Unionsgesetzgeber die Mitgliedstaaten ermächtige, zu verlangen, dass der Antragsteller seinen Antrag persönlich an einem bestimmten Ort stelle. Diesem Erfordernis entspreche daher § 80/J Abs. 1 des Asylgesetzes, wonach im Fall einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation(10) der Asylantrag persönlich bei der zuständigen Behörde in der Transitzone zu stellen sei.

46.      Insbesondere sei die Behauptung der Kommission, es sei nicht gewährleistet, dass die in der Transitzone gestellten Anträge von der Asylbehörde gemäß der Richtlinie 2013/32 registriert würden, unzutreffend, da das Verfahren nach Stellung des Antrags in der Transitzone nach den allgemeinen Regeln ablaufe. So gewährleiste § 32/D des Asylgesetzes, dass die Asylbehörde das Verfahren im Einklang mit Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 unverzüglich oder spätestens 24 Stunden nach der Antragstellung einleite.

47.      Außerdem wüssten die ungarischen Behörden zwar von der Praxis, dass sich Asylbewerber, die in Serbien Zugang zum Asyl- oder Unterstützungsverfahren in Anspruch nähmen, vor den Transitzonen in einer von ihnen selbst, den serbischen Behörden oder einigen Organisationen bestimmten Reihenfolge meldeten, hätten jedoch keinen Einfluss auf die so festgelegte Reihenfolge und seien überhaupt nicht an der Erstellung oder Verwendung solcher Listen beteiligt.

48.      Der von der Kommission angeführte „schmale Landstreifen“ könne in keiner Weise die geringe Zahl der Antragsteller erklären. Da nämlich das vor der Transitzone gelegene ungarische Hoheitsgebiet an serbische Gebiete grenze, könne eine erhebliche Zahl von Personen, die einen Asylantrag stellen wollten, problemlos vor der Transitzone warten. Das von der Kommission angesprochene Fehlen einer langen Warteschlange erkläre sich vielmehr daraus, dass sich die betreffenden Personen in Serbien bereits in einem laufenden Asylverfahren befänden oder befunden hätten und in diesem Staat Unterstützung erhielten.

2.      Würdigung

a)      Zur genauen Bestimmung der Verpflichtung, die Gegenstand der Rüge ist

49.      Die Kommission beruft sich als Rechtsgrundlage für die erste Rüge auf Art. 3 in Verbindung mit Art. 6 der Richtlinie 2013/32. Nach ihrem Art. 3 gilt diese Richtlinie für alle Anträge auf internationalen Schutz, die im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einschließlich an der Grenze gestellt werden, was bedeutet, dass Art. 6 der Richtlinie auf den konkreten Fall anwendbar ist. In Anbetracht der letztgenannten Bestimmung ist die spezifische Verpflichtung zu ermitteln, der Ungarn sich im vorliegenden Fall angeblich entzogen hat.

50.      Art. 6 der Richtlinie 2013/32 legt die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten in der Anfangsphase des Verfahrens für die Zuerkennung des internationalen Schutzes fest. Nach diesem Artikel sind die Mitgliedstaaten vor allem verpflichtet, jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser bei den nationalen Behörden stellt, innerhalb von drei oder sechs Arbeitstagen nach Antragstellung zu registrieren, wobei diese Frist bis auf zehn Tage verlängert wird, wenn es wegen der großen Zahl von Personen, die gleichzeitig internationalen Schutz beantragen, in der Praxis sehr schwierig ist, die zunächst einmal vorgesehene Frist einzuhalten. Sodann müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die Betroffenen tatsächlich die Möglichkeit haben, den Antrag so bald wie möglich förmlich zu stellen.

51.      In seiner Klagebeantwortung geht Ungarn offenbar davon aus, dass die Verpflichtung, deren Verletzung ihm zur Last gelegt wird, darin besteht, den Antrag auf internationalen Schutz innerhalb der in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen Fristen zu registrieren. Ich verweise jedoch darauf, dass die Kommission gegenüber der Behauptung Ungarns, die ungarischen Behörden nähmen die Registrierung regelmäßig innerhalb von 24 Stunden nach Stellung des Antrags in einer der Transitzonen vor, in ihrer Erwiderung klargestellt hat, dass sie Ungarn nicht die „Unangemessenheit“ des in diesem Mitgliedstaat geltenden Verfahrens für die Zuerkennung des internationalen Schutzes vorwerfe, die sich aus der Nichteinhaltung der für die Registrierung des Antrags auf internationalen Schutz vorgeschriebenen Fristen ergebe, sondern den Umstand, dass Ungarn den Zugang zu diesem nicht „fristgerecht“ gewährleiste.

52.      Damit bezieht sich die Kommission auf eine Verpflichtung, die in gewisser Weise derjenigen, den Antrag auf internationalen Schutz innerhalb der in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 vorgeschriebenen Fristen zu registrieren, vorgeht, nämlich auf die Verpflichtung, einen effektiven Zugang zum Verfahren für die Zuerkennung des internationalen Schutzes dadurch sicherzustellen, dass die Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz ermöglicht wird(11). Auch wenn sich diese Verpflichtung nämlich nicht in einer speziellen Vorschrift konkretisiert, liegt es auf der Hand, dass sie untrennbar mit dem Erfordernis verbunden ist, die praktische Wirksamkeit des Art. 6 der Richtlinie 2013/32 und der Richtlinie insgesamt zu gewährleisten, da sämtliche in ihr enthaltenen harmonisierten Verfahrensvorschriften toter Buchstabe bleiben, wenn sie von den betreffenden Mitgliedstaaten nicht eingehalten wird.

53.      Um zu einer genaueren Bestimmung dieser Verpflichtung zu gelangen, lassen sich dem Vorschlag der Kommission für die Richtlinie 2005/85(12), dessen Grundkonzeption im Bereich des Zugangs zum Verfahren durch die Richtlinie 2013/32 nicht geändert wurde, wesentliche Gesichtspunkte entnehmen, da dieser Vorschlag das entsprechende Recht potenzieller Antragsteller auf Zugang zum Verfahren wie folgt charakterisiert: „Asylbewerber sollten so rasch wie möglich zum Asylverfahren zugelassen werden. Asylpolitische Regelungen ergeben keinen Sinn, wenn Personen, die um Schutz nachsuchen, während eines unnötig langen Zeitraums keinen [effektiven] Zugang zu dem Asylverfahren in dem betreffenden Mitgliedstaat haben, weil die Behörden dieses Ersuchen nicht als Asylantrag anerkennen …“. Diese Passage bedeutet meines Erachtens nämlich sowohl, dass erstens die den Mitgliedstaaten obliegende Verpflichtung keine bloße Verpflichtung ist, die Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz nicht zu behindern, sondern eine positive Verpflichtung, diese Antragstellung durch ein proaktives Verhalten gegenüber Personen, die einen solchen Antrag stellen können, zu erleichtern, als auch, dass sie zweitens nicht eingehalten wird, wenn die Mitgliedstaaten Äußerungen seitens dieser Personen, Angst davor zu haben, in ihren Herkunftsstaat zurückgeschickt zu werden, die als Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz anzusehen sind, erst verspätet anerkennen.

54.      Was den ersten dieser beiden Gesichtspunkte angeht, so hat die Richtlinie 2013/32 hier meines Erachtens eine Kodifizierung vorgenommen, da sie in ihrem Art. 8 Abs. 1 vorsieht, dass die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, die sich in Gewahrsamseinrichtungen oder an Grenzübergangsstellen befinden, Informationen über die Möglichkeit, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, zur Verfügung stellen müssen, wenn es Anzeichen dafür gibt, dass sie möglicherweise einen solchen Antrag stellen möchten. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der „Praktische Leitfaden:  Zugang zum Asylverfahren“ des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) und der Europäischen Agentur für Grenz- und Küstenwache (Frontex) klarstellt, dass „Grenzschutzbeamte und Erstkontakt-Beauftragte … dafür verantwortlich [sind], proaktiv einen wirksamen Zugang zum Asylverfahren zu gewährleisten. Sie haben die Pflicht, Personen zu ermitteln, die möglicherweise internationalen Schutz beantragen möchten, sie über ihr Recht, Asyl zu beantragen, aufzuklären und sie darüber zu informieren, wie sie einen solchen Antrag stellen können. Darüber hinaus müssen sie Personen, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, darüber unterrichten, wie sie förmlich einen Antrag stellen können.“(13) (14)

55.      Was den zweiten Gesichtspunkt angeht, so schreibt die Richtlinie 2013/32 den Mitgliedstaaten zwar keine Frist für die Entgegennahme eines solchen Antrags vor. Daraus lässt sich jedoch nicht ableiten, dass die Mitgliedstaaten nach ihrem Belieben potenzielle Antragsteller übermäßig lange warten lassen dürfen, bevor sie ihren Antrag stellen können. Eine solche Auslegung liefe nämlich darauf hinaus, das Recht dieser Antragsteller auf Zugang zu dem Verfahren für die Zuerkennung des internationalen Schutzes, das seinerseits darauf abzielt, das in Art. 18 der Charta verankerte Asylrecht wirksam werden zu lassen, auszuhöhlen. Daher bin ich wie die Kommission der Ansicht, dass die den Mitgliedstaaten obliegende Verpflichtung, einen effektiven Zugang zu diesem Verfahren zu gewährleisten, die Mitgliedstaaten verpflichtet, eine Aufnahmeregelung so vorzusehen, dass Personen, die internationalen Schutz begehren, ihre Anträge sachgerecht stellen können.

56.      Ich werde daher die Frage prüfen, ob Ungarn unter den vorliegenden Umständen der soeben dargestellten Verpflichtung nachgekommen ist.

b)      Anwendung auf den vorliegenden Fall

57.      Zunächst ist klarzustellen, dass die Ungarn vorgeworfene Vertragsverletzung aus zwei Komponenten besteht. Die erste ist die Verpflichtung aus § 80/J Abs. 1 des Asylgesetzes, wonach sich internationalen Schutz begehrende Personen, die sich nicht bereits rechtmäßig im ungarischen Hoheitsgebiet aufhalten, in eine der Transitzonen begeben müssen, um das Verfahren zur Gewährung von Asyl einzuleiten. Die zweite Komponente besteht darin, dass der Zugang zu diesen Transitzonen in der Zeit vom Beginn der Migrationskrise (September 2015) bis heute drastisch eingeschränkt wurde. Ich weise bereits jetzt darauf hin, dass die von der Kommission vorgelegten Beweise meines Erachtens geeignet sind, rechtlich hinreichend nachzuweisen, dass diese beiden Komponenten tatsächlich vorliegen.

58.      Was die oben beschriebene Verpflichtung aus § 80/J Abs. 1 des Asylgesetzes betrifft, so hat Ungarn nicht ernstlich bestritten, dass im Rahmen der Ausnahmebestimmungen für Krisensituationen infolge einer massiven Zuwanderung Personen, die internationalen Schutz begehren, nach § 80/J Abs. 1 des Asylgesetzes verpflichtet sind, sich in eine der an der serbisch-ungarischen Grenze gelegenen Transitzonen von Röszke oder Tompa zu begeben, um ihren Antrag zu stellen und dadurch das Verfahren für die Zuerkennung des internationalen Schutzes einzuleiten.

59.      Was die von der Kommission behauptete, schrittweise vorgenommene drastische Beschränkung des Zugangs zu den Transitzonen angeht, ist festzustellen, dass Ungarn zu keinem Zeitpunkt des vorliegenden Verfahrens die Richtigkeit der in den Berichten verschiedener internationaler Stellen enthaltenen Angaben in Frage gestellt hat, in denen es heißt,

–        im September 2015 habe der ungarische Innenminister dem UNHCR mitgeteilt, dass die Höchstzahl der Aufnahmen in der Transitzone auf 100 Personen täglich festgesetzt worden sei, wobei diese Zahl dann im Februar 2016 auf 50 Personen und im März 2016 auf 30 Personen reduziert worden sei(15);

–        im November 2016 seien nur zehn Personen täglich berechtigt gewesen, sich in die Transitzone zu begeben, und diese Zahl sei im Jahr 2017 auf fünf Personen täglich reduziert worden – wobei die letztgenannte Angabe im Übrigen durch einen Bericht des Generalsekretärs des Europarats(16) bestätigt werde – und dann ab Januar 2018 auf eine einzige Person täglich(17);

–        im Mai 2018 habe die Zahl der in die Transitzonen eingelassenen Personen zehn pro Woche betragen;

–        aufgrund dieser schrittweisen Beschränkung des Zugangs zu den Transitzonen müssten Personen, die internationalen Schutz beantragen wollten, mehrere Monate warten, bevor sie in die Transitzonen eingelassen würden, wobei diese Wartezeit zwischen elf und achtzehn Monaten betragen könne(18).

60.      Im Übrigen erkennt Ungarn ausdrücklich an, dass der Einlass in die Transitzone auf der Grundlage einer den ungarischen Behörden von „Anführern von Gemeinschaften“ übermittelten informellen Warteliste erfolgt(19). Es bestreitet nämlich keineswegs die Existenz dieser Liste und deren Verwendung, sondern beschränkt sich auf die Behauptung, dass es nicht an deren Erstellung beteiligt sei und keinen Einfluss auf die so festgelegte Reihenfolge der Aufnahme habe.

61.      Auf der Grundlage dieser Beweiselemente kann daher davon ausgegangen werden, dass Personen, die an der serbisch-ungarischen Grenze internationalen Schutz beantragen wollen, eine Wartezeit von elf bis achtzehn Monaten verbringen müssen, bevor sie in eine der Transitzonen eingelassen werden können und so ihren Antrag stellen können. Dies ist meines Erachtens genau die Situation, auf die sich die Kommission im Vorschlag für die Richtlinie 2005/85 bezog, da Personen, die internationalen Schutz beantragen wollen, im vorliegenden Fall für unnötig lange Zeit im ungarischen Hoheitsgebiet ihrem Schicksal überlassen sind, weil die zuständige ungarische Behörde außerhalb einer Transitzone erfolgende Äußerungen, Angst davor zu haben, in ihren Herkunftsstaat zurückgeschickt zu werden, nicht als Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz betrachtet. Angesichts einer derart langen Wartezeit sehe ich nicht, wie man annehmen könnte, dass das ungarische Aufnahmesystem so gestaltet ist, dass es potenziellen Antragstellern ermöglicht wird, ihren Antrag mit Erfolg zu stellen. Aus diesem Grund bin ich der Ansicht, dass der Zusammenhang zwischen der gesetzlichen Verpflichtung, sich zur Stellung des Antrags auf internationalen Schutz in eine der Transitzonen zu begeben, und der drastischen Beschränkung der Zahl der Personen, die berechtigt sind, sich in diese Transitzonen zu begeben, nicht mit der Verpflichtung vereinbar ist, einen effektiven Zugang zum Verfahren für die Zuerkennung des internationalen Schutzes zu gewährleisten, wie sie aus dem Zweck von Art. 6 der Richtlinie 2013/32 hervorgeht und oben charakterisiert wurde.

62.      Allerdings weist Ungarn darauf hin, dass es nur wenige Personen gebe, die auf dem Landstreifen vor der Transitzone warteten. Dies erkläre sich nicht durch die von den ungarischen Behörden vorgenommenen Zulassungsbeschränkungen in Verbindung mit dem Fehlen jeglicher Infrastruktur in diesem Streifen, wie von der Kommission behauptet, sondern durch die Existenz der auf der serbischen Seite angewandten informellen Warteliste, auf die die ungarischen Behörden keinen Einfluss hätten. Selbst unterstellt, dass die sehr geringe Zahl der in die Transitzonen eingelassenen Personen nur auf die Existenz einer solchen Liste zurückzuführen sei, würde dies an der in der vorstehenden Nummer gezogenen Schlussfolgerung in Bezug auf den Verstoß gegen die Verpflichtung, Personen, die internationalen Schutz begehren, effektiven Zugang zum diesbezüglichen Verfahren zu gewährleisten, nichts ändern.

63.      Es ist nämlich schwer vorstellbar, inwiefern der unbestrittene Umstand, dass Ungarn die Existenz dieser Liste geduldet und sogar durch eine enge Zusammenarbeit mit den „Anführern von Gemeinschaften“, wie mir aus einem der von der Kommission angeführten Berichte des UNHCR hervorzugehen scheint, aktiv an deren Verwendung mitgewirkt hat, mit dem positiven Charakter der Verpflichtung, einen effektiven Zugang zum fraglichen Verfahren zu gewährleisten, in Einklang gebracht werden könnte. Dieser Charakter impliziert nämlich, wie oben ausgeführt, ein proaktives Verhalten der zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats, das Personen, die dies wünschen, die Stellung von Anträgen auf internationalen Schutz erleichtern soll.

64.      Auch das übrige Vorbringen Ungarns als Beleg dafür, dass kein Verstoß gegen Art. 6 der Richtlinie 2013/32 vorliege, überzeugt mich nicht.

65.      Das Argument, die Anwendung dieser Richtlinie auf den vorliegenden Fall würde den betroffenen Personen ein subjektives Recht auf Wahl ihres Asylstaats („right to asylum shopping“) verleihen, das sich weder aus Art. 18 der Charta noch aus dem am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergebe, ist meines Erachtens unerheblich, da die Verpflichtung des Aufnahmestaats, einen effektiven Zugang zum Verfahren für die Zuerkennung des internationalen Schutzes zu gewährleisten, von dem Drittstaat, über den diese Personen in das Hoheitsgebiet dieses Staates oder an dessen Grenzen gelangt sind, unabhängig ist. Im Übrigen erlauben es die in der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen Begriffe „erster Asylstaat“, „sicherer Herkunftsstaat“ und „sicherer Drittstaat“ den Mitgliedstaaten bereits, die Wahl des Asylstaats zu verhindern, ohne den Zugang zu dem fraglichen Verfahren zu beeinträchtigen.

66.      Ebenso wenig kann das Argument durchgreifen, die Verpflichtung, sich zur Stellung des Antrags auf internationalen Schutz an einen bestimmten Ort zu begeben, sei dadurch gerechtfertigt, dass nach den von der Grenzschutzverwaltung und der Grenzschutzpolizei übermittelten Zahlen die meisten illegal nach Ungarn einreisenden Personen versuchten, die Grenze in der Nähe der Transitzonen zu überschreiten. Dies könnte nämlich keinesfalls das Bestehen einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift wie § 80/J Abs. 1 des Asylgesetzes rechtfertigen, die der Stellung eines solchen Antrags unter Verstoß gegen die sich aus Art. 6 der Richtlinie 2013/32 ergebenden Anforderungen entgegensteht.

67.      Ungarn macht weiter geltend, § 80/J Abs. 1 des Asylgesetzes sei als mit der Richtlinie 2013/32 vereinbar anzusehen, da Art. 6 Abs. 3 dieser Richtlinie es den Mitgliedstaaten erlaube, zu verlangen, dass Anträge auf internationalen Schutz persönlich und/oder an einem bestimmten Ort gestellt würden. Diesem Argument muss meines Erachtens gesteigerte Aufmerksamkeit gewidmet werden.

68.      Ich möchte bereits jetzt klarstellen, dass es meiner Auffassung nach auf einer falschen Prämisse beruht. Das von der Kommission im vorliegenden Fall beanstandete Fehlen eines effektiven Zugangs zum Verfahren für die Zuerkennung des internationalen Schutzes betrifft nämlich zweifelsfrei nicht die Phase der Einreichung des Antrags auf internationalen Schutz, sondern die vor dieser liegende Phase der Stellung des Antrags(20). Sowohl der Wortlaut als auch die Systematik von Art. 6 der Richtlinie 2013/32 zeugen von diesen beiden unterschiedlichen Phasen, die hinsichtlich der Befugnis des Aufnahmemitgliedstaats, Verpflichtungen für die Betroffenen vorzusehen, gegensätzliche Schlussfolgerungen implizieren. Zwar können Personen, die bereits einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, tatsächlich Verpflichtungen auferlegt werden, doch bedeutet das Erfordernis, einen effektiven Zugang zum Verfahren zu gewährleisten, dass Personen, die diesen Antrag noch nicht gestellt haben, keine Verpflichtung auferlegt werden darf. Diese Auslegung wird durch die Erläuterungen des geänderten Vorschlags für die Richtlinie 2013/32 bestätigt, in denen es heißt: „In der englischen Fassung wurde der Vorgang der Antragstellung [betreffend internationalen Schutz] durch die Verwendung zweier Verben – ‚make‘ [französische Fassung: ‚présenter‘] und ‚lodge‘ [französische Fassung: ‚déposer‘, im endgültigen Text der Richtlinie durch ‚introduire‘ (,förmlich stellen‘) ersetzt] – verdeutlicht“, und „als Antrag … [gilt] bereits das Ersuchen einer Person um Schutz durch einen Mitgliedstaat, wenn anzunehmen ist, dass diese Person die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt. Dieses Ersuchen setzt keine administrativen Formalitäten voraus. Diese sind erst dann zu beachten, wenn der Antrag förmlich gestellt wird (,lodged‘) [französische Fassung: ‚dépôt‘ bzw. ‚introduction‘]“(21) (22).

69.      Der jüngste Vorschlag für eine Verordnung betreffend die Verfahren zur Zuerkennung des internationalen Schutzes scheint mir diese Auslegung zu bestätigen. In dem Bestreben, den Ablauf des Verfahrens zu straffen und zu vereinfachen, unterschied die Kommission darin streng zwischen den verschiedenen Phasen, aus denen sich der Zugang zu diesem Verfahren zusammensetzt, nämlich Antragstellung, Registrierung des Antrags und Einreichung des Antrags auf internationalen Schutz. In diesem Rahmen ist die Verpflichtung der Personen, die internationalen Schutz beantragen wollen, sich persönlich an einen vom Aufnahmemitgliedstaat bestimmten Ort zu begeben, in Art. 28 („Einreichung eines Antrags auf internationalen Schutz“) dieses Verordnungsvorschlags enthalten, während Art. 25 („Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz“) dieses Verordnungsvorschlags keine Verpflichtung für diese Personen enthält(23).

70.      Jedenfalls ist die den Mitgliedstaaten nach Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 eingeräumte Möglichkeit, zu verlangen, dass Anträge auf internationalen Schutz persönlich und an einem bestimmten Ort gestellt werden, „unbeschadet des Absatzes 2“ dieses Artikels zu verstehen. Sie darf mit anderen Worten keinesfalls in einer Weise ausgeübt werden, die die betroffenen Personen daran hindert, ihren Antrag auf internationalen Schutz „so bald wie möglich“ förmlich zu stellen. Da diese Personen jedoch, wie oben dargelegt, erst nach einer Wartezeit von elf bis achtzehn Monaten Zugang zur Transitzone haben, erscheint es mir höchst unwahrscheinlich, dass sich Ungarn zu Recht auf Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 berufen kann, um die Vereinbarkeit von § 80/J Abs. 1 des Asylgesetzes mit dem Unionsrecht zu rechtfertigen.

71.      Im Ergebnis bin ich der Ansicht, dass Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtung aus den Art. 3 und 6 der Richtlinie 2013/32 verstößt, dass es vorschreibt, dass der Asylantrag persönlich bei der zuständigen nationalen Behörde zu stellen ist, und zwar ausschließlich in einer der Transitzonen, in die diese Behörde nur eine kleine Zahl von Personen einlässt.

72.      Daher ist der ersten Rüge der vorliegenden Vertragsverletzungsklage meines Erachtens stattzugeben.

B.      Zum Verstoß gegen die für Anträge auf internationalen Schutz geltenden Verfahrensvorschriften

1.      Vorbringen der Parteien

73.      Mit ihrer zweiten Rüge macht die Kommission geltend, da Art. 43 der Richtlinie 2013/32 die Voraussetzungen für die Anwendung des Verfahrens an der Grenze abschließend regele, verstoße Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 43 und aus Art. 24 Abs. 3 dieser Richtlinie, dass es generell ein besonderes Verfahren anwende, in dem die in dieser Richtlinie vorgesehenen Garantien nicht gewährleistet seien.

74.      Mit dem Gesetz Nr. XX von 2017 seien neue Bestimmungen eingeführt worden, die mit Art. 43 der Richtlinie 2013/32 unvereinbar seien. Erstens müsse – entgegen diesem Art. 43 – nach § 80/J Abs. 5 des Asylgesetzes jedes in diesem Gesetz vorgesehene Verfahren, unabhängig davon, ob es die Zulässigkeit oder die Begründetheit betreffe, in der Transitzone durchgeführt werden. Zweitens beschränke § 80/J Abs. 5 des Asylgesetzes die Dauer des Verfahrens nicht auf vier Wochen, wie es Art. 43 der Richtlinie verlange. Drittens wahre das im Asylgesetz vorgesehene Verfahren auch nicht die Verfahrensgarantien des Kapitels II der Richtlinie 2013/32, namentlich die angemessene Unterstützung von schutzbedürftigen Personen im Sinne von Art. 24 Abs. 3 dieser Richtlinie.

75.      Im Übrigen gestatte Art. 72 AEUV den Mitgliedstaaten nicht, unter Berufung auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit die Anwendung des Unionsrechts allgemeine, ohne die geringste Bezugnahme auf konkrete Personen, abzulehnen. Hierzu weist die Kommission zum einen darauf hin, dass die durch eine massive Zuwanderung herbeigeführte Krisensituation, die dem Erlass des Gesetzes Nr. XX von 2017 zugrunde gelegen habe, im ungarischen Hoheitsgebiet offenbar nicht für einen Übergangszeitraum erklärt worden sei, und zum anderen, dass andere Vorschriften des Unionsrechts es den Mitgliedstaaten ermöglichen sollten, für flexible Lösungen in Notfällen zu optieren und in gewissem Umfang allgemein geltende Regeln zu vermeiden, ohne die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts zu gefährden. Diesbezüglich habe der Gerichtshof bereits klargestellt, dass es keinen allgemeinen, dem Vertrag innewohnenden Vorbehalt gebe, der jede im Interesse der öffentlichen Sicherheit getroffene Maßnahme vom Anwendungsbereich des Unionsrechts ausnehme, und dass die Bestimmungen des Vertrags über die öffentliche Sicherheit, wie Art. 72 AEUV, ganz bestimmte außergewöhnliche Fälle beträfen.

76.      Ungarn ist der Ansicht, die in den Transitzonen durchgeführten Verfahren seien keine Verfahren an der Grenze und müssten daher nicht den Anforderungen von Art. 43 der Richtlinie 2013/32 entsprechen.

77.      Die ungarischen Transitzonen seien nämlich rechtlich nicht den Transitzonen im Sinne dieser Bestimmung gleichzustellen. Dies erkläre sich daraus, dass mit der durch das Gesetz Nr. XX von 2017 eingeführten Änderung neue Verfahrensvorschriften für Krisensituationen infolge einer massiven Zuwanderung eingeführt und gleichzeitig die Funktion der Transitzonen geändert worden sei. Werde eine solche Krise festgestellt, schließe § 80/I Buchst. i des Asylgesetzes die Anwendung der Vorschriften für das Verfahren an der Grenze aus, so dass die „gewöhnlichen“ Verfahrensvorschriften der Richtlinie 2013/32 Anwendung fänden. Dies bedeute, dass die Transitzonen von Röszke und Tompa auf der Grundlage der derzeit geltenden nationalen Regelung im Wesentlichen Aufnahmeeinrichtungen in der Nähe der Grenze seien und nicht „Transitzonen“ im Sinne von Art. 43 der Richtlinie 2013/32, in denen die Asylverfahren nach den allgemeinen Vorschriften durchgeführt würden.

78.      Ein anderer Grund dafür, dass das Verfahren in den Transitzonen von Röszke und Tompa ganz offensichtlich nicht als Verfahren an der Grenze eingestuft werden könne, bestehe darin, dass die für Asylfragen zuständige nationale Behörde dort nicht nur die Frage der Unzulässigkeit prüfe, sondern im Fall der Zulässigkeit auch über die Begründetheit des Antrags entscheide.

79.      Zur Nichtbeachtung der in Kapitel II der Richtlinie 2013/32 enthaltenen Garantien, insbesondere der von der Kommission geltend gemachten Verpflichtung, die nach Art. 24 Abs. 3 dieser Richtlinie erforderliche angemessene Unterstützung zu gewähren, entgegnet Ungarn, § 4 Abs. 3 des Asylgesetzes stelle den Grundsatz auf, dass die Bestimmungen dieses Gesetzes in Bezug auf schutzbedürftige Personen unter Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse dieser Personen anzuwenden seien. Folglich achte die für Asylsachen zuständige nationale Behörde während des Verfahrens ständig auf die Bedürfnisse der schutzbedürftigen Personen.

80.      Jedenfalls erlaube Art. 72 AEUV es Ungarn, eine durch eine massive Zuwanderung herbeigeführte Krisensituation auszurufen und in einer solchen Situation abweichende Verfahrensregeln zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und zum Schutz der inneren Sicherheit anzuwenden.

2.      Würdigung

81.      Die vorliegende Rüge betrifft die mit dem Gesetz Nr. XX von 2017 vorgenommenen Änderungen des Asylgesetzes zur Verschärfung der besonderen Verfahren, die im Fall einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation von den allgemeinen Bestimmungen des Asylgesetzes abweichen – eine Situation, die vom 15. September 2015 bis zum 7. März 2019 in Ungarn ununterbrochen andauerte und somit auch zum Zeitpunkt des Ablaufs der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist (2. Februar 2018) bestand. Diese Gesetzesänderungen führen nach Ansicht der Kommission dazu, dass das in den Transitzonen durchgeführte Verfahren mit den für die Verfahren an der Grenze nach Art. 43 der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen Garantien unvereinbar war.

82.      Ungarn wendet sich gegen die dem angeblichen Verstoß gegen diese Garantien zugrunde liegende Prämisse als solche, dass nämlich dieses Verfahren unter den Begriff „Verfahren an der Grenze“ falle und somit Art. 43 der Richtlinie 2013/32 auf die Umstände des vorliegenden Falls anwendbar sei. Aus diesem Grund werde ich vor der Prüfung der Frage, ob die Modalitäten der Durchführung des in Rede stehenden Verfahrens nach der Einführung der vorgenannten Änderungen die in dieser Bestimmung und in Art. 24 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen Garantien beachten (Abschnitt b), zu der Vorfrage Stellung nehmen, ob diese Bestimmung anwendbar ist (Abschnitt a).

a)      Zur Anwendbarkeit von Art. 43 der Richtlinie 2013/32

83.      Zunächst sind die wesentlichen Linien des von Ungarn entwickelten hauptsächlichen Verteidigungsvorbringens darzustellen. Seiner Ansicht nach trifft es zwar zu, dass die Einrichtungen von Röszke und Tompa bis März 2017 zur Durchführung der Verfahren an der Grenze gedient hätten, doch sei auch zu berücksichtigen, dass durch das Gesetz Nr. XX von 2017, mit dem für den Fall einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krise die innerstaatlichen Vorschriften über das Verfahren an der Grenze zugunsten einer besonderen rechtlichen Regelung, die der Anwendung der „allgemeinen“ Verfahrensvorschriften der Richtlinie 2013/32 entspreche, außer Kraft gesetzt worden seien, zugleich die Funktion dieser Einrichtungen geändert worden sei. Zwar habe deren rechtlicher Status vor dieser Änderung dem der „Transitzonen“ im Sinne von Art. 43 der Richtlinie 2013/32 entsprochen, doch seien sie derzeit im Wesentlichen Aufnahmeeinrichtungen in Grenznähe, wo die Asylverfahren nach den allgemeinen Verfahrensregeln durchgeführt würden. Der Umstand, dass sich eine Aufnahmeeinrichtung in Grenznähe befinde, führe nicht zwangsläufig zu ihrer Einstufung als „Transitzone“ und zur Einstufung der dort durchgeführten Verfahren als „Verfahren an der Grenze“ im Hinblick auf die Anwendbarkeit von Art. 43 der Richtlinie 2013/32.

84.      Dieses Argument beruht meines Erachtens auf einer falschen Prämisse hinsichtlich des Zwecks des in Art. 43 vorgesehenen „Verfahrens an der Grenze“.

85.      Es ist darauf hinzuweisen, dass der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten mit dieser Bestimmung die Möglichkeit geboten hat, die Gruppe von Personen, die internationalen Schutz beantragen, an ihren Grenzen zu konzentrieren und dort innerhalb kurzer Frist die gestellten Anträge ohne Einschränkung in Bezug auf die Prüfung der Zulässigkeit zu bearbeiten, jedoch im Rahmen einer begrenzten Zuständigkeit, d. h. in den in Art. 31 Abs. 8 der Richtlinie 2013/32 aufgezählten Fällen, was die inhaltliche Prüfung des Antrags angeht. Zu diesem Zweck verweist der Unionsgesetzgeber in Art. 43 dieser Richtlinie auf eine Zuständigkeit, die die Mitgliedstaaten „an ihrer Grenze oder in ihren Transitzonen“ ausüben dürfen, wobei die Konjunktion „oder“ nicht bedeutet, dass sich die Transitzonen an einem anderen Ort als den Grenzen der Mitgliedstaaten befinden müssen, sondern lediglich einen Ort klarstellen sollen, der üblicherweise für die Prüfung von an der Grenze gestellten Anträgen auf internationalen Schutz verwendet wird.

86.      Daraus folgt, dass, wie ich kürzlich in meinen Schlussanträgen in den verbundenen Rechtssachen FMS u. a.(24) ausgeführt habe, das grundlegende Element für die Einstufung der von den zuständigen nationalen Behörden durchgeführten Verfahren im Hinblick auf Art. 43 der Richtlinie 2013/32 die territorialen Gegebenheiten dieser Verfahren sind(25). Machen die Mitgliedstaaten von der ihnen gebotenen Möglichkeit Gebrauch, Verfahren an einem Ort an ihrer Grenze einzurichten, findet diese Bestimmung Anwendung(26).

87.      Insoweit steht fest, dass

–        Asylanträge gemäß § 80/J Abs. 1 des Asylgesetzes notwendigerweise in den Transitzonen von Röszke und Tompa gestellt werden müssen, wie dies bei der Prüfung der ersten Rüge des vorliegenden Vertragsverletzungsverfahrens ausführlich dargelegt worden ist;

–        die zuständige nationale Behörde dem Asylbewerber nach § 80/J Abs. 5 dieses Gesetzes eine der Transitzonen als Aufenthaltsort zuweist, bis der Überstellungsbeschluss nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013(27) oder die nicht mehr anfechtbare Entscheidung vollstreckbar geworden ist.

88.      Angesichts dieser objektiven Elemente besteht meines Erachtens kaum ein Zweifel daran, dass das Verfahren zur Prüfung von Asylanträgen in den Anwendungsbereich von Art. 43 der Richtlinie 2013/32 fällt, da es vollständig innerhalb einer an der Grenze gelegenen Struktur durchgeführt wird.

89.      Diese Schlussfolgerung wird sicherlich nicht durch das Argument in Frage gestellt, der Umstand, dass die für Asylsachen zuständige nationale Behörde in einem solchen Verfahren über die in Art. 31 Abs. 8 der Richtlinie 2013/32 aufgezählten Fälle hinaus in der Sache entscheide, könne der Einstufung eines solchen Verfahrens als „Verfahren an der Grenze“ entgegenstehen. Dieses Argument läuft nämlich auf die Annahme hinaus, Art. 43 der Richtlinie 2013/32 sei auf das fragliche Verfahren nicht anwendbar, weil die Modalitäten seiner Durchführung nicht mit diesem Artikel vereinbar seien, was einen reinen Sophismus darstellt.

b)      Zur Nichtbeachtung der Garantien des Art. 43 der Richtlinie 2013/32

90.      Nach der Feststellung, dass das von der zuständigen ungarischen Asylbehörde in den Transitzonen von Röszke und Tompa durchgeführte Verfahren unter Art. 43 der Richtlinie 2013/32 fällt, ist nunmehr die Begründetheit des Vorbringens zu prüfen, wonach dieses Verfahren im Anschluss an die durch das Gesetz Nr. XX von 2017 eingeführten Änderungen nicht die in dieser Bestimmung enthaltenen Garantien erfülle, insbesondere diejenigen, nach denen die Mitgliedstaaten nur über die Zulässigkeit des Antrags oder in den Fällen des Art. 31 Abs. 8 der Richtlinie 2013/32 über dessen Begründetheit entscheiden dürften (erster Teil der zweiten Rüge) und die Dauer des Verfahrens auf vier Wochen zu beschränken sei, da demjenigen, der einen Antrag auf internationalen Schutz stelle, die Einreise in das Hoheitsgebiet des betroffenen Mitgliedstaats gestattet werden müsse, wenn innerhalb dieser Frist keine Entscheidung getroffen worden sei (zweiter Teil der zweiten Rüge). Darüber hinaus macht die Kommission geltend, das in Rede stehende Verfahren verstoße auch gegen Art. 24 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32, der aufgrund des in Art. 43 dieser Richtlinie enthaltenen Bezugnahme auf die „Grundsätze und Garantien nach Kapitel II“ auf das Verfahren an der Grenze anwendbar sei, dem zufolge Antragstellern, die besondere Verfahrensgarantien benötigten, „angemessene Unterstützung“ gewährt werden müsse (dritter Teil der zweiten Rüge).

91.      Den drei Teilen der Rüge ist offensichtlich stattzugeben.

92.      Hinsichtlich des ersten Teils ist zwischen den Parteien unstreitig, dass jedes im Asylgesetz vorgesehene Verfahren in der Transitzone stattfinden muss, unabhängig davon, ob es die Zulässigkeit oder die Begründetheit betrifft. Wie bereits ausgeführt, bestimmt § 80/J Abs. 5 des Asylgesetzes nämlich, dass die nationale Asylbehörde dem Asylbewerber die Transitzone als Aufenthaltsort zuweist, bis der Überstellungsbeschluss nach der Dublin-Verordnung oder die nicht mehr anfechtbare Entscheidung vollstreckbar geworden ist, ohne die Zuständigkeit dieser Behörde auf die beiden in Art. 43 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen Fälle zu beschränken.

93.      Was den zweiten Teil betrifft, ist zwischen den Parteien ebenfalls unstreitig, dass § 80/I Buchst. i des Asylgesetzes und § 15/A Abs. 2a des Gesetzes über die Staatsgrenzen die Anwendung der nationalen Rechtsvorschriften ausschließen, die die Einreise eines Asylbewerbers, der sich in einer Transitzone aufhält, in das ungarische Hoheitsgebiet gestatten, wenn seit der Stellung seines Antrags vier Wochen vergangen sind, und die die nationale Asylbehörde verpflichten, ein Verfahren nach den allgemeinen Regeln (§ 71/A und 72 des Asylgesetzes) – nationalen Rechtsvorschriften, die Art. 43 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 umsetzen – durchzuführen.

94.      In Bezug auf den dritten Teil ist darauf hinzuweisen, dass Art. 24 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 allgemein vorsieht, dass die Mitgliedstaaten für Personen, die internationalen Schutz beantragen und besondere Verfahrensgarantien benötigen, während des gesamten Asylverfahrens eine „angemessene Unterstützung“ gewährleisten müssen, wobei diese Bestimmung auch die Personen betrifft, deren Antrag gemäß den in Art. 43 der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen Vorschriften über das Verfahren an der Grenze geprüft wird.

95.      Art. 24 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 war Gegenstand einer günstigen Umsetzung durch Ungarn im Sinne von Art. 5 dieser Richtlinie insofern, als § 71/A Abs. 7 des Asylgesetzes Antragsteller, die besondere Verfahrensgarantien benötigen(28), vom Anwendungsbereich der nationalen Regelung zur Umsetzung der genannten Vorschriften ausschließt. Es steht jedoch fest, dass § 80/I Buchst. i des Asylgesetzes die Anwendung von § 71/A Abs. 7 im Fall einer durch eine massive Zuwanderung gekennzeichneten Krisensituation ausgeschlossen hat(29), eine von den ungarischen Behörden seit ihrer Einführung ständig angewandte rechtliche Regelung. Außerdem und vor allem wurde mit dem Gesetz Nr. XX von 2017 eine besondere Regelung für Personen eingeführt, die internationalen Schutz beantragen und besondere Verfahrensgarantien benötigen, und zwar in dem Sinne, dass sich § 80/J Abs. 6 des Asylgesetzes darauf beschränkt, die Anwendung bestimmter Verfahrensgarantien zugunsten unbegleiteter Minderjähriger unter 14 Jahren, d. h. einen kleinen Teil der Kategorie der betroffenen Antragsteller, vorzusehen. Dies stellt meines Erachtens einen Verstoß der ungarischen Behörden gegen Art. 24 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 dar.

96.      Insoweit kann die bloße Berufung Ungarns auf § 4 Abs. 3 des Asylgesetzes, wonach „[a]uf schutzbedürftige Personen … die Bestimmungen dieses Gesetzes unter Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse anzuwenden [sind], die sich aus ihrer Situation ergeben“, diese Schlussfolgerung nicht in Frage stellen, da es sich um eine Bestimmung handelt, die einer bloßen petitio principii gleichkommt und gegen § 80/I Buchst. i sowie gegen § 80/J Abs. 6 dieses Gesetzes verstößt.

97.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof als Zwischenergebnis vor, in seinem anstehenden Urteil festzustellen, dass Ungarn dadurch, dass das in den Transitzonen durchgeführte Verfahren an der Grenze nicht die in Art. 43 der Richtlinie 2013/32 und in Art. 24 Abs. 3 dieser Richtlinie vorgesehenen Garantien erfüllt, gegen seine Verpflichtungen aus diesen beiden Bestimmungen verstoßen hat.

c)      Zu Art. 72 AEUV

98.      Nach Ansicht Ungarns ist die Anwendung der Vorschriften, die von denen der Richtlinie 2013/32 abweichen, im vorliegenden Fall jedenfalls durch Art. 72 AEUV gerechtfertigt. Bei der Migrationskrise im Jahr 2015 hätten sich die geltenden Vorschriften nämlich als unzureichend erwiesen, um es den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, eine solche Situation angemessen zu regeln. In diesem Fall erlaube es Art. 72 AEUV gerade, zum Zweck der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit von den Vorschriften des Unionsrechts abzuweichen.

99.      Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Art. 72 AEUV, der zu Kapitel I („Allgemeine Bestimmungen“) des Titels V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) AEUV gehört, wie folgt lautet: „Dieser Titel berührt nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit.“

100. Das Vorbringen Ungarns beruht meines Erachtens auf einer Auslegung, wonach diese Bestimmung des Primärrechts als Kollisionsnorm zu verstehen ist, nach der die Rechte der Mitgliedstaaten im Bereich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit Vorrang vor ihren sekundärrechtlichen Verpflichtungen haben. Ein Mitgliedstaat könnte sich somit immer dann, wenn seiner Auffassung nach ein Risiko für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit besteht, auf Art. 72 AEUV berufen, um jedweden Rechtsakt unangewendet zu lassen, der im Rahmen von Titel V des AEU-Vertrags erlassen wurde und dessen Bindungswirkung unstreitig ist.

101. Diese Auslegung wurde meines Erachtens bereits in dem vom Gerichtshof kürzlich in der Rechtssache Kommission/Polen u. a. (Vorübergehender Umsiedlungsmechanismus für internationalen Schutz beantragende Personen)(30) (31)erlassenen Urteil zurückgewiesen, dessen Begründung ich hier kurz wiedergeben möchte.

102. Zunächst kann nach Ansicht des Gerichtshofs nicht angenommen werden, dass ein allgemeiner, dem Vertrag immanenter Vorbehalt besteht, der jede Maßnahme, die im Interesse der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit getroffen wird, vom Anwendungsbereich des Unionsrechts ausnähme, da die nach dem Vertrag für Situationen, in denen diese beeinträchtigt werden könnten, vorgesehenen ausdrücklichen Abweichungen ganz bestimmte außergewöhnliche Fälle beträfen(32). Sodann hat der Gerichtshof festgestellt, dass die in Art. 72 AEUV vorgesehene Ausnahme, da sie als solche eng auszulegen sei, nicht so ausgelegt werden könne, dass sie den Mitgliedstaaten die Befugnis verleihe, von den Bestimmungen des Vertrags durch bloße Berufung auf ihre Zuständigkeiten abzuweichen. Mit anderen Worten könne die Tragweite der Erfordernisse bezüglich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit nicht von jedem Mitgliedstaat ohne Kontrolle durch die Organe der Union bestimmt werden. Nach Auffassung des Gerichtshofs obliegt es somit dem Mitgliedstaat, der sich auf Art. 72 AEUV beruft, nachzuweisen, dass eine Inanspruchnahme der in diesem Artikel geregelten Ausnahme erforderlich ist, um seine Zuständigkeiten im Bereich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit wahrzunehmen(33).

103. Für den Fall, dass die Gültigkeit des betreffenden Sekundärrechtsakts nicht im Hinblick auf Art. 72 AEUV in Frage gestellt wird, ist es daher Sache des Mitgliedstaats, dem Gerichtshof Anhaltspunkte dafür zu liefern, dass dieser Rechtsakt es ihm in Anbetracht des Inhalts der eingeführten rechtlichen Regelung oder der konkreten Bedingungen für ihre Durchführung nicht ermöglicht, die Ausübung der vorgenannten Zuständigkeiten zu gewährleisten. Nur unter dieser Voraussetzung kann sich ein Mitgliedstaat zur Rechtfertigung seiner Weigerung, eine durch den beanstandeten Sekundärrechtsakt auferlegte Verpflichtung zu erfüllen, mit Erfolg auf Art. 72 AEUV berufen(34).

104. Diese Erwägungen sind auf die Umstände des vorliegenden Falles anzuwenden.

105. Zunächst weise ich darauf hin, dass Ungarn als Verteidigungsmittel nicht die Gültigkeit von Art. 43 der Richtlinie 2013/32 im Hinblick auf Art. 72 AEUV in Frage stellt. Dies vorausgeschickt, geht aus seinen Schriftsätzen klar hervor, dass es sich auf diese Bestimmung beruft, um geltend zu machen, dass es bei einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation berechtigt sei, eine Regelung vorzusehen, die von den Garantien im Zusammenhang mit den Verfahren an der Grenze abweiche. Angesichts dessen erfordert die Notwendigkeit, von der Ausnahme Gebrauch zu machen, die die Wahrnehmung der Zuständigkeiten Ungarns im Bereich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit ermöglichen soll, meiner Ansicht nach eine Beurteilung allein im Rahmen von Art. 43 dieser Richtlinie. Dieser sieht in seinem Abs. 3 ausdrücklich die Möglichkeit vor, eine solche Ausnahme anzuwenden, wenn der Zustrom einer Vielzahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, die gleichzeitig internationalen Schutz beantragen, die Anwendung seines Abs. 1 praktisch unmöglich macht. Ungarn hat sich in seinen Schriftsätzen jedoch nicht, und sei es auch nur hilfsweise, auf diesen Absatz berufen.

106. Jedenfalls ist erstens darauf hinzuweisen, dass Art. 43 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 von Ungarn ausschließlich geltend gemacht werden könnte, um sich über die in Abs. 2 dieses Artikels vorgesehene Garantie hinwegzusetzen, d. h. um die Überschreitung der Vierwochenfrist zu rechtfertigen, innerhalb deren das Verfahren an der Grenze normalerweise abgeschlossen sein muss. Zweitens könnte dieser Mitgliedstaat nur dann hiervon Gebrauch machen, wenn die Personen, die internationalen Schutz beantragen wollen, nach Ablauf der vierwöchigen Frist normalerweise an Orten in der Nähe der Grenze oder der Transitzone untergebracht werden. Wie der Gerichtshof jedoch kürzlich in seinem Urteil in der Rechtssache FMS u. a. klarstellte, bedeutet das Erfordernis, diese Antragsteller unter normalen Bedingungen unterzubringen, zwangsläufig, dass sie nicht in Haft bleiben können(35), wie es hier der Fall ist, wozu ich im Zusammenhang mit der Würdigung der dritten Rüge Stellung nehmen werde.

107. Daher erlaubt Art. 72 AEUV es Ungarn meines Erachtens nicht, bei der Durchführung eines Verfahrens an der Grenze im Sinne von Art. 43 der Richtlinie 2013/32 in den Transitzonen von Röszke und Tompa von den in dieser Bestimmung vorgesehenen Garantien abzuweichen.

108. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, der zweiten Rüge der Kommission insgesamt stattzugeben.

C.      Zur generellen Inhaftnahme der Asylbewerber und zur Nichtbeachtung der maßgeblichen Verfahrensgarantien

1.      Vorbringen der Parteien

109. Mit ihrer dritten Rüge macht die Kommission geltend, Ungarn habe dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 2 Buchst. h sowie den Art. 8, 9 und 11 der Richtlinie 2013/33 verstoßen, dass es für alle Asylbewerber (mit Ausnahme von Kindern unter 14 Jahren) die Anwendung eines Verfahrens vorsehe, das dazu führe, dass diese in den Einrichtungen einer der Transitzonen, die sie nur in Richtung Serbien verlassen könnten, während der gesamten Dauer des Asylverfahrens in Haft bleiben müssten, und dass es insoweit nicht die in der Richtlinie 2013/33 vorgesehenen Garantien gewähre.

110. Der Begriff „Haft“, wie er in Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 definiert werde, sei ein autonomer Rechtsbegriff des Unionsrechts, so dass die Einstufung der Transitzonen nach ungarischem Recht oder die Tatsache, dass sie sich in der Nähe der Grenze befänden, keinen Einfluss auf dessen Beurteilung habe.

111. Die Transitzonen in Ungarn seien geschlossene Orte, die der Antragsteller nur in Richtung Serbien verlassen könne. Die Personen, die sich in diesen Zonen befänden, könnten nicht in das ungarische Hoheitsgebiet einreisen.

112. Nach § 80/K Abs. 2 Buchst. d des Asylgesetzes, der während der durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation anwendbar sei, könne die Asylbehörde das Verfahren einstellen, wenn der Antragsteller die Transitzone verlasse. Unter diesen Umständen sei das Verlassen der Transitzone nicht in die freie Wahl der Antragsteller gestellt.

113. Im Übrigen sei die Freizügigkeit der Personen, die sich in der Transitzone befänden, stark eingeschränkt, wie der Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe und der Sonderbeauftragte des Generalsekretärs des Europarats für Migration und Flüchtlinge bestätigt hätten. Die von den Antragstellern in den Transitzonen verbrachte Zeit sei ein wichtiger Faktor für die Feststellung, ob der Aufenthalt in diesen Gebieten als Inhaftierung angesehen werden könne. Die Vertreter der Kommission hätten jedoch vor Ort festgestellt, dass sich einige Antragsteller dort seit mehr als 14 Monaten aufgehalten hätten.

114. Der Aufenthalt in den Transitzonen führe somit zu einer Einschränkung der persönlichen Freiheit in einem solchen Ausmaß, dass sie einer Haft im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 gleichzustellen sei. Diese Schlussfolgerung sei im Übrigen durch das Urteil Ilias und Ahmed gegen Ungarn der Vierten Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bestätigt worden(36).

115. Die Inhaftnahme in den Transitzonen stehe aber nicht im Einklang mit Art. 26 der Richtlinie 2013/32 und mit Art. 8 Abs. 2 und 3 sowie den Art. 9 und 11 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33, da sie generell und systematisch ohne Prüfung der individuellen Umstände der Antragsteller und ohne die Erteilung einer schriftlichen Entscheidung erfolge und auch für Minderjährige, ja sogar unbegleitete Minderjährige mit Ausnahme von Kindern unter 14 Jahren, angeordnet werden könne.

116. Obwohl § 80/I des Asylgesetzes im Fall einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation die Anwendung von § 31/A dieses Gesetzes, der die Vorschriften über die Inhaftnahme von Asylbewerbern regele, nicht ausschließe, könne dieser Artikel den von Ungarn begangenen Verstoß nicht beseitigen, da sich in einer solchen Krisensituation alle Antragsteller gemäß § 80/J Abs. 5 des Asylgesetzes in der Transitzone aufhalten müssten.

117. Schließlich könne nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, dass in der Rechtssache, in der das Urteil LH (Tompa)(37) ergangen sei, der Antrag auf Eilverfahren vom Gerichtshof zurückgewiesen worden sei. Zum einen hänge der Begriff „Haft“ nicht davon ab, ob der Gerichtshof in einem Vorabentscheidungsverfahren die Anwendung des Eilverfahrens zulasse. Zum anderen habe das vorlegende Gericht in der fraglichen Rechtssache das Eilverfahren nicht wegen des Aufenthalts des Antragstellers in einer Transitzone beantragt, sondern deshalb, weil diese Rechtssache einen erheblichen Einfluss auf eine Reihe ähnlicher Rechtssachen gehabt habe, die denselben Rechtsvorschriften unterlägen.

118. Ungarn ist der Ansicht, bei den Transitzonen handele es sich im Wesentlichen um Aufnahmeeinrichtungen an der Außengrenze des Schengen-Raums in Ungarn, die nach dem Unionsrecht als Ort des Asylverfahrens bestimmt seien, und nicht um Haftorte.

119. Die Unterbringung in einer Transitzone sei keine Inhaftnahme, da diese Transitzonen nur in Richtung Ungarn nicht offen seien und es den Insassen freistehe, sie zu verlassen, um sich nach Serbien zu begeben. Im Übrigen seien Asylbewerber, die die Transitzone verließen, nicht zwangsläufig nachteiligen Folgen ausgesetzt. § 80/K Abs. 2 Buchst. d des Asylgesetzes sehe nämlich vor, dass, wenn der Asylbewerber die Transitzone verlasse, die Asylbehörde auf der Grundlage der ihr vorliegenden Informationen entscheide oder das Verfahren einstelle. Folglich könne diese Behörde selbst in Abwesenheit des Asylbewerbers über den Asylantrag entscheiden und diesem auch stattgeben. Diese Regelung stehe im Einklang mit Art. 28 der Richtlinie 2013/32, der es dieser Behörde erlaube, die Antragsprüfung einzustellen, wenn der Antrag stillschweigend zurückgenommen werde.

120. Außerdem führe die Einreichung eines Asylantrags nicht automatisch zu einem systematischen Freiheitsentzug, da nach § 80/J Abs. 1 Buchst. c des Asylgesetzes derjenige, der sich rechtmäßig im ungarischen Hoheitsgebiet aufhalte, seinen Antrag jederzeit einreichen könne und sich daher weder in die Transitzone begeben noch dort verbleiben müsse.

121. Die detaillierten Vorschriften über die Voraussetzungen für die Haft von Asylbewerbern, die Entscheidung über die Inhaftnahme und die Aufrechterhaltung der Haft seien in den §§ 31/A bis 31/I des Asylgesetzes enthalten und gewährleisteten in vollem Umfang die Einhaltung der einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie 2013/33.

122. Im Übrigen sei die Dauer des Aufenthalts in einer Aufnahmeeinrichtung kein Kriterium, das die Annahme zulasse, dass es sich um eine Inhaftnahme handele. Gleiches gelte für die Qualität der in einem Aufnahmezentrum herrschenden Bedingungen. Der Umstand, dass die begrenzte Größe der Transitzone zwangsläufig bestimmte Beschränkungen der Freizügigkeit mit sich bringe, rechtfertige insbesondere nicht die Einstufung dieser Zone als „Haftzone“.

123. Was die Nichtbeachtung der in der Richtlinie 2013/33 vorgesehenen Garantien angeht, weist Ungarn darauf hin, dass die Asylbehörde in jedem Fall eine Entscheidung über die Unterbringung in der Transitzone als den für die Dauer des Verfahrens bestimmten Aufenthaltsort im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33 treffe und dass diese Entscheidung angefochten werden könne.

124. In Bezug auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 14. März 2017, Ilias und Ahmed gegen Ungarn (CE:ECHR:2017:0314JUD004728715), macht Ungarn geltend, dieses Urteil sei nicht rechtskräftig und dieser Gerichtshof prüfe darin nicht die Situation der Transitzonen, die derzeit in Betrieb seien, sondern die einer Einrichtung von 2015, die zwar denselben Namen trage, jedoch Unterschiede aufweise, was ihre Rechtsstellung und ihre rechtliche Einstufung sowie die Rechte und Pflichten der dort untergebrachten Personen angehe.

125. Der Gerichtshof habe im Übrigen bereits indirekt festgestellt, dass die Transitzonen, die seit März 2017 als Aufnahmeeinrichtungen fungierten, keine Hafteinrichtungen seien. Die Weigerung, das Eilvorabentscheidungsverfahren auf die Rechtssache C‑564/18 anzuwenden, in der das Urteil Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal (Tompa)(38) in einem Rechtsstreit betreffend einen in einer Transitzone untergebrachten Antragsteller ergangen sei, anzuwenden, weise nämlich klar darauf hin, dass der Gerichtshof den Aufenthalt in der Transitzone nicht als Haft angesehen habe, da der Rückgriff auf dieses Verfahren nach der Rechtsprechung gerechtfertigt sein könne, wenn die fragliche Rechtssache eine in Haft genommene Person betreffe.

126. Was schließlich den Besuch der Vertreter der Kommission angehe, so betreffe dieser nur die Transitzone von Röszke, und er habe der Vor-Ort-Kontrolle der Projekte gedient, für die von der Union eine finanzielle Unterstützung gewährt werde. Überdies hätten die Vertreter der Kommission nur wenige Worte mit einigen Insassen gewechselt.

2.      Würdigung

127. Wie sich aus dem oben zusammengefassten Vorbringen ergibt, betrifft der Kern der Meinungsverschiedenheit zwischen den Parteien ein unterschiedliches Verständnis des Begriffs „Haft“ im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33. Ich werde mich zunächst mit diesem Punkt befassen, bevor ich auf die Frage der Beachtung der mit der Inhaftnahme verbundenen Garantien im Sinne dieser Richtlinie eingehe.

a)      Zum Vorliegen einer Haft

128. Vorab ist darauf hinzuweisen, dass sich die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nach Abschluss des schriftlichen Verfahrens in der vorliegenden Rechtssache in ihrem Urteil Ilias und Ahmed gegen Ungarn(39) zu der Frage geäußert hat, ob die Unterbringung von zwei Drittstaatsangehörigen in der Transitzone von Röszke einen Freiheitsentzug für die Zwecke der Anwendung von Art. 5 („Recht auf Freiheit und Sicherheit“) der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) darstellt. Sie entschied insoweit entgegen dem früheren Urteil seiner Vierten Kammer und gelangte damit zu einem negativen Ergebnis.

129. Auf die Aufforderung, in der mündlichen Verhandlung zur Relevanz dieses Urteils Stellung zu nehmen, haben die Parteien entgegengesetzte Standpunkte vertreten. Während die Kommission die Ansicht vertreten hat, das Ergebnis, zu dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gelangt sei, sei wegen bestimmter erheblicher tatsächlicher und rechtlicher Unterschiede nicht auf die vorliegende Rechtssache übertragbar, hat Ungarn geltend gemacht, dieses auf die Umstände des vorliegenden Falles anwendbare Ergebnis sei geeignet, sein Vorbringen zu stützen, dass die Situation der Personen, die internationalen Schutz beantragen, nicht unter den Begriff „Haft“ im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 falle. Es ist somit offensichtlich der Ansicht, dass – wenn die Unterbringung dieser Antragsteller in einer der Transitzonen kein Freiheitsentzug im Sinne von Art. 5 EMRK sei – sie selbstverständlich auch nicht als Haft eingestuft werden könne, da der letztgenannte Begriff das Vorliegen eines Freiheitsentzugs im Sinne von Art. 6 der Charta voraussetze.

130. In meinen Schlussanträgen in den verbundenen Rechtssachen FMS u. a.(40), in denen es ebenfalls darum ging, ob die Unterbringung in einer der Transitzonen an der serbisch-ungarischen Grenze als Haft im Sinne der Richtlinie 2013/33 anzusehen war, erläuterte ich, dass Art. 5 EMRK zwar Art. 6 der Charta entspreche und dass nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die darin enthaltenen Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprächen, so auszulegen seien, dass sie die gleiche Bedeutung und Tragweite hätten, wie sie ihnen in der EMRK verliehen würden, doch habe der Gerichtshof der Europäischen Union unstreitig mehrfach ausgeführt, dass die mit dieser Bestimmung angestrebte Kohärenz die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs selbst unberührt lasse(41) da die EMRK, solange die Union ihr nicht beigetreten sei, kein Rechtsinstrument darstelle, das förmlich in die Unionsrechtsordnung übernommen worden sei(42). Ich schlug dem Gerichtshof daher vor, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte außer Acht zu lassen und seine Prüfung anhand einer eigenständigen Auslegung von Art. 6 der Charta vorzunehmen(43). Da meiner Meinung nach davon auszugehen war, dass dieser letztgenannte Artikel dem 35. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/33(44) zufolge als in die Definition der „Haft“ in Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 integriert anzusehen sei, kam ich zu dem Ergebnis, dass allein anhand der Prüfung der in dieser Definition – der zufolge als „Haft“ „die räumliche Beschränkung eines Antragstellers durch einen Mitgliedstaat auf einen bestimmten Ort, an dem der Antragsteller keine Bewegungsfreiheit hat“ anzusehen ist – aufgestellten Voraussetzungen zu ermitteln sei, ob eine Haft vorliege.

131. Mir scheint nun, dass der Gerichtshof der Europäischen Union diesen Ansatz in dem kürzlich ergangenen Urteil in diesen verbundenen Rechtssachen(45) implizit bestätigt hat, indem er das Vorliegen einer Haft nach einer – allein auf die sich aus Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 ergebenden Voraussetzungen bezogenen – Prüfung bejaht hat, ohne die Auslegung von Art. 5 EMRK durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil Ilias und Ahmed gegen Ungarn zu berücksichtigen(46).

132. Im Lichte dieser Voraussetzungen entschied der Gerichtshof unter Verwendung eines auf den Wortlaut, die Entstehungsgeschichte und den Kontext gestützten Ansatzes, dass die Haft einer Person, die internationalen Schutz im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 beantragt, „eine Zwangsmaßnahme darstellt, mit der der betreffenden Person ihre Bewegungsfreiheit entzogen wird und mit der sie vom Rest der Bevölkerung isoliert wird, indem sie dazu gezwungen wird, sich ständig in einem eingegrenzten, geschlossenen Bereich aufzuhalten“(47).

133. Im Hinblick auf die Anwendung des so charakterisierten Begriffs „Haft“ auf den vorliegenden Fall trägt die Kommission eine Reihe tatsächlicher Umstände vor, deren Richtigkeit von Ungarn nicht in Frage gestellt worden ist. Der Kommission zufolge müssen die Asylbewerber während des gesamten Verfahrens zur Prüfung ihres Antrags ständig in einer der Transitzonen verbleiben, die von einem hohen Stacheldrahtzaun umgeben seien. Innerhalb der Transitzone würden sie in Gruppen von fünf Personen in Metallcontainern mit einer Fläche von etwa 13 m2 untergebracht. Sie könnten sich nur in äußerst begrenztem Umfang in einen anderen Sektor der Transitzone begeben als den, in dem sie untergebracht seien. Dies sei nur im Falle von ärztlichen Konsultationen oder von Gesprächen im Rahmen des Asylverfahrens und unter Begleitung durch das Wachpersonal der Transitzone erlaubt, und sie dürften keinen Kontakt mit Personen von außerhalb der Transitzone aufnehmen, mit Ausnahme ihres Anwalts. Darüber hinaus ergibt sich meines Erachtens aus den Akten, dass ihre Bewegungen aufgrund der Anwesenheit des erwähnten Wachpersonals innerhalb der Transitzone sowie am Eingangstor eines jeden Sektors der Transitzone ständig überwacht werden.

134. Meiner Ansicht nach zeugt dieses Bündel von Anhaltspunkten von einer derart starken Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Asylbewerber, dass diese Situation mit einer Haftregelung vergleichbar ist(48), wie dies der Gerichtshof im Urteil FMS u. a. im Zusammenhang mit der Transitzone Röszke aufgrund entsprechender, vom vorlegenden Gericht angegebener Umstände angenommen hat(49).

135. Zu dem von Ungarn in der Klagebeantwortung in der vorliegenden Rechtssache vorgebrachten Argument, die Unterbringung der betroffenen Antragsteller in der Transitzone von Röszke könne nicht als Haft im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 eingestuft werden, da es jeder Person, die internationalen Schutz beantrage, freistehe, die Transitzone zu verlassen, stelle ich fest, dass der Gerichtshof dieses Argument bereits in der Rechtssache FMS u. a.(50) zurückgewiesen hat.

136. Ausgehend von der Prämisse, dass nur die „tatsächliche“ Möglichkeit, die fragliche Transitzone zu verlassen, das Vorliegen einer Haft ausschließe(51), stützte der Gerichtshof seine Zurückweisung auf zwei Gründe, nämlich erstens, dass jede Einreise der Antragsteller nach Serbien als rechtswidrig angesehen worden wäre und sie somit Sanktionen zu befürchten gehabt hätten, und zweitens, dass für diese Antragsteller die Gefahr bestanden hätte, jede Chance auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Ungarn zu verlieren, wenn sie das ungarische Hoheitsgebiet verlassen hätten(52). Diese Gründe sind meiner Ansicht nach auch geeignet, die Zurückweisung des von Ungarn in der vorliegenden Rechtssache vorgebrachten Arguments zu rechtfertigen.

137. Was nämlich den ersten Grund betrifft, so wurde die von der Kommission in der mündlichen Verhandlung vorgenommene Klarstellung, dass die Republik Serbien sich derzeit weigere, das Rückübernahmeabkommen auf Migranten aus den ungarischen Transitzonen anzuwenden, im vorliegenden Fall von Ungarn nicht zurückgewiesen. Zum zweiten Grund ist anzumerken, dass ein Verlassen der Transitzone zwangsläufig gleichbedeutend mit dem Verzicht auf die Möglichkeit wäre, den begehrten internationalen Schutz zu erhalten. Zwar sieht § 80/K Abs. 2 Buchst. d des Asylgesetzes vor, dass die zuständige nationale Behörde nicht verpflichtet ist, das Verfahren einzustellen, wenn ein Antragsteller die Transitzone verlässt, doch kann sie auch auf der Grundlage der ihr zur Verfügung stehenden Informationen eine Entscheidung treffen. Selbst wenn indessen eine solche theoretische Möglichkeit besteht, halte ich es für sehr wahrscheinlich, wenn nicht sogar sicher, dass eine solche Entscheidung für den Betroffenen nicht günstig ausfiele. Darüber hinaus ist eine verfahrensbeendende Entscheidung gemäß § 80/K Abs. 4 des Asylgesetzes nicht im Verwaltungsrechtsweg anfechtbar. Unter diesen Umständen bin ich der Meinung, dass kein Asylbewerber in der Lage ist, die Transitzone in Richtung Serbien aus freien Stücken zu verlassen.

138. Ich möchte hinzufügen, dass diese Antragsteller sich auch nicht in Richtung Ungarn begeben können, da ihnen dort die Einreise und der Aufenthalt nicht gestattet sind. Insoweit ist hervorzuheben, dass die ungarische Polizei nach § 5 Abs. 1b des Gesetzes über die Staatsgrenzen, der Gegenstand der vierten Rüge der Kommission in der vorliegenden Rechtssache ist, in einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation illegal aufhältige ausländische Staatsangehörige im gesamten Staatsgebiet aufgreifen und zum Eingang der nächstgelegenen Einrichtung führen kann, es sei denn, es besteht der Verdacht einer Straftat. Aufgrund der langen Wartezeit für den Zugang zur Transitzone und die Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz besteht die einzige Alternative für den betreffenden Migranten darin, sich nach Serbien zu begeben, d. h. dorthin zurückzukehren, wo er herkam, wobei zumindest ungewiss ist, ob ihm die Einreise in das serbische Hoheitsgebiet gestattet wird, ob er dort aufenthaltsberechtigt sein wird und wie sich die örtlichen Zuwanderungsbehörden ihm gegenüber verhalten werden.

139. Daher ist die Aussicht, dass ein Asylsuchender die Transitzone aus freien Stücken verlassen wird, aus meiner Sicht offensichtlich unrealistisch.

140. Nach alledem bin ich der Ansicht, dass die Unterbringung jedes Antragstellers in die Transitzone während der Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz als „Haft“ im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 anzusehen ist.

141. Für die vorgenommene Beurteilung sind die Einstufung und der rechtliche Status der Transitzonen im Sinne des ungarischen Rechts, auf die sich Ungarn in seinen Schriftsätzen mehrfach berufen hat, irrelevant, da der in Rede stehende Begriff „Haft“ keinen Verweis auf nationales Recht enthält und daher als autonomer Begriff des Unionsrechts anzusehen ist(53).

142. Das Ergebnis dieser Beurteilung wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass der Gerichtshof einem Antrag des vorlegenden Gerichts in der Rechtssache, in der das Urteil Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal (Tompa) in einem Rechtsstreit betreffend einen in einer Transitzone untergebrachten Asylbewerber ergangen ist, auf Eilbehandlung in einem Rechtsstreit betreffend einen Asylbewerber, der sich in einer Transitzone aufhielt, nicht stattgegeben hat, da in dem in dieser Rechtssache ergangenen Urteil nicht klargestellt wird, dass der Grund für die Ablehnung darin liegt, dass sich ein solcher Bewerber nicht in einer Haftsituation befindet(54). Jedenfalls scheint mir die vom Gerichtshof in diesem Rahmen im Hinblick auf das Vorliegen einer Inhaftnahme vorgenommene vorläufige Beurteilung, die tatsächlicher Natur ist und deren Konturen durch die Angaben des vorlegenden Gerichts eng begrenzt sind, nicht mit der Beurteilung übereinzustimmen, die vorgenommen wurde, um festzustellen, ob die Merkmale dieses Begriffs „Haft“ gleichzeitig vorliegen.

b)      Zur Rechtmäßigkeit der Haft

143. Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass sich alle Asylbewerber bei ihrer Unterbringung in den Transitzonen an der serbisch-ungarischen Grenze im Sinne der Richtlinie 2013/32 in Haft befinden. In diesem Stadium ist daher zur Rechtmäßigkeit dieser Haft Stellung zu nehmen, wobei anzumerken ist, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, nach Art. 26 der Richtlinie 2013/32 und Art. 8 der Richtlinie 2013/33 unter bestimmten Voraussetzungen in Haft genommen werden können.

144. Die Kommission trägt vor, Ungarn habe die in den Art. 8 bis 11 der Richtlinie 2013/33 festgelegte rechtliche Regelung für jede Inhaftnahme nicht respektiert. Ich teile ihre Auffassung ohne jegliches Zögern.

145. Aus den von der Kommission mitgeteilten nationalen Bestimmungen geht nämlich hervor, dass die Anwendung der §§ 31/A und 31/B des Asylgesetzes, die die Voraussetzungen für die Inhaftnahme von Asylbewerbern im innerstaatlichen Recht festlegen, für den Fall einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation durch § 80/I Buchst. a dieses Gesetzes ausgeschlossen wurde. Selbst unterstellt, diese Bestimmungen fänden, wie Ungarn geltend macht, in der genannten Situation weiterhin Anwendung, ist jedenfalls angesichts dessen, dass dieser Mitgliedstaat das Vorliegen jeglicher Inhaftnahme von Asylbewerbern entschieden bestritten hat, vernünftigerweise davon auszugehen, dass die einschlägigen Bestimmungen auf die Haft dieser Bewerber in den Transitzonen keine Anwendung finden.

146. Ungarn stellt keineswegs die systematische Durchführung von § 80/J Abs. 5 des Asylgesetzes in Abrede, der es der Asylbehörde überlässt, den Asylbewerbern die Transitzone als Aufenthaltsort während der Dauer des Verfahrens zuzuweisen. Meines Erachtens besteht kein Zweifel daran, dass die Kommission zu Recht der Ansicht ist, dass dies zum einen gegen Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 der Richtlinie 2013/33 verstößt, wonach eine Inhaftnahme nur aus den dort abschließend aufgezählten Gründen gerechtfertigt werden kann, und zum anderen gegen Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie, wonach eine Inhaftnahme nur falls erforderlich und auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung angeordnet werden kann, wenn sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen(55).

147. Was die unter Verstoß gegen Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33 unterbliebene Erteilung einer Entscheidung über die Inhaftnahme unter Angabe der tatsächlichen und rechtlichen Gründe, auf die sie gestützt wird, angeht, weise ich darauf hin, dass Ungarn dem entgegenhält, dass die nationale Asylbehörde in allen Fällen eine Entscheidung über die Unterbringung der Asylbewerber in der Transitzone während der Dauer des Verfahrens erlasse. Allerdings räumt dieser Mitgliedstaat in seiner Klagebeantwortung selbst implizit ein, dass es sich nicht um eine Entscheidung über die Inhaftnahme im Sinne von Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie handelt, da er sie als Entscheidung qualifiziert, mit der die Bewegungsfreiheit der Personen, die internationalen Schutz beantragen, im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie eingeschränkt wird.

148. Ungarn bestreitet nicht einmal, dass die Inhaftnahme auch für Minderjährige oder gar für unbegleitete Minderjährige angeordnet werden kann, mit Ausnahme von Kindern unter 14 Jahren, was zweifellos gegen Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33 verstößt, wonach Minderjährige nur im äußersten Falle in Haft genommen werden dürfen und nachdem festgestellt worden ist, dass weniger einschneidende alternative Maßnahmen nicht wirksam angewandt werden können.

149. Aus der Klageschrift geht hervor, dass die Kommission auch einen Verstoß gegen Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 geltend macht. Ich vermag jedoch nicht zu erkennen, worin der Verstoß gegen eine solche Vorschrift, die sich auf die Definition des Begriffs „Haft“ beschränkt, liegen könnte, da die Kommission keine Unzulänglichkeiten in deren Umsetzung geltend gemacht hat. Folglich kann ich die diesbezügliche Schlussfolgerung der Kommission nicht teilen.

150. Nach alledem bin ich der Ansicht, dass Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtungen verstoßen hat, dass es die in den Transitzonen praktizierten Haftbedingungen nicht mit in den Art. 8, 9 und 11 der Richtlinie 2013/33 vorgesehenen Garantien versehen hat.

151. Folglich ist der dritten Rüge der Vertragsverletzungsklage meines Erachtens stattzugeben.

D.      Zur Nichteinhaltung der in der Richtlinie 2008/115 festgelegten Verfahren

1.      Vorbringen der Parteien

152. Mit ihrer vierten Rüge macht die Kommission geltend, Ungarn habe dadurch gegen seine Verpflichtungen aus den Art. 5 und 6, aus Art. 12 Abs. 1 und aus Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 verstoßen, dass es illegal aufhältige Drittstaatsangehörige auf die andere Seite des Grenzzauns zurückbringe, ohne die in diesen Vorschriften festgelegten Verfahren und Garantien einzuhalten.

153. Zunächst weist die Kommission darauf hin, dass es nach § 5 Abs. 1 des Gesetzes über die Staatsgrenzen möglich sei, im ungarischen Hoheitsgebiet einen 60 m breiten Streifen vor der Außengrenze zu nutzen, um Einrichtungen zum Schutz der Ordnung an der Grenze zu erbauen, einzurichten oder zu betreiben und die Aufgaben im Zusammenhang mit Landesverteidigung und nationaler Sicherheit, Katastrophenmanagement, Asyl und Migrationspolizei zu erfüllen. Außerdem sehe § 5 Abs. 1b des Gesetzes über die Staatsgrenzen vor, dass die Polizei illegal aufhältige ausländische Staatsangehörige in einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation aufgreifen und zum Eingang der nächstgelegenen Einrichtung im Sinne von § 5 Abs. 1 dieses Gesetzes führen könne, es sei denn, es bestehe der Verdacht einer Straftat.

154. Aus den von der Kommission angeführten Berichten gehe hervor, dass die ungarische Polizei die im ungarischen Hoheitsgebiet festgenommenen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zur Grenze zurückbringe und sie den Grenzzaun überqueren lasse. Drittstaatsangehörige, die bis zu einem schmalen Streifen an der Grenze des ungarischen Hoheitsgebiets zurückgebracht worden seien, in dem keine Infrastruktur zur Verfügung stehe und von dem aus es keine Möglichkeit gebe, sich in das übrige ungarische Hoheitsgebiet zu begeben, hätten in der Praxis keine andere Wahl, als das ungarische Hoheitsgebiet zu verlassen. Dieses Verfahren entspreche daher dem Begriff „Abschiebung“, wie er in Art. 3 Nr. 5 der Richtlinie 2008/115 definiert sei, auch wenn es in bestimmten Fällen technisch möglich sei, dass der physische Transfer nicht außerhalb des ungarischen Hoheitsgebiets abgeschlossen werde.

155. Die Abschiebung der betreffenden Drittstaatsangehörigen erfolge, ohne dass eine Rückkehrentscheidung erlassen werde, ohne sorgfältige Prüfung, ohne das Wohl des Kindes, das Familienleben und den Gesundheitszustand des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen oder den Grundsatz der Nichtzurückweisung zu beachten. Diese Drittstaatsangehörigen erhielten keine angemessene schriftliche Begründung oder Erklärung, und mangels einer Rückkehrentscheidung verfügten sie über keinen Rechtsbehelf.

156. Im Übrigen falle § 5 Abs. 1b des Gesetzes über die Staatsgrenzen nicht unter die in Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 vorgesehene Ausnahme. Diese Vorschrift gelte nämlich nicht für bereits im ungarischen Hoheitsgebiet befindliche Staatsangehörige, während sich der Anwendungsbereich des besagten § 5 Abs. 1b auf alle illegal in Ungarn aufhältigen Drittstaatsangehörigen erstrecke.

157. Schließlich lasse sich eine wesentliche, generelle und länger andauernde Abweichung von den Bestimmungen der Richtlinie 2008/115 nicht durch Art. 72 AEUV rechtfertigen, der sich darauf beschränke, einen Grundsatz aufzustellen, den der Unionsgesetzgeber berücksichtigen müsse und der die Auslegung der auf der Grundlage des Dritten Teils, Titel V des AEU-Vertrags erlassenen Unionsrechtsakte erleichtere.

158. Ungarn macht vorab geltend, § 5 Abs. 1a des Gesetzes über die Staatsgrenzen sei aufgrund der in Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Ausnahme gerechtfertigt. § 5 Abs. 1b dieses Gesetzes könne im Unterschied zu § 5 Abs. 1a nur im Fall einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation angewandt werden.

159. In diesem Rahmen erlaube Art. 72 AEUV den Mitgliedstaaten, Vorschriften über die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit zu erlassen und anzuwenden, die von den Bestimmungen des Unionsrechts abweichen könnten, wobei das Ziel der Feststellung einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation und der in einer solchen Situation angewandten Vorschriften in allen Fällen in der Aufrechterhaltung der Ordnung und dem Schutz der inneren Sicherheit des Landes bestehe. Die Richtlinie 2008/115 sehe nicht vor, dass ihre Vorschriften auch im Kontext von Art. 72 AEUV anzuwenden seien. Folglich könne ein Mitgliedstaat bei der Wahrnehmung seiner Zuständigkeiten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit von den Vorschriften dieser Richtlinie abweichen.

160. Die öffentliche Ordnung und die öffentliche Sicherheit seien zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses, die den Mitgliedstaaten eine Rechtsetzungsbefugnis verliehen, die es ihnen erlaube, in das Unionsrecht einzugreifen, und deren grundlegende Bedeutung Art. 4 Abs. 2 EUV hervorhebe. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs(56) entschieden die Mitgliedstaaten völlig unabhängig darüber, was ihrer Ansicht nach unter den Begriff der öffentlichen Ordnung falle, und diese Beurteilung könne im Laufe der Zeit variieren. Insoweit weist Ungarn darauf hin, dass sich der rechtliche Rahmen, den das Sekundärrecht für die Bewältigung von durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituationen vorgesehen habe, auch nach Auffassung der Kommission als unzureichend erwiesen habe; diese habe daraus die Konsequenzen gezogen, indem sie im Jahr 2016 sowohl in Bezug auf die Richtlinie 2013/32 als auch in Bezug auf die Richtlinie 2008/115 ein komplexes Bündel von Vorschlägen zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems vorgelegt habe.

161. Folglich sei es in einer Krisensituation wie der in Ungarn bestehenden nicht zwingend, Art. 5, Art. 6 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 bei der Anwendung von § 5 Abs. 1b des Gesetzes über die Staatsgrenzen durch die ungarische Polizei nachzukommen.

162. Außerdem verlange die Polizei von den im ungarischen Hoheitsgebiet illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen nicht, die Grenze zu überschreiten, da sich die Grenzschutzeinrichtung (Grenzzaun) nicht auf der Grenztrasse, sondern auf ungarischem Hoheitsgebiet befinde. Diese Personen würden daher nicht nach Serbien abgeschoben und könnten, nachdem sie zum Eingang geführt worden seien, ihren Antrag in der nächstgelegenen Transitzone einreichen. Mangels einer tatsächlichen Rückkehr sei die Anwendung der Richtlinie 2008/115 per definitionem ausgeschlossen, da ein Mitgliedstaat eine Abschiebungsmaßnahme nicht in seinem eigenen Hoheitsgebiet vollstrecken könne.

163. Außerdem gebe keine Bestimmung des Unionsrechts an, wo sich die Einrichtungen zur Bearbeitung von Asylanträgen im Hoheitsgebiet des Landes befinden müssten, noch wohin illegal aufhältige Personen verbracht werden müssten. Daher verstoße die Polizei, wenn sie illegal aufhältige Drittstaatsangehörige an einen anderen Ort innerhalb des ungarischen Hoheitsgebiets verbringe, damit sie so schnell wie möglich ihren Antrag auf internationalen Schutz einreichen könnten, nicht gegen das Unionsrecht. Im Übrigen gebe es keine Vorschrift des Unionsrechts, nach der illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen irgendeine Betreuung angeboten werden müsste. Schließlich werde die Polizei innerhalb des gesetzlichen Rahmens tätig und mache von Zwangsmaßnahmen angemessen und ausschließlich in den gesetzlich vorgesehenen Fällen Gebrauch.

2.      Würdigung

164. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Ungarn nicht bestreitet, dass die Verbringung von illegal im ungarischen Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen zum Eingang der nächstgelegenen Einrichtung von den ungarischen Polizeibehörden vorgenommen wird, ohne dass die in der Richtlinie 2008/115 festgelegten Garantien für das Rückkehrverfahren eingehalten werden. Vor allem erfolgt die Durchführung dieser Maßnahme, ohne das Wohl des Kindes, die familiären Bindungen und den Gesundheitszustand des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen oder den Grundsatz der Nichtzurückweisung einzuhalten (Art. 5) und ohne dass eine Rückkehrentscheidung ergeht (Art. 6 Abs. 1)(57). Außerdem erhalten die betreffenden Drittstaatsangehörigen keine schriftliche Entscheidung, die eine sachliche und rechtliche Begründung über die sachlichen und rechtlichen Gründe für die Rückkehr und/oder die Abschiebung enthält (Art. 12 Abs. 1) und verfügen mangels einer Rückkehrentscheidung über keinen Rechtsbehelf (Art. 13 Abs. 1).

165. Ungarn weist jedoch die ihm mit der vorliegenden Rüge zur Last gelegten Verstöße gestützt auf zwei wesentliche Argumente zurück: in erster Linie die Unanwendbarkeit der Richtlinie 2008/115 im vorliegenden Fall und, hilfsweise, die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, sich auf Art. 72 AEUV zu berufen, um von den in dieser Richtlinie vorgeschriebenen einheitlichen Regeln abzuweichen. Ich werde sie nacheinander prüfen.

a)      Zur Anwendbarkeit der Richtlinie 2008/115

166. Ungarn ist erstens der Ansicht, die Richtlinie 2008/115 sei auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar, da der Rückgriff auf die Praxis des Zurückbringens an die Grenze aufgrund der in Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Ausnahme gerechtfertigt sei.

167. Nach dieser Bestimmung können die Mitgliedstaaten beschließen, diese Richtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden, die von den zuständigen Behörden in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze eines Mitgliedstaats auf dem Land‑, See‑ oder Luftweg aufgegriffen bzw. abgefangen wurden und die nicht anschließend die Genehmigung oder das Recht erhalten haben, sich in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten. Insoweit hat der Gerichtshof bereits darauf hingewiesen, dass die Wendung „in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten“ „einen unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang zwischen dem Aufgreifen oder dem Abfangen des Drittstaatsangehörigen und dem Überschreiten einer Außengrenze“ voraussetzt und dass „er also Drittstaatsangehörige [betrifft], die von den zuständigen Behörden zum Zeitpunkt des illegalen Überschreitens einer Außengrenze selbst oder nach dem Übertritt in der Nähe dieser Grenze aufgegriffen oder abgefangen worden sind“(58) (59).

168. Meines Erachtens stellt die Kommission nicht in Abrede, dass § 5 Abs. 1a des Gesetzes über die Staatsgrenzen darauf abzielt, von der in Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Ausnahme Gebrauch zu machen.

169. Die vorliegende Rüge betrifft meiner Ansicht nach zu Recht nur § 5 Abs. 1b des Gesetzes über die Staatsgrenzen, der im Fall einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation anstelle von Abs. 1a anwendbar ist und zum Zeitpunkt des Ablaufs der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist noch immer in Kraft war.

170. In § 5 Abs. 1b des Gesetzes über die Staatsgrenzen heißt es: „In einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation kann die Polizei illegal aufhältige ausländische Staatsangehörige im gesamten Hoheitsgebiet aufgreifen und zum Eingang der nächstgelegenen Einrichtung im Sinne von Abs. 1 führen, es sei denn, es besteht der Verdacht einer Straftat.“ In Ermangelung eines Rahmens für diese Befugnis der Polizei „innerhalb eines Streifens von acht Kilometern ab der Außengrenze“, wie dies in § 5 Abs. 1a dieses Gesetzes vorgesehen ist(60), gilt diese Bestimmung für alle Drittstaatsangehörigen, die sich illegal in Ungarn aufhalten, und nicht nur für diejenigen, die zum Zeitpunkt des illegalen Überschreitens der Außengrenze oder nach dem Überschreiten der Außengrenze in der Nähe dieser Grenze aufgegriffen oder abgefangen worden sind, wie in Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 vorgesehen. Daraus folgt, dass § 5 Abs. 1b des Gesetzes über die Staatsgrenzen dem Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115 nicht entzogen ist, wenn er eine der in dieser Ausnahmeregelung festgelegten Voraussetzungen nicht erfüllt.

171. Zweitens macht Ungarn geltend, die von der ungarischen Polizei vorgenommene Verbringung illegal im ungarischen Hoheitsgebiet aufhältiger Drittstaatsangehöriger zum Eingang der nächstgelegenen Einrichtung stelle keine „Abschiebung“ im Sinne der Richtlinie 2008/115 dar, da diese Richtlinie ohne tatsächliche Rückkehr nicht anwendbar sei.

172. Der Begriff „Abschiebung“ wird in Art. 3 Nr. 5 dieser Richtlinie definiert als „Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung, d. h. die tatsächliche Verbringung aus dem Mitgliedstaat“, was tatsächlich darauf hindeuten könnte, dass die von Ungarn vertretene Auslegung rechtlich zutreffend ist. Es steht nämlich fest, dass § 5 Abs. 1b des Gesetzes über die Staatsgrenzen den Polizeibehörden nur erlaubt, die im ungarischen Hoheitsgebiet illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zum Eingang der nächstgelegenen Grenzschutzeinrichtung zu führen, und diese Einrichtungen liegen im ungarischen Hoheitsgebiet. Der Vorgang der tatsächlichen Verbringung endet somit nicht außerhalb dieses Gebiets, wie es die in Rede stehende Definition verlangt. Meines Erachtens kann jedoch im Rahmen dieser Beurteilung nicht außer Acht gelassen werden, dass Drittstaatsangehörige in Anbetracht dessen, dass sie in dem schmalen Landstreifen zwischen dem Grenzzaun und der Staatsgrenze belassen werden, der keinerlei Infrastruktur hat, die einen längeren Aufenthalt dort zulässt, keine andere Möglichkeit haben, als diesen zu verlassen und die Landgrenze mit Serbien zu überschreiten. Im Übrigen ist davon auszugehen, dass diese Drittstaatsangehörigen nicht einmal in der Lage sind, von dem Eingang, bis zu dem sie von der Polizei begleitet wurden, sich zur Transitzone zu begeben und dort hineinzugelangen, um einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, da dies mit einer durchschnittlichen Wartezeit von elf bis achtzehn Monaten in einem schmalen Landstreifen verbunden wäre, der, wie soeben ausgeführt, keinerlei Infrastruktur aufweist. Im Ergebnis bin ich der Ansicht, dass die in Rede stehende Praxis de facto mit einer „Abschiebung“ im Sinne von Art. 3 Nr. 5 der Richtlinie 2008/115 vergleichbar ist.

173. Nach alledem bestehen meines Erachtens kaum Zweifel daran, dass die Richtlinie 2008/115 auf die in Rede stehende Maßnahme anwendbar ist.

b)      Zu Art. 72 AEUV

174. Was das Vorbringen Ungarns betrifft, wonach Art. 72 AEUV den Mitgliedstaaten erlaubt, von den Bestimmungen der Richtlinie 2008/115 abzuweichen, wenn sie ihre Zuständigkeiten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit wahrnehmen, behalten die Erwägungen in den Nrn. 101 bis 103 der vorliegenden Schlussanträge zur Argumentation des Gerichtshofs im Urteil Kommission/Polen u. a. (Vorübergehender Umsiedlungsmechanismus für internationalen Schutz beantragende Personen)(61) meines Erachtens ihre volle Relevanz.

175. Dieser Argumentation ist erneut zu folgen.

176. Zunächst weise ich darauf hin, dass Ungarn in seinen Schriftsätzen nicht ausdrücklich die Ungültigkeit bestimmter Vorschriften der Richtlinie 2008/115 im Hinblick auf Art. 72 AEUV als Verteidigungsmittel geltend gemacht hat. Gleichwohl ist zu prüfen, ob dieser Mitgliedstaat die dort vorgesehene Ausnahme im Kontext der Richtlinie 2008/115 insgesamt hätte geltend machen müssen(62). In diesem Rahmen ist Art. 18 potenziell einschlägig, da er ausdrücklich Notlagen regelt, die durch eine außergewöhnlich hohe Zahl von Drittstaatsangehörigen verursacht werden, deren Rückkehr sicherzustellen ist, und den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumt, solange diese Situation anhält, von einigen anderen Bestimmungen dieser Richtlinie abzuweichen. Ungarn hat sich jedoch in seinen Schriftsätzen nicht auf die Anwendung dieses Artikels berufen, und dieser lässt jedenfalls keine Abweichung von den Bestimmungen zu, deren Verletzung mit der vorliegenden Rüge beanstandet wird(63) (64).

177. Daraus folgt, dass sich Ungarn nicht auf Art. 72 AEUV stützen kann, um seine Weigerung zu rechtfertigen, sämtlichen ihm durch Art. 5, Art. 6 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 auferlegten Verpflichtungen nachzukommen.

178. Die übrigen Argumente, die Ungarn vorgetragen hat, sind meines Erachtens nicht geeignet, dieses Ergebnis in Frage zu stellen. Dies gilt für das auf Art. 72 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 2 EUV gestützte Vorbringen. Nichts deutet nämlich darauf hin, dass die wirksame Wahrung der in dieser Bestimmung genannten wesentlichen staatlichen Funktionen, wie z. B. die Gewährleistung der territorialen Unversehrtheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der nationalen Sicherheit, nur dadurch gewährleistet werden könnte, dass die fraglichen Bestimmungen der Richtlinie 2008/115 unangewendet gelassen werden. Was das Urteil Tsakouridis(65) betrifft, so ergibt sich zwar aus diesem Urteil, dass die Mitgliedstaaten berechtigt sind, Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu erlassen, doch vermag ich nicht zu erkennen, wie dieses Urteil dahin verstanden werden kann, dass sie eine solche Abweichung in vom abgeleiteten Unionsrecht nicht vorgesehenen Fällen vornehmen können, indem sie sich einfach auf Art. 72 AEUV berufen. Ich beschränke mich auf den Hinweis, dass der Gerichtshof in dieser Rechtssache eine Bestimmung des abgeleiteten Rechts, nämlich Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG(66) auszulegen hatte.

179. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, der vierten Rüge der Kommission stattzugeben.

E.      Zur fehlenden Wirksamkeit von Rechtsbehelfen gegen Entscheidungen, mit denen ein Asylantrag abgelehnt wurde

1.      Vorbringen der Parteien

180. Nach Ansicht der Kommission verstößt Ungarn gegen Art. 46 Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2013/32, da das Asylgesetz bei der Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz nicht ausdrücklich die Möglichkeit einer aufschiebenden Wirkung von Rechtsbehelfen vorsehe. Folglich sei das Recht von Asylbewerbern, bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf im ungarischen Hoheitsgebiet zu bleiben, nicht gewährleistet, da eine ablehnende Entscheidung unabhängig von der Einlegung des Rechtsbehelfs vollstreckbar sei.

181. Nach den in Ungarn für Verwaltungsstreitsachen geltenden allgemeinen Verfahrensvorschriften habe die Erhebung der Klage keine aufschiebende Wirkung, da § 50 der Verwaltungsgerichtsordnung lediglich vorsehe, dass die aufschiebende Wirkung unter bestimmten Voraussetzungen beantragt werden könne. Das Asylgesetz als lex specialis lege seinerseits die verwaltungsgerichtlichen Vorschriften für die Kontrolle von Entscheidungen in Asylsachen fest.

182. Das am 1. August 2015 in Kraft getretene Egyes törvényeknek a tömeges bevándorlás kezelésével összefüggő módosításáról szóló 2015. évi CXL. törvény (Gesetz Nr. CXL von 2015 zur Änderung einiger Gesetze im Hinblick auf die Bewältigung der massiven Zuwanderung) habe die §§ 53 und 68 des Asylgesetzes geändert und die Bestimmungen aufgehoben, die ausdrücklich eine aufschiebende Wirkung gewährleisteten. Diese Änderungen seien sowohl während einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krise als auch außerhalb einer solchen Situation anwendbar.

183. Die Kommission ist daher erstens der Ansicht, dass Ungarn die in Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 aufgestellte allgemeine Regel nicht ordnungsgemäß umgesetzt habe, da der gerichtliche Rechtsbehelf gegen Entscheidungen, mit denen Asylanträge als unbegründet abgelehnt würden, nicht automatisch aufschiebende Wirkung habe. Insoweit verleihe § 35 Abs. 1 des Asylgesetzes als solcher Asylbewerbern kein Aufenthaltsrecht, sondern stelle lediglich klar, dass sie bis zur Zustellung einer nicht mehr anfechtbaren Entscheidung dem Asylverfahren unterlägen. Folglich sei die einzige Rechtsvorschrift, aus der der Antragsteller ein Aufenthaltsrecht in Ungarn ableiten könne, § 5 Abs. 1 Buchst. a des Asylgesetzes, dem zufolge der Antragsteller nach Maßgabe der in diesem Gesetz aufgestellten Voraussetzungen das Recht habe, sich im ungarischen Hoheitsgebiet aufzuhalten. Allerdings mache diese Bestimmung das Aufenthaltsrecht in Ungarn von zusätzlichen, nicht näher erläuterten Voraussetzungen abhängig. Der Umstand, dass die Asylbehörde gemäß § 80/J Abs. 5 des Asylgesetzes, der in einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation anwendbar sei, Asylbewerbern die Transitzone als Aufenthaltsort zuweise, bis die nicht mehr anfechtbare Entscheidung vollstreckbar geworden sei, könne nicht zu einem solchen Ergebnis führen. Der Aufenthalt in der Transitzone sei nämlich als Haft einzustufen und entspreche nicht dem Begriff des Aufenthalts im Mitgliedstaat im Sinne von Art. 46 der Richtlinie 2013/32.

184. Was zweitens die gerichtliche Kontrolle von Entscheidungen betreffe, mit denen Asylanträge als unzulässig abgelehnt würden, sehe § 53 Abs. 6 des Asylgesetzes vor, dass die Einlegung des Rechtsbehelfs keine aufschiebende Wirkung habe, was nur mit der in Art. 46 Abs. 6 der Richtlinie 2013/32 aufgestellten Regel vereinbar sei, wonach die Mitgliedstaaten entweder die automatische aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen gewährleisten oder dafür sorgen müssten, dass eine Entscheidung über die aufschiebende Wirkung von einem Gericht getroffen werde. Außerdem gehe aus dem Asylgesetz nicht klar hervor, ob § 50 der Verwaltungsgerichtsordnung auch auf Gerichtsverfahren anwendbar sei, die in den Anwendungsbereich des Asylgesetzes fielen und für die dieses Gesetz spezielle Regeln vorsehe, und ob es somit im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs als korrekte Umsetzung von Art. 46 Abs. 6 der Richtlinie 2013/32 anzusehen sei.

185. Drittens müsse nach Art. 46 Abs. 6 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/32, wenn der Antrag als unzulässig abgelehnt worden sei, weil ein Drittstaat als für den Antragsteller sicherer Drittstaat betrachtet werde oder weil der Antragsteller unrechtmäßig in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats eingereist sei oder seinen Aufenthalt unrechtmäßig verlängert habe, die aufschiebende Wirkung der Einlegung des Rechtsbehelfs auch automatisch eintreten. Die Kommission räumt ein, dass diese beiden Fälle von § 51 Abs. 2 Buchst. e und Abs. 7 Buchst. h des Asylgesetzes erfasst seien und dass § 53 Abs. 6 dieses Gesetzes bestimme, dass die Einlegung eines Rechtsbehelfs nicht die Aussetzung der Vollstreckung der Entscheidung zur Folge habe, mit Ausnahme der in Anwendung dieser Bestimmungen ergangenen Asylentscheidungen. Das Asylgesetz sehe indessen nicht eindeutig vor, dass in solchen Fällen die Einlegung eines Rechtsbehelfs aufschiebende Wirkung habe. Nur ein Umkehrschluss gestatte die Annahme, dass in solchen Fällen eine andere Regel als das Fehlen einer aufschiebenden Wirkung gelte. Aus dem Wortlaut dieses Gesetzes gehe jedoch nicht hervor, ob diese andere Regel automatisch eine aufschiebende Wirkung beinhalte, wie dies Art. 46 Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2013/32 verlange.

186. Ungarn ist der Ansicht, das Asylrecht und die Asylpraxis gewährleisteten den Antragstellern in angemessener Weise die Möglichkeit, im Hoheitsgebiet zu verbleiben, auch wenn die Bestimmungen der Richtlinie 2013/32 nicht wörtlich in ungarisches Recht umgesetzt worden seien. Aus § 5 Abs. 1 in Verbindung mit § 35 Abs. 1 des Asylgesetzes ergebe sich nämlich, dass den Asylbewerbern das Recht auf Verbleib bis zum Abschluss des Asylverfahrens garantiert werde, was gegebenenfalls der Mitteilung der gerichtlichen Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen jede ihren Asylantrag ablehnende Entscheidung entspreche. Die nationalen Rechtsvorschriften stünden daher im Einklang mit Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32.

187. Art. 46 Abs. 6 der Richtlinie 2013/32 beschränke sich darauf, als Ausnahme von der allgemeinen Regel vorzuschreiben, dass das mit dem Rechtsbehelf befasste Gericht in einer Reihe von Fällen befugt sei, auf Antrag des Antragstellers oder von sich aus die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs anzuordnen. In diesem Fall sehe § 53 Abs. 6 des Asylgesetzes kein automatisches Recht vor, im Hoheitsgebiet zu verbleiben, doch könne der Antragsteller nach § 50 der Verwaltungsgerichtsordnung sofortigen gerichtlichen Rechtsschutz beantragen, der je nach der von ihm erlassenen Entscheidung in der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs und damit in der Möglichkeit zum Ausdruck kommen könne, im Hoheitsgebiet zu verbleiben. Antragsteller, die einen Rechtsbehelf einlegten, machten von dieser Möglichkeit systematisch Gebrauch, und die Gerichte gäben diesem Rechtsbehelf in der Praxis immer statt.

188. Die in Art. 46 Abs. 6 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen „Ausnahmen von der Ausnahme“ fielen unter § 51 Abs. 2 Buchst. e und Abs. 7 Buchst. h des Asylgesetzes, da das Recht auf Verbleib im Hoheitsgebiet in beiden Fällen natürlich gewährleistet sei.

189. Die Vereinbarkeit des ungarischen Rechts mit dem Unionsrecht werde auch nicht durch § 80/J Abs. 2 des Asylgesetzes in Frage gestellt. Nach § 80/J Abs. 5 dieses Gesetzes habe der Antragsteller nämlich das Recht, sich bis zur Zustellung der endgültigen Entscheidung in der Transitzone und damit im ungarischen Hoheitsgebiet aufzuhalten, was dem in Art. 2 Buchst. p der Richtlinie 2013/32 enthaltenen Begriff „Verbleib im Mitgliedstaat“ sowie den Anforderungen von Art. 46 Abs. 5 und 6 dieser Richtlinie entspreche.

2.      Würdigung

190. Zunächst sind einige Vorbemerkungen angebracht.

191. Die Umsetzung der Richtlinien in die nationalen Rechtsordnungen ist gekennzeichnet durch das ständige Bemühen um ein Gleichgewicht zwischen der Natur des fraglichen Rechtsakts, der nach Art. 288 AEUV für die Mitgliedstaaten, an die er gerichtet wird, lediglich hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich ist, ihnen jedoch die Wahl der Form und der Mittel überlässt, und der Notwendigkeit, die vollständige und einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu gewährleisten. Dem entsprechend hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass eine förmliche und wörtliche Übernahme der Bestimmungen einer Richtlinie in eine ausdrückliche und spezifische Rechts- oder Verwaltungsvorschrift nicht notwendigerweise erforderlich ist, da der Umsetzung durch einen allgemeinen rechtlichen Kontext Genüge getan sein kann, sofern dieser tatsächlich die vollständige Anwendung der Richtlinie hinreichend klar und bestimmt gewährleistet(67).

192. Soll die umzusetzende Bestimmung der Richtlinie dem Einzelnen Rechte verleihen, so ist es zur Erfüllung des Erfordernisses der Rechtssicherheit erforderlich, dass der nationale rechtliche Rahmen keinen berechtigten Zweifel hinsichtlich des Umfangs dieser Rechte bestehen lässt. In diesem Fall impliziert die Umsetzungspflicht der Mitgliedstaaten nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass diese dafür sorgen müssen, dass die Rechtslage für die Einzelnen hinreichend bestimmt und klar ist und es ihnen ermöglicht, von allen ihren Rechten Kenntnis zu erlangen und sie gegebenenfalls vor den nationalen Gerichten geltend zu machen(68).

193. Die Stichhaltigkeit der drei Teile der vorliegenden Rüge ist meines Erachtens im Licht dieser Grundsätze zu prüfen.

194. Der erste Teil dieser Rüge betrifft Art. 46 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf“) Abs. 5 der Richtlinie 2013/32, der die allgemeine Regel aufstellt, dass eine Person, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, auch nach Erlass einer Verwaltungsentscheidung, mit der ihr Antrag abgelehnt wird, bis zum Ablauf der Frist für die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen diese Entscheidung oder, wenn ein Rechtsbehelf eingelegt worden ist, bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf berechtigt ist, im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu verbleiben.

195. In diesem Zusammenhang möchte ich feststellen, dass die Ausführungen der Kommission in ihrer Erwiderung mich zu dem Schluss führen, dass ihre Kritik dahin geht, dass es an einer ordnungsgemäßen Umsetzung und jedenfalls an Klarheit bei dieser Umsetzung mangelt. Die Kommission beanstandet mit anderen Worten, dass der nationale Rechtsrahmen entgegen den Anforderungen der oben angeführten Rechtsprechung Raum für vernünftige Zweifel lasse, was die Tragweite des Rechts auf Verbleib im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats angeht.

196. Ungarn macht geltend, § 5 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit § 35 Abs. 1 des Asylgesetzes erlaube es, das mit Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 angestrebte Ergebnis zu erreichen. Vorab weise ich darauf hin, dass ich den Standpunkt der Kommission teile, wonach § 35 Abs. 1 des Asylgesetzes („Der Antragsteller unterliegt ab der persönlichen Einreichung des Antrags auf internationalen Schutz bei der Asylbehörde … bis zur Zustellung der am Ende des Verfahrens ergangenen Entscheidung, wenn gegen diese kein Rechtsbehelf mehr eingelegt werden kann, dem Asylverfahren“), nichts über das Recht des Antragstellers besagt, im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu verbleiben(69).

197. Somit stellt sich die Frage, ob § 5 Abs. 1 Buchst. a des Asylgesetzes für sich genommen Asylbewerbern das Recht verleihen kann, in Ungarn zu verbleiben, und somit eine angemessene Umsetzung von Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 darstellt.

198. Meines Erachtens ist dies zu verneinen.

199. Um die Gründe zu erläutern, aus denen ich zu diesem Ergebnis gekommen bin, weise ich zunächst darauf hin, dass die fragliche Bestimmung wie folgt lautet: „Ein Asylbewerber hat nach Maßgabe der in diesem Gesetz vorgesehenen Voraussetzungen das Recht, sich im ungarischen Hoheitsgebiet aufzuhalten und nach der spezifischen Regelung eine Erlaubnis zum Aufenthalt im ungarischen Hoheitsgebiet zu erhalten“(70). Zwar hat diese Bestimmung durchaus zur Folge, dass zugunsten jedes Asylbewerbers ein Recht zum Aufenthalt im ungarischen Hoheitsgebiet entsteht, doch ist die Ausübung dieses Rechts offensichtlich von zusätzlichen, nicht näher erläuterten Voraussetzungen abhängig, wie die Kommission meines Erachtens zu Recht meint. Auf die in der mündlichen Verhandlung an es gerichtete Bitte um Angabe solcher Voraussetzungen hat Ungarn lediglich § 35 Abs. 1 des Asylgesetzes angeführt, der sich meiner Ansicht nach eher auf die Umsetzung des Begriffs „Asylbewerber“ bezieht und nicht auf den Wortlaut einer der Voraussetzungen für die Gewährung des genannten Aufenthaltsrechts.

200. Unter diesen Umständen ermöglicht es die ungarische Regelung nicht, das mit Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 angestrebte Ergebnis zu erreichen, d. h. die Gewährung des Rechts auf Verbleib im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats für jeden Antragsteller, dessen Antrag als unbegründet abgelehnt wurde. Jedenfalls sehe ich angesichts eines Aufenthaltsrechts, dessen Konturen in keiner Weise bestimmt sind, nicht, wie man annehmen könnte, dass es sich um eine rechtliche Regelung handelt, die so hinreichend bestimmt und klar ist, dass Asylbewerber „in die Lage versetzt werden, von allen ihren Rechten Kenntnis zu erlangen und diese gegebenenfalls vor den nationalen Gerichten geltend zu machen“(71).

201. Diese Schlussfolgerung beschränkt sich auf die ungarische Regelung, die für gewöhnliche Situationen gilt, d. h. wenn keine durch eine massive Zuwanderung herbeigeführte Krisensituation festgestellt wurde. Wird nämlich eine solche Situation festgestellt, setzt § 80/J Abs. 4 des Asylgesetzes, wie Ungarn ausführt, das in § 5 Abs. 1 Buchst. a dieses Gesetzes anerkannte Recht auf Verbleib im nationalen Hoheitsgebiet aus. Unter diesen Umständen ist diesem Mitgliedstaat zufolge § 80/J Abs. 5 dieses Gesetzes die einschlägige nationale Bestimmung, da er vorsehe, dass die Transitzone dem Asylbewerber als obligatorischer Aufenthaltsort zugewiesen werde, bis die Entscheidung über seinen Antrag, gegen die kein Rechtsbehelf mehr eingelegt werden könne (oder der Überstellungsbeschluss nach der Dublin-Verordnung), vollstreckbar geworden sei.

202. Da ich dem Gerichtshof vorschlage, zu entscheiden, dass eine solche Bestimmung eine rechtswidrige Haft im Sinne der Richtlinie 2013/33 begründet, ist entsprechend davon auszugehen, dass sie nicht dem Erfordernis genügen kann, dem Asylbewerber das Recht auf Verbleib im nationalen Hoheitsgebiet nach Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 zu verleihen.

203. Der zweite Teil der vorliegenden Rüge betrifft Art. 46 Abs. 6 der Richtlinie 2013/32, der als Ausnahmeregelung vorsieht, dass, wenn die ablehnende Entscheidung in eine der in diesem Absatz aufgeführten Kategorien fällt (u. a. auch Entscheidungen, mit denen ein Antrag für offensichtlich unbegründet oder, vorbehaltlich bestimmter Ausnahmen, für unzulässig bzw. – nach einem beschleunigten Verfahren – für unbegründet erklärt wird(72)), das Recht, im Hoheitsgebiet zu verbleiben, von dem betreffenden Mitgliedstaat nicht notwendigerweise automatisch garantiert werden muss, dieser jedoch zumindest vorsehen muss, dass ein Gericht über das Bestehen eines solchen Rechts entscheidet, wenn die fragliche Entscheidung zur Folge hat, dass dem Recht des Asylbewerbers auf Verbleib in diesem Mitgliedstaat ein Ende gesetzt wird.

204. Zunächst ist festzustellen, dass sich die Kritik der Kommission auf die Umsetzung dieses Artikels in Bezug auf Rechtsbehelfe gegen die Ablehnung des Antrags als unzulässig beschränkt. Ihrer Ansicht nach setzt § 53 Abs. 6 des Asylgesetzes, der die gegen solche Entscheidungen gegebenen Rechtsbehelfe regelt(73) und dem zufolge „[d]ie Einreichung eines Antrags … im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht die Aussetzung der Vollstreckung der Entscheidung zur Folge [hat], mit Ausnahme der Asylentscheidungen nach § 51 Abs. 2 Buchst. e und Abs. 7 Buchst. h“ das mit Art. 46 Abs. 6 der Richtlinie 2013/32 angestrebte Ergebnis nicht ordnungsgemäß um. Meines Erachtens ist es allerdings nicht erforderlich, sich mit dieser Frage zu befassen, da Ungarn keinen Einwand erhebt, was den Umstand angeht, dass diese nationale Bestimmung für sich genommen weder die automatische aufschiebende Wirkung dieser Rechtsbehelfe noch eine gerichtliche Entscheidung über die aufschiebende Wirkung gewährleistet.

205. Besondere Aufmerksamkeit scheint mir hingegen das Argument Ungarns zu verdienen, dass dieses Ergebnis in der innerstaatlichen Rechtsordnung tatsächlich durch § 50 der Verwaltungsgerichtsordnung erreicht wird. Nach Auffassung dieses Mitgliedstaats ermöglicht es diese Bestimmung, bei dem mit dem Hauptrechtsbehelf befassten Gericht sofortigen gerichtlichen Rechtsschutz zu beantragen, der u. a. in Form der Gewährung einer aufschiebenden Wirkung erfolgen kann(74), was die Kommission nicht in Abrede stellt. Demgegenüber erklärt diese, dass sie § 50 nicht für eine ausreichend klare und präzise Umsetzung von Art. 46 Abs. 6 der Richtlinie 2013/32 hält.

206. Diesem Argument kann ich nicht zustimmen.

207. Zur Stützung ihres Standpunkts verweist die Kommission lediglich darauf, dass das Asylgesetz nicht klar angebe, ob die allgemeinen Verwaltungsverfahrensvorschriften auf Gerichtsverfahren anwendbar seien, die in den Anwendungsbereich dieses Gesetzes fielen. Meines Erachtens kann diese Bemerkung als solche indes nicht zu der Annahme führen, dass die sich aus dem fraglichen nationalen Recht ergebende Rechtslage nicht hinreichend klar und genau sei, um Asylbewerbern die Möglichkeit zu geben, von allen ihren Rechten Kenntnis zu erlangen und sie vor einem Gericht geltend zu machen, und zwar aus drei wesentlichen Gründen: Erstens schließt § 53 Abs. 6 des Asylgesetzes die Anwendung von § 50 der Verwaltungsgerichtsordnung nicht ausdrücklich aus und enthält auch nichts, was mit dieser unvereinbar wäre. Zweitens ist ein Verhältnis zwischen lex generalis (Verwaltungsgerichtsordnung) und lex specialis (Asylgesetz)(75), wonach Erstere auf dieselben wie die von Letzterer erfassten Fälle Anwendung finden kann, um deren Lücken zu schließen, sicherlich nicht unüblich. Drittens trägt die Kommission keinen Gesichtspunkt vor, wie etwa eine nationale Rechtsprechungslinie, der Zweifel daran erlauben würde, dass die ungarischen Verwaltungsgerichte tatsächlich über die Möglichkeit verfügen, die Aussetzung der Vollstreckung der Entscheidung, mit der der Asylantrag für unzulässig erklärt wird, zu bewilligen und somit dem betreffenden Antragsteller das Recht zuzugestehen, im nationalen Hoheitsgebiet zu verbleiben.

208. Im Übrigen glaube ich nicht, dass eine andere als die vorgeschlagene Auslegung das Gleichgewicht wahren würde, das der Gerichtshof mit der oben in den Nrn. 191 und 192 angeführten Rechtsprechung herstellen wollte.

209. Der dritte Teil der vorliegenden Rüge betrifft die in Art. 46 Abs. 6 der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen Ausnahmen von der Ausnahme. Aus Buchst. a dieses Absatzes ergibt sich, dass, wenn die ablehnende Entscheidung auf den in Art. 31 Abs. 8 Buchst. h der Richtlinie 2013/32 genannten Umständen beruht, die allgemeine Regel des Art. 46 Abs. 5 dieser Richtlinie wieder anwendbar wird, so dass das Recht auf Verbleib im Hoheitsgebiet automatisch zu gewähren ist. Daraus folgt ebenfalls, dass dieses Recht automatisch gewährt werden muss, wenn der Antrag gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. c und e für unzulässig erklärt wird, weil Art. 46 Abs. 6 Buchst. b nur die Fälle betrifft, in denen der Antrag gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. a, b und d für unzulässig erklärt wird.

210. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission mit diesem Teil nicht in Abrede stellt, dass die sich aus den Buchst. a und b ergebenden Ausnahmen tatsächlich umgesetzt wurden, da § 53 Abs. 6 des Asylgesetzes gerade auf diese Ausnahmen Bezug nimmt, wenn er bestimmt, dass die Einlegung eines Rechtsbehelfs keine aufschiebende Wirkung hat, „mit Ausnahme der Asylentscheidungen nach § 51 Abs. 2 Buchst. e und Abs. 7 Buchst. h“. Sie vertritt jedoch weiterhin die Ansicht, es mangele der Umsetzung an Klarheit, da diese nationale Bestimmung nicht ausdrücklich besage, dass die Ausnahme vom Fehlen einer aufschiebenden Wirkung in der automatischen aufschiebenden Wirkung bestehe.

211. In Anbetracht der Art und Weise, wie die Kommission im Rahmen dieses Teils argumentiert hat, genügt insoweit die Feststellung, dass ein einfacher Umkehrschluss aus der genannten Bestimmung ganz klar zeigt, dass der ungarische Gesetzgeber den Rechtsbehelfen gegen Entscheidungen, die auf die in § 51 Abs. 2 Buchst. e und Abs. 7 Buchst. h des Asylgesetzes genannten Umstände gestützt sind, eine automatische aufschiebende Wirkung verleihen wollte.

212. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, dem ersten Teil der fünften Rüge stattzugeben und den zweiten sowie den dritten Teil zurückzuweisen.

IV.    Kosten

213. Grundsätzlich tragen die Parteien gemäß Art. 138 Abs. 3 Satz 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs jeweils ihre eigenen Kosten, wenn jede Partei, wie hier, teils obsiegt und teils unterliegt. Der Gerichtshof kann jedoch auf der Grundlage von Satz 2 dieser Vorschrift entscheiden, dass eine Partei außer ihren eigenen Kosten auch einen Teil der Kosten der Gegenpartei trägt, wenn dies in Anbetracht der Umstände des Einzelfalls gerechtfertigt erscheint.

214. Nach der vorgeschlagenen Lösung obsiegt die Europäische Kommission weitgehend, wohingegen sich die Argumente Ungarns lediglich hinsichtlich eines kleinen Teils des Streitgegenstandes – nämlich des zweiten und des dritten Teils der fünften Rüge – durchsetzen. Angesichts dessen erscheint es im vorliegenden Fall angemessen, Ungarn neben seinen eigenen Kosten auch vier Fünftel der Kosten der Kommission aufzuerlegen, während diese ein Fünftel ihrer eigenen Kosten zu tragen hat.

V.      Ergebnis

215. Aus den vorstehenden Gründen schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt zu entscheiden:

1.      Ungarn hat dadurch gegen seine Verpflichtungen aus den Art. 3 und 6 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes verstoßen, dass es vorgeschrieben hat, dass alle Asylanträge persönlich bei der zuständigen Behörde und ausschließlich in einer der Transitzonen eingereicht werden müssen, in die nur wenige Personen eingelassen werden.

2.      Ungarn hat dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 43 der Richtlinie 2013/32 verstoßen, dass es ein Verfahren zur Prüfung von Asylanträgen an der Grenze eingeführt hat, das nicht die in dieser Bestimmung vorgesehenen Garantien aufweist.

3.      Ungarn hat dadurch gegen seine Verpflichtungen aus den Art. 8, 9 und 11 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, verstoßen, dass es auf alle Asylbewerber, mit Ausnahme von Kindern unter 14 Jahren, ein Verfahren zur Prüfung ihres Antrags angewandt hat, dessen Ergebnis ihre Inhaftnahme in den Transitzonen ist, ohne in den Genuss der in diesen Bestimmungen vorgesehenen Garantien zu gelangen.

4.      Ungarn hat dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 5, Art. 6 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger verstoßen, dass es illegal im Inland aufhältige Drittstaatsangehörige auf die andere Seite des Grenzzauns zurückgebracht hat, ohne die in diesen Bestimmungen vorgesehenen Garantien zu beachten.

5.      Ungarn hat dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 verstoßen, dass es diese Bestimmung nicht ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt hat.

6.      Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

7.      Ungarn trägt seine eigenen Kosten sowie vier Fünftel der Kosten der Europäischen Kommission. Der Europäischen Kommission fällt ein Fünftel ihrer eigenen Kosten zur Last.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60).


3      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96).


4      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).


5      ABl. 2016, L 77, S. 1 (im Folgenden: Schengener Grenzkodex).


6      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (ABl. 2010, L 280, S. 1).


7      Urteil vom 14. Mai 2020 (C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367).


8      Vgl. statt vieler Urteil vom 14. April 2005, Kommission/Luxemburg (C‑519/03, EU:C:2005:234, Rn. 19).


9      Vgl. Urteil vom 10. April 2008, Kommission/Italien (C‑442/06, EU:C:2008:216, Rn. 42).


10      In seiner Klagebeantwortung erläutert Ungarn, dass eine durch eine massive Zuwanderung herbeigeführte Krise eine besondere Situation sei, die ausgerufen werden könne, wenn die in § 80/A Abs. 1 des Asylgesetzes vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt seien, und in der besondere Verfahrensvorschriften gälten. Die ungarische Regierung habe diese Erklärung im September 2015 abgegeben und ihre Wirkungen bis zum 7. September 2019 verlängert.


11      Die Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz wird im Vorschlag der Kommission für die Richtlinie 2005/85/EG [des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. 2005, L 326, S. 13)], d. h. dem durch die Richtlinie 2013/32 aufgehobenen und ersetzten Rechtsakt, definiert als „jede Äußerung, die darauf schließen lässt, dass der Betreffende Angst davor hat, in sein Herkunftsland zurückgeschickt zu werden“ (vgl. Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung oder Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft/*KOM/2000/0578 endg. – CNS 2000/0238*/[ABl. 2001, 62 E, S. 231], Erläuterung zu Art. 4).


12      Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung oder Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft/* KOM/2000/0578 endg. – CNS 2000/0238*/, Erläuterung zu Art. 4.


13      Hervorhebung nur hier.


14      EASO und Frontex, „Praxisleitfaden: Zugang zum Asylverfahren“, 2016, abrufbar unter der Adresse https://www.easo.europa.eu/sites/default/files/Practical%20Tools-%20Access%20To%20Procedures-Practical-Guide-DE.pdf, S. 6.


15      Bericht des UNHCR, „Hungary as a country of asylum Observations on restrictive legal measures and subsequent practice implemented between July 2015 and March 2016“ („Ungarn als Asylland. Bemerkungen zu den restriktiven rechtlichen Maßnahmen und zur Praxis zwischen Juli 2015 und März 2016“), abrufbar unter der Adresse https://www.refworld.org/docid/57319d514.html.


16      Bericht über den Informationsbesuch des Botschafters Tomás Boček, Sonderbeauftragter des Generalsekretärs des Europarats für Migration und Flüchtlinge, in Serbien und in zwei Transitzonen in Ungarn vom 12. bis 16. Juni 2017, abrufbar unter der Adresse https://search.coe.int/cm/Pages/result_details.aspx?ObjectId=090000168075e9b2.


17      Bericht des Hungarian Helsinki Committee, „Country Report: Hungary“ („Länderbericht Ungarn“), abrufbar unter der Adresse https://www.asylumineurope.org/sites/default/files/report-download/aida_hu_2017 update.pdf.


18      Bericht des UNHCR, „Desperate journeys: Refugees and migrants arriving in Europe and at Europe’s border“ („Wege der Verzweiflung: Flüchtlinge und Migranten, die in Europa und an den Grenzen Europas ankommen), Januar-August 2018, abrufbar unter der Adresse https://www.unhcr.org/desperatejourneys/.


19      Wie aus dem Bericht über den Informationsbesuch des Botschafters Tomás Boček, Sonderbeauftragter des Generalsekretärs des Europarats für Migration und Flüchtlinge, in Serbien und in zwei Transitzonen in Ungarn vom 12. bis 16. Juni 2017 hervorgeht, abrufbar unter der Adresse https://search.coe.int/cm/Pages/result_details.aspx?ObjectId=090000168075e9b2.


20      In diesem Zusammenhang stelle ich fest, dass die Kommission in ihren Schriftsätzen ständig von der „Einreichung“ des Antrags auf internationalen Schutz spricht. Ihre erste Rüge bezieht sich jedoch eindeutig auf die Phase vor der Registrierung des Antrags, also die Phase der „Stellung“ des Antrags.


21      Anhang mit Erläuterungen zum Dokument „Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung gemeinsamer Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzstatus“, Art. 6.


22      Hinzufügungen in eckigen Klammern nur hier.


23      Vgl. Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung eines gemeinsamen Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes in der Union und zur Aufhebung der Richtlinie 2013/32/EU, unterzeichnet in Brüssel am 13. Juli 2016 (COM[2016] 0467 final – 2016/0224[COD]).


24      Vgl. meine Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen FMS u. a. (C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:294, Nr. 136).


25      Nach meiner Kenntnis geht der Gedanke, eine spezifische Regelung für das „Verfahren an der Grenze“ vorzusehen, auf den geänderten Vorschlag für die Richtlinie 2005/85 zurück, in dem es heißt: „Auf der Grundlage der anschließenden Konsultationen mit den Mitgliedstaaten wird für an der Grenze gestellte Anträge ein gesondertes Verfahren vorgeschlagen“ (Hervorhebung nur hier) (vgl. Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung oder Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft/* KOM/2002/0326 endg. – CNS 2000/0238*/[ABl. 2002, C 291 E, S. 143]); dies bestätigt meines Erachtens die entscheidende Bedeutung des Elements der territorialen Gegebenheiten des Verfahrens.


26      Dies bedeutet zwangsläufig, dass die funktionelle Einstufung der Einrichtungen von Röszke und Tompa als Transitzonen oder Aufnahmeeinrichtungen im Sinne des nationalen Rechts, die Ungarn in seiner Klagebeantwortung wiederholt geltend gemacht hat, hierfür völlig unerheblich ist.


27      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31, im Folgenden: Dublin-Verordnung).


28      Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 definiert den Begriff „Antragsteller, der besondere Verfahrensgarantien benötigt“, als „Antragsteller, dessen Fähigkeit, die Rechte aus dieser Richtlinie in Anspruch nehmen und den sich aus dieser Richtlinie ergebenden Pflichten nachkommen zu können, aufgrund individueller Umstände eingeschränkt ist“.


29      Genauer gesagt sieht § 71/A Abs. 7 vor, dass die Vorschriften über das Verfahren an der Grenze keine Anwendung finden auf „schutzbedürftige Personen“, d. h. nach der Definition in § 2 Buchst. k des Asylgesetzes „unbegleitete Minderjährige oder jede andere gefährdete Person – insbesondere Minderjährige, ältere Personen, Behinderte, Schwangere oder Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern, sowie Personen, die Folter, Vergewaltigung oder andere schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben – bei denen sich auf der Grundlage einer individuellen Beurteilung ihrer Situation feststellen lässt, dass sie spezifische Bedürfnisse haben. Dieser Begriff fällt meines Erachtens jedoch unter den in der Richtlinie 2013/32 verwendeten Begriff der „Antragsteller, die besondere Garantien benötigen“. Zur letztgenannten Definition vgl. Fn. 30 der vorliegenden Schlussanträge.


30      Urteil vom 2. April 2020 (C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, EU:C:2020:257).


31      Vor der Entscheidung des Gerichtshofs in dieser Rechtssache hatte ich bereits in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Stadt Frankfurt am Main (C‑18/19, EU:C:2020:130, Nrn. 38 bis 42) zur Auslegung von Art. 72 AEUV Stellung genommen.


32      Diese Ausnahmen finden sich dem Gerichtshof zufolge in den Art. 36, 45, 52, 65 72, 346 und 347 AEUV.


33      Urteil vom 2. April 2020, Kommission/Polen u. a. (Vorübergehender Umsiedlungsmechanismus für internationalen Schutz beantragende Personen) (C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, EU:C:2020:257, Rn. 143 bis 147).


34      Ich paraphrasiere die Rn. 148 bis 153 dieses Urteils.


35      Urteil vom 14. Mai 2020, FMS u. a. (C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 244).


36      EGMR, 14. März 2017, Ilias und Ahmed gegen Ungarn (CE:ECHR:2017:0314JUD004728715).


37      Urteil vom 19. März 2020 (C‑564/18, EU:C:2020:218).


38      Urteil vom 19. März 2020 (C‑564/18, EU:C:2020:218).


39      EGMR, 21. November 2019, CE:ECHR:2019:1121JUD004728715.


40      Vgl. meine Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen (C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:294, Nrn. 148 bis 152).


41      In den Erläuterungen zu Art. 52 der Charta heißt es nämlich, dass mit Abs. 3 dieses Artikels die notwendige Kohärenz zwischen der Charta und der EMRK geschaffen werden soll, „ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs der Europäischen Union berührt wird“.


42      Vgl. zum Asylrecht Urteile vom 15. Februar 2016, N. (C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 45), und vom 14. September 2017, K. (C‑18/16, EU:C:2017:680, Rn. 32).


43      Diese „eigenständige“ Auslegung der Bestimmungen der Charta, die inhaltlich denen der EMRK ähneln, unterliegt der in Art. 52 Abs. 3 EMRK aufgestellten Voraussetzung, dass sie zu einem höheren als dem von der EMRK garantierten Schutzniveau führt.


44      Dieser Erwägungsgrund lautet wie folgt: „Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta … anerkannt wurden. Sie zielt vor allem darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde zu gewährleisten und die Anwendung der Artikel 1, 4, 6, 7, 18, 21, 24 und 47 der Charta zu fördern, und muss entsprechend umgesetzt werden.“


45      Urteil vom 14. Mai 2020, FMS u. a. (C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367).


46      EGMR, 21. November 2019, CE:ECHR:2019:1121JUD004728715.


47      Urteil vom 14. Mai 2020, FMS u. a. (C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 216 bis 222).


48      Ich kann nicht erkennen, wie eine Beschränkung der Bewegungsfreiheit in diesem Umfang als unvermeidliche Folge der begrenzten Größe der gesamten Transitzone angesehen werden könnte, wie von Ungarn vorgetragen.


49      Urteil vom 14. Mai 2020, FMS u. a. (C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 226).


50      Urteil vom 14. Mai 2020, FMS u. a. (C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367).


51      Vgl. in diesem Zusammenhang meine Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen FMS u. a. (C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:294, Nrn. 155 und 166), in denen ich die Auffassung vertrat, dass nur eine „realistische“ Möglichkeit der freiwilligen Ausreise das Vorliegen einer Inhaftnahme ausschließen könne und dass die Frage, ob diese bestehe, anhand der speziellen Situation von Personen, die internationalen Schutz beantragen, zu beurteilen sei.


52      Urteil vom 14. Mai 2020, FMS u. a. (C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 228 und 229).


53      Vgl. namentlich Urteil vom 30. April 2014, Kásler und Káslerné Rábai (C‑26/13, EU:C:2014:282, Rn. 37).


54      Urteil vom 19. März 2020, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal (Tompa) (C‑564/18, EU:C:2020:218, Rn. 27).


55      Vgl. auch Urteil vom 14. September 2017, K. (C‑18/16, EU:C:2017:680, Rn. 48).


56      Ungarn verweist namentlich auf das Urteil vom 23. November 2010, Tsakouridis (C‑145/09, EU:C:2010:708).


57      Es ist festzustellen, dass das Vorbringen Ungarns, die ungarische Polizei werde innerhalb des gesetzlichen Rahmens tätig und mache von Zwangsmaßnahmen angemessen und ausschließlich in den gesetzlich vorgesehenen Fällen Gebrauch, wie es Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 verlange, nicht erheblich ist, wenn es um die Feststellung geht, ob Ungarn gegen seine Verpflichtungen verstoßen hat, deren Verletzung ihm mit der vorliegenden Rüge vorgeworfen wird.


58      Urteil vom 19. März 2019, Arib u. a. (C‑444/17, EU:C:2019:220, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).


59      Hervorhebung nur hier.


60      § 5 Abs. 1a des Gesetzes über die Staatsgrenzen lautet: „Die Polizei kann im ungarischen Hoheitsgebiet ausländische Staatsangehörige, die sich illegal im ungarischen Hoheitsgebiet aufhalten, innerhalb eines Streifens von acht Kilometern ab der in Art. 2 Abs. 2 des Schengener Grenzkodex festgelegten Außengrenze oder den Grenzmarken aufgreifen und sie zum Eingang der nächstgelegenen Einrichtung im Sinne von Abs. 1 führen, es sei denn, es besteht der Verdacht einer Straftat.“


61      Urteil vom 2. April 2020 (C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, EU:C:2020:257).


62      Wenn ihre Gültigkeit nicht in Frage gestellt wird, kann der Umstand, dass die Richtlinie 2008/115 keinen Erwägungsgrund wie den 51. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/32 enthält, wonach diese die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit gemäß Art. 72 AEUV unberührt lässt, eine Ausnahme von den Bestimmungen dieser Richtlinie auf der Grundlage dieses Artikels, sicherlich nicht, wie Ungarn geltend macht, rechtfertigen.


63      Art. 18 der Richtlinie 2008/115 beschränkt sich nämlich darauf, den Mitgliedstaaten zu gestatten, für die gerichtliche Überprüfung längere Fristen als die in Art. 15 Abs. 2 Unterabs. 3 dieser Richtlinie vorgesehenen Fristen zu gewähren und Sofortmaßnahmen in Bezug auf die Haftbedingungen zu ergreifen, die von den in Art. 16 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie genannten abweichen.


64      Wie die Kommission in der Klageschrift ausführt, heißt es in Art. 18 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115 sogar ausdrücklich: „Dieser Artikel ist nicht so auszulegen, als gestatte er den Mitgliedstaaten eine Abweichung von ihrer allgemeinen Verpflichtung, alle geeigneten – sowohl allgemeinen als auch besonderen – Maßnahmen zu ergreifen, um zu gewährleisten, dass sie ihren aus dieser Richtlinie hervorgehenden Verpflichtungen nachkommen.“


65      Urteil vom 23. November 2010 (C‑145/09, EU:C:2010:708).


66      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77).


67      Vgl. Urteil vom 22. Februar 2018, Kommission/Polen (C‑336/16, EU:C:2018:94, Rn. 120 und die dort angeführte Rechtsprechung).


68      Vgl. u. a. Urteil vom 13. Februar 2014, Kommission/Vereinigtes Königreich (C‑530/11, EU:C:2014:67, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).


69      Insoweit ist festzustellen, dass Ungarn nicht dem Vorbringen der Kommission entgegentritt, wonach § 51 Abs. 2 des Gesetzes Nr. II über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen von 2007 zwar vorsehe, dass „Drittstaatsangehörige … zwar dem Asylverfahren [unterlägen], die Zurückweisung oder Rückkehr jedoch nicht angeordnet oder vollstreckt werden“ könne; diese Bestimmung verleiht den Asylbewerbern jedoch kein Recht, im ungarischen Hoheitsgebiet zu verbleiben, da sie nur anzuwenden ist, „wenn der Drittstaatsangehörige das Recht hat, sich im ungarischen Hoheitsgebiet aufzuhalten, wie in einem anderen Gesetz festgelegt“.


70      Hervorhebung nur hier.


71      Hervorhebung nur hier.


72      Art. 46 Abs. 6 Buchst. b bzw. a der Richtlinie 2013/32.


73      Ungarn hat in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass dieser Paragraf für Rechtsbehelfe gegen diese Entscheidungen gilt, wobei es auf Abs. 2 dieses Paragrafen hingewiesen hat, wonach „[e]ine ablehnende Entscheidung, die mit der Unzulässigkeit des Antrags begründet wird oder die im beschleunigten Verfahren ergangen ist, … im Rahmen eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens angefochten werden [kann]“ (Hervorhebung nur hier).


74      § 50 Abs. 4 legt fest, dass die Gründe, die die Notwendigkeit eines sofortigen gerichtlichen Rechtsschutzes rechtfertigen, im Antrag ausführlich dargelegt werden müssen, die Nachweise beizufügen sind und die Tatsachen, auf die sich der Antrag stützt, belegt werden müssen.


75      Ungarn hat in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass das Verhältnis zwischen diesen beiden Rechtsakten in dieser Weise zu verstehen ist.