Language of document : ECLI:EU:T:2018:479

Rechtssache T275/17

Michela Curto gegen Europäisches Parlament

„Öffentlicher Dienst – Akkreditierte parlamentarische Assistenten – Art. 24 des Statuts – Antrag auf Beistand – Art. 12a des Statuts – Mobbing – Beratender Ausschuss ‚Mobbing und Mobbing-Prävention am Arbeitsplatz‘, der Beschwerden von akkreditierten parlamentarischen Assistenten gegen Abgeordnete zum Europäischen Parlament behandelt – Den Antrag auf Beistand ablehnende Entscheidung – Beurteilungsfehler – Tragweite der Beistandspflicht – Dauer des Verwaltungsverfahrens – Angemessene Frist – Verweigerung der Bekanntgabe von Berichten des beratenden Ausschusses“

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Erste Kammer) vom 13. Juli 2018

1.      Beamte – Beistandspflicht der Verwaltung – Geltungsbereich – Ehemalige Beamte oder Bedienstete – Ehemalige akkreditierte parlamentarische Assistenten

(Beamtenstatut, Art. 24)

2.      Beamte – Beistandspflicht der Verwaltung – Durchführung im Bereich Mobbing – Stellung eines Antrags auf Beistand – Einhaltung einer angemessenen Frist – Dauer der Frist

(Beamtenstatut, Art. 24 und 90 Abs. 1)

3.      Beamte – Beistandspflicht der Verwaltung – Geltungsbereich – Umfang – Gerichtliche Nachprüfung – Grenzen

(Beamtenstatut, Art. 24)

4.      Beamte – Mobbing – Begriff – Verhalten, das bezweckt oder bewirkt, den Betroffenen in Misskredit zu bringen oder seine Arbeitsbedingungen zu verschlechtern – Erfordernis eines wiederholten Verhaltens – Erfordernis der Vorsätzlichkeit des Verhaltens – Bedeutung – Kein Erfordernis einer Böswilligkeit des Mobbenden

(Beamtenstatut, Art. 12a Abs. 3)

5.      Beamte – Mobbing – Ursprung des Mobbings – Mutmaßlicher Drahtzieher des Mobbings – Mitglied des Europäischen Parlaments – Einbeziehung

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 31; Beamtenstatut, Art. 12a)

6.      Beamte – Beistandspflicht der Verwaltung – Umfang – Pflicht der Verwaltung, Beschwerden über Mobbing zu prüfen und den Beschwerdeführer über die Behandlung seiner Beschwerde zu informieren – Voraussetzung

(Beamtenstatut, Art. 24 und 90, Abs. 1; Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten, Art. 11)

7.      Beamte – Beistandspflicht der Verwaltung – Durchführung im Bereich Mobbing – Bearbeitung eines Antrags auf Beistand – Einhaltung einer angemessenen Frist – Bedeutung

(Beamtenstatut, Art. 24)

8.      Beamte – Beistandspflicht der Verwaltung – Geltungsbereich – Pflicht des Opfers von Mobbing, Ersatz für seinen Schaden in erster Linie vor einem nationalen Gericht anzustreben

(Beamtenstatut, Art. 24)

9.      Beamtenklage – Schadensersatzklage – Aufhebung des angefochtenen rechtswidrigen Aktes – Von der Rechtswidrigkeit abtrennbarer immaterieller Schaden, der durch die Aufhebung nicht in vollem Umfang wiedergutgemacht werden kann

(Art. 340 AEUV)

1.      Die Beistandspflicht ist nicht nur zugunsten der Beamten und Bediensteten im aktiven Dienst vorgesehen, sondern es können sich auch ehemalige Beamte oder Bedienstete auf sie berufen.

Daher bleibt in einer Situation, in der die Einstellungsbehörde zu einem Zeitpunkt, zu dem sowohl die akkreditierte parlamentarische Assistentin als auch das betroffene Mitglied des Parlaments ihren jeweiligen Tätigkeiten in dem Organ nachgingen, ordnungsgemäß mit einem Antrag auf Beistand befasst worden war, diese Behörde zur Durchführung der Verwaltungsuntersuchung verpflichtet, unabhängig davon, ob das behauptete Mobbing in der Zwischenzeit aufgrund des Ausscheidens des einen oder des anderen Handelnden aufgehört hatte oder nicht.

(vgl. Rn. 57, 58)

2.      Da weder Art. 24 noch Art. 90 Abs. 1 des Statuts eine Frist vorsehen, innerhalb deren ein Antrag auf Beistand zu stellen wäre, ist zu fordern, dass ein solcher Antrag innerhalb einer gegenüber dem Zeitraum, in dem sich der in einem solchen Antrag behauptete Sachverhalt zugetragen hat, angemessenen Frist gestellt wird, die grundsätzlich fünf Jahre nicht überschreiten darf.

(vgl. Rn. 61)

3.      Hinsichtlich der Maßnahmen, die in einer Situation zu ergreifen sind, die unter Art. 24 des Statuts fällt, darunter die Behandlung eines Antrags auf Beistand, der Behauptungen zu einem Mobbing durch ein Mitglied eines Organs im Sinne von Art. 12a des Statuts enthält, verfügt die Verwaltung über ein weites Ermessen unter der Kontrolle des Unionsrichters bei der Wahl der Maßnahmen und Mittel zur Anwendung von Art. 24 des Statuts. Die Kontrolle des Unionsrichters beschränkt sich insoweit auf die Frage, ob das betroffene Organ sich im Rahmen vernünftiger Grenzen gehalten hat und nicht offensichtlich fehlerhaft von seinem Ermessen Gebrauch gemacht hat.

Die Definition des Mobbings in Art. 12a des Statuts stellt einen objektiven Begriff dar, der, selbst wenn er auf einer kontextuellen Einstufung von Handlungen und Verhaltensweisen Dritter beruht, die nicht immer leicht durchzuführen ist, jedoch nicht die Durchführung komplexer Beurteilungen derjenigen Art impliziert, die sich aus Begriffen wirtschaftlicher, wissenschaftlicher oder technischer Art ergeben können, die es rechtfertigen würden, der Einstellungsbehörde bei der Anwendung des fraglichen Begriffs einen Ermessensspielraum zuzuerkennen. Daher ist, wenn eine Missachtung von Art. 12a des Statuts behauptet wird, zu prüfen, ob die Einstellungsbehörde einen Fehler bei der Beurteilung der Tatsachen im Hinblick auf die Definition von Mobbing in dieser Bestimmung und nicht einen offensichtlichen Fehler bei der Beurteilung dieser Tatsachen begangen hat.

(vgl. Rn. 74, 75)

4.      Der Begriff „Mobbing“ wird als „ungebührliches Verhalten“ definiert, das erstens in Verhaltensweisen, mündlichen oder schriftlichen Äußerungen, Handlungen oder Gesten zum Ausdruck kommt, die „über einen längeren Zeitraum, wiederholt oder systematisch“ erfolgen, so dass unter Mobbing ein Vorgang zu verstehen ist, der notwendigerweise eine gewisse Zeitspanne umfasst und wiederholte oder andauernde Handlungen voraussetzt, die „vorsätzlich“ und nicht „zufällig“ sind. Zweitens müssen diese Verhaltensweisen, mündlichen oder schriftlichen Äußerungen, Handlungen oder Gesten, um unter diesen Begriff zu fallen, zur Folge haben, dass die Persönlichkeit, die Würde oder die physische oder psychische Integrität einer Person angegriffen wird.

Nicht erforderlich ist also, dass diese Verhaltensweisen, mündlichen oder schriftlichen Äußerungen, Handlungen oder Gesten mit der Absicht vorgenommen wurden, die Persönlichkeit, die Würde oder die physische oder psychische Integrität einer Person anzugreifen. Mit anderen Worten: Mobbing kann vorliegen, ohne dass derjenige, der es betreibt, das Opfer mit seinen Handlungen in Misskredit bringen oder absichtlich dessen Arbeitsbedingungen verschlechtern wollte. Es genügt, dass seine Handlungen, sofern sie willentlich begangen wurden, objektiv derartige Folgen haben. Da schließlich die fraglichen Handlungen nach Art. 12a Abs. 3 des Statuts ungebührlich sein müssen, unterliegt die Einstufung als „Mobbing“ der Voraussetzung, dass das Mobbing insoweit eine ausreichend objektive Realität darstellt, als ein in derselben Lage befindlicher neutraler und vernünftiger Beobachter, dessen Sensibilität im Bereich des Normalen liegt, das fragliche Verhalten oder die fragliche Handlung als unangemessen und kritikwürdig ansehen würde.

(vgl. Rn. 76-78)

5.      Die Art. 9 Abs. 2 und 11 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Parlaments schreiben den Mitgliedern des Parlaments vor, auch das Mobbingverbot nach Art. 12a des Statuts einzuhalten, da das auf der Ebene des Statuts vorgesehene Verbot einer solchen Verhaltensweise in Wirklichkeit aus den in den Grundlagentexten festgelegten Werten und Grundsätzen abgeleitet ist und unter Art. 31 der Charta der Grundrechte fällt, wonach „jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer … das Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen [hat]“.

(vgl. Rn. 80, 81)

6.      Die Einstellungsbehörde oder gegebenenfalls die Anstellungsbehörde eines Organs muss, wenn an sie gemäß Art. 90 Abs. 1 des Statuts ein Beistandsantrag im Sinne von Art. 24 dieses Statuts gerichtet wird, kraft ihrer Beistandspflicht beim Auftreten eines Zwischenfalls, der mit einem geordneten und reibungslosen Dienstbetrieb unvereinbar ist, mit aller notwendigen Energie eingreifen und mit der durch die Umstände des Falles gebotenen Schnelligkeit und Fürsorge handeln, um den Sachverhalt festzustellen und daraus in voller Kenntnis der Sachlage die geeigneten Konsequenzen zu ziehen. Dazu genügt es, dass der Beamte oder Bedienstete, der sein Beschäftigungsorgan um Schutz ersucht, einen Anfangsbeweis dafür erbringt, dass die Angriffe, denen er ausgesetzt zu sein behauptet, wirklich stattgefunden haben. Liegen solche Anhaltspunkte vor, hat das befasste Organ die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, insbesondere eine Verwaltungsuntersuchung durchzuführen, um die der Beschwerde zugrunde liegenden Tatsachen in Zusammenarbeit mit dem Beschwerdeführer festzustellen.

Bei Mobbingvorwürfen besteht die Beistandspflicht insbesondere in der Pflicht der Verwaltung, den Beistandsantrag, in dem Mobbing behauptet wird, ernsthaft, schnell und unter vollständiger Wahrung der Vertraulichkeit zu prüfen und den Antragsteller über die Behandlung seiner Beschwerde zu informieren.

(vgl. Rn. 97, 98)

7.      Da das Statut keine besondere Bestimmung über die Frist enthält, innerhalb deren eine Verwaltungsuntersuchung insbesondere im Bereich des Mobbings von der Verwaltung durchzuführen ist, ist die Einstellungsbehörde auf diesem Gebiet an die Wahrung des Grundsatzes der angemessenen Verfahrensdauer gebunden. Insoweit hat das Organ oder die Einrichtung der Union bei der Durchführung der Verwaltungsuntersuchung darauf zu achten, dass jede Verfahrenshandlung in angemessenem zeitlichen Abstand zur vorhergehenden Maßnahme vorgenommen wird.

Der Verstoß gegen den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer kann nämlich die Aufhebung der am Ende eines Verwaltungsverfahrens getroffenen Entscheidung, wie der zweiten den Antrag auf Beistand ablehnenden Entscheidung, nur rechtfertigen, wenn die überlange Dauer eine Auswirkung auf den Inhalt der am Ende des Verwaltungsverfahrens erlassenen Entscheidung haben könnte.

(vgl. Rn. 101, 104)

8.      Gegenstand der Beistandspflicht nach Art. 24 des Statuts ist die Verteidigung der Beamten und Bediensteten durch ihr Organ gegen Angriffe Dritter und nicht gegen Handlungen des Organs selbst, für deren Überprüfung andere Bestimmungen des Statuts gelten. Im Sinne dieser Bestimmung können jedoch andere Beamte oder Bedienstete oder Mitglieder eines Unionsorgans als Dritte angesehen werden.

Nach Art. 24 Abs. 2 des Statuts hat ein Bediensteter den Ersatz des immateriellen Schadens, den er durch das Verhalten eines Mitglieds eines Unionsorgans erlitten haben soll, tatsächlich in erster Linie mittels einer Schadensersatzklage vor einem nationalen Gericht anzustreben, wobei nach dieser Bestimmung des Statuts die Einstellungsbehörde den der klagenden Partei durch ein solches Verhalten „Dritter“ im Sinne dieser Bestimmung verursachten Schaden nur dann solidarisch zu ersetzen hat, wenn Ersatz für einen solchen Schaden nicht erlangt werden konnte.

Jedoch könnte die Einstellungsbehörde bereits aufgrund der Beistandspflicht gehalten sein, dem Bediensteten Beistand, insbesondere finanziellen, bei solchen Bemühungen um eine Entschädigung vor einem nationalen Gericht zu leisten.

(vgl. Rn. 111-113)

9.      Die Aufhebung einer rechtswidrigen Maßnahme kann als solche einen angemessenen und grundsätzlich hinreichenden Ersatz des gesamten immateriellen Schadens darstellen, den diese Maßnahme verursacht haben mag, es sei denn, dass die klagende Partei nachweist, dass er einen von der Rechtswidrigkeit, auf der die Aufhebung beruht, abtrennbaren immateriellen Schaden, der durch die Aufhebung nicht in vollem Umfang wiedergutgemacht werden kann, erlitten hat.

(vgl. Rn. 114)