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SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MICHAL BOBEK

vom 7. November 2019(1)

Rechtssache C659/18

VW

(Vorabentscheidungsersuchen des Juzgado de Instrucción n.o 4 de Badalona [Ermittlungsgericht Nr. 4 Badalona, Spanien])

„Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2013/48/EU – Art. 2 – Anwendungsbereich – Art. 3 – Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand – Nichterscheinen vor Gericht – Nationaler Haftbefehl – Vorübergehende Abweichungen – Art. 8 – Umstände, unter denen das Recht auf einen Rechtsbeistand ausgesetzt werden darf“






I.      Einleitung

1.        Die Anfänge des Anwaltsberufs lassen sich bis in das antike Griechenland und Rom zurückverfolgen(2). Dass aber jeder, gegen den ein Strafverfahren durchgeführt wird, ein Recht auf einen Rechtsbeistand hat, ist eine verhältnismäßig moderne Neuerung aus dem 18. und 19. Jahrhundert(3).

2.        Heutzutage gilt das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren (in manchen Rechtsordnungen auch Recht auf einen Rechtsanwalt genannt) als wesentlicher Bestandteil der Verteidigungsrechte und darüber hinaus des Rechts auf ein faires Verfahren(4). Verankert ist es u. a. in Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), in Art. 6 Abs. 3 Buchst. c der Europäischen Menschenrechtskonvention (im Folgenden: EMRK) und in Art. 14 Abs. 3 Buchst. b des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte(5).

3.        Mit der vorliegenden Rechtssache erhält der Gerichtshof Gelegenheit zur Klärung des Anwendungsbereichs des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gemäß der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs(6). Die konkrete Frage, die dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Ist es rechtmäßig, das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand so lange auszusetzen, bis der Verdächtige in Person vor Gericht erscheint, wenn ein (nationaler) Haftbefehl gegen ihn ergangen ist, nachdem er zuvor von diesem Gericht vorgeladen worden war, aber nicht erschienen ist?

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

4.        In den Erwägungsgründen 12, 19 und 38 der Richtlinie 2013/48 heißt es:

„(12)      Mit dieser Richtlinie werden Mindestvorschriften für das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand im Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls … festgelegt. Die Richtlinie stützt sich auf die Artikel 3, 5, 6 und 8 EMRK in der Auslegung durch den [EGMR], der in seiner Rechtsprechung fortlaufend Standards zum Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand festlegt, und fördert so gleichzeitig die Anwendung der Charta, insbesondere ihrer Artikel 4, 6, 7, 47 und 48. Nach dieser Rechtsprechung ist es für ein faires Verfahren unter anderem erforderlich, dass der Verdächtige oder die beschuldigte Person die gesamte Bandbreite der speziell mit rechtlichem Beistand verbundenen Dienste erlangen können. In dieser Hinsicht sollte der Rechtsbeistand des Verdächtigen oder der beschuldigten Person die Verteidigung in ihren grundlegenden Aspekten ohne Einschränkungen sichern können.

(19)      Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen das Recht haben, unverzüglich Zugang zu einem Rechtsbeistand erhalten zu können …

(38)      Die Mitgliedstaaten sollten die Gründe und die Kriterien für alle vorübergehenden Abweichungen von der Anwendung der gemäß dieser Richtlinie vorgesehenen Rechte in ihren nationalen Rechtsvorschriften klar festlegen und sie sollten diese vorübergehenden Abweichungsmöglichkeiten restriktiv nutzen. Jede derartige vorübergehende Abweichung sollte verhältnismäßig, zeitlich streng begrenzt und nicht ausschließlich durch die Art oder die Schwere der zur Last gelegten Straftat begründet sein und sollte ein faires Verfahren insgesamt nicht beeinträchtigen. …“

5.        Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie 2013/48 sieht vor:

„Mit dieser Richtlinie werden Mindestvorschriften für die Rechte von Verdächtigen und beschuldigten Personen in Strafverfahren und von Personen, die von einem Verfahren gemäß dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI (,Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls‘) betroffen sind, auf Zugang zu einem Rechtsbeistand … festgelegt.“

6.        Art. 2 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 bestimmt:

„Diese Richtlinie gilt für Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren ab dem Zeitpunkt, zu dem sie von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Art und Weise davon in Kenntnis gesetzt wurden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig sind oder beschuldigt werden, und unabhängig davon, ob ihnen die Freiheit entzogen wurde. Die Richtlinie gilt bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren.“

7.        In Art. 3 („Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand im Strafverfahren“) der Richtlinie 2013/48 heißt es:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtigen und beschuldigten Personen das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand so rechtzeitig und in einer solchen Art und Weise zukommt, dass die betroffenen Personen ihre Verteidigungsrechte praktisch und wirksam wahrnehmen können.

(2)      Verdächtige oder beschuldigte Personen können unverzüglich Zugang zu einem Rechtsbeistand erhalten. In jedem Fall können Verdächtige oder beschuldigte Personen ab dem zuerst eintretenden der folgenden Zeitpunkte Zugang zu einem Rechtsbeistand erhalten:

a)      vor ihrer Befragung durch die Polizei oder andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörden;

b)      ab der Durchführung von Ermittlungs- oder anderen Beweiserhebungshandlungen durch Ermittlungs- oder andere zuständige Behörden gemäß Absatz 3 Buchstabe c;

c)      unverzüglich nach dem Entzug der Freiheit;

d)      wenn der Verdächtige oder die beschuldigte Person vor ein in Strafsachen zuständiges Gericht geladen wurde, rechtzeitig bevor der Verdächtige oder die beschuldigte Person vor diesem Gericht erscheint.

(3)      Das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand umfasst Folgendes:

a)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen das Recht haben, mit dem Rechtsbeistand, der sie vertritt, unter vier Augen zusammenzutreffen und mit ihm zu kommunizieren, auch vor der Befragung durch die Polizei oder andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörden;

b)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen ein Recht darauf haben, dass ihr Rechtsbeistand bei der Befragung zugegen ist und wirksam daran teilnimmt. Diese Teilnahme erfolgt gemäß den Verfahren des nationalen Rechts, sofern diese Verfahren die wirksame Ausübung und den Wesensgehalt des betreffenden Rechts nicht beeinträchtigen. …

c)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen mindestens das Recht haben, dass ihr Rechtsbeistand den folgenden Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen beiwohnt, falls diese in den einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften vorgesehen sind und falls die Anwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Personen bei den betreffenden Handlungen vorgeschrieben oder zulässig ist:

i)      Identifizierungsgegenüberstellungen;

ii)      Vernehmungsgegenüberstellungen;

iii)      Tatortrekonstruktionen.

(5)      Unter außergewöhnlichen Umständen und nur im vorgerichtlichen Stadium können die Mitgliedstaaten vorübergehend von der Anwendung des Absatzes 2 Buchstabe c abweichen, wenn es aufgrund der geografischen Entfernung des Verdächtigen oder beschuldigten Personen nicht möglich ist, das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand unverzüglich nach dem Entzug der Freiheit zu gewährleisten.

(6)      Unter außergewöhnlichen Umständen und nur im vorgerichtlichen Stadium können die Mitgliedstaaten vorübergehend von der Anwendung der nach Absatz 3 gewährten Rechte abweichen, wenn dies angesichts der besonderen Umstände des Falles durch einen der nachstehenden zwingenden Gründe gerechtfertigt ist:

a)      wenn dies zur Abwehr einer Gefahr für Leib oder Leben oder für die Freiheit einer Person dringend erforderlich ist;

b)      ein sofortiges Handeln der Ermittlungsbehörden zwingend geboten ist, um eine erhebliche Gefährdung eines Strafverfahrens abzuwenden.“

8.        Art. 8 („Allgemeine Bedingungen für die Anwendung vorübergehender Abweichungen“) Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 bestimmt:

„Vorübergehende Abweichungen nach Artikel 3 Absatz 5 oder Absatz 6 … sind nur unter folgenden Voraussetzungen zulässig:

a)      Sie sind verhältnismäßig und gehen nicht über das erforderliche Maß hinaus,

b)      sie sind zeitlich eng begrenzt,

c)      sie sind nicht ausschließlich durch die Art oder die Schwere der mutmaßlichen Straftat begründet, und

d)      sie beeinträchtigen ein insgesamt faires Verfahren nicht.“

B.      Spanisches Recht

9.        Art. 24 Abs. 1 und 2 der spanischen Verfassung bestimmt:

„1.      Jede Person hat bei der Ausübung ihrer legitimen Rechte und Interessen Anspruch auf wirksamen Schutz durch Richter und Gerichte. In keinem Fall darf es zu einer Rechtsschutzverweigerung kommen.

2.      Ebenso hat jedermann das Recht auf einen gesetzlichen Richter, auf Verteidigung und Vertretung durch einen Rechtsanwalt, auf Informationen über die gegen ihn vorliegende Anklage, auf einen öffentlichen Prozess ohne unzulässige Verzögerungen und mit allen Garantien, auf den Einsatz der Beweismittel, die für seine Verteidigung zweckmäßig sind, auf die Weigerung, gegen sich selbst auszusagen und sich für schuldig zu erklären, sowie auf die Unschuldsvermutung. …“

10.      Art. 118 Abs. 1 des Ley de Enjuiciamiento Criminal (im Folgenden: Strafprozessordnung) in seiner 2015 geänderten und derzeit geltenden Fassung lautet:

„Jeder, dem eine strafbare Handlung vorgeworfen wird, kann seine Verteidigungsrechte ausüben und sich am Verfahren beteiligen, sobald er über das Verfahren in Kenntnis gesetzt, in Haft genommen oder eine andere vorläufige Maßnahme gegen ihn getroffen oder Anklage gegen ihn erhoben wird. Hierzu wird er unverzüglich über folgende Rechte belehrt:

d)      Das Recht auf freie Wahl eines Rechtsanwalts, unbeschadet der Regelung in Art. 527 Abs. 1 Buchst. a.

…“

11.      Art. 527 Abs. 1 der Strafprozessordnung bestimmt:

„1.      In den in Art. 509 geregelten Fällen können dem Festgenommenen oder Gefangenen folgende Rechte entzogen werden, wenn die Umstände des Falles es rechtfertigen:

a)      Benennung eines Rechtsanwalts seines Vertrauens.

d)      Zugang durch ihn oder seinen Rechtsanwalt zu den Akten mit Ausnahme der Bestandteile, die für die Anfechtung der Rechtmäßigkeit der Verhaftung von wesentlicher Bedeutung sind.“

III. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

12.      Der Angeklagte im Ausgangsverfahren (im Folgenden: der Angeklagte) war durch die Polizei von Badalona (Spanien) einer Straßenverkehrskontrolle unterzogen worden. Da der Verdacht bestand, dass der vom Angeklagten vorgelegte albanische Führerschein nicht echt war, erstellte die Polizei am 20. April 2018 ein Ermittlungsprotokoll, in dem dem Angeklagten die mutmaßlichen Straftaten des Fahrens ohne Fahrerlaubnis und der Fälschung einer öffentlichen Urkunde vorgeworfen wurden. Ein Sachverständigengutachten bestätigte am 19. Mai 2018, dass es sich bei der betreffenden Fahrerlaubnis um eine Fälschung handelte.

13.      Der Juzgado de Instrucción n.o 4 de Badalona (Ermittlungsgericht Nr. 4 Badalona, Spanien), vor dem das Strafverfahren gegen den Angeklagten eingeleitet worden war, erließ am 11. Juni 2018 eine Verfügung, mit der die Vernehmung des Angeklagten im Beisein eines Rechtsanwalts angeordnet wurde. Ihm wurde daher eine Rechtsanwältin beigeordnet. Mehrere Versuche, den Angeklagten zu laden, blieben ergebnislos, da sein Aufenthaltsort unbekannt war. Schließlich erging am 27. September 2018 ein Vorführungsbefehl gegen den Angeklagten.

14.      Am 16. Oktober 2018 ging mit Telefax ein von einer Rechtsanwältin unterzeichneter Schriftsatz ein, mit dem sie sich für den Angeklagten bestellte und beantragte, an den weiteren Verfahrenshandlungen beteiligt zu werden. Dem Schriftsatz waren eine vom Angeklagten unterzeichnete Vollmacht sowie die Zustimmung zur Mandatsübernahme der zuvor als Pflichtverteidigerin beigeordneten Anwältin beigefügt. Zudem beantragte die Rechtsanwältin in ihrem Schriftsatz die Aufhebung des Haftbefehls, da ihr Mandant freiwillig vor Gericht erscheinen wolle.

15.      Im Hinblick darauf, dass der Angeklagte auf die erste Ladung des Gerichts nicht erschienen war und der Haftbefehl gegen ihn fortbesteht, stellt sich dem Juzgado de Instrucción n.o 4 de Badalona (Ermittlungsgericht Nr. 4 Badalona) jedoch die Frage, ob die Aussetzung des Zugangs des Angeklagten zu einem Rechtsanwalt gemäß Art. 118 der Strafprozessordnung bis zum Vollzug des Haftbefehls zulässig ist.

16.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin – und dem hat die spanische Regierung in ihren Erklärungen auch nicht widersprochen –, dass die betreffenden nationalen Rechtsvorschriften von den nationalen Gerichten dahin ausgelegt werden, dass das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand zur Voraussetzung hat, dass der Verdächtige in Person vor Gericht erscheint. Dies bedeute , dass dieses Recht verweigert werden dürfte, wenn der Verdächtige abwesend sei oder sein Aufenthalt nicht festgestellt werden könne. Nach Angaben des vorlegenden Gerichts sei dieser Grundsatz erstmals mit dem Urteil Nr. 87/1984 des Tribunal Constitucional (Verfassungsgericht, Spanien) vom 27. Juli 1984(7) aufgestellt worden und ungeachtet der Änderung von Art. 118 der Strafprozessordnung im Zuge der Umsetzung der Richtlinie 2013/48 in nationales Recht bis heute gültig. Nach dieser Rechtsprechung sei das Erfordernis des persönlichen Erscheinens des Verdächtigen vernünftig und stelle keinen erheblichen Eingriff in die Verteidigungsrechte dar. Die Anwesenheit des Beschuldigten sei notwendig, um gegebenenfalls den Sachverhalt zu klären. Darüber hinaus würde eine Abwesenheit, die bis zum Abschluss der Untersuchung bestehen bliebe, zu einer Behinderung der Justiz führen, da die mündliche Verhandlung und die Verkündung des Urteils nicht stattfinden könnten. Bei einer andauernden Abwesenheit würde das Verfahren daher zum Erliegen kommen.

17.      Das vorlegende Gericht hat Zweifel, ob diese nationalen Bestimmungen in der Auslegung durch die nationalen Gerichte mit Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2013/48 und Art. 47 der Charta vereinbar sind. Der Juzgado de Instrucción n.o 4 de Badalona (Ermittlungsgericht Nr. 4 Badalona) hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Sind Art. 47 der Charta und insbesondere Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2013/48 dahin auszulegen, dass es rechtmäßig ist, das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand auszusetzen, wenn der Verdächtige oder die beschuldigte Person auf die erste Ladung des Gerichts nicht erscheint und ein nationaler, europäischer oder internationaler Haftbefehl ergeht, und hierzu den Zugang zum Rechtsbeistand und seine Bestellung im Verfahren bis zum Vollzug des Haftbefehls und der polizeilichen Vorführung des Verdächtigen vor dem Gericht auszusetzen?

18.      Die spanische Regierung und die Europäische Kommission haben im vorliegenden Verfahren schriftliche Erklärungen eingereicht.

IV.    Analyse

19.      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 2013/48 und i nsbesondere deren Art. 3 Abs. 2 ausgelegt im Licht von Art. 47 der Charta einer nationalen Rechtsvorschrift oder Rechtsprechungspraxis entgegensteht, wonach in Fällen, in denen der Verdächtige auf die erste Ladung des Gerichts nicht erscheint und in denen ein nationaler Haftbefehl ergeht, das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand ausgesetzt werden darf, bis der Haftbefehl vollzogen ist und der Verdächtige vor Gericht erscheint.

20.      Um diese Frage zu beantworten , muss zunächst geprüft werden, ob die Richtlinie 2013/48 auf Sachverhalte wie die des Ausgangsverfahrens anwendbar ist (A). Als Nächstes wird der Umfang des Rechts auf Zugang zu einem Anwalt analysiert (B). Zum Schluss werde ich mich mit den möglichen vorübergehenden Abweichungen befassen, die in der Richtlinie 2013/48 vorgesehen sind (C).

21.      Vorab sind zwei Klarstellungen erforderlich.

22.      Erstens besteht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts(8). Demgemäß wird der Gerichtshof, auch wenn es nicht ohne Weiteres erkennbar sein mag, wie entscheidungserheblich bestimmte Rechtsfragen in Bezug auf den Sachverhalt einer Rechtssache vor dem nationalen Gericht sein mögen, die gestellte Frage in loyaler Zusammenarbeit beantworten, sofern nicht bei eher außergewöhnlichen Umständen die Vermutung der Entscheidungserheblichkeit zurückzuweisen ist(9).

23.      Zweitens wird dabei das nationale Recht und seine Auslegung durch die nationalen Gerichte als eine vom vorlegenden Gericht festgestellte Tatsache angesehen, die von den Streithelfern möglicherweise weiter präzisiert wird . In der vorliegenden Rechtssache dürfte es sich bei dem in Rede stehenden nationalen Grundsatz wohl in erster Linie um ein richterrechtliches Konstrukt handeln. Ergänzend hierzu hat die spanische Regierung in ihren Erklärungen neuere Rechtsprechung des spanischen Verfassungsgerichts zu dieser Frage übermittelt(10). Zwar betont diese Regierung, dass nach ihrem Verständnis dieser Rechtsprechung die Aussetzung des Zugangs zu einem Rechtsanwalt nicht automatisch erfolge, bestätigt jedoch, dass eine solche Aussetzung tatsächlich möglich sei; dies sei aber eine notwendige und verhältnismäßige Einschränkung der Verteidigungsrechte(11).

A.      Zur Anwendbarkeit der Richtlinie 2013/48

24.      Der Anwendungsbereich der Richtlinie 2013/48 wird in Art. 2 Abs. 1 wie folgt definiert: „Diese Richtlinie gilt für Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren ab dem Zeitpunkt, zu dem sie von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Art und Weise davon in Kenntnis gesetzt wurden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig sind oder beschuldigt werden, und unabhängig davon, ob ihnen die Freiheit entzogen wurde. …“

25.      Aufgrund der Angaben in den Verfahrensakten kann davon ausgegangen werden, dass bei dem vorliegenden Sachverhalt alle Voraussetzungen dieser Bestimmung gegeben sind.

26.      Erstens kann nicht bezweifelt werden, dass die Richtlinie 2013/48 im Hinblick auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache und Art. 15 der Richtlinie 2013/48 in zeitlicher Hinsicht anwendbar ist.

27.      Zweitens ist die Richtlinie 2013/48 auch in persönlicher Hinsicht anwendbar. Der Angeklagte gilt vor den nationalen Behörden eindeutig als „Verdächtiger“ im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48. Er wird verdächtigt, zwei Straftaten begangen zu haben, weshalb er vor das Gericht geladen wurde. Gegen ihn wurde ein nationaler Haftbefehl erlassen. Es ist unerheblich, ob dieser Haftbefehl zwischenzeitlich vollzogen wurde oder nicht: Verdächtige und Beschuldigte haben das Recht auf einen Rechtsbeistand, sobald „sie der Begehung einer Straftat verdächtig sind oder beschuldigt werden, und unabhängig davon, ob ihnen die Freiheit entzogen wurde“.

28.      D rittens: Es geht um die Anwendbarkeit der Richtlinie 2013/48 in sachlicher Hinsicht. Zum einen ist unbestritten, dass das Verfahren vor dem vorlegenden Gericht strafrechtlicher Natur ist. Der Gerichtshof hat ferner bestätigt, dass die Anwendung der Richtlinien zur Gewährleistung von Mindeststandards in Strafverfahren(12)wie der Richtlinie 2013/48 keine grenzüberschreitende Dimension der jeweiligen Rechtssache vor dem nationalen Gericht zur Voraussetzung hat(13).

29.      Demgegenüber stellt die spanische Regierung in Frage, ob der Angeklagte im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 „von den zuständigen Behörden … davon in Kenntnis gesetzt“ worden ist, dass er einer Straftat verdächtigt wird. Tatsächlich ist er mehr als einmal vorgeladen worden, um anwaltlich unterstützt auszusagen. Da diese Vorladungen je doch mangels Kenntnis des Aufenthaltsorts des Angeklagten erfolglos geblieben seien, vertritt die spanische Regierung die Ansicht, er sei von den Behörden über seine Stellung als Verdächtiger noch nicht amtlich in Kenntnis gesetzt worden, so dass die Bestimmungen der Richtlinie 2013/48 nicht anwendbar seien.

30.      Dieses Argument ist nicht überzeugend.

31.      Meines Erachtens geht es bei Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 um die Natur der Mitteilung und nicht um die Art und Weise der Mitteilung. Maßgebend ist, dass es eine amtliche Entscheidung oder einen anderen nach nationalem Recht erforderlichen amtlichen Verfahrensschritt seitens der zuständigen Behörden gegenüber der betreffenden Person tatsächlich gegeben hat, um sie davon in Kenntnis zu setzen, dass sie als Verdächtiger oder Beschuldigter angesehen wird. Nach dieser Bestimmung ist es gerade nicht erforderlich, dass die Mitteilung in einer bestimmten Art und Weise übermittelt wird. Es heißt vielmehr ausdrücklich, dass eine derartige Entscheidung, wenn sie von den zuständigen Behörden getroffen wurde, diese Person durch „amtliche Mitteilung“, aber auch „auf sonstige Art und Weise“ erreichen kann.

32.      Mit Art. 2 Abs. 1 soll also ein Gleichgewicht zwischen den Verteidigungsrechten des Einzelnen einerseits und dem notwendigen Schutz der Integrität und Effizienz strafrechtlicher Ermittlungen andererseits hergestellt werden. Aus diesem Grund sind die Mitgliedstaaten nach dieser Bestimmung auch nicht verpflichtet, das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand schon zu garantieren, bevor die zuständigen Behörden sich zu dem förmlichen Schritt entschieden haben, den Verdächtigen oder Beschuldigten über seine Stellung in Kenntnis zu setzen, selbst wenn bereits Ermittlungen gegen diese Person im Gange sind. Informationen, die der Verdächtige oder Beschuldigte vor einer amtlichen Mitteilung seitens der zuständigen Behörden über das Vorliegen einer strafrechtlichen Ermittlung gegen ihn erhält, beispielsweise dadurch, dass diese irgendwie zu ihm durchgesickert sind oder er sie auf nicht amtlichem Wege erhalten hat, erfüllen daher nicht die Anforderung des Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48.

33.      Sobald aber die Behörden förmlich gehandelt haben, um den Betreffenden davon in Kenntnis zu setzen, dass er als Verdächtiger oder Beschuldigter behandelt wird, ist die Art und Weise, in der diese Person von dieser Tatsache Kenntnis erlangt, von untergeordneter Bedeutung für die Frage, ob er nach der Richtlinie diese Stellung objektiv erlangt hat oder nicht. Es wäre beispielsweise unverständlich, warum einem Verdächtigen, der über Presse, Fernsehen oder Internet von seinem Status Kenntnis erhalten hat (nachdem er von Erklärungen der zuständigen Behörden, die von diesen Medien berichtet oder aufgezeichnet wurden, gehört hatte oder darauf aufmerksam gemacht worden war), das Recht auf Zugang zu einem Anwalt vorenthalten werden sollte, selbst wenn formelle Mitteilungen der Behörden an ihn persönlich erfolglos geblieben waren. Es gibt viele Umstände, die dazu führen können, dass amtliche Mitteilungen ihren Empfänger nicht erreichen. Oft dürften diese Umstände nicht einmal damit zusammenhängen, dass der Verdächtige sich der amtlichen Zustellung und dem Gerichtsverfahren entziehen will. In allen derartigen Fällen hatten die zuständigen Behörden ihre Absicht klar zum Ausdruck gebracht, die betreffende Person als Verdächtigen oder Beschuldigten zu behandeln, und die betreffende Person wurde auf andere Weise als durch eine amtliche Mitteilung davon in Kenntnis gesetzt.

34.      Ich möchte allerdings betonen, dass diese Auffassung über den Zeitpunkt, von dem ab die Richtlinie 2013/48 Anwendung findet, es in keiner Weise zulässt oder vorschreibt, die geltenden nationalen Strafprozessvorschriften für die Zustellung von Schriftstücken in Strafverfahren, insbesondere solche im Zusammenhang mit der obligatorischen Zustellung von Schriftstücken, unbeachtet zu lassen. Angesichts der möglichen Vielfalt der betreffenden nationalen Strafprozessvorschriften ist es jedoch nur natürlich, dass ein übergreifendes unionsrechtliches Rechtsinstrument an eine tatsächliche Situation anknüpft, nämlich an den Zeitpunkt, in dem eine Person von ihrer neuen Stellung Kenntnis erhält, statt an eine formale Anforderung nach nationalem Recht.

35.      Diese Auslegung von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 entspricht auch eher der Rechtsprechung des EGMR, wonach das Recht auf Zugang zu einem Anwalt nicht von einer amtlichen Mitteilung der Behörden abhängt, sondern ab dem Zeitpunkt zu gewährleisten ist, in dem die Lage einer Person in erheblichem Maße betroffen ist(14).

36.      Vorliegend ist unstreitig, dass i) der Angeklagte als ein Verdächtiger in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren geführt wurde, ii) die zuständigen Behörden verschiedene Versuche unternahmen, ihn ü ber das Verfahren zu unterrichten, und iii) das Schreiben der Anwältin des Angeklagten bei diesen Behörden nach der förmlichen Vorladung eingegangen ist.

37.      Es ist daher davon auszugehen, dass der Angeklagte tatsächlich von den strafrechtlichen Ermittlungen auf andere Weise als durch eine amtliche Mitteilung Kenntnis erlangt hat. Dieser Sachverhalt fällt somit gemäß Art. 2 Abs. 1 in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2013/48.

B.      Anwendungsbereich des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand

38.      Als Nächstes ist zu klären, ob eine nationale Rechtsvorschrift oder Rechtsprechungspraxis, die es gestattet, in Fällen, in denen der Verdächtige auf eine Ladung des Gerichts nicht erscheint und ein nationaler Haftbefehl ergeht, das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand bis zum Vollzug des Haftbefehls auszusetzen, mit Art. 3 der Richtlinie 2013/48 vereinbar ist.

39.      Nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 gilt der Grundsatz, dass sicherzustellen ist, dass „Verdächtigen und beschuldigten Personen das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand so rechtzeitig und in einer solchen Art und Weise zukommt, dass die betroffenen Personen ihre Verteidigungsrechte praktisch und wirksam wahrnehmen können“(15).

40.      In Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2013/48 wird dieser Grundsatz hinsichtlich des Zeitpunkts, ab dem im Verfahren das Recht gewährt werden muss, konkretisiert. Gemäß dieser Bestimmung ist der Zugang zu einem Rechtsbeistand „unverzüglich“(16) zu gewähren. Anschließend wird festgelegt, dass der Zugang zu einem Rechtsbeistand in jedem Fall ab dem zuerst eintretenden Zeitpunkt der in einer Auflistung aufgeführten vier konkreten Zeitpunkte zu gewähren ist.

41.      Vorliegend genügt es, darauf hinzuweisen, dass nach Buchst. a dieser Aufzählung verdächtige und beschuldigte Personen das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand „vor ihrer Befragung durch die Polizei oder andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörden“ erhalten müssen. Zudem muss dieses Recht gemäß Buchst. d dieser Aufzählung gewährt werden, wenn eine solche Person „vor ein in Strafsachen zuständiges Gericht geladen wurde, [und zwar] rechtzeitig bevor der Verdächtige oder die beschuldigte Person vor diesem Gericht erscheint“.

42.      Meines Erachtens fällt ein Sachverhalt wie der im Ausgangsverfahren unmittelbar unter Buchst. d und möglicherweise auch unter Buchst. a. In der Tat wurde der Angeklagte vor das vorlegende Gericht geladen, um – wenn ich das anwendbare nationale Recht richtig verstehe – Anklage gegen ihn erheben und/oder ihn durch die Behörde befragen zu können. Es ist gerade die Tatsache des Nichterscheinens des Angeklagten trotz Vorladung, die das vorlegende Gericht zu den Zweifeln veranlasste, ob die fragliche nationale Rechtsvorschrift oder Rechtsprechungspraxis mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

43.      Allerdings ist, w orauf die spanische Regierung zutreffend hinweist, der genaue Inhalt des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in der Richtlinie 2013/48 nicht erschöpfend definiert und wird weitgehend durch nationales Recht geregelt. Insbesondere schreibt Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie nur vor, dass Rechtsbeiständen die Teilnahme an einer Reihe von Verfahrenshandlungen erlaubt werden muss; nach Ansicht dieser Regierung sind derartige Handlungen im Fall des Angeklagten aber nicht vorgenommen worden.

44.      Es ist für mich a ngesichts des vorliegenden Sachverhalts nicht verständlich, wieso eine gerichtliche Vorladung zur Befragung und danach ein Haftbefehl nicht ab dem Zeitpunkt ihres Erlasses Art. 3 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie unterfallen sollen, da es in dieser Bestimmung heißt: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen ein Recht darauf haben, dass ihr Rechtsbeistand bei der Befragung zugegen ist und wirksam daran teilnimmt.“ Der Zweck beider Maßnahmen ist gerade die Befragung der betreffenden Person.

45.      Richtig ist, dass dieser konkrete Verfahrensabschnitt der gerichtlichen Befragung noch ausstand, als das nationale Gericht das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen stellte. Nach der fraglichen nationalen Rechtsprechungspraxis ist es anscheinend auch möglich, dass es dem vom Verdächtigen oder Beschuldigten ausgewählten Rechtsbeistand verweigert wird, für diese Person vor Gericht zum Zwecke der Befragung zu erscheinen(17).

46.      Was die von der spanischen Regierung aufgeworfene strukturelle Frage betrifft, so erscheint es unwahrscheinlich, dass die Aufzählung in Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2013/48 alle Elemente des Begriffs des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand abschließend und erschöpfend umfasst. Wie es in den Erwägungsgründen der Richtlinie 2013/48 heißt, ist es erforderlich, dass „der Verdächtige oder die beschuldigte Person im Grundsatz die gesamte Bandbreite der speziell mit rechtlichem Beistand verbundenen Dienste erlangen [kann]“ (zwölfter Erwägungsgrund) und imstande sein muss, „frei mit einem Rechtsbeistand zu kommunizieren, diesen zu konsultieren und sich von ihm vertreten zu lassen“ (27. Erwägungsgrund). Der Rechtsbeistand seinerseits „sollte … die Verteidigung in ihren grundlegenden Aspekten ohne Einschränkungen sichern können“ (zwölfter Erwägungsgrund)(18). In diesen Formulierungen spiegelt sich klar wider, was in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankert ist: „Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen.“(19)

47.      Vor diesem Hintergrund erscheint Art. 3 Abs. 3 Buchst. a bis c der Richtlinie eher als eine bloß beispielhafte Darstellung dessen, was zweifellos zum Recht auf einen Rechtsbeistand gehört, und nicht als eine abschließende Aufzählung.

48.      Außerdem stünde die von der spanischen Regierung vertretene Auslegung der Richtlinie 2013/48 nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR, der wiederholt festgestellt hat, dass das Nichterscheinen des Beschuldigten vor Gericht trotz ordnungsgemäßer Ladung, selbst wenn unentschuldigt, ihn nicht seines Rechts auf anwaltliche Verteidigung beraubt(20). Eine derartige Auslegung widerspräche daher nicht nur der in Art. 52 Abs. 3 der Charta vorgesehenen allgemeinen Mindestgarantie, sondern auch dem Willen des Unionsgesetzgebers, wie er in dem betreffenden Rechtsinstrument ausdrücklich hervorgehoben wird. Nach dem zwölften Erwägungsgrund „stützt sich [die Richtlinie 2013/48] auf die Artikel 3, 5, 6 und 8 EMRK in der Auslegung durch den [EGMR], der in seiner Rechtsprechung fortlaufend Standards zum Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand festlegt“.

49.      Daher muss ein Verdächtiger nach Art. 3 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/48 in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren grundsätzlich das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand haben. Es bleibt allerdings zu prüfen, ob es den Mitgliedstaaten nach der Richtlinie 2013/48 gestattet ist, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens von diesen Garantien abzuweichen.

C.      Vorübergehende Abweichungen

50.      Art. 3 Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2013/48 enthält drei Fallgestaltungen, in denen die Mitgliedstaaten vorübergehend von den oben dargestellten Grundsätzen abweichen können.

51.      Hierbei handelt sich um eine erschöpfende Aufzählung. Die Mitgliedstaaten dürfen in ihren nationalen Rechtsvorschriften keine anderen Abweichungen als die in der Richtlinie 2013/48 festgelegten vorsehen . Stünde es den Mitgliedstaaten frei, weitere Abweichungen einzufügen, stünde das in Art. 3 verankerte Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand meistenteils „nur auf dem Papier“. Soweit die Richtlinie diesbezüglich keine Kriterien, Grundsätze oder Grenzen enthält, besäßen die Mitgliedstaaten uneingeschränktes Ermessen, den Anwendungsbereich und die Reichweite von Art. 3 einzuschränken. Weit davon entfernt eine Mindest harmonisierung zu bewirken(21), liefe die Richtlinie 2013/48 somit Gefahr, nur die Illusion einer Harmonisierung darzustellen(22).

52.      Keiner der drei Abweichungstatbestände kommt vorliegend zur Anwendung.

53.      Erstens ist unstreitig, dass weder die Fallgestaltung in Art. 3 Abs. 5 noch die in Art. 3 Abs. 6 Buchst. a der Richtlinie 2013/48 in Bezug auf den Angeklagten vorliegen. Die zuerst genannte Abweichung betrifft den Fall, dass „es aufgrund der geografischen Entfernung des Verdächtigen oder beschuldigten Personen nicht möglich ist, das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand unverzüglich nach dem Entzug der Freiheit zu gewährleisten“, während die zuletzt genannte Abweichung anwendbar ist, „wenn dies zur Abwehr einer Gefahr für Leib oder Leben oder für die Freiheit einer Person dringend erforderlich ist“.

54.      Es ist ebenfalls sehr unwahrscheinlich, dass die Umstände in der vorliegenden Rechtssache der in Art. 3 Abs. 6 Buchst. b der Richtlinie 2013/48 vorgesehenen Fallgestaltung entsprechen, bei der „ein sofortiges Handeln der Ermittlungsbehörden zwingend geboten ist, um eine erhebliche Gefährdung eines Strafverfahrens abzuwenden“.

55.      Zunächst ist nicht erkennbar, warum ein Tätigwerden der Behörden in einem Fall wie de m des Angeklagten so dringend sein soll, dass es unter keinen Umständen aufgeschoben werden könnte („sofortiges Handeln … zwingend geboten“). Vor allem ist unklar, inwiefern die Beschränkung des Verdächtigen in seinem Zugang zu einem Rechtsbeistand dazu beitragen kann, eine „erhebliche Gefährdung eines Strafverfahrens“ abzuwenden.

56.      Zwar enthält die Richtlinie 2013/48 keine Definition der „erheblichen Gefährdung“ eines Strafverfahrens, sie nennt aber im 32. Erwägungsgrund einige Beispiele wie die „Vernichtung oder Veränderung wesentlicher Beweismittel“ oder die „Beeinflussung von Zeugen“. In Anbetracht dieser Beispiele ist Art. 3 Abs. 6 Buchst. b der Richtlinie 2013/48 dahin auszulegen, dass eine glaubhafte Gefahr bestehen muss, dass das Verfahren ohne dringende Maßnahmen für immer oder erheblich beeinträchtigt wird. Eine bloße Verzögerung des Verfahrens a ls solche birgt jedoch nicht notwendigerweise diese Gefahr. Die bloße Tatsache, dass das Verfahren behindert und verlangsamt wird, bis der Verdächtige vor Gericht erscheint (freiwillig oder aufgrund des Vollzugs des Haftbefehls), kann meines Erachtens daher nicht als „erhebliche Gefährdung“ im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden.

57.      Ich unterschätze keinesfalls, wie wichtig es ist, dass Strafverfahren effektiv durchgeführt, übermäßige Verzögerungen vermieden und sie in angemessener Frist abgeschlossen werden. Dieser Grundsatz gilt jedoch für alle Strafverfahren, und meines Erachtens gibt es keinen Gesichtspunkt, der in Verfahren wie dem vor dem vorlegenden Gericht eine besondere Dringlichkeit rechtfertigt. Art.  3 Abs. 6 Buchst. b der Richtlinie 2013/48 kann nicht dahin ausgelegt werden, dass das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand immer dann ausgesetzt werden kann, wenn der Verdächtige oder Beschuldigte den zügigen Fortgang des Verfahrens behindert. Dies würde den Anwendungsbereich der Abweichungsregelung erheblich ausweiten, was sowohl dem Wortlaut als auch dem Ziel der Bestimmung zuwiderliefe.

58.      Auch kann man die „erhebliche Gefährdung“ nicht, wie die spanische Regierung meint, aus der Tatsache herleiten, dass die Anwesenheit des Verdächtigen vor dem vorlegenden Gericht erforderlich sein könnte, um den Sachverhalt zu klären. Es sei daran erinnert, dass eine verdächtige oder beschuldigte Person das Recht hat, zu schweigen und sich selbst nicht zu belasten(23). Darüber hinaus sind die Behörden der Mitgliedstaaten verpflichtet, sicherzustellen, dass Verdächtige und Beschuldigte in einer Situation wie der des Beklagten unverzüglich u. a. über ihr Aussageverweigerungsrecht unterrichtet werden(24).

59.      Vor diesem Hintergrund ist das Haupt argument der spanischen Regierung etwas verwunderlich. Einerseits macht diese Regierung geltend, dass die Aussetzung des Zugangs zu einem Rechtsbeistand für den ordnungsgemäßen und zügigen Ablauf von Strafverfahren erforderlich sei, da dies wichtig sein könne, um Erklärungen der betreffenden Person einzuholen und/oder den Sachverhalt aufzuklären. Andererseits ist diese Person, auch wenn sie zum Erscheinen gezwungen wird, nicht verpflichtet, ein Wort zu sagen, und die zuständigen Behörden müssen sie darüber unterrichten, und zwar auch dann, wenn sie keinen Anwalt hat.

60.      Damit entspricht das erklärte Ziel einer solchen Rechtsprechungspraxis in keiner Weise mehr der (normalen) Durchführung eines (normalen) Strafverfahrens. Offen gesagt, sieht es eher aus wie eine Art „Druckmittel“, um das Erscheinen vor Gericht zu erzwingen, oder wie eine „Belohnung“ für kooperative Verdächtige.

61.      Eine solche Logik ist meines Erachtens nicht nur unvereinbar mit den zuvor analysierten Bestimmungen der Richtlinie, sondern auch mit den in den Art. 47 und 48 der Charta verankerten Rechten (Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht bzw. Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte)(25). Ich verneine keineswegs die generelle Richtigkeit des moralischen Prinzips „Böse Taten darf man nicht belohnen!“. Hier geht es aber darum, dass die im vorliegenden Fall in Rede stehende spezifische Vergünstigung aufgrund des ziemlich eindeutigen Wortlauts des Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie und der vorstehend genannten in der Charta garantierten Rechte unabdingbar ist.

62.      Darüber hinaus muss betont werden, dass die in der Richtlinie 2013/48 vorgesehenen Abweichungen eng auszulegen sind. Dieser Grundsatz ist im 38. Erwägungsgrund enthalten, demzufolge die Mitgliedstaaten die vorübergehenden Abweichungsmöglichkeiten „restriktiv nutzen“ sollten. Er ergibt sich auch sehr deutlich aus dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 5 und 6, wonach diese Ausnahmeregelungen nur unter „außergewöhnlichen Umständen“ angewendet werden dürfen(26). Ich habe erhebliche Zweifel daran, dass die Tatsache, dass ein Verdächtiger trotz Vorladung nicht vor Gericht erschienen ist, „außergewöhnliche Umstände“ begründen kann.

63.      Zudem erfordert Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 u. a., dass vorübergehende Abweichungen „verhältnismäßig [sind] und … nicht über das erforderliche Maß hinaus[gehen]“, „zeitlich eng begrenzt [sind]“ und „ein insgesamt faires Verfahren nicht [beeinträchtigen]“(27). Auch wenn eine Maßnahme wie die im Ausgangsverfahren nach Art. 3 Abs. 6 Buchst. b der Richtlinie 2013/48 als zulässig anzusehen wäre (was nicht zutrifft), ist schwerlich zu erkennen, wie sie diese drei Kriterien erfüllen würde.

64.      Nach alledem ist keine der Abweichungsregelungen gemäß der Richtlinie 2013/48 bei einem Sachverhalt wie dem im Ausgangsverfahren anwendbar. Der Umstand, dass, wie die spanische Regierung ausführt, die fragliche Abweichungsregelung nicht automatisch, sonder n nur von Fall zu Fall angewendet wird, ändert nichts an der Tatsache, dass sie, so wie sie sich darstellt, keiner Regelung entspricht, die in der Richtlinie 2013/48 enthalten ist. Zwar lässt sich nicht ausschließen, dass bestimmte Rechtssachen, in denen die fragliche nationale Bestimmung oder Rechtsprechungspraxis auf besonders schwerwiegende und dringende Umstände angewandt wird, die Anforderungen von Art. 3 Abs. 6 Buchst. b der Richtlinie 2013/48 erfüllen können; deren besonders weit gefasster Anwendungsbereich ist jedoch, wie die vorliegende Rechtssache zeigt, nicht mit dem Buchstaben und dem Geist der Richtlinie 2013/48 vereinbar.

65.      Nach alledem bin ich der Ansicht, dass das Recht auf Zuga ng zu einem Rechtsbeistand nach der Richtlinie 2013/48 nicht bis zum Vollzug eines Haftbefehls und der Vorführung des Verdächtigen vor dem Gericht mit der Begründung ausgesetzt werden darf, dass der Verdächtige, als er vom Gericht geladen wurde, nicht vor Gericht erschienen ist.

V.      Ergebnis

66.      Ich schlage dem Gerichtshof vor, die Vorlagefrage des Juzgado de Instrucción n.o 4 de Badalona (Ermittlungsgericht Nr. 4 Badalona, Spanien) wie folgt zu beantworten:

–        Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs, ausgelegt im Licht der Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, steht einer nationalen Rechtsvorschrift oder Rechtsprechungspraxis entgegen, wonach das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, wenn der Verdächtige auf die erste Ladung des Gerichts nicht erscheint und ein nationaler Haftbefehl ergeht, bis zum Vollzug des Haftbefehls und der Vorführung des Verdächtigen vor dem Gericht ausgesetzt werden darf.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Vgl. beispielsweise Timberlake, E. W., „Origin and Development of Advocacy as a Profession“, Virginia Law Review, Bd. 9, Nr. 1, 1922, S. 25 bis 40.


3      Summers, S. J., Fair Trials – The European Criminal Procedural Tradition and the European Court of Human Rights, Hart Publishing, Oxford, 2007, insbesondere S. 61 bis 96.


4      Vgl. beispielsweise die ständige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR): „Das Recht eines jeden, der einer Straftat angeklagt ist, von einem Anwalt wirksam verteidigt zu werden, ist eines der grundlegenden Merkmale eines fairen Verfahrens“; vgl. u. a. EGMR, Urteile vom 13. Oktober 2009, Dayanan/Türkei (CE:ECHR:2009:1013JUD000737703, § 30), und vom 23. Mai 2019, Doyle/Irland (CE:ECHR:2019:0523JUD005197917, § 67).


5      Von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommen am 16. Dezember 1966 (United Nations Treaty Series, Bd. 999, S. 171 [vgl. BGBl. II 1973 S. 1534 ff.]).


6      ABl. 2013, L 294, S. 1.


7      ES:TC:1984:87.


8      Vgl. kürzlich Urteil vom 24. Oktober 2018, XC u. a. (C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung).


9      Vgl. beispielsweise Beschluss vom 5. September 2019, Eli Lilly and Company (C‑239/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:687).


10      Urteile Nr. 149/1986 vom 26. November 1986 (ES:TC:1986:149), Nr. 198/2003 vom 10. November 2003 (ES:TC:2003:198), Nr. 132/2011 vom 18. Juli 2011 (ES:TC:2011:132) und Nr. 24/2018 vom 5. März 2018 (ES:TC:2018:24).


11      Dies bestätigt indirekt die Aussage des vorlegenden Gerichts (siehe oben, Nr. 16 dieser Schlussanträge), wonach die Rechtsprechungspraxis offenbar unverändert geblieben ist, obwohl die nationale Strafprozessordnung im Jahr 2015 geändert wurde.


12      Der Gerichtshof hat diesen Punkt kürzlich in Bezug auf die Richtlinie 2012/13 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1) bestätigt (vgl. Urteil vom 13. Juni 2019, Moro, C‑646/17, EU:C:2019:489, Rn. 29 bis 37), deren einschlägige Bestimmungen im Wesentlichen den gleichen Wortlaut haben wie die entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie 2013/48.


13      Für eine Übersicht über die betreffenden Rechtsinstrumente siehe meine Schlussanträge in der Rechtssache Moro (C‑646/17, EU:C:2019:95, Nrn. 27 bis 54).


14      Vgl. insbesondere EGMR, Urteile vom 19. Februar 2009, Shabelnik/Ukraine (CE:ECHR:2009:0219JUD001640403, § 57), und vom 18. Februar 2010, Zaichenko/Russland (CE:ECHR:2010:0218JUD003966002, § 42).


15      Hervorhebung nur hier.


16      Dieser Ausdruck findet sich auch im 19. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/48.


17      Ich muss gestehen, dass dies ein weiteres verwirrendes Element der vorliegenden Rechtssache ist: Warum kann sich ein Richter, dem es darum geht, das Verfahren effizient und zügig abzuwickeln, nicht einfach mit dem Anwaltswechsel einverstanden erklären, sobald die geladene Person mit einem anderen Anwalt seiner Wahl vor Gericht erscheint. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK eine beschuldigte Person das Recht haben muss, sich „durch einen Verteidiger ihrer Wahl“ verteidigen zu lassen. Man könnte darüber hinaus doch auch annehmen, dass es generell Verfahrenshandlungen gibt, die ein Anwalt für seinen Mandanten schon vornehmen könnte, bevor dieser Mandant für eine Befragung in Person vor Gericht erscheint (wie z. B. Einsichtnahme in die Gerichtsakten, Kommunikation mit dem Mandanten und dessen Beratung oder Anwesenheit bei anderen Verfahrenshandlungen, die in diesem Stadium möglich sind).


18      Hervorhebung nur hier.


19      Hervorhebung nur hier.


20      Vgl. entsprechend EGMR, Urteile vom 22. September 1994, Pelladoah/Niederlande (CE:ECHR:1994:0922JUD001673790, § 40), und vom 21. Januar 1999, Van Geyseghem/Belgien (CE:ECHR:1999:0121JUD002610395, § 34).


21      Vgl. achter Erwägungsgrund und Art. 1 der Richtlinie 2013/48.


22      Dass es sich bei der Aufzählung um eine abschließende Regelung handelt, lässt sich auch der Entstehungsgeschichte der Richtlinie entnehmen (vgl. den Überblick bei Cras, S., „The Directive on the Right of Access to a Lawyer in Criminal Proceedings and in European Arrest Warrant Proceedings“, Eucrim, Ausgabe 1, 2014, S. 40 bis 41) und wird auch in der Rechtsliteratur vertreten (vgl. z. B. Flore, D., Droit Pénal Européen, 2. Aufl., Larcier, Brüssel, 2014, S. 404, Klip, A., European Criminal Law – An Integrative Approach, 3. Aufl., Intersentia, Cambridge, 2016, S. 263, und Covolo, V., „Judicial protection of the right to access a lawyer in the Member States“, in Allegrezza, S., Covolo, V. (Hrsg.), Effective Defence Rights in Criminal Proceedings, Wolters Kluwer/CEDAM, Mailand, 2018, S. 487 bis 493).


23      Vgl. 32. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/48. Vgl. auch Art. 7 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1).


24      Vgl. Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13.


25      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2013/48 nach ihrem zwölften Erwägungsgrund „die Anwendung der Charta, insbesondere ihrer Artikel 4, 6, 7, 47 und 48 [fördert]“. Vgl. hierzu Urteil vom 19. September 2019, Rayonna prokuratora Lom (C‑467/18, EU:C:2019:765, Rn. 37).


26      Dieses Kriterium findet sich auch in der Rechtsprechung des EGMR. Nach ständiger Rechtsprechung dieses Gerichts darf das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand nur bei „zwingenden Gründen“ eingeschränkt werden. Vgl. z. B. EGMR, Urteil vom 27. November 2008, Salduz/Türkei  (CE:ECHR:2008:1127JUD003639102, § 55). Der EGMR hat kürzlich darauf hingewiesen, dass das „Kriterium der zwingenden Gründe … ein strenges Kriterium [ist]: In Anbetracht der grundsätzlichen Natur und Bedeutung des frühzeitigen Zugangs zu einem Rechtsbeistand sind Beschränkungen des Zugangs zu einem Rechtsbeistand nur bei außergewöhnlichen Umständen zulässig. Vgl. EGMR, Urteil vom 13. September 2016, Ibrahim u. a./Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2016:0913JUD005054108, § 258). Hervorhebung nur hier.


27      Vgl. auch 38. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/48.