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Klage, eingereicht am 1. April 2021 – Europäische Kommission/Republik Polen

(Rechtssache C-204/21)

Verfahrenssprache: Polnisch

Parteien

Klägerin: Europäische Kommission (Prozessbevollmächtigte: P.J.O. Van Nuffel, K. Herrmann)

Beklagte: Republik Polen

Anträge

Die Kommission beantragt,

festzustellen, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union im Licht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie aus Art. 267 AEUV und gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen hat, dass sie Art. 42a §§ 1 und 2 sowie Art. 55 § 4 des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Ustawa prawo o ustroju sądów powszechnych, im Folgenden: Gerichtsverfassungsgesetz), Art. 26 § 3 und Art. 29 §§ 2 und 3 des Gesetzes über das Oberste Gericht (Ustawa o Sądzie Najwyższym), Art. 5 §§ 1a und 1b des Gesetzes über die Verwaltungsgerichte (Ustawa o sądach administracyjnych) in der Fassung des Gesetzes vom 20. Dezember 2019 zur Änderung des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, des Gesetzes über das Oberste Gericht und einiger anderer Gesetze (Ustawa z dnia 20 grudnia 2019 r. o zmianie ustawy – Prawo o ustroju sądów powszechnych, ustawy o Sądzie Najwyższym oraz niektórych innych ustaw, im Folgenden: Änderungsgesetz) sowie Art. 8 des Änderungsgesetzes erlassen und beibehalten hat, wonach allen nationalen Gerichten die Prüfung, ob die unionsrechtlichen Erfordernisse eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts erfüllt sind, untersagt ist;

festzustellen, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie aus Art. 267 AEUV und gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen hat, dass sie Art. 26 §§ 2 und 4-6 sowie Art. 82 §§ 2-5 des Gesetzes über das Oberste Gericht in der Fassung des Änderungsgesetzes sowie Art. 10 des Änderungsgesetzes erlassen und beibehalten hat, wonach für die Prüfung von Rügen und Rechtsfragen betreffend die Unabhängigkeit eines Gerichts oder eines Richters ausschließlich die Kammer für außerordentliche Überprüfungen und öffentliche Angelegenheiten (Izba Kontroli Nadzwyczajnej i Spraw Publicznych) des Obersten Gerichts zuständig ist;

festzustellen, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie aus Art. 267 AEUV verstoßen hat, dass sie Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des Gerichtsverfassungsgesetzes und Art. 72 § 1 Nrn. 1-3 des Gesetzes über das Oberste Gericht in der Fassung des Änderungsgesetzes erlassen und beibehalten hat, wonach die Prüfung, ob das unionsrechtliche Erfordernis eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts erfüllt ist, als Disziplinarvergehen gewertet werden kann;

festzustellen, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen hat, dass sie die Disziplinarkammer (Izba Dyscyplinarna) des Obersten Gerichts, deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht gewährleistet sind, ermächtigt hat, in Sachen zu entscheiden, die sich unmittelbar auf die Stellung und die Amtsausübung von Richtern und Assessoren auswirken (etwa betreffend die Erlaubnis, Richter und Assessoren strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen oder sie zu verhaften, arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Sachen betreffend die Richter des Obersten Gerichts sowie Sachen betreffend die Versetzung eines Richters des Obersten Gerichts in den Ruhestand);

festzustellen, dass die Republik Polen dadurch das Recht auf Achtung des Privatlebens und das Recht auf Schutz personenbezogener Daten, wie sie in Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie in Art. 6 Abs. 1 Buchst. c und e, Art. 6 Abs. 3 und Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2016/6791 des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten [und] zum freien Datenverkehr niedergelegt sind, verletzt hat, dass sie Art. 88a des Gerichtsverfassungsgesetzes, Art. 45 § 3 des Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 8 § 2 des Gesetzes über die Verwaltungsgerichte in der Fassung des Änderungsgesetzes erlassen und beibehalten hat;

der Republik Polen die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Klagegründe und wesentliche Argumente

Angesichts der Umstände ihrer Errichtung, ihrer Zusammensetzung und der ihr zugewiesenen Zuständigkeiten stelle die Disziplinarkammer des Obersten Gerichts kein gerichtliches Organ dar, das die Merkmale eines unabhängigen Gerichts im Sinne von Art. 19 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta erfülle. Angesichts dessen verletze die Beibehaltung ihrer Befugnis in Sachen betreffend andere nationale Richter, die deren Stellung und richterliche Amtsausübung beträfen, deren Unabhängigkeit und verstoße gegen Art. 19 Abs. 1 EUV.

Soweit die Bestimmungen des Änderungsgesetzes vom 20. Dezember 2019 es den nationalen Gerichten verwehrten, zu prüfen, ob Spruchkörper, die in unter das Unionsrecht fallenden Sachen entschieden, die Erfordernisse eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts im Sinne von Art. 19 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta erfüllten, verstießen sie gegen diese Vorschriften und gegen den Mechanismus der Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 267 AEUV. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union seien die nationalen Gerichte nämlich verpflichtet, sicherzustellen, dass Sachen, in denen es um Rechte eines Einzelnen gehe, die er aus dem Unionsrecht herleite, von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht geprüft würden. Die Einstufung einer solchen Prüfung als Disziplinarvergehen verstoße ebenfalls gegen das Unionsrecht. Jeder nationale Richter müsse als für das Unionsrecht zuständiges Gericht die Möglichkeit haben, von Amts wegen oder auf Antrag zu prüfen, ob unionsrechtliche Sachen von einem unabhängigen Gericht im Sinne des Unionsrechts geprüft würden, ohne dass ihm ein Disziplinarverfahren drohe. Die der Kammer für außerordentliche Überprüfungen und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts eingeräumte ausschließliche Zuständigkeit zur Prüfung von Anträgen auf Ausschluss eines Richters von einer bestimmten Rechtssache bzw. auf Bestimmung des zuständigen Spruchkörpers wegen einer Rüge fehlender Unabhängigkeit des Richters bzw. des Gerichts führe dazu, dass die übrigen nationalen Gerichte ihren oben angeführten Verpflichtungen nicht nachkommen könnten und dem Gerichtshof der Europäischen Union keine Vorlagefragen hinsichtlich der Auslegung dieses unionsrechtlichen Erfordernisses vorlegen könnten. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union sei indessen jedes nationale Gericht befugt, auf der Grundlage von Art. 267 AEUV Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, und Gerichte, deren Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden könnten, seien dazu bei Auslegungszweifeln verpflichtet.

Die Verpflichtung eines jeden Richters, innerhalb von 30 Tagen ab seiner Ernennung zum Richter Angaben über seine Mitgliedschaft in einem Verein oder einem Verband, über die Funktionen, die er in Stiftungen innehabe, die keine wirtschaftliche Tätigkeit ausübten, sowie über seine Zugehörigkeit zu einer politischen Partei vor der Ernennung zum Richter zu machen, und die Veröffentlichung dieser Angaben im Bulletin für öffentliche Informationen (Biuletyn Informacji Publicznej) verstießen gegen das Grundrecht des Richters auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten sowie gegen die Vorschriften der Datenschutz-Grundverordnung.

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1 ABl. 2016, L 119, S. 1.