Language of document : ECLI:EU:C:2023:720

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ANTHONY COLLINS

vom 28. September 2023(1)

Rechtssache C509/22

Agenzia delle Dogane e dei Monopoli

gegen

Girelli Alcool Srl

(Vorabentscheidungsersuchen der Corte suprema di cassazione [Kassationsgerichtshof, Italien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Verbrauchsteuern – Richtlinie 2008/118/EG – Art. 7 Abs. 4 – Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs – Überführung von Waren in den steuerrechtlich freien Verkehr – Befreiung im Fall der vollständigen Zerstörung oder des unwiederbringlichen Verlusts einem Verfahren der Steueraussetzung unterstellter verbrauchsteuerpflichtiger Waren – Unvorhersehbare Ereignisse – Von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats erteilte Genehmigung – Unwiederbringlicher Verlust aufgrund eines nicht groben Verschuldens eines Angestellten des zugelassenen Lagerinhabers“






 Einleitung

1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen der Corte Suprema di Cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) ergeht im Zusammenhang mit der Weigerung der Agenzia delle Dogane e dei Monopoli (Zoll- und Monopolagentur, Italien, im Folgenden: Zollagentur), der Girelli Alcool Srl (im Folgenden: Girelli), einer italienischen Gesellschaft, die Inhaberin eines für Ethylalkohol zugelassenen Lagers und einer Anlage zur Denaturierung und Abfüllung ist, eine Befreiung von der Verbrauchsteuer für eine bestimmte Menge reinen Ethylalkohols zu gewähren, die aufgrund eines einem Angestellten von Girelli zuzurechnenden Fehlers unwiederbringlich verloren ging.

2.        Das vorlegende Gericht ersucht um Hinweise zur Auslegung von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118/EG(2). Es möchte wissen, ob der Begriff der „unvorhersehbaren Ereignisse“ gleich auszulegen ist wie der Begriff der „höheren Gewalt“ und ob er die Situation erfasst, in der der unwiederbringliche Verlust verbrauchsteuerpflichtiger Waren das Ergebnis von Fahrlässigkeit oder eines nicht groben Verschuldens eines Angestellten eines zugelassenen Lagerinhabers ist. Das vorlegende Gericht möchte auch wissen, ob diese Bestimmung des nationalen Rechts, die für die Zwecke der Gewährung einer Befreiung von der Verbrauchsteuer ein nicht grobes Verschulden mit unvorhersehbaren Ereignissen und höherer Gewalt gleichsetzt, mit dieser Vorschrift vereinbar ist. Schließlich fragt das vorlegende Gericht nach dem Geltungsbereich der Genehmigung, die die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach dieser Bestimmung erteilen können.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3.        In den Erwägungsgründen 8 und 9 der Richtlinie 2008/118 heißt es:

„(8)      Da es nach wie vor für ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarktes erforderlich ist, dass der Begriff der Verbrauchsteuer und die Voraussetzungen für die Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs in allen Mitgliedstaaten gleich sind, muss auf [Unionsebene] klargestellt werden, zu welchem Zeitpunkt die Überführung der verbrauchsteuerpflichtigen Waren in den steuerrechtlich freien Verkehr erfolgt und wer der Verbrauchssteuerschuldner ist.

(9)      Da die Verbrauchsteuer auf den Verbrauch bestimmter Waren erhoben wird, sollte sie nicht auf Waren erhoben werden, die unter bestimmten Umständen zerstört wurden oder unwiederbringlich verloren gegangen sind.“

4.        Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:

„Diese Richtlinie legt ein allgemeines System für die Verbrauchsteuern fest, die mittelbar oder unmittelbar auf den Verbrauch folgender Waren (nachstehend ‚verbrauchsteuerpflichtige Waren‘ genannt) erhoben werden:

b)      Alkohol und alkoholische Getränke gemäß [der Richtlinie 92/83/EWG des Rates vom 19. Oktober 1992 zur Harmonisierung der Struktur der Verbrauchsteuern auf Alkohol und alkoholische Getränke (ABl. 1992, L 316, S. 21)] und [der Richtlinie] 92/84/EWG [des Rates vom 19. Oktober 1992 über die Annäherung der Verbrauchsteuersätze auf Alkohol und alkoholische Getränke (ABl. 1992, L 316, S. 29)];

…“

5.        In Art. 2 der Richtlinie 2008/118 heißt es:

„Verbrauchsteuerpflichtige Waren werden verbrauchsteuerpflichtig mit

a)      ihrer Herstellung … innerhalb des Gebiets der [Europäischen Union];

b)      ihrer Einfuhr in das Gebiet der [Europäischen Union].“

6.        Kapitel II („Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs, Erstattung und Steuerbefreiung“) dieser Richtlinie enthält Abschnitt 1 („Zeitpunkt und Ort der Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs“), in dem Art. 7 bestimmt:

„(1)      Der Verbrauchsteueranspruch entsteht zum Zeitpunkt und im Mitgliedstaat der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr.

(2)      Als Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr im Sinne dieser Richtlinie gilt

a)      die Entnahme verbrauchsteuerpflichtiger Waren, einschließlich der unrechtmäßigen Entnahme, aus dem Verfahren der Steueraussetzung;

b)      der Besitz verbrauchsteuerpflichtiger Waren außerhalb eines Verfahrens der Steueraussetzung, wenn keine Verbrauchsteuer gemäß den geltenden Bestimmungen des [Unionsrechts] und des einzelstaatlichen Rechts erhoben wurde;

c)      die Herstellung verbrauchsteuerpflichtiger Waren, einschließlich der unrechtmäßigen Herstellung, außerhalb eines Verfahrens der Steueraussetzung;

d)      die Einfuhr verbrauchsteuerpflichtiger Waren, einschließlich der unrechtmäßigen Einfuhr, es sei denn, die verbrauchsteuerpflichtigen Waren werden unmittelbar bei ihrer Einfuhr in ein Verfahren der Steueraussetzung überführt.

(4)      Die vollständige Zerstörung oder der unwiederbringliche Verlust einem Verfahren der Steueraussetzung unterstellter verbrauchsteuerpflichtiger Waren aufgrund ihrer Beschaffenheit, infolge unvorhersehbarer Ereignisse oder höherer Gewalt oder einer von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaates erteilten Genehmigung gelten nicht als Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr.

Im Sinne dieser Richtlinie gelten Waren dann als vollständig zerstört oder unwiederbringlich verloren gegangen, wenn sie nicht mehr als verbrauchsteuerpflichtige Waren genutzt werden können.

Die vollständige Zerstörung oder der unwiederbringliche Verlust der betreffenden verbrauchsteuerpflichtigen Waren ist den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem die vollständige Zerstörung oder der unwiederbringliche Verlust eingetreten ist, oder, wenn nicht festgestellt werden kann, wo der Verlust eingetreten ist, den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem der Verlust entdeckt wurde, hinreichend nachzuweisen.

(5)      Jeder Mitgliedstaat legt seine eigenen Regeln und Bedingungen fest, nach denen ein Verlust nach Absatz 4 bestimmt wird.“

 Nationales Recht

7.        Gemäß Art. 2 Abs. 2 des decreto legislativo n. 504 – Testo unico delle disposizioni legislative concernenti le imposte sulla produzione e sui consumi e relative sanzioni penali e amministrative (gesetzesvertretendes Dekret Nr. 504 – Konsolidierte Fassung der Rechtsvorschriften über die Produktions- und Verbrauchsteuern und die entsprechenden strafrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Sanktionen) vom 26. Oktober 1995(3) in der durch das decreto legislativo n. 48 – Attuazione della direttiva 2008/118/CE relativa al regime generale delle accise e che abroga la direttiva 92/12/CEE (gesetzesvertretendes Dekret Nr. 48 – Umsetzung der Richtlinie 2008/118/EG über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG) vom 29. März 2010(4) geänderten Fassung „[wird die] Verbrauchsteuer … im Zeitpunkt der Überführung der Ware in den steuerrechtlich freien Verkehr im Inland erhoben“.

8.        Art. 4 Abs. 1 des Dekrets Nr. 504/1995 bestimmt:

„Im Fall des unwiederbringlichen Verlusts oder der vollständigen Zerstörung von Waren, die sich in einem Verfahren der Steueraussetzung befinden, wird eine Steuerbefreiung gewährt, wenn der Steuerpflichtige den Steuerbehörden hinreichend nachweist, dass der Verlust oder die Zerstörung der Waren infolge unvorhersehbarer Ereignisse oder höherer Gewalt eingetreten ist. Außer im Fall von Tabakwaren sind Handlungen, die Dritten oder dem Steuerpflichtigen selbst wegen nicht groben Verschuldens zuzurechnen sind, unvorhersehbaren Ereignissen und höherer Gewalt gleichgesetzt.“

9.        Art. 4 Abs. 5 des Dekrets Nr. 504/1995 sieht vor, dass „Waren dann als vollständig zerstört oder unwiederbringlich verloren gegangen gelten, wenn sie nicht mehr als verbrauchsteuerpflichtige Waren genutzt werden können“.

 Sachverhalt des Ausgangsverfahrens, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

10.      Am 26. März 2014 wurde im Beisein eines Beamten der Zollagentur bei der Befüllung eines Tanks der Anlage zur Denaturierung von Ethylalkohol von Girelli festgestellt, dass aus einem Ventil in der Anlage, das einer der Angestellten von Girelli unabsichtlich offengelassen hatte, reiner Ethylalkohol sich auf den Boden ergoss. Ein Teil der Ware konnte aufgefangen und noch verwendet werden, der Rest ging unwiederbringlich verloren.

11.      Am 31. März 2014 beantragte Girelli bei der Zollagentur die Befreiung von der Verbrauchsteuer gemäß Art. 4 Abs. 1 des Dekrets Nr. 504/1995 für die Menge an reinem Ethylalkohol, die unbeabsichtigt verloren gegangen war.

12.      Am 5. Juni 2014 lehnte die Zollagentur diesen Antrag mit der Begründung ab, dass der Verlust auf die Unvorsichtigkeit und das Verschulden eines Angestellten von Girelli und nicht auf unvorhersehbare Ereignisse oder höhere Gewalt zurückzuführen sei.

13.      Am 25. Juli 2014 übermittelte Girelli der Zollagentur eine Stellungnahme, in der sie die Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs für die verloren gegangene Menge an reinem Ethylalkohol bestritt.

14.      Am 3. Oktober 2014 wies die Zollagentur diese Stellungnahme zurück. Sie erließ einen Bescheid über die Zahlung von Verbrauchsteuern in Höhe von 17 476,24 Euro, gegen den Girelli Klage bei der Commissione tributaria provinciale di Milano (Provinzfinanzkommission Mailand, Italien) erhob. Girelli machte u. a. geltend, dass kein Entstehungstatbestand der Verbrauchsteuer gegeben sei, weil der reine Ethylalkohol nicht in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt worden sei, da er unwiederbringlich verloren gegangen sei. Auch sei der schädigende Vorfall auf unvorhersehbare Ereignisse zurückzuführen oder, hilfsweise, auf ein „nicht grobes Verschulden“, weil er auf die Unaufmerksamkeit eines Angestellten zurückgehe.

15.      Die Commissione tributaria provinciale di Milano (Provinzfinanzkommission Mailand, Italien) gab der Klage von Girelli statt. Sie war der Ansicht, dass der Verlust auf „einen unbestreitbaren Mangel an Sorgfalt“ zurückzuführen ist, „der jedoch nicht als ‚grob‘ bezeichnet werden kann“.

16.      Die Zollagentur focht diese Entscheidung vor der Commissione tributaria regionale della Lombardia (Regionale Finanzkommission der Lombardei, Italien) an, die entschied, dass die Befreiung zu gewähren sei, weil der Verlust des reinen Ethylalkohols unwiederbringlich und auf ein unvorhersehbares Ereignis zurückzuführen sei.

17.      Die Zollagentur hat gegen diese letztgenannte Entscheidung Kassationsbeschwerde bei dem vorlegenden Gericht eingelegt. Sie hat im Wesentlichen geltend gemacht, dass die Commissione tributaria regionale della Lombardia (Regionale Finanzkommission der Lombardei) dadurch gegen Art. 4 des Dekrets Nr. 504/1995 verstoßen habe, dass sie festgestellt habe, dass das fahrlässige Verhalten des Angestellten von Girelli unter den Begriff der „unvorhersehbaren Ereignisse“ falle und dass das Verschulden des Angestellten jedenfalls „nicht grob“ gewesen sei.

18.      Der Kassationsgerichtshof weist darauf hin, dass es in seiner Rechtsprechung im Hinblick auf den Begriff der unvorhersehbaren Ereignisse zwei verschiedene Ansätze gebe. Nach dem ersten Ansatz, der subjektiver Natur sei, habe der Schuldner den Nachweis darüber zu erbringen, dass ihn kein Verschulden treffe und dass der Schaden in einer Weise eingetreten sei, die weder vorhersehbar noch unter Aufwendung der den konkreten Umständen des Einzelfalls angemessenen Sorgfalt vermeidbar gewesen sei. Nach dem zweiten Ansatz, der objektiver Natur sei, sei es ohne Bedeutung, ob sich der Betroffene sorgfältig oder fahrlässig verhalten habe.

19.      Den Urteilen Société Pipeline Méditerranée et Rhône(5) und Latvijas Dzelzceļš(6) des Gerichtshofs sei zu entnehmen, dass sich die Begriffe der „unvorhersehbaren Ereignisse“ bzw. des „Zufalls“ und der „höheren Gewalt“ im Bereich der Verbrauchsteuern jeweils durch ein objektives Merkmal, das sich auf ungewöhnliche, außerhalb der Sphäre des Betroffenen liegende Umstände beziehe, und ein subjektives Merkmal, das mit der Verpflichtung des Betroffenen zusammenhänge, sich gegen die Folgen ungewöhnlicher Ereignisse zu wappnen, indem er, ohne übermäßige Opfer zu bringen, geeignete Maßnahmen treffe, kennzeichneten. Diese beiden Begriffe wiesen offenbar dieselben Merkmale auf. Selbst im Hinblick auf unvorhersehbare Ereignisse müssten „außerhalb der Sphäre des zugelassenen Lagerinhabers liegende Umstände [vorliegen], die ungewöhnlich und unvorhersehbar sind und deren Folgen trotz aller von ihm aufgewandten Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können“, und die „Voraussetzung, dass es sich um außerhalb der Sphäre des zugelassenen Lagerinhabers liegende Umstände handeln muss, ist nicht auf aus seiner Sicht in einem materiellen oder physischen Sinne äußere Umstände beschränkt, sondern erfasst auch solche Umstände, die objektiv der Kontrolle durch den zugelassenen Lagerinhaber entzogen sind oder außerhalb seines Verantwortungsbereichs liegen“(7).

20.      Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob die in Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 vorgesehene Befreiung gewährt werden kann, wenn das Ereignis, das zu dem unwiederbringlichen Verlust der verbrauchsteuerpflichtigen Waren geführt hat, auf mangelnde Sorgfalt, Vorsicht oder Kompetenz seitens des Lagerinhabers oder seines Angestellten zurückzuführen ist. Die Begriffe der „höheren Gewalt“ und der „unvorhersehbaren Ereignisse“ würden unter Berücksichtigung ihrer objektiven und subjektiven Merkmale kein Verhalten erfassen, das durch Verschulden und insbesondere durch einen fahrlässig begangenen Fehler gekennzeichnet sei, der wesensgemäß sowohl vorhersehbar als auch vermeidbar sei.

21.      Das vorlegende Gericht fragt zudem, ob sich der Begriff der „unvorhersehbaren Ereignisse“ von dem der „höheren Gewalt“ im Hinblick auf das Maß an Sorgfalt unterscheidet, das der Betroffene bei den zur Verhinderung eines schädigenden Ereignisses erforderlichen Vorkehrungen aufzuwenden hat.

22.      Durch die Gleichsetzung nicht groben Verschuldens mit „höherer Gewalt“ und „unvorhersehbaren Ereignissen“ scheine Art. 4 Abs. 1 des Dekrets Nr. 504/1995 einen zusätzlichen Grund für die Befreiung von der Verbrauchsteuer vorzusehen, indem er auf ein subjektives Kriterium der durch den Betroffenen aufgewandten Sorgfalt Bezug nehme.

23.      Schließlich möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Wendung „infolge … einer von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaates erteilten Genehmigung“ in Art. 7 Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/118 dahin ausgelegt werden kann, dass sie es den Mitgliedstaaten erlaubt, andere allgemeine Kategorien zu definieren, die zu einer Befreiung von der Verbrauchsteuer führen. Die Systematik dieser Bestimmung, die ihrerseits auf die Wendungen „[der] Beschaffenheit [der Waren]“, „unvorhersehbare Ereignisse“ und „höhere Gewalt“ Bezug nehme, lasse darauf schließen, dass der genannten Wendung Ausschluss- und Auffangcharakter zukomme. Diese Bestimmung beziehe sich daher auf andere, bestimmte Ereignisse, die sich nicht von vornherein identifizieren ließen, aber besondere Umstände beträfen, die – soweit sie einer konkreten Vorabprüfung durch die zuständigen Behörden unterlägen – den Erlass einer Entscheidung, die Ware zu vernichten, rechtfertigen könnten. Diese Ansicht werde dadurch bestätigt, dass die Befreiungsgründe insoweit strikt auszulegen seien, als sie eine Ausnahme von der normalen Besteuerungsregelung darstellten, sowie dadurch, dass im neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/118 das Wort „Umstände“ gebraucht werde.

24.      Daher hat die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist erstens der Begriff der unvorhersehbaren Ereignisse, auf die Verluste im Verfahren der Steueraussetzung zurückzuführen sind, gemäß Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 wie der Fall höherer Gewalt dahin auszulegen, dass er Umstände erfasst, die außerhalb der Sphäre des zugelassenen Lagerinhabers liegen, ungewöhnlich und unvorhersehbar sowie trotz Aufwendung der gebotenen Sorgfalt unvermeidbar sind und sich objektiv gänzlich seiner Kontrollmöglichkeit entziehen?

2.      Kommt es ferner für den Ausschluss der Haftung im Fall unvorhersehbarer Ereignisse auf die Sorgfalt an, die bei den zur Verhinderung des schädigenden Ereignisses erforderlichen Vorkehrungen aufgewandt wurde, und, wenn ja, in welchem Umfang?

3.      Ist, subsidiär zu den ersten beiden Fragen, eine Bestimmung wie Art. 4 Abs. 1 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 504/1995, die eine nicht grobe Fahrlässigkeit (derselben Person oder Dritter) mit unvorhersehbaren Ereignissen und höherer Gewalt gleichsetzt, mit der Regelung in Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 vereinbar, die insbesondere bezüglich des „Verschuldens“ des Verursachers oder des Steuersubjekts keine weiteren Voraussetzungen enthält?

4.      Lässt sich schließlich die ebenfalls im angeführten Art. 7 Abs. 4 enthaltene Wendung „oder einer von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaates erteilten Genehmigung“ als eine Möglichkeit für den Mitgliedstaat verstehen, eine weitere allgemeine Kategorie (leichte Fahrlässigkeit) festzulegen, die sich auf die Definition der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr im Fall der Vernichtung oder des Verlusts der Ware auswirken kann, oder kann sie eine solche Bestimmung nicht erfassen, weil sie stattdessen dahin zu verstehen ist, dass sie sich auf spezifische Fallkonstellationen bezieht, die im Einzelfall genehmigt oder jedenfalls nach anhand objektiver Merkmale definierten Fallgruppen abgegrenzt werden?

25.      Girelli, die italienische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Der Gerichtshof hat dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission Fragen zur schriftlichen Beantwortung gestellt. Diese Organe haben fristgerecht geantwortet. Girelli und die Kommission haben in der mündlichen Verhandlung vom 7. Juni 2023 mündliche Ausführungen gemacht und Fragen des Gerichtshofs beantwortet.

 Rechtliche Würdigung

 Zulässigkeit

26.      Ohne förmlich geltend zu machen, dass das Vorabentscheidungsersuchen unzulässig sei, trägt Girelli vor, dass die Vorlagefragen über den Rahmen des Ausgangsrechtsstreits hinausgingen. Nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 und Art. 2 Abs. 2 des Dekrets Nr. 504/1995 entstehe der Verbrauchsteueranspruch zum Zeitpunkt der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr. Nachdem sich der reine Ethylalkohol auf den Boden der Denaturierungsanlage ergossen habe, sei er als verbrauchsteuerpflichtige Ware „unbrauchbar“ geworden und daher unwiederbringlich verloren gegangen(8), weshalb man unter keinen Umständen sagen könne, dass er in den freien Verkehr überführt worden sei.

27.      Nach ständiger Rechtsprechung ist es allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen. Daher spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit solcher Fragen. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind(9).

28.      Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Feststellung, ob der unwiederbringliche Verlust verbrauchsteuerpflichtiger Waren unter den in der Vorlage beschriebenen Umständen als Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 angesehen werden kann. Entgegen dem Vorbringen von Girelli steht die Tatsache, dass verbrauchsteuerpflichtige Waren vollständig zerstört wurden oder unwiederbringlich verloren gegangen sind, ihrer Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr nicht notwendigerweise entgegen. Wie aus dem neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/118 hervorgeht, kann nur dann keine Verbrauchsteuer erhoben werden, wenn solche Waren „unter bestimmten Umständen“, die in Art. 7 Abs. 4 dieser Richtlinie definiert sind, vollständig zerstört wurden oder unwiederbringlich verloren gegangen sind. Das vorlegende Gericht ersucht den Gerichtshof um Unterstützung bei der Klärung der Frage, ob ein Sachverhalt wie derjenige des Ausgangsverfahrens zu diesen Umständen zählt.

29.      Folglich sind die Vorlagefragen für die Entscheidung des beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits nützlich und entscheidungserheblich. Ich rate dem Gerichtshof daher, die Fragen zu beantworten.

 Zur Beantwortung der Fragen

 Zur ersten Frage

30.      Mit seiner ersten Frage möchte das Gericht wissen, ob der Begriff der „unvorhersehbaren Ereignisse“ in Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 wie im Fall der „höheren Gewalt“ dahin auszulegen ist, dass er im Sinne von außerhalb der Sphäre des zugelassenen Wareninhabers liegenden Umständen zu verstehen ist, die ungewöhnlich und unvorhersehbar sind und deren Folgen trotz aller aufgewandten Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können und die objektiv der Kontrolle oder dem Verantwortungsbereich des Lagerinhabers entzogen sind(10).

31.      Die Richtlinie 2008/118 definiert weder die Begriffe der „unvorhersehbaren Ereignisse“ und der „höheren Gewalt“ noch verweist sie zu diesem Zweck auf das Recht der Mitgliedstaaten(11).

32.      Girrelli stützt sich in ihren schriftlichen Erklärungen offenbar auf Art. 7 Abs. 5 der Richtlinie 2008/118, um geltend zu machen, dass den Mitgliedstaaten ein gewisser Beurteilungsspielraum zustehe, wann sie eine Befreiung von der Verbrauchsteuer gewährten. Die italienische Regierung und die Kommission führen – meines Erachtens zutreffend – aus, dass die Bezugnahme auf nationale Rechtsvorschriften und Bedingungen in dieser Bestimmung den Inhalt der Begriffe der „unvorhersehbaren Ereignisse“ und der „höheren Gewalt“ in Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 nicht ändert(12). Wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, ist der Beurteilungsspielraum, den Art. 7 Abs. 5 der Richtlinie 2008/118 den Mitgliedstaaten lässt, auf Nebenfragen beschränkt. Dies sind u. a. die zu erfüllenden Formalitäten und die Fristen, innerhalb deren die Zerstörung oder der Verlust verbrauchsteuerpflichtiger Waren zu erklären, eine Genehmigung zur Zerstörung solcher Waren bei den zuständigen Behörden zu beantragen oder Nachweise über den Eintritt einer solchen Zerstörung oder eines solchen Verlusts oder des Vorliegens unvorhersehbarer Ereignisse oder höherer Gewalt zu erbringen sind.

33.      Der achte Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/118 bestätigt den Ansatz, den die italienische Regierung und die Kommission befürworten, indem darauf hingewiesen wird, dass es für ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarkts erforderlich ist, dass der Begriff der Verbrauchsteuer und die Voraussetzungen für die Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs in allen Mitgliedstaaten gleich sind. In diesem Erwägungsgrund wird auch erläutert, warum Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2008/118 genau festlegt, wann verbrauchsteuerpflichtige Waren als in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt anzusehen sind und wann daher nach Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie der Verbrauchsteueranspruch für diese Waren entsteht. Da der Inhalt und die Tragweite der Begriffe der „unvorhersehbaren Ereignisse“ und der „höheren Gewalt“ relevante Faktoren für die Bestimmung der Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs sind(13), sind diese Begriffe notwendig eigenständig und müssen in der Europäischen Union einheitlich angewendet werden(14).

34.      Daraus folgt, dass insoweit, als Art. 7 Abs. 5 der Richtlinie 2008/118 den Mitgliedstaaten einen Beurteilungsspielraum für die Gewährung von Befreiungen von Verbrauchsteuern lässt, dieser Spielraum keine Auswirkungen auf die in Art. 7 Abs. 4 dieser Richtlinie enthaltenen Definitionen der „unvorhersehbaren Ereignisse“ und der „höheren Gewalt“ hat.

35.      Der Gerichtshof hat die Begriffe der „unvorhersehbaren Ereignisse“ und der „höheren Gewalt“ in Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 noch nicht ausgelegt. Im Urteil SPMR, in dem Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 92/12, der Vorgängerin der Richtlinie 2008/118, ausgelegt wurde, hat sich der Gerichtshof mit dem Begriff der „höheren Gewalt“ im Zusammenhang mit Verbrauchsteuern befasst(15). Er hat festgestellt, dass der Aufbau und der Zweck der Richtlinie 92/12 keinen Anlass dazu geben, die Tatbestandsmerkmale der höheren Gewalt, wie sie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs in anderen Bereichen des Unionsrechts ergeben(16), in besonderer Weise auszulegen und anzuwenden(17). Der Gerichtshof hat daher entschieden, dass die Definition des Begriffs der „höheren Gewalt“, die er in diesen anderen Bereichen des Unionsrechts aufgestellt hat, gleichermaßen im Rahmen von Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 92/12 zugrunde zu legen ist(18). Nach dieser Definition, die als „üblich“ bezeichnet werden kann, erfordert der Begriff der „höheren Gewalt“ keine absolute Unmöglichkeit, sondern ist so zu verstehen, dass er aus außerhalb der Sphäre des Wirtschaftsteilnehmers liegenden Umständen besteht, die ungewöhnlich und unvorhersehbar sind und deren Folgen trotz aller aufgewandten Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können(19). Der Begriff der höheren Gewalt umfasst daher zwei Merkmale: ein objektives Merkmal, das sich auf die Natur der Umstände bezieht, die ungewöhnlich sind und außerhalb der Sphäre des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers liegen, und ein subjektives Merkmal, das mit der Verpflichtung des Betroffenen zusammenhängt, sich gegen die Folgen ungewöhnlicher Ereignisse zu wappnen, indem er, ohne jedoch übermäßige Opfer zu bringen, geeignete Maßnahmen trifft(20).

36.      Folglich hat der Gerichtshof entschieden, dass ein zugelassener Ladeninhaber die Vergünstigung der in Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 92/12 vorgesehenen Befreiung „nur beanspruchen [kann], wenn er das Bestehen von außerhalb seiner Sphäre liegenden Umständen nachweist, die ungewöhnlich und unvorhersehbar sind und deren Folgen trotz aller aufgewandten Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können“. Die Anwendung dieser Voraussetzungen im Zusammenhang mit dieser Bestimmung darf nicht dazu führen, dass dem zugelassenen Lagerinhaber eine absolute Haftung für die Verluste von Waren auferlegt wird, die sich in einem Verfahren der Steueraussetzung befinden. Die Anforderung, dass die Umstände außerhalb der Sphäre des zugelassenen Lagerinhabers liegen müssen, ist nicht auf Umstände beschränkt, die aus seiner Sicht in einem materiellen oder physischen Sinn äußere Umstände sind, sondern erfasst solche Umstände, „die objektiv der Kontrolle durch den zugelassenen Lagerinhaber entzogen sind oder außerhalb seines Verantwortungsbereichs liegen“(21).

37.      Meines Erachtens lassen sich die Begründungsschritte, die der Gerichtshof diesen Feststellungen zugrunde gelegt hat, auf die Definition des Begriffs der „höheren Gewalt“ im Sinne von Art. 7 Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/118 übertragen.

38.      Erstens folgt aus einer Zusammenschau der Erwägungsgründe 2 und 8 und Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118, dass diese das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts im Hinblick auf verbrauchsteuerpflichtige Waren gewährleisten soll. Die Richtlinie schafft hierfür eine allgemeine Regelung, nach der der Begriff und die Voraussetzungen für die Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs in allen Mitgliedstaaten identisch sein sollen(22).

39.      Sodann werden nach Art. 2 der Richtlinie 2008/118 verbrauchsteuerpflichtige Waren(23) mit ihrer Herstellung innerhalb des Gebiets der Europäischen Union oder mit ihrer Einfuhr in das Gebiet der Europäischen Union verbrauchsteuerpflichtig. Gemäß Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 entsteht diese erst zum Zeitpunkt der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr. Nach Art. 7 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie umfasst die Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr auch die Entnahme verbrauchsteuerpflichtiger Waren, einschließlich der unrechtmäßigen Entnahme, aus dem Verfahren der Steueraussetzung(24).

40.      Schließlich ergibt sich aus Art. 7 Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/118 im Umkehrschluss, dass die völlige Zerstörung oder der unwiederbringliche Verlust einem Verfahren der Steueraussetzung unterstellter verbrauchsteuerpflichtiger Waren als Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr zu behandeln ist, außer in den in dieser Bestimmung abschließend geregelten Fällen, die unvorhersehbare Ereignisse und höhere Gewalt umfassen(25).

41.      Daraus folgt, dass Verbrauchsteuern im Rahmen der Richtlinie 2008/118 grundsätzlich auch auf einem Verfahren der Steueraussetzung unterstellte verbrauchsteuerpflichtige Waren erhoben werden, die vollständig zerstört wurden oder unwiederbringlich verloren gegangen sind. Wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen und in ihrer Antwort auf eine der schriftlichen Fragen des Gerichtshofs zutreffend ausführt, bildet die Befreiung, die in Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 in Fällen der Zerstörung oder des Verlusts verbrauchsteuerpflichtiger Waren, die u. a. auf unvorhergesehene Ereignisse oder höhere Gewalt zurückgehen, vorgesehen ist, eine Ausnahme von dieser allgemeinen Regel, die daher eng auszulegen ist(26).

42.      Daher bin ich der Ansicht, dass die „übliche“ Definition des Begriffs der „höheren Gewalt“, die der Gerichtshof im Urteil SPMR im Rahmen von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 92/12 aufgestellt hat – einschließlich der Klarstellungen in den Rn. 32 und 33 dieses Urteils(27) –, gleichermaßen im Rahmen von Art. 7 Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/118 zugrunde zu legen ist. Diese Ansicht scheint durch die Feststellung im Urteil IMPERIAL TOBACCO BULGARIA des Gerichtshofs bestätigt zu werden, wonach die zu der Richtlinie 92/12 ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs auch auf die Richtlinie 2008/118 anwendbar ist, da die maßgeblichen Bestimmungen der Richtlinie 92/12 im Wesentlichen den gleichen Regelungsgehalt haben wie die der Richtlinie 2008/118(28).

43.      Was den Inhalt und die Tragweite des Begriffs der „unvorhersehbaren Ereignisse“ in Art. 7 Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/118 betrifft, erscheinen die Verweise des vorlegenden Gerichts, der italienischen Regierung und der Kommission auf das Urteil Latvijas Dzelzceļš besonders relevant. In diesem Urteil ging es um die Frage, ob der Austritt von Lösungsmittel aus einem Kessel, der dadurch verursacht wurde, dass die untere Entladevorrichtung eines Kesselwagens nicht richtig geschlossen oder beschädigt worden war, als Zufall oder höhere Gewalt im Sinne von Art. 206 Abs. 1 der Richtlinie (EWG) Nr. 2913/92 eingestuft werden konnte(29). In seinem Urteil hat der Gerichtshof entschieden, dass sich die Begriffe der „höheren Gewalt“ und des „Zufalls“ im Zusammenhang mit den Zollvorschriften beide durch das objektive und das subjektive Merkmal kennzeichnen, die in Nr. 35 der vorliegenden Schlussanträge beschrieben sind(30). Der Gerichtshof hat damit den beiden Begriffen den gleichen Inhalt beigemessen und seine „übliche“ Definition des Begriffs der „höheren Gewalt“ wiederholt(31). Es ist kein Grund ersichtlich, warum die im Urteil Latvijas Dzelzceļš für die Zwecke von Art. 206 Abs. 1 des Zollkodex vorgenommene Angleichung der Begriffe der „höheren Gewalt“ und des „Zufalls“ nicht gleichermaßen für Art. 7 Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/118 gelten sollten(32).

44.      Zur Stützung dieser Schlussfolgerung sei zum einen darauf hingewiesen, dass beide Bestimmungen einen ähnlichen Regelungsgehalt aufweisen.

45.      Zweitens hat der Gerichtshof im Urteil Latvijas Dzelzceļš ausgeführt, dass Art. 206 Abs. 1 des Zollkodex eine Ausnahme von der in Art. 204 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex aufgestellten Regel darstellt, die die Umstände festlegt, unter denen eine Einfuhrzollschuld entsteht, und dass die Begriffe der „höheren Gewalt“ und des „Zufalls“ im Sinne von Art. 206 Abs. 1 des Zollkodex daher eng auszulegen sind(33). Beide Begriffe können die Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs im Rahmen der in Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 vorgesehenen Befreiung von der Verbrauchsteuer beeinflussen. Als Ausnahme von einer allgemeinen Regel sind sie daher ebenfalls eng auszulegen(34).

46.      Wie die italienische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen ausführt, hat der Gerichtshof in seinem Urteil Dansk Transport og Logistik(35) das Bestehen von „Ähnlichkeiten zwischen den Zöllen und der Verbrauchsteuer“ hervorgehoben, „die darin bestehen, dass die Ansprüche in beiden Fällen mit dem Verbringen der Waren in die [Europäische Union] und dem anschließenden Eingang in den Wirtschaftskreislauf der Mitgliedstaaten entstehen“. Wegen dieser Ähnlichkeiten und zur Gewährleistung einer kohärenten Auslegung der anwendbaren Unionsregelung hat der Gerichtshof festgestellt, dass Verbrauchsteueransprüche unter denselben Umständen wie Zollschulden als erloschen gelten.

47.      Schließlich geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs in anderen Bereichen des Unionsrechts hervor, dass der Gerichtshof nie eine klare Unterscheidung zwischen den Begriffen der „unvorhersehbaren Ereignisse“ und der „höheren Gewalt“ getroffen hat, sondern sie faktisch als ein und dasselbe behandelt(36). Wie Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache SPMR ausgeführt hat(37), prüft der Gerichtshof dieses Begriffspaar häufig gemeinsam, wobei er dieselben Kriterien zugrunde legt und die Unterschiede zwischen den beiden Begriffen nicht näher erläutert. So hat der Gerichtshof im Urteil RF/Kommission(38), in dem es um Rechtsvorschriften über die Verfahrensfristen in Art. 45 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union ging, festgestellt, dass „die Begriffe ‚Zufall‘ und ‚höhere Gewalt‘ dieselben Merkmale [umfassen] und … dieselben Rechtsfolgen [haben]“. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in den wenigen Fällen, in denen er den Begriff der „unvorhersehbaren Ereignisse“ gesondert definiert hat, genau dieselben Worte verwendet hat, die er auch zur Definition des Begriffs der „höheren Gewalt“ verwendet hat(39).

48.      Was die Bezugnahme in der ersten Frage a. E. auf die Tatsache betrifft, dass die Umstände „sich objektiv gänzlich [der] Kontrollmöglichkeit [des Lagerinhabers] entziehen“ müssen, so betrifft diese das objektive Merkmal des Begriffs der „unvorhersehbaren Ereignisse“ und ist, wie in Nr. 36 der vorliegenden Schlussanträge erklärt, unter Berücksichtigung der Rn. 32 und 33 des Urteils SPMR zu sehen. Ich sehe erneut keinen Grund, weshalb die Ausführungen in diesen Randnummern in Bezug auf den Begriff der „höheren Gewalt“ nicht für den Begriff der „unvorhersehbaren Ereignisse“ gelten sollten.

49.      Nach alledem stimme ich mit der italienischen Regierung und der Kommission darin überein, dass der Begriff der „unvorhersehbaren Ereignisse“ in Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 wie der Begriff der „höheren Gewalt“ in dieser Bestimmung dahin auszulegen ist, dass er sich auf außerhalb der Sphäre des zugelassenen Lagerinhabers liegende Umstände bezieht, die ungewöhnlich und unvorhersehbar sind und deren Folgen trotz aller aufgewandten Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können(40). Die Anforderung, dass es sich um außerhalb der Sphäre des zugelassenen Lagerinhabers liegende Umstände handeln muss, ist nicht auf aus seiner Sicht in einem materiellen oder physischen Sinne äußere Umstände beschränkt, sondern erfasst auch solche Umstände, die objektiv seiner Kontrolle oder seinem Verantwortungsbereich entzogen sind.

 Zur zweiten Frage

50.      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Anerkennung unvorhersehbarer Ereignisse im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 voraussetzt, dass der zugelassene Lagerinhaber alle gebotene Sorgfalt aufgewandt hat, um den Eintritt des schädigenden Ereignisses zu verhindern.

51.      Die italienische Regierung und die Kommission legen diese Frage dahin aus, dass sie das subjektive Merkmal des Begriffs der „unvorhersehbaren Ereignisse“ betrifft. Die Kommission ist daher der Auffassung, dass das vorlegende Gericht wissen möchte, ob im Hinblick auf die Verpflichtung des zugelassenen Lagerinhabers, sich gegen die Folgen ungewöhnlicher Ereignisse zu wappnen, indem er, ohne übermäßige Opfer zu bringen, geeignete Maßnahmen trifft, die gebotene Sorgfalt von Bedeutung sein kann.

52.      Unter diesem Blickwinkel teile ich die Auffassung der Kommission, dass die Feststellungen des Gerichtshofs in der Rechtssache SPMR(41) entsprechend angewandt werden können, um festzustellen, ob das subjektive Merkmal unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache erfüllt wurde. Aus Rn. 37 dieses Urteils geht hervor, dass, auch wenn die Einhaltung der technischen Vorschriften über den auszuführenden Vorgang eine Voraussetzung für die Feststellung sorgfältigen Verhaltens sein kann, eine genügende Sorgfalt zusätzlich ein ständiges aktives Verhalten verlangt, das auf die Identifizierung und Bewertung potenzieller Risiken gerichtet ist, sowie die Fähigkeit, angemessene und wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um dem Eintritt solcher Risiken vorzubeugen.

53.      In Anbetracht dieser Feststellungen ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob der zugelassene Lagerinhaber im Ausgangsrechtsstreit nicht nur die technischen Anforderungen für den Vorgang der Befüllung des Tanks mit Ethylalkohol eingehalten hat, sondern ob er darüber hinaus die potenziellen Risiken einer Undichtigkeit im Hinblick auf die für die Befüllung des Tanks verwendeten mechanischen Geräte identifiziert und geprüft sowie alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen hat, um dem Eintritt dieser Risiken vorzubeugen. Wie das vorlegende Gericht selbst vorschlägt, könnte es zu letzterem Punkt klären, ob der zugelassene Lagerinhaber Sicherheitsvorrichtungen installiert hatte, um die Öffnung von Ventilen bei der Befüllung des Tanks zu verhindern. Ich stimme mit der italienischen Regierung darin überein, dass eine solche Vorsichtsmaßnahme kein übermäßiges Opfer bedeutet hätte.

54.      Dennoch geht aus dem Wortlaut der zweiten Vorlagefrage und aus der Begründung des Vorabentscheidungsersuchens hervor, dass das vorlegende Gericht den Gerichtshof zu dem Sorgfaltsstandard befragt, den ein zugelassener Ladeninhaber anzuwenden hat, und zwar nicht, um sich gegen die Folgen eines unnatürlichen Ereignisses zu wappnen, sondern um den Eintritt eines solchen Ereignisses von vornherein zu verhindern.

55.      So verstanden bezieht sich die zweite Frage sowohl auf das subjektive als auch auf das objektive Merkmal, die zusammen genommen unvorhersehbare Ereignisse ausmachen.

56.      Insoweit besteht eine Parallele zu dem Sachverhalt, der zum Urteil Latvijas Dzelzceļš geführt hat, in der es u. a. um die Frage ging, ob der Austritt einer Flüssigkeit aus einem Tank als Zufall oder höhere Gewalt anzusehen war. Der Gerichtshof entschied, dass der Austritt von Lösungsmitteln, wenn dieser durch das unsachgemäße Verschließen einer Entladevorrichtung verursacht worden war, keinen ungewöhnlichen Umstand darstellte, der außerhalb der Sphäre des auf dem Gebiet des Transports von Flüssigkeiten tätigen Wirtschaftsteilnehmers lag, sondern die Folge einer Verletzung der im Rahmen der Tätigkeit dieses Wirtschaftsteilnehmers normalerweise erforderlichen Sorgfalt. Der Gerichtshof stellte daher fest, dass weder das objektive noch das subjektive Merkmal, durch die sich die Begriffe der „höheren Gewalt“ und des „Zufalls“ kennzeichnen, erfüllt war(42).

57.      Wenn der unwiederbringliche Verlust verbrauchsteuerpflichtiger Waren im vorliegenden Fall auf das fahrlässige Verhalten des Angestellten des zugelassenen Lagerinhabers bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben zurückzuführen sein sollte, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen sein wird, würde es meines Erachtens am objektiven Merkmal fehlen. Ein solches Verhalten stellt keinen ungewöhnlichen Umstand dar, der außerhalb der Sphäre dieses Betreibers lag, sondern fällt eindeutig in dessen Kontroll- und Verantwortungsbereich.

58.      Was das subjektive Merkmal betrifft, das eine Beurteilung des Verhaltens des Betroffenen umfasst, stellt das Fehlen von Verschulden, mag es als „nicht grob“ oder fahrlässig anzusehen sein, meines Erachtens eine wesentliche Voraussetzung für das Vorliegen unvorhersehbarer Ereignisse dar. Solche Ereignisse liegen nicht vor, wenn ein Beteiligter nicht die Sorgfalt aufwendet, die normalerweise von einer Person, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, verlangt wird.

59.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die zweite Frage in dem Sinne zu beantworten, dass Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 dahin auszulegen ist, dass die Anerkennung unvorhersehbarer Ereignisse voraussetzt, dass ein zugelassener Lagerinhaber alle gebotene Sorgfalt aufgewandt hat, um dem Eintritt des schädigenden Ereignisses vorzubeugen.

 Zur dritten Frage

60.      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, mit denen Tatsachen, die ein dem Steuerschuldner oder einem Dritten zurechenbares nicht grobes Verschulden begründen, unvorhersehbaren Ereignissen und höherer Gewalt gleichzusetzen sind.

61.      Aus meiner Analyse der ersten und der zweiten Vorlagefrage geht hervor, dass ein dem betreffenden Betreiber oder einem seiner Angestellten zurechenbares fahrlässiges Verhalten oder Verschulden, die bzw. das als „nicht grob“ eingestuft werden kann, kein unvorhersehbares Ereignis oder höhere Gewalt im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 darstellt. Ein nicht grob fahrlässiges Verschulden eines Dritten – und nicht des Steuerpflichtigen oder eines seiner Angestellten – könnte nur dann ein unvorhersehbares Ereignis oder höhere Gewalt im Sinne dieser Bestimmung darstellen, sofern das objektive und das subjektive Merkmal, die diese beiden Begriffe kennzeichnen, vorlagen.

62.      In diesem Zusammenhang enthält Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 eine abschließende Aufzählung der Umstände, unter denen die vollständige Zerstörung oder der unwiederbringliche Verlust einem Verfahren der Steueraussetzung unterstellter verbrauchsteuerpflichtiger Waren nicht als Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr gilt und folglich nicht zur Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs führt; in dieser Bestimmung wird nicht grobes Verschulden nicht genannt. Wie die Kommission in Beantwortung einer schriftlichen Frage des Gerichtshofs ausführt, erklärt sich die Beschränkung der Befreiung von der Verbrauchsteuer auf die drei in dieser Vorschrift genannten Umstände dadurch, dass die Richtlinie 2008/118 u. a. die Verhinderung von Steuerhinterziehung und Missbrauch bezweckt. Der Unionsgesetzgeber war der Auffassung, dass die in dieser Vorschrift genannten Umstände auf einer Vermutung beruhten, die jede Gefahr von Steuerhinterziehung oder Missbrauch ausschloss. Diese Vermutung kann nicht für Fälle nicht groben Verschuldens gelten, unabhängig davon, ob es dem Steuerschuldner oder einem Dritten zuzurechnen ist.

63.      Da Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 von der allgemeinen Regel abweicht, wonach Verbrauchsteuern auch auf einem Verfahren der Steueraussetzung unterstellte verbrauchsteuerpflichtige Waren erhoben werden, die vollständig zerstört wurden oder unwiederbringlich verloren sind(43), ist er eng auszulegen. Daraus folgt, dass die Mitgliedstaaten keine Gründe für eine Befreiung von der Verbrauchsteuer hinzufügen können, die nicht in dieser Bestimmung enthalten sind. Wie die italienische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen einzuräumen scheint, liefe dies dem im achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/118 genannten Ziel zuwider, wonach es für ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarkts erforderlich ist, dass der Begriff der Verbrauchsteuer und die Voraussetzungen für die Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs in allen Mitgliedstaaten gleich sind.

64.      Daher schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, mit denen Tatsachen, die ein nicht grobes Verschulden begründen, mit unvorhersehbaren Ereignissen und höherer Gewalt gleichgesetzt werden.

 Zur vierten Frage

65.      Die vierte Frage geht dahin, ob die Wendung „infolge … einer von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaates erteilten Genehmigung“ in Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 dahin auszulegen ist, dass sie es den Mitgliedstaaten erlaubt, zu den in dieser Bestimmung genannten Umständen, unter denen die vollständige Zerstörung oder der unwiederbringliche Verlust verbrauchsteuerpflichtiger Waren keine Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr darstellt, einen allgemeinen Umstand hinzuzufügen, der auf einem nicht groben Verschulden beruht.

66.      Ich teile die Ansicht der italienischen Regierung und der Kommission, dass die untersuchte Wendung dahin zu verstehen ist, dass sie sich auf die Möglichkeit bezieht, dass die zuständigen nationalen Behörden die Zerstörung verbrauchsteuerpflichtiger Waren einzelfallbezogen genehmigen können, wenn spezifische Bedingungen oder Anforderungen eine Befreiung von der Verbrauchsteuer rechtfertigen. Insbesondere bezieht sich das Wort „Genehmigung“, wenn man es in seinem Zusammenhang betrachtet, auf die Befugnis dieser Behörden, in Einzelfällen Genehmigungen zu erteilen. Es eröffnet Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit, Rechtsvorschriften in Bezug auf Umstände zu erlassen, die zu den in Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 vorgesehenen Umständen hinzukommen.

67.      Dass die untersuchte Wendung mit der Formulierung „infolge“ beginnt, stellt ebenfalls klar, dass eine Genehmigung, wie die Kommission zutreffend vorträgt, dem Ereignis, das sie erlaubt, voranzugehen hat. Ereignisse, die schon wesensgemäß unvorhersehbar sind, wie der unwiederbringliche Verlust verbrauchsteuerpflichtiger Waren, können nicht Gegenstand einer vorherigen Genehmigung sein.

68.      Wenn die Mitgliedstaaten, wie in Nr. 63 der vorliegenden Schlussanträge erklärt, durch Genehmigungen gemäß Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 zusätzliche Umstände ermöglichen könnten, unter denen die vollständige Zerstörung oder der unwiederbringliche Verlust verbrauchsteuerpflichtiger Waren keine Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr darstellen würde, dann könnten sie die Bedingungen für die Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs festlegen und damit das im achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/118 genannte Harmonisierungsziel unterlaufen. Diese Möglichkeit liefe auch dem Grundsatz zuwider, dass eine Ausnahmebestimmung wie Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 eng auszulegen ist.

69.      Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 dahin auszulegen ist, dass die Wendung „infolge … einer von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaates erteilten Genehmigung“ es den Mitgliedstaaten nicht erlaubt, zu den Umständen, unter denen die vollständige Zerstörung oder der unwiederbringliche Verlust verbrauchsteuerpflichtiger Waren nicht als Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr angesehen wird, einen allgemeinen, auf nicht grobes Verschulden zurückzuführenden Umstand hinzuzufügen.

 Schlussbemerkungen

70.      In ihren schriftlichen Erklärungen hebt Girelli hervor, dass im vorliegenden Fall unstreitig sei, dass der Ethylalkohol, der sich aufgrund eines Fehlers eines Angestellten von Girelli aus deren Anlage zur Denaturierung auf den Boden ergossen habe, unwiederbringlich verloren gegangen sei und nicht mehr in den steuerrechtlich freien Verkehr habe überführt werden können. Da ein Beamter der Zollagentur zum Zeitpunkt des Eintritts dieses Ereignisses anwesend gewesen sei und den Vorfall in einem Bericht erfasst habe, habe keine Gefahr der Steuerhinterziehung oder des Missbrauchs bestanden.

71.      Man könnte sich fragen, ob die Tatsache, dass die Richtlinie 2008/118 in einem solchen Fall keine Ausnahme von der Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs vorsieht, wie aus meinen vorgeschlagenen Antworten auf die vier Vorlagefragen hervorgeht, mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang steht.

72.      Meines Erachtens wird diese Frage dem Gerichtshof nicht gestellt.

73.      Mit dem Vorabentscheidungsersuchen soll geklärt werden, wie Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 auszulegen ist, und nicht, ob diese Bestimmung gültig ist. Im Rahmen der Aufgabenverteilung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof im Zusammenhang mit Art. 267 AEUV haben die nationalen Gerichte über die Erheblichkeit der Vorlagefragen zu entscheiden. Jedoch kann der Gerichtshof aus sämtlichen von dem nationalen Gericht angeführten Umständen die Elemente des Unionsrechts herauslösen, die mit Rücksicht auf den Verfahrensgegenstand auszulegen oder im Hinblick auf ihre Gültigkeit zu beurteilen sein können(44). Vom vorlegenden Gericht geäußerte Zweifel an der Gültigkeit eines Unionsrechtsakts oder auch der Umstand, dass eine solche Frage im Ausgangsrechtsstreit aufgeworfen wurde, stellen Gesichtspunkte dar, die der Gerichtshof bei seiner Beurteilung der Frage berücksichtigen kann, ob von Amts wegen die Gültigkeit eines Rechtsakts zu prüfen ist, in Bezug auf den das vorlegende Gericht um Auslegung ersucht(45).

74.      Aus der Vorlageentscheidung geht nicht hervor, dass die Hauptparteien die Gültigkeit der Richtlinie 2008/118 in Frage stellen. Auch das vorlegende Gericht äußert sich nicht zu dieser Frage. Unter diesen Umständen halte ich es nicht für erforderlich, dass der Gerichtshof diese Frage untersucht.

75.      Jedenfalls stimme ich mit der Kommission darin überein, dass die Tatsache, dass die Richtlinie 2008/118 in einem Fall wie dem in Nr. 70 der vorliegenden Schlussanträge beschriebenen keine Ausnahme von der Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs vorsieht, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht zuwiderläuft.

76.      Ich bin der Ansicht, dass die Behandlung des auf dem fahrlässigen Verhalten eines zugelassenen Lagerinhabers oder eines seiner Angestellten beruhenden unwiederbringlichen Verlusts einem Verfahren der Steueraussetzung unterstellter verbrauchsteuerpflichtiger Waren als Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr jedenfalls durch das rechtmäßige Ziel gerechtfertigt ist, auf Unionsebene alle Voraussetzungen für die Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs festzulegen, um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten. Überdies geht eine solche Behandlung meines Erachtens nicht über das hinaus, was zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich ist. Wie die Kommission sowohl in ihrer schriftlichen Beantwortung einer Frage des Gerichtshofs als auch in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, könnte das Nichtentstehen des Verbrauchsteueranspruchs unter solchen Umständen das gesamte Steuersystem und die Einziehung von Verbrauchsteuern unterlaufen, indem eine Umgehung der Zahlung dieser Steuern genehmigt würde.

77.      Zu berücksichtigen ist, dass Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 zudem eine klare Grenze zwischen unwiederbringlichen Verlusten, die die Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs auslösen, und denjenigen zieht, die ausnahmsweise zu einer Steuerbefreiung führen. Auf diese Weise grenzt er die Risiken ab, die die für die Durchführung von Verfahren der Steueraussetzung verantwortlichen Betreiber freiwillig eingehen. Im vorliegenden Fall ist die Rechtsvorschrift meines Erachtens hinreichend klar, um es zugelassenen Lagerinhabern zu ermöglichen, die Art und die Tragweite der Risiken – einschließlich auf fahrlässiges Verhalten zurückzuführender Verluste – zu ermitteln, die sie nach der ihnen zugutekommenden Sonderregelung eingehen und gegen die sie sich somit versichern können(46).

78.      Schließlich hat die Kommission in Beantwortung einer der schriftlichen Fragen des Gerichtshofs und in der mündlichen Verhandlung auf die Möglichkeit hingewiesen, dass die zuständigen nationalen Behörden in einem ganz speziellen Fall wie dem in Nr. 70 der vorliegenden Schlussanträge beschriebenen nach dem Eintritt eines unwiederbringlichen Verlusts eine Verwaltungsentscheidung zur Gewährung einer Befreiung von der Verbrauchsteuer erlassen können. Meines Erachtens gibt es für die Gewährung einer solchen Befreiung keine Rechtsgrundlage. Auf Nachfrage hierzu in der mündlichen Verhandlung konnte die Kommission keine Rechtsgrundlage für diesen Ansatz benennen(47). Eine solche Möglichkeit wäre jedenfalls ganz offensichtlich nicht mit dem von der Richtlinie 2008/118 verfolgten Harmonisierungsziel und der daraus folgenden Anforderung einer engen Auslegung von deren Art. 7 Abs. 4 zu vereinbaren.

 Ergebnis

79.      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG

ist dahin auszulegen, dass sich der Begriff der „unvorhersehbaren Ereignisse“, wie der Begriff der „höheren Gewalt“, auf außerhalb der Sphäre des zugelassenen Lagerinhabers liegende Umstände bezieht, die ungewöhnlich und unvorhersehbar sind und deren Folgen trotz aller aufgewandten Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können. Die Anforderung, dass es sich um außerhalb der Sphäre des zugelassenen Lagerinhabers liegende Umstände handeln muss, ist nicht auf aus seiner Sicht in einem materiellen oder physischen Sinne äußere Umstände beschränkt, sondern erfasst auch solche Umstände, die objektiv seiner Kontrolle oder seinem Verantwortungsbereich entzogen sind.

2.      Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118

ist dahin auszulegen, dass die Anerkennung unvorhersehbarer Ereignisse voraussetzt, dass ein zugelassener Lagerinhaber alle gebotene Sorgfalt aufgewandt hat, um dem Eintritt des schädigenden Ereignisses vorzubeugen.

3.      Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118

ist dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, mit denen Tatsachen, die ein nicht grobes Verschulden begründen, mit unvorhersehbaren Ereignissen und höherer Gewalt gleichgesetzt werden.

4.      Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118

ist dahin auszulegen, dass die Wendung „infolge … einer von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaates erteilten Genehmigung“ in dieser Bestimmung es den Mitgliedstaaten nicht erlaubt, zu den Umständen, unter denen die vollständige Zerstörung oder der unwiederbringliche Verlust verbrauchsteuerpflichtiger Waren nicht als Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr angesehen wird, einen allgemeinen, auf nicht grobes Verschulden zurückzuführenden Umstand hinzuzufügen.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Richtlinie vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG (ABl. 2009, L 9, S. 12). Mit Wirkung vom 13. Februar 2023 wurde die Richtlinie 2008/118 durch die Richtlinie des Rates (EU) 2020/262 vom 19. Dezember 2019 zur Festlegung des allgemeinen Verbrauchsteuersystems (ABl. 2020, L 58, S. 4) neu gefasst und aufgehoben.


3      Supplemento ordinario zur GURI Nr. 279 vom 29. November 1995 (im Folgenden: Dekret Nr. 504/1995).


4      GURI Nr. 75 vom 31. März 2010.


5      Urteil vom 18. Dezember 2007 (C‑314/06, im Folgenden: Urteil SPMR, EU:C:2007:817).


6      Urteil vom 18. Mai 2017 (C‑154/16, im Folgenden: Urteil Latvijas Dzelzceļš, EU:C:2017:392).


7      Das vorlegende Gericht zitiert Rn. 40 des Urteils SPMR. Das Ende der ersten Vorlagefrage ist unter Berücksichtigung dieses Zitats zu verstehen.


8      Girelli bezieht sich auf Art. 7 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2008/118 und auf Art. 4 Abs. 5 des Dekrets Nr. 504/1995.


9      Urteil vom 13. Oktober 2022, Baltijas Starptautiskā Akadēmija und Stockholm School of Economics in Riga  (C‑164/21 und C‑318/21, EU:C:2022:785, Rn. 32 und 33 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


10      Der Wortlaut dieser Frage stützt sich im Wesentlichen auf die Formulierungen, die der Gerichtshof in den Rn. 23 und 33 des Urteils SPMR verwendet, um den Begriff der „höheren Gewalt“ im Rahmen der Richtlinie 92/12/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren (ABl. 1992, L 76, S. 1) in der durch die Richtlinie 94/74/EG vom 22. Dezember 1994 (ABl. 1994, L 365, S. 46) geänderten Fassung zu bestimmen. Siehe auch Nr. 36 der vorliegenden Schlussanträge.


11      Die Unionsrechtsordnung definiert ihre Begriffe grundsätzlich nicht in Anlehnung an eine oder mehrere nationale Rechtsordnungen, sofern dies nicht ausdrücklich vorgesehen ist. Vgl. in diesem Sinne Urteil SPMR (Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).


12      Ebd.


13      Vgl. Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118.


14      Vgl. in diesem Sinne Urteil SPMR (Rn. 22).


15      Mit der Richtlinie 2008/118 wurde die Richtlinie 92/12 mit Wirkung vom 1. April 2010 aufgehoben und ersetzt. Gemäß Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 92/12 „[wird der] zugelassene Lagerinhaber … für Verluste von der Steuer befreit, die während des Verfahrens der Steueraussetzung durch Untergang oder infolge höherer Gewalt entstanden und von den Behörden des jeweiligen Mitgliedstaats festgestellt worden sind“.


16      Wie das Agrarrecht oder die in Art. 45 der Satzung des Gerichtshofs festgelegten Rechtsbehelfsfristen.


17      Da nach ständiger Rechtsprechung der Begriff der höheren Gewalt auf den verschiedenen Anwendungsgebieten des Unionsrechts nicht den gleichen Inhalt hat, ist seine Bedeutung anhand des rechtlichen Rahmens zu bestimmen, innerhalb dessen er seine Wirkungen entfalten soll (vgl. Urteil SPMR, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wie Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache Société Pipeline Méditerranée et Rhône (C‑314/06, EU:C:2007:457, Nr. 31) und in der Rechtssache Kommission/Italien (C‑334/08, EU:C:2010:187, Nr. 21) ausgeführt hat, ist die Definition des Begriffs der „höheren Gewalt“ von allgemeiner Geltung.


18      Urteil SPMR (Rn. 25 bis 31).


19      Urteil SPMR (Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).


20      Urteil SPMR (Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).


21      Urteil SPMR (Rn. 31 bis 33).


22      Vgl. die Feststellungen in Rn. 27 des Urteils SPMR.


23      Gemäß Art. 1 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2008/118 gehört Alkohol zu den verbrauchsteuerpflichtigen Waren.


24      Vgl. die Feststellungen in Rn. 28 des Urteils SPMR.


25      Art. 7 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2008/118 legt die Voraussetzungen fest, unter denen Waren als vollständig zerstört oder unwiederbringlich verloren gegangen gelten, und Unterabs. 3 dieser Bestimmung die Voraussetzungen, unter denen eine solche Zerstörung oder ein solcher Verlust nachzuweisen ist.


26      Vgl. die Feststellungen in Rn. 30 des Urteils SPMR. Vgl. auch neunter Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/118, der auf „bestimmte Umstände“ verweist.


27      Siehe Nrn. 35 und 36 der vorliegenden Schlussanträge.


28      Urteil vom 9. Juni 2022, IMPERIAL TOBACCO BULGARIA (C‑55/21, EU:C:2022:459, Rn. 37).


29      Verordnung des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. 1992, L 302, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 648/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005 (ABl. 2005, L 117, S. 13) geänderten Fassung (im Folgenden: Zollkodex). Art. 206 Abs. 1 des Zollkodex sieht u. a. vor, dass eine Einfuhrzollschuld für eine bestimmte Ware abweichend von Art. 204 Abs. 1 Buchst. a dieser Verordnung als nicht entstanden gilt, wenn der Beteiligte nachweist, dass die Pflichten aufgrund der Inanspruchnahme des Zollverfahrens, in das diese Ware übergeführt worden ist, nicht erfüllt werden konnten, weil die betreffende Ware aus in ihrer Natur liegenden Gründen, durch Zufall oder infolge höherer Gewalt vernichtet oder zerstört worden oder unwiederbringlich verloren gegangen ist.


30      Urteil Latvijas Dzelzceļš (Rn. 61). Vgl. im Zusammenhang mit den Zollvorschriften auch Urteil vom 4. Februar 2016, C & J Clark International und Puma (C‑659/13 und C‑34/14, EU:C:2016:74, Rn. 192).


31      Siehe Nr. 35 der vorliegenden Schlussanträge.


32      Zur Stützung seiner Ausführungen in Rn. 61 des Urteils Latvijas Dzelzceļš verweist der Gerichtshof u. a. auf das Urteil SPMR. Wie in Nr. 35 der vorliegenden Schlussanträge erklärt, hat der Gerichtshof in Bezug auf den Begriff der „höheren Gewalt“ im Sinne von Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 92/12 die „übliche“ Definition dieses Begriffs auch in anderen Bereichen des Unionsrechts übernommen.


33      Urteil Latvijas Dzelzceļš (Rn. 58 und 62).


34      Siehe Nrn. 39 und 41 der vorliegenden Schlussanträge.


35      Urteil vom 29. April 2010 (C‑230/08, EU:C:2010:231, Rn. 84).


36      In seinen Schlussanträgen in den verbundenen Rechtssachen C & J Clark International und Puma (C‑659/13 und C‑34/14, EU:C:2015:620) ist Generalanwalt Bot sogar so weit gegangen, zu behaupten, dass „der Begriff des unvorhersehbaren Ereignisses mit demjenigen der höheren Gewalt [in Wirklichkeit übereinstimmt]“ (Nr. 135). Generalanwalt Wahl hat in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache RF/Kommission (C‑660/17 P, EU:C:2019:67) einen differenzierteren Ansatz vertreten, als er ausgeführt hat, dass „der Gerichtshof [zwar] nie eine klare Unterscheidung zwischen den beiden Begriffen getroffen [hat], [doch dürfte] man … davon ausgehen können, dass ihr Anwendungsbereich nicht völlig identisch ist“ (Nr. 33). Er ist der Auffassung, dass der Begriff der höheren Gewalt „einen engeren Anwendungsbereich hat“ und sich auf „eine äußere Kraft“ bezieht, „die den Betroffenen daran hindert, eine Verpflichtung zu erfüllen, und ihm keine alternative Handlungsmöglichkeit lässt“ (Nr. 35), während der Begriff des „Zufalls“ „etwas flexibler“ sei und „ein breiteres Spektrum an Umständen erfassen [kann], die nicht durch höhere Gewalt abgedeckt sind“ (Nr. 36). Indessen ist es nach seiner Ansicht „[in] gewissem Maß … eine Frage der persönlichen Beurteilung, wie die beiden Begriffe im Verhältnis zueinander zu definieren sind“, „Überschneidungen sind teilweise möglich“, und „[unabhängig] davon, wie man diese beiden Begriffe voneinander abgrenzt, ist … klar, dass sie sehr eng miteinander verknüpft sind und eine Reihe außergewöhnlicher Umstände bezeichnen“ (Nr. 37). Generalanwalt Wahl kommt zu dem Ergebnis, dass „das Vorliegen eines ‚Zufalls oder eines Falles höherer Gewalt‘ wie ein zusammenhängender Begriff als Einheit anhand derselben Kriterien zu prüfen ist“ (Nr. 41).


37      Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache SPMR (C‑314/06, EU:C:2007:457, Nr. 27). Vgl. auch entsprechend Schlussanträge des Generalanwalts Szpunar in der Rechtssache RF/Kommission (C‑660/17 P, EU:C:2019:67, Nr. 30).


38      Urteil vom 19. Juni 2019 (C‑660/17 P, EU:C:2019:509, Rn. 37). Vgl. auch Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 30. September 2014, Faktor B. i W. Gęsina/Kommission (C‑138/14 P, EU:C:2014:2256, Rn. 19).


39      Vgl. z. B. Urteil vom 21. September 2012, Noscira/HABM (C‑69/12 P, EU:C:2012:589, Rn. 39).


40      Es sei darauf hingewiesen, dass es entgegen dem Wortlaut am Ende der ersten Vorlagefrage nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die „Folgen“ waren, die nicht vermieden werden konnten, nicht die „Umstände“.


41      In dieser Rechtssache war Mineralöl aus einer Ölpipeline entwichen, durch die es unter Aussetzung der Verbrauchsteuer geleitet worden war. Die Betreiberin führte die Undichtigkeiten und das Zerbersten der Pipeline auf eine Haarrisse verursachende Korrosion zurück. Sie beantragte eine Befreiung von der Verbrauchsteuer für das verloren gegangene Öl. Die Zollverwaltung lehnte diesen Antrag ab, da sie der Auffassung war, dass die Betreiberin nicht die Voraussetzungen erfüllt habe, um sich auf das Vorliegen höherer Gewalt stützen zu können.


42      Urteil Latvijas Dzelzceļš (Rn. 63).


43      Siehe Nr. 41 der vorliegenden Schlussanträge.


44      Urteil vom 17. September 2020, Compagnie des pêches de Saint-Maloyson (C‑212/19, EU:C:2020:726, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).


45      Ebd. (Rn. 28).


46      In Rn. 52 des Urteils vom 24. Februar 2021, Silcompa (C‑95/19, EU:C:2021:128), hat der Gerichtshof entschieden: „Somit hat der Unionsgesetzgeber dem zugelassenen Lagerinhaber eine zentrale Rolle im Rahmen des Verfahrens der Beförderung von verbrauchsteuerpflichtigen Waren unter Steueraussetzung zugedacht, was zu einer Haftungsregelung für alle mit dieser Beförderung verbundenen Risiken führt. Dieser Lagerinhaber haftet daher für die Zahlung der Verbrauchsteuern, wenn es bei der Beförderung dieser Waren zu einer Unregelmäßigkeit oder einer Zuwiderhandlung kommt, die zur Entstehung des Steueranspruchs führt. Ferner ist diese Haftung eine objektive Haftung, die nicht auf dem nachgewiesenen oder vermuteten Verschulden des Lagerinhabers, sondern auf seiner Beteiligung an einer wirtschaftlichen Tätigkeit beruht.“


47      Insbesondere könnte es sich nicht um eine „Genehmigung der zuständigen Behörden des Mitgliedstaats“ nach Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/118 handeln, da diese Genehmigung, wie Nr. 67 der vorliegenden Schlussanträge erklärt, im Voraus erteilt werden muss, um den Eintritt eines künftigen Ereignisses zu erlauben.