Language of document : ECLI:EU:C:2021:1019

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ATHANASIOS RANTOS

vom 16. Dezember 2021(1)

Verbundene Rechtssachen C562/21 PPU und C563/21 PPU

X (C562/21 PPU),

Y (C563/21 PPU)

gegen

Openbaar Ministerie

(Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Amsterdam [Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorlageverfahren – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Art. 1 Abs. 3 – Übergabe der gesuchten Personen an die ausstellende Justizbehörde – Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Recht auf Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht – Systemische oder allgemeine Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde – Fehlen eines wirksamen Rechtsbehelfs zur Anfechtung der Rechtsgültigkeit der Ernennung von Richtern im Ausstellungsmitgliedstaat – Ernsthafte Gefahr, dass die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl erlassen wurde, in ihrem Grundrecht auf ein faires Verfahren verletzt wird – Kriterien für die Überprüfung der Unabhängigkeit durch die vollstreckende Justizbehörde“






I.      Einleitung

1.        Die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande) beziehen sich auf die Auslegung von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI(2) in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), insbesondere auf die Voraussetzungen, die es der einen Europäischen Haftbefehl (EHB) vollstreckenden Justizbehörde gestatten, die Übergabe der gesuchten Person aufgrund der in Bezug auf diese Person bestehenden Gefahr einer Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen Gericht im Ausstellungsmitgliedstaat abzulehnen(3).

2.        Die wesentliche Herausforderung der vorliegenden Rechtssachen besteht darin, im Licht der Erkenntnisse aus den Urteilen des Gerichtshofs vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems)(4), und vom 17. Dezember 2020, Openbaar Ministerie (Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde)(5), klarzustellen, ob und inwieweit das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats die vollstreckende Justizbehörde unter den Umständen des vorliegenden Falls dazu veranlassen kann, sich der Übergabe der gesuchten Person zu widersetzen.

3.        Hintergrund dieser Rechtssachen sind die Entwicklung und die jüngeren Reformen des polnischen Justizsystems (im Folgenden: umstrittene Reformen)(6), aufgrund deren der Gerichtshof im Wesentlichen für Recht erkennt hat, dass mehrere der vom polnischen Gesetzgeber eingeführten Vorschriften mit dem Unionsrecht unvereinbar sind(7) und die Republik Polen ihren Verpflichtungen aus dem Unionsrecht in mehrfacher Hinsicht nicht nachgekommen ist(8) (im Folgenden unterschiedslos: Rechtsprechung zur Unabhängigkeit des polnischen Justizsystems)(9). In diesem Zusammenhang ergeben sich aus dem jüngeren Urteil des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof, Polen) vom 7. Oktober 2021 (K 3/21) (im Folgenden: Urteil des Verfassungsgerichtshofs), das nach den Vorlagen zur Vorabentscheidung ergangen ist, weitere Herausforderungen für das vorlegende Gericht(10).

4.        Anhand einer Analyse der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs werde ich die Bedingungen präzisieren, unter denen systemische oder allgemeine Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats und insbesondere der Eingriff der Exekutive in die Judikative hinsichtlich der Ernennung von Richtern die individuelle Situation gesuchter Personen nach ihrer Übergabe beeinträchtigen könnten und damit die vollstreckende Justizbehörde dazu veranlassen können, die Übergabe der gesuchten Person abzulehnen.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      Vertrag über die Europäische Union

5.        Art. 2 EUV lautet:

„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“

6.        In Art. 7 EUV heißt es:

„(1)      Auf begründeten Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments oder der Europäischen Kommission kann der Rat mit der Mehrheit von vier Fünfteln seiner Mitglieder nach Zustimmung des Europäischen Parlaments feststellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht. Der Rat hört, bevor er eine solche Feststellung trifft, den betroffenen Mitgliedstaat und kann Empfehlungen an ihn richten, die er nach demselben Verfahren beschließt.

Der Rat überprüft regelmäßig, ob die Gründe, die zu dieser Feststellung geführt haben, noch zutreffen.

(2)      Auf Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten oder der Europäischen Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments kann der Europäische Rat einstimmig feststellen, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorliegt, nachdem er den betroffenen Mitgliedstaat zu einer Stellungnahme aufgefordert hat.

(3)      Wurde die Feststellung nach Absatz 2 getroffen, so kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen, bestimmte Rechte auszusetzen, die sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat herleiten, einschließlich der Stimmrechte des Vertreters der Regierung dieses Mitgliedstaats im Rat. Dabei berücksichtigt er die möglichen Auswirkungen einer solchen Aussetzung auf die Rechte und Pflichten natürlicher und juristischer Personen.

Die sich aus den Verträgen ergebenden Verpflichtungen des betroffenen Mitgliedstaats sind für diesen auf jeden Fall weiterhin verbindlich.

(4)      Der Rat kann zu einem späteren Zeitpunkt mit qualifizierter Mehrheit beschließen, nach Absatz 3 getroffene Maßnahmen abzuändern oder aufzuheben, wenn in der Lage, die zur Verhängung dieser Maßnahmen geführt hat, Änderungen eingetreten sind.

(5)      Die Abstimmungsmodalitäten, die für die Zwecke dieses Artikels für das Europäische Parlament, den Europäischen Rat und den Rat gelten, sind in Artikel 354 [AEUV] festgelegt.“

7.        Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.“

2.      Charta

8.        Art. 47 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“) der Charta sieht vor:

„Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.

Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen.

…“

3.      Rahmenbeschluss 2002/584

9.        Die Erwägungsgründe 5, 6, 10 und 12 des Rahmenbeschlusses 2002/584 haben folgenden Wortlaut:

„(5)      Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht zudem die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren innewohnen. Die bislang von klassischer Kooperation geprägten Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sind durch ein System des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen – und zwar sowohl in der Phase vor der Urteilsverkündung als auch in der Phase danach – innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu ersetzen.

(6)      Der [EHB] im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ‚Eckstein‘ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.

(10)      Grundlage für den Mechanismus des [EHB] ist ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten. Die Anwendung dieses Mechanismus darf nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Artikel 6 Absatz 1 [EUV] enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Artikel 7 Absatz 1 des genannten Vertrags mit den Folgen von Artikel 7 Absatz 2 festgestellt wird.

(12)      Der vorliegende Rahmenbeschluss achtet die Grundrechte und wahrt die in Artikel 6 [EUV] anerkannten Grundsätze, die auch in der [Charta], insbesondere in deren Kapitel VI, zum Ausdruck kommen. Keine Bestimmung des vorliegenden Rahmenbeschlusses darf in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie es untersagt, die Übergabe einer Person, gegen die ein [EHB] besteht, abzulehnen, wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der genannte Haftbefehl zum Zwecke der Verfolgung oder Bestrafung einer Person aus Gründen ihres Geschlechts, ihrer Rasse, Religion, ethnischen Herkunft, Staatsangehörigkeit, Sprache oder politischen Überzeugung oder sexuellen Ausrichtung erlassen wurde oder dass die Stellung dieser Person aus einem dieser Gründe beeinträchtigt werden kann.“

10.      In Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) dieses Rahmenbeschlusses heißt es:

„(1)      Bei dem [EHB] handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)      Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden [EHB] nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)      Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EUV] niedergelegt sind, zu achten.“

11.      In den Art. 3, 4 und 4a des Rahmenbeschlusses werden die Gründe aufgezählt, aus denen die Vollstreckung des EHB abzulehnen ist oder abgelehnt werden kann.

12.      Art. 15 („Entscheidung über die Übergabe“) des Rahmenbeschlusses sieht vor:

„(1)      Die vollstreckende Justizbehörde entscheidet über die Übergabe der betreffenden Person nach Maßgabe dieses Rahmenbeschlusses und innerhalb der darin vorgesehenen Fristen.

(2)      Ist die vollstreckende Justizbehörde der Ansicht, dass die vom Ausstellungsmitgliedstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können, so bittet sie um die unverzügliche Übermittlung der notwendigen zusätzlichen Informationen, insbesondere hinsichtlich der Artikel 3 bis 5 und Artikel 8; sie kann eine Frist für den Erhalt dieser zusätzlichen Informationen festsetzen, wobei die Frist nach Artikel 17 zu beachten ist.

(3)      Die ausstellende Justizbehörde kann der vollstreckenden Justizbehörde jederzeit alle zusätzlichen sachdienlichen Informationen übermitteln.“

B.      Niederländisches Recht

13.      Mit der Overleveringswet (Übergabegesetz) vom 29. April 2004(11), zuletzt geändert durch das Gesetz vom 17. März 2021(12), wird der Rahmenbeschluss 2002/584 in niederländisches Recht umgesetzt.

14.      Art. 1 des Übergabegesetzes bestimmt:

„Für die Zwecke dieses Gesetzes gelten die folgenden Definitionen:

g)      Rechtbank: die Rechtbank Amsterdam;

…“

15.      Art. 11 dieses Gesetzes sieht in Abs. 1 vor:

„Ein [EHB] wird nicht vollstreckt, wenn die Rechtbank der Auffassung ist, dass es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person nach ihrer Übergabe einer echten Gefahr ausgesetzt sein wird, in ihren durch die [Charta] garantierten Grundrechten verletzt zu werden.“

16.      Art. 26 des Gesetzes bestimmt in Abs. 1:

„Die Rechtbank prüft … die Möglichkeit einer Übergabe. …“

17.      In Art. 28 des Gesetzes heißt es:

„(1)      Spätestens 14 Tage nach Schließung der mündlichen Verhandlung entscheidet die Rechtbank über die Übergabe. Diese Entscheidung ist mit Gründen zu versehen.

(2)      Stellt die Rechtbank fest, dass … die Übergabe nicht gestattet werden kann …, lehnt sie die Übergabe mit ihrer Entscheidung ab.

(3)      In anderen als den in Absatz 2 genannten Fällen gestattet die Rechtbank mit ihrer Entscheidung die Übergabe, sofern sie nicht der Ansicht ist, dass der [EHB] gemäß Artikel 11 Absatz 1 … nicht vollstreckt werden sollte.“

III. Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefragen

A.      Rechtssache C562/21 PPU

18.      Am 6. April 2021 stellte eine polnische Justizbehörde gegen X, einen polnischen Staatsangehörigen, einen EHB, der sich auf seine Festnahme und Übergabe an diese Behörde bezieht, zum Zwecke der Vollstreckung einer mit einem rechtskräftigen Urteil vom 30. Juni 2020 wegen Nötigung mit Gewalt und Androhung von Gewalt verhängten Freiheitsstrafe aus.

19.      Die betreffende Person wurde in Erwartung der Entscheidung der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam), des vorlegenden Gerichts, über ihre Übergabe in Untersuchungshaft genommen und stimmte der Übergabe nicht zu.

20.      Die im Rahmen des Ersuchens um Vollstreckung des EHB angerufene Rechtbank stellte das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz im Ausstellungsmitgliedstaat fest, welche die echte Gefahr einer Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta als Wesensgehalt des Grundrechts auf ein faires Verfahren niedergelegten Rechts auf ein unabhängiges Gericht mit sich brächten.

21.      Die Rechtbank wies ferner darauf hin, dass bei einer Person, um deren Übergabe zum Zwecke der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ersucht worden sei, im Übergabeverfahren zwar angegeben werden könne, welche Richter im Ausstellungsmitgliedstaat an ihrem Verfahren mitgewirkt hätten, diese Person nach ihrer Übergabe die Rechtsgültigkeit der Ernennung eines Richters oder die Rechtmäßigkeit der Ausübung von dessen richterlichen Funktionen nach den am 14. Februar 2020 in Kraft getretenen Rechtsvorschriften(13) aber nicht wirksam in Frage stellen könne.

22.      Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Welches Kriterium hat eine vollstreckende Justizbehörde, die über die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls entscheiden muss, der sich auf die Vollstreckung einer rechtskräftig verhängten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezieht, bei der Prüfung der Frage anzuwenden, ob im Ausstellungsmitgliedstaat im Verfahren, das zur Verurteilung geführt hat, das Recht auf ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht verletzt worden ist, wenn in diesem Mitgliedstaat kein wirksamer Rechtsbehelf gegen eine etwaige Verletzung dieses Rechts zur Verfügung stand?

B.      Rechtssache C563/21 PPU

23.      Polnische Justizbehörden stellten gegen Y, einen polnischen Staatsangehörigen, sechs EHBs aus, die sich auf seine Festnahme und Übergabe an diese Behörden beziehen. Zwei EHBs wurden zum Zwecke der Vollstreckung von Freiheitsstrafen und die vier anderen EHBs zum Zwecke der Strafverfolgung wegen mehrerer Straftaten, u. a. wegen Betrugs, ausgestellt. Das Vorabentscheidungsersuchen des vorlegenden Gerichts betrifft den am 7. April 2020 hinsichtlich dieser letzteren Straftat ausgestellten EHB.

24.      Die betreffende Person wurde in Erwartung der Entscheidung der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam), des vorlegenden Gerichts, über ihre Übergabe in Untersuchungshaft genommen und stimmte der Übergabe nicht zu.

25.      Die im Rahmen des Ersuchens um Vollstreckung des EHB angerufene Rechtbank stellte wie in der Rechtssache C‑562/21 PPU das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz im Ausstellungsmitgliedstaat fest, welche die echte Gefahr einer Verletzung des Rechts auf ein unabhängiges Gericht im Sinne von Art. 47 Abs. 2 der Charta mit sich brächten(14).

26.      Die Rechtbank wies ferner zum einen darauf hin, dass eine Person, um deren Übergabe zum Zwecke der Strafverfolgung ersucht werde, im Übergabeverfahren nicht angeben könne, welche Richter des Ausstellungsmitgliedstaats nach ihrer Übergabe mit ihrem Fall befasst würden, da die Rechtssachen nach dem Zufallsprinzip den Richtern eines Gerichts zugewiesen würden, und es für diese Person daher unmöglich sei, sich auf Unregelmäßigkeiten bei der Ernennung eines oder mehrerer Richter zu berufen, indem diese individualisiert würden. Zum anderen könne eine gesuchte Person nach ihrer Übergabe die Rechtsgültigkeit der Ernennung eines Richters oder die Rechtmäßigkeit der Ausübung von dessen richterlichen Funktionen nach den am 14. Februar 2020 in Kraft getretenen Rechtsvorschriften(15) nicht wirksam in Frage stellen.

27.      Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist es angemessen, die im Urteil [Minister for Justice and Equality] dargelegten und im Urteil [Openbaar Ministerie] bestätigten Prüfungskriterien anzuwenden, wenn eine echte Gefahr besteht, dass die betreffende Person von einem Gericht verurteilt wird, das nicht zuvor durch Gesetz errichtet wurde?

2.      Ist es angemessen, die im Urteil [Minister for Justice and Equality] dargelegten und im Urteil [Openbaar Ministerie] bestätigten Prüfungskriterien anzuwenden, wenn eine gesuchte Person, die sich ihrer Übergabe widersetzen will, diese Prüfungskriterien nicht erfüllen kann, weil es zu diesem Zeitpunkt aufgrund der Art und Weise, in der Rechtssachen nach dem Zufallsprinzip zugewiesen werden, nicht möglich ist, die Besetzung der Gerichte, vor denen ihr Fall verhandelt werden wird, festzustellen?

3.      Stellt das Fehlen eines wirksamen Rechtsbehelfs zur Anfechtung der Rechtsgültigkeit der Ernennung von Richtern in Polen unter Umständen, unter denen die gesuchte Person zu diesem Zeitpunkt offensichtlich nicht feststellen kann, dass die Gerichte, vor denen ihr Fall verhandelt werden wird, mit nicht rechtsgültig ernannten Richtern besetzt sein werden, eine Verletzung des Wesensgehalts des Rechts auf ein faires Verfahren dar, aufgrund deren die vollstreckende Justizbehörde von der Übergabe der gesuchten Person absehen muss?

IV.    Eilvorlageverfahren

28.      Die Erste Kammer des Gerichtshofs hat am 30. September 2021 beschlossen, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, die beiden vorliegenden Rechtssachen dem Eilvorlageverfahren zu unterwerfen, stattzugeben. Der Gerichtshof hat insoweit zum einen festgestellt, dass sich die zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen auf die Auslegung eines unter Titel V des Dritten Teils des AEU-Vertrags fallenden Rahmenbeschlusses beziehen, und zum anderen, dass X und Y, wie das vorlegende Gericht ausgeführt hatte, in Erwartung seiner Entscheidungen über ihre Übergabe in Untersuchungshaft genommen worden waren.

29.      Der Gerichtshof hat darüber hinaus beschlossen, diese Verfahren in Anbetracht ihres Zusammenhangs zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren sowie zu gemeinsamer Entscheidung zu verbinden.

30.      X, das Openbaar Ministerie (Staatsanwaltschaft, Niederlande), die niederländische und die polnische Regierung sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Das Openbaar Ministerie (Staatsanwaltschaft), die irische, die niederländische und die polnische Regierung sowie die Kommission haben in der Sitzung vom 16. November 2021 mündliche Ausführungen gemacht.

V.      Würdigung

31.      Mit seinen Vorlagefragen in den beiden Rechtssachen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob es nach den Grundsätzen, die in den Urteilen Minister for Justice and Equality und Openbaar Ministerie aufgestellt worden sind, verpflichtet ist, die Übergabe der gesuchten Person in folgenden Fällen abzulehnen:

–        Zum einen bei der Prüfung eines EHB, der zum Zwecke der Vollstreckung einer rechtskräftig verhängten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt wurde, wenn im Ausstellungsmitgliedstaat (i) im Verfahren, das zur Verurteilung geführt hat, das Recht auf ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht verletzt worden ist und (ii) kein wirksamer Rechtsbehelf gegen eine etwaige Verletzung dieses Rechts zur Verfügung steht(16);

–        zum anderen bei der Prüfung eines EHB, der zum Zwecke der Strafverfolgung ausgestellt worden ist, wenn (i) eine echte Gefahr besteht, dass die gesuchte Person im Ausstellungsmitgliedstaat von einem Gericht verurteilt wird, das nicht zuvor durch Gesetz errichtet wurde(17), (ii) diese Person die Besetzung der Gerichte, vor denen ihr Fall verhandelt werden wird, aufgrund der Art und Weise, in der Rechtssachen nach dem Zufallsprinzip zugewiesen werden, nicht feststellen kann(18) und es (iii) keinen wirksamen Rechtsbehelf zur Anfechtung der Rechtsgültigkeit der Ernennung von Richtern gibt(19).

32.      Ich werde zunächst die im Rahmenbeschluss 2002/584 und in der einschlägigen Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze in Erinnerung rufen (A) und anschließend auf die Vorlagefragen antworten (B).

A.      Zu den sich aus dem Rahmenbeschluss 2002/584 und der einschlägigen Rechtsprechung ergebenden Grundsätzen

33.      Ich werde im Folgenden auf die im Rahmenbeschluss 2002/584 festgelegten und in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze in Bezug auf die Gründe für die Nichtvollstreckung eines EHB im Zusammenhang mit der Gefahr einer Verletzung der Grundrechte der gesuchten Person (1) sowie auf die Voraussetzungen hinweisen, unter denen eine Unregelmäßigkeit bei der Ernennung eines Richters dazu führen kann, dass das Recht des Einzelnen auf ein faires Verfahren in Frage gestellt wird (2).

1.      Gründe für die Nichtvollstreckung eines EHB im Zusammenhang mit der Gefahr einer Verletzung der Grundrechte der gesuchten Person

34.      Wie aus den Erwägungsgründen 5, 6 und 10 des Rahmenbeschlusses 2002/584 hervorgeht, stellt die Einführung des Mechanismus des EHB, der die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken ermöglicht, die den Auslieferungsverfahren innewohnen, im strafrechtlichen Bereich die konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar und beruht auf einem hohen Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten(20). Die Anwendung dieses Mechanismus darf nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art. 6 Abs. 1 EUV enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV mit den in Abs. 2 dieses Artikels vorgesehenen Folgen festgestellt wird. Im zwölften Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses heißt es jedoch, dass dieser die Grundrechte achtet und die in Art. 6 EUV anerkannten Grundsätze, die auch in der Charta zum Ausdruck kommen, wahrt(21).

35.      Die vorstehend beschriebenen beiden „Seelen“ des Rahmenbeschlusses 2002/584 spiegeln sich in dessen Art. 1 wider, der in Abs. 2 vorsieht, dass die Mitgliedstaaten jeden EHB nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses vollstrecken, und in Abs. 3 besagt, dass der Rahmenbeschluss nicht die Pflicht berührt, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Art. 6 EUV niedergelegt sind, zu achten.

36.      Folglich können die vollstreckenden Justizbehörden die Vollstreckung eines EHB grundsätzlich nur aus den in den Art. 3 bis 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 abschließend aufgezählten Gründen(22) oder – nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs – unter „außergewöhnlichen Umständen“ ablehnen, die aufgrund ihrer Schwere eine Beschränkung der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten, auf denen die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen aufbaut, erforderlich machen(23).

37.      Zur Feststellung des Vorliegens dieser außergewöhnlichen Umstände, zu denen die Verletzung bestimmter in der Charta niedergelegter Grundrechte gehört, hat der Gerichtshof im Urteil Aranyosi und Căldăraru eine Prüfung in zwei Schritten (im Folgenden: zweistufige Prüfung oder Prüfung(24)) eingeführt:

–        Im ersten Schritt muss die vollstreckende Justizbehörde die echte Gefahr einer Grundrechtsverletzung mit Blick auf die allgemeine Lage des Ausstellungsmitgliedstaats bewerten;

–        im zweiten Schritt hat diese Behörde konkret und genau zu prüfen, ob unter Berücksichtigung der Umstände des konkreten Falls eine echte Gefahr der Verletzung eines Grundrechts der gesuchten Person besteht(25).

38.      Anschließend sind diese Grundsätze, insbesondere die zweistufige Prüfung, auf einen Fall angewandt worden, in dem infolge der Vollstreckung eines EHB die Gefahr einer Verletzung des in Art. 47 der Charta niedergelegten Rechts auf ein faires Verfahren bestand, weil das Justizsystem des Ausstellungsmitgliedstaats, in jenem Fall der Republik Polen, systemische oder allgemeine Mängel aufwies, die sich auf die Unabhängigkeit der Richter auswirken und damit zu einer Verletzung dieses Rechts führen konnten.

39.      Im Urteil Minister for Justice and Equality, das sich auf einen EHB bezieht, der von polnischen Justizbehörden zum Zwecke der Strafverfolgung ausgestellt worden war, hat der Gerichtshof entschieden, dass die vollstreckende Justizbehörde selbst dann, wenn sie nach dem ersten Prüfungsschritt über Anhaltspunkte – wie diejenigen in einem begründeten Vorschlag der Kommission nach Art. 7 Abs. 1 EUV – dafür verfügt, dass wegen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats eine echte Gefahr der Verletzung des Wesensgehalts des Grundrechts auf ein faires Verfahren besteht(26), im Rahmen des zweiten Prüfungsschritts immer noch konkret und genau zu untersuchen hat, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die betroffene Person im Fall ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird(27). In diesem Zusammenhang muss die vollstreckende Justizbehörde Kriterien wie die persönliche Situation dieser Person, die Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und den Sachverhalt, auf denen der EHB beruht (im Folgenden: einschlägige Kriterien), sowie Informationen berücksichtigen, die der Ausstellungsmitgliedstaat gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 mitgeteilt hat(28).

40.      Im Urteil Openbaar Ministerie, das einen EHB betrifft, der von polnischen Justizbehörden zum Zwecke der Strafverfolgung und der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellt worden war, hat der Gerichtshof zum einen entschieden, dass die vollstreckende Justizbehörde selbst dann, wenn sie über Anhaltspunkte dafür verfügt, dass systemische oder allgemeine Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz im Ausstellungsmitgliedstaat zum Zeitpunkt der Ausstellung bestanden haben oder im Anschluss daran aufgetreten sind, dem Gericht, das den EHB ausgestellt hat, die Eigenschaft einer „ausstellenden Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 nicht absprechen darf(29). Zum anderen hat er darauf hingewiesen, dass die vollstreckende Justizbehörde selbst dann, wenn sie feststellt, dass die vorstehend angeführten systemischen oder allgemeinen Mängel vorliegen, die Durchführung des zweiten Prüfungsschritts nicht unterlassen darf. In diesem zweiten Schritt hat die Behörde zu beurteilen, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die Person, gegen die ein EHB ergangen ist, im Fall ihrer Übergabe einer echten Gefahr der Verletzung ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren ausgesetzt sein wird(30). Der Gerichtshof hat insoweit auf die im Urteil Minister for Justice and Equality entwickelten einschlägigen Kriterien verwiesen(31), gleichzeitig aber klargestellt, dass die vollstreckende Justizbehörde im Rahmen des der Ausstellung des EHB zugrunde liegenden Sachverhalts Verlautbarungen öffentlicher Stellen, die die Behandlung eines Einzelfalls beeinflussen können, berücksichtigen kann(32).

41.      Im Wesentlichen hat der Gerichtshof in den beiden genannten Urteilen am Grundsatz der Übergabe der gesuchten Person festgehalten, gleichzeitig aber entschieden, dass es bei Bestehen einer echten Gefahr, dass diese Person im Fall ihrer Übergabe an die ausstellende Justizbehörde eine Verletzung ihres Grundrechts auf ein unabhängiges Gericht erleidet und damit der Wesensgehalt ihres in Art. 47 Abs. 2 der Charta verbürgten Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet wird, der vollstreckenden Justizbehörde gestattet sein kann, ausnahmsweise, auf der Grundlage von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584, davon abzusehen, dem betreffenden EHB Folge zu leisten(33).

42.      Für diese Untersuchung, die in der zweistufigen Prüfung zum Ausdruck kommt, ist im Wesentlichen eine allgemeine Beurteilung der Lage im Ausstellungsmitgliedstaat vorzunehmen, gefolgt von einer individuellen Beurteilung der Situation der betreffenden Person, aus der sich ergibt, dass diese konkret der echten Gefahr einer Verletzung der fraglichen Grundrechte ausgesetzt ist.

2.      Voraussetzungen, unter denen eine Unregelmäßigkeit bei der Ernennung eines Richters zu einer Einschränkung des Rechts des Einzelnen auf ein faires Verfahren führen kann

43.      Da das vorlegende Gericht feststellt, dass die systemischen oder allgemeinen Mängel, die das Grundrecht auf ein im Ausstellungsmitgliedstaat zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht verletzten, hauptsächlich auf eine Unregelmäßigkeit bei der Ernennung von Mitgliedern der Justiz zurückgingen(34), halte ich es für angebracht, im Folgenden kurz auf die Grundsätze einzugehen, die der Gerichtshof in Bezug auf die Voraussetzungen aufgestellt hat, unter denen eine Unregelmäßigkeit bei der Ernennung eines Richters das Recht des Einzelnen auf ein faires Verfahren in Frage stellen kann.

44.      Im Urteil vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission(35), hat sich der Gerichtshof zu den Auswirkungen einer Unregelmäßigkeit im Verfahren zur Ernennung eines Richters am Gericht für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union auf das Recht der Parteien auf ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht geäußert.

45.      In diesem Urteil hat der Gerichtshof ausgeführt, dass das Recht, von einem „auf Gesetz beruhenden“ Gericht im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, dem Art. 47 Abs. 2 der Charta entspricht(36), abgeurteilt zu werden, nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte seinem Wesen nach das Verfahren zur Ernennung der Richter umfasst(37), gleichzeitig aber darauf hingewiesen, dass eine bei der Ernennung der Richter im betroffenen Justizsystem begangene Vorschriftswidrigkeit einen Verstoß gegen Art. 47 Abs. 2 Satz 1 der Charta darstellt, insbesondere dann, wenn die Art und Schwere der Vorschriftswidrigkeit dergestalt ist, dass sie die tatsächliche Gefahr begründet, dass andere Teile der Staatsgewalt – insbesondere die Exekutive – ein ihnen nicht zustehendes Ermessen ausüben können, wodurch die Integrität des Ergebnisses des Ernennungsverfahrens beeinträchtigt und so beim Einzelnen berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des oder der betreffenden Richter geweckt werden, was der Fall ist, wenn es um Grundregeln geht, die Bestandteil der Errichtung und der Funktionsfähigkeit dieses Justizsystems sind(38).

46.      In besagtem Urteil hat der Gerichtshof zwischen dem Verfahren zur Ernennung des umstrittenen Richters am Gericht für den öffentlichen Dienst (d. h. dem Aufruf zur Einreichung von Bewerbungen), dessen Vorschriftswidrigkeit das Gericht der Europäischen Union festgestellt hatte, einerseits und den Grundregeln für die Ernennung der Richter an diesem Gericht (d. h. Art. 257 Abs. 4 AEUV und Anhang I Art. 3 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union) andererseits unterschieden und ist zu dem Schluss gekommen, dass eine einfache Verletzung des Ernennungsverfahrens nicht ausreicht, um das Vorliegen eines Verstoßes gegen eine Grundregel des Verfahrens zur Ernennung der Richter am Gericht für den öffentlichen Dienst festzustellen, dessen Art und Schwere dergestalt wäre, dass er die tatsächliche Gefahr begründet hätte, dass der Rat seine Befugnisse ungerechtfertigt ausübt und dadurch die Integrität des Ergebnisses des Ernennungsverfahrens beeinträchtigt und so beim Einzelnen berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit des auf die dritte Stelle ernannten Richters oder gar der Kammer, der er zugeteilt worden ist, geweckt werden(39). Diese Grundsätze hat der Gerichtshof im Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. (Kammer des Obersten Gerichts für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten – Ernennung)(40), auf den Zustand des polnischen Justizsystems angewandt.

47.      Im Wesentlichen lehrt uns diese Rechtsprechung, dass Unregelmäßigkeiten bei der Ernennung bestimmter Richter Auswirkungen auf die konkrete Situation des Einzelnen haben können, wenn sie die Gefahr einer Einmischung der Exekutive in die geordnete Rechtspflege begründen und so beim Einzelnen Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dieser Richter und der Gerichte, denen sie zugeteilt sind, geweckt werden. Vor diesem Hintergrund komme ich zu dem Schluss, dass im Rahmen des zweiten Prüfungsschritts in den Ausgangsrechtssachen festzustellen ist, ob die Situation der gesuchten Personen unter Berücksichtigung der einschlägigen Kriterien für die Exekutive von einem Interesse ist, das über die konkreten Elemente der vermeintlichen Straftaten hinausgeht und sie der Gefahr aussetzt, dass ihr Fall nicht auf unparteiische Weise behandelt wird, wie ich im Folgenden erläutern werde.

B.      Zu den Vorlagefragen

48.      Die vorliegenden Rechtssachen fügen sich in einen Kontext ein, der mit demjenigen, der zu den Urteilen Minister for Justice and Equality und Openbaar Ministerie geführt hat, sowie dem der anhängigen Rechtssache C‑480/21, Minister for Justice and Equality(41), nahezu identisch ist. Sie betreffen die Vollstreckung eines EHB, der von polnischen Justizbehörden zum Zwecke der Strafverfolgung bzw. der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellt worden ist. Wie bereits ausgeführt, möchte das vorlegende Gericht mit seinen Vorlagefragen im Wesentlichen wissen, ob und wie es den zweiten Prüfungsschritt(42) im besonderen Kontext des vorliegenden Falls anwenden soll.

1.      Zum ersten Prüfungsschritt

49.      Was zunächst den ersten Prüfungsschritt angeht, so stellt das vorlegende Gericht, ohne hierzu eine Vorlagefrage zu stellen, das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz im Ausstellungsmitgliedstaat fest, die bei Ausstellung des EHB bestanden hätten, immer noch bestünden und sich in den letzten Jahren sogar zunehmend verschärft hätten. Dieser Feststellung des vorlegenden Gerichts liegt vor allem die Ernennung von Richtern auf Vorschlag der KRS nach dem Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die KRS und einiger anderer Gesetze vom 8. Dezember 2017(43) sowie die Tatsache zugrunde, dass es für eine übergebene Person nicht möglich ist, die Rechtsgültigkeit der Ernennung eines Richters oder die Rechtmäßigkeit der Ausübung von dessen richterlichen Funktionen nach den am 14. Februar 2020 in Kraft getretenen Rechtsvorschriften wirksam in Frage zu stellen(44).

50.      Ohne in die Zuständigkeiten des vorlegenden Gerichts eingreifen zu wollen und unbeschadet der Überprüfungen, die es hinsichtlich der Aktualität der vorstehenden Analyse und der etwaigen Entwicklungen der Situation auf nationaler Ebene(45) durchzuführen hat, kann ich mich den Feststellungen dieses Gerichts im Licht der Rechtsprechung zur Unabhängigkeit des polnischen Justizsystems(46) grundsätzlich anschließen.

2.      Zum zweiten Prüfungsschritt

51.      Was den zweiten Prüfungsschritt betrifft, so ist der Gerichtshof aufgerufen, die Anwendung der einschlägigen Kriterien auf den Fall der Vollstreckung von EHBs, die zum Zwecke der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden sind, einerseits, und von EHBs, die zum Zwecke der Strafverfolgung ausgestellt worden sind, andererseits, zu präzisieren(47).

52.      Somit ist zu prüfen, ob die systemischen oder allgemeinen Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz im Ausstellungsmitgliedstaat, wenn sie spezifische Mängel bei der Ernennung der Richter, die die gesuchte Person verurteilt haben oder nach deren Übergabe verurteilen sollen, mit sich bringen oder bringen könnten, im vorliegenden Fall zu einer Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 Satz 1 der Charta verbürgten Rechts dieser Person auf ein unabhängiges Gericht führen können. Falls ja, muss die vollstreckende Justizbehörde gemäß Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 davon absehen, dem EHB Folge zu leisten, während sie ihn andernfalls zu vollstrecken hat(48).

53.      Was zum einen die Vollstreckung eines EHB angeht, der zum Zwecke der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist, so weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass eine echte Gefahr bestehe, dass ein oder mehrere im Anschluss an die umstrittenen Reformen ernannte(r) Richter(49) am Verfahren der Person mitgewirkt hätten, gegen die ein solcher EHB ergangen sei. Zudem sei es für diese Person tatsächlich zwar möglich, anzugeben, welche Richter im Ausstellungsmitgliedstaat an ihrem Verfahren mitgewirkt hätten, sie könne aber die Rechtsgültigkeit der Ernennung eines Richters oder die Rechtmäßigkeit der Ausübung von dessen richterlichen Funktionen aufgrund einer im Jahr 2020 im Zuge der umstrittenen Reformen eingetretenen legislativen Änderung nicht wirksam in Frage stellen(50).

54.      Was zum anderen die Vollstreckung eines EHB betrifft, der zum Zwecke der Strafverfolgung ausgestellt worden ist, so führt das vorlegende Gericht aus, dass eine gesuchte Person aufgrund des Mechanismus der zufälligen Rechtssachenzuweisung an die Richter eines Gerichts, der ebenfalls im Zuge der umstrittenen Reformen eingeführt worden sei, nicht wissen könne, welche Richter nach ihrer Übergabe mit ihrem Fall befasst würden.

55.      In den beiden vorstehend beschriebenen Fallkonstellationen sind zwei Situationen vorstellbar, nämlich die Situation, dass sich das Vorliegen von Unregelmäßigkeiten bei der Ernennung eines oder mehrerer Richter, die mit der Angelegenheit der gesuchten Personen befasst gewesen sind oder befasst sein werden, ausschließen lässt (a), und die Situation, dass Unregelmäßigkeiten oder die echte Gefahr einer Unregelmäßigkeit bei einer solchen Ernennung vorliegen (b). Im zweiten Fall, um den es in den Vorlagefragen geht, ist klarzustellen, ob und inwieweit das Vorliegen oder die Gefahr solcher Unregelmäßigkeiten die vollstreckende Justizbehörde dazu veranlassen kann, die Vollstreckung des EHB abzulehnen. Schließlich halte ich es für angebracht, einige Hinweise zu den möglichen Folgen des Urteils des Verfassungsgerichtshofs, das, obwohl es nach den vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen ergangen ist, einen Gesichtspunkt darstellt, den das vorlegende Gericht bei seiner Beurteilung zu berücksichtigen haben wird, für die vorerwähnte Prüfung zu geben (c).

a)      Zum Fehlen von Unregelmäßigkeiten bei der Ernennung der zuständigen nationalen Richter

56.      Die vollstreckende Justizbehörde könnte auf der Grundlage ihrer Überprüfungen und gegebenenfalls eines Informationsaustauschs mit den zuständigen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zu dem Schluss gelangen, dass die Justizbehörde, die die Freiheitsstrafe oder die freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung gegen die gesuchte Person verhängt hat, nicht aus Richtern besteht, die im Einklang mit den aus den umstrittenen Reformen hervorgegangenen Vorschriften ernannt wurden(51), oder dass keine konkrete Gefahr besteht, dass die Person, um deren Übergabe zum Zwecke der Strafverfolgung ersucht wird, von einer Justizbehörde, die aus auf der Grundlage dieser Vorschriften ernannten Richtern besteht, verurteilt wird.

57.      In solchen Fällen dürften die systemischen oder allgemeinen Mängel, die dem Justizsystem des Ausstellungsmitgliedstaats anhaften, der Übergabe der gesuchten Person an diesen Mitgliedstaat nicht entgegenstehen, sofern nicht andere Gründe vorliegen, die eine Ablehnung der Übergabe rechtfertigen(52).

b)      Zum Vorliegen bzw. zur konkreten Gefahr von Unregelmäßigkeiten bei der Ernennung der zuständigen nationalen Richter

58.      Die vollstreckende Justizbehörde könnte – ebenfalls auf der Grundlage ihrer Überprüfungen und gegebenenfalls eines Informationsaustauschs mit den zuständigen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 – feststellen, dass die Justizbehörde, die die Freiheitsstrafe oder die freiheitsentziehende Maßregel verhängt hat, tatsächlich aus einem oder mehreren Richtern besteht, die auf der Grundlage der aus den umstrittenen Reformen hervorgegangenen Vorschriften ernannt wurden, oder dass eine konkrete Gefahr besteht, dass die Richter, die das Urteil über die gesuchte Person gefällt haben oder nach deren Übergabe mit ihrem Fall befasst sein werden, zur Gruppe der Richter gehören, die im Einklang mit den besagten Vorschriften ernannt wurden. Diese Fälle, die Gegenstand der ersten und der zweiten Vorlagefrage in der Rechtssache C‑563/21 PPU sind, zeichnen sich durch die bei der vollstreckenden Justizbehörde bestehenden Zweifel hinsichtlich der tatsächlichen Auswirkungen der (tatsächlichen oder wahrscheinlichen) Beteiligung der vorschriftswidrig ernannten Richter auf die Wahrung des Grundrechts der gesuchten Person auf ein unabhängiges Gericht aus.

59.      Im Licht der in den Nrn. 37 bis 41 der vorliegenden Schlussanträge untersuchten Rechtsprechung des Gerichtshofs genügen diese Zweifel meines Erachtens allein jedoch nicht, um im Rahmen des zweiten Prüfungsschritts das Vorliegen einer echten Gefahr der Verletzung des Grundrechts der gesuchten Person auf ein unabhängiges Gericht festzustellen und damit eine etwaige Weigerung der Behörde, den EHB zu vollstrecken, zu rechtfertigen. Denn wie die systemischen oder allgemeinen Mängel des Justizsystems des Ausstellungsmitgliedstaats kann die bloße Tatsache, dass sich diese Mängel auf die gegen die gesuchte Person geführten – abgeschlossenen oder zukünftigen – nationalen Verfahren selbst auswirken, die vollstreckende Justizbehörde, die gleichwohl zu erhöhter Wachsamkeit bei der Beurteilung der die Ausstellung des EHB begleitenden Umstände aufgerufen ist(53), nicht von der Prüfung der einschlägigen Kriterien befreien.

60.      Ich weise insoweit darauf hin, dass die Republik Polen, wie der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung zur Unabhängigkeit des polnischen Justizsystems im Wesentlichen entschieden hat, es mit den umstrittenen Reformen der Exekutive gestattet hat, entscheidend auf die Ernennung von Richtern und ihre Disziplinarordnung einzuwirken. In der in Nr. 45 der vorliegenden Schlussanträge untersuchten Rechtsprechung hat der Gerichtshof außerdem klargestellt, dass eine Vorschriftswidrigkeit bei der Ernennung von Richtern einen Verstoß gegen Art. 47 Abs. 2 der Charta darstellt, insbesondere dann, wenn sie die Gefahr eines Eingriffs der Exekutive in die Tätigkeit der Judikative begründet, wodurch der Exekutive ermöglicht wird, Einfluss auf die Judikative Letzterer zu nehmen und versucht wird, die Gewaltenteilung und damit die Unabhängigkeit der Justiz auszuhebeln(54).

61.      Bei der Beurteilung der Auswirkungen der systemischen oder allgemeinen Mängel auf die besondere Situation der gesuchten Personen ist meiner Ansicht nach somit auf die Art der beanstandeten Mängel abzustellen. Im vorliegenden Fall, in dem die festgestellten Mängel einen Eingriff der Exekutive in die Judikative betreffen, ist zu fragen, ob dieser Eingriff geeignet ist, die Behandlung von Rechtssachen zu berühren, in denen es um gesuchte Personen geht.

62.      Das vorlegende Gericht hat daher auf der Grundlage der von der gesuchten Person gemachten Angaben und der gegebenenfalls von Behörden des den EHB ausstellenden Mitgliedstaats gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 erhaltenen Informationen zu prüfen, ob die mangelnde Unabhängigkeit der polnischen Gerichte, die auf einen Eingriff der Exekutive in die Judikative zurückzuführen ist, unter Berücksichtigung der einschlägigen Kriterien sowie etwaiger Entwicklungen des rechtlichen und gerichtlichen Rahmens des Ausstellungsmitgliedstaats das Recht der gesuchten Personen auf ein unabhängiges Gericht verletzen könnte(55).

63.      In den vorliegenden Fällen müssen die einschlägigen Kriterien somit im Licht der möglichen Gefahr eines Eingriffs der Exekutive in Rechtssachen betreffend gesuchte Personen angewandt werden. Insbesondere wird das vorlegende Gericht anhand dieser Kriterien zunächst zu bewerten haben, ob sich aus der persönlichen Situation der gesuchten Personen eine Gefahr ergeben könnte, dass ihre Fälle auf der Grundlage anderer Gesichtspunkte als denen verhandelt werden sollen, die für die Prüfung ihres angeblichen Fehlverhaltens relevant sind, wie beispielsweise der möglichen Beteiligung dieser Personen am politischen Leben oder ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe, einer Minderheit oder einem sozialen Stand, die den Eingriffen der Exekutive unter Berücksichtigung von deren Politiken in besonderem Maße ausgesetzt sind. Anschließend wird dieses Gericht zu untersuchen haben, ob die Gefahr besteht, dass die Fälle dieser Personen aufgrund der Art der Straftaten, derentwegen sie verfolgt werden, nicht unabhängig verhandelt werden(56). Schließlich wird das vorlegende Gericht beurteilen müssen, ob sich eine solche Gefahr unter Berücksichtigung etwaiger Erklärungen staatlicher Behörden, die in die Behandlung eines Einzelfalls eingreifen könnten, aus dem Sachverhalt, auf dem der EHB beruht, ergeben kann.

64.      Außerdem wird dieses Gericht im Rahmen der vorstehenden Analyse möglicherweise auch zu prüfen haben, ob die Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats gewährleisten, dass gesuchten Personen ein wirksamer gerichtlicher Rechtsbehelf zur Verfügung steht, mit dem die etwaige Vorschriftswidrigkeit der Ernennung des oder der betreffenden Richter geltend gemacht werden kann (vgl. Nr. 53 der vorliegenden Schlussanträge); dieser Aspekt ist Gegenstand der einzigen Vorlagefrage in der Rechtssache C‑562/21 PPU und der dritten Vorlagefrage in der Rechtssache C‑563/21 PPU(57).

65.      Was den Umfang der von der vollstreckenden Justizbehörde durchzuführenden Analyse angeht, so hat die gesuchte Person dem vorlegenden Gericht meiner Ansicht nach Anhaltspunkte zu liefern, die eine konkrete Gefahr glaubhaft machen, dass ihr Fall in Anbetracht der in Nr. 63 der vorliegenden Schlussanträge in Erinnerung gerufenen Kriterien nicht unabhängig verhandelt wird. Dies darf sich, obwohl insoweit kein vollständiger Beweis verlangt werden kann, nicht darauf beschränken, auf die allgemeine Gefahr zu verweisen, dass sich die systemischen oder allgemeinen Mängel des Justizsystems des Ausstellungsmitgliedstaats möglicherweise auf ihren Fall auswirken, da diese Beurteilung noch zum ersten Prüfungsschritt gehört. Meiner Meinung nach hat die gesuchte Person zum einen Angaben zu machen, aus denen hervorgeht, dass die an ihrem Verfahren beteiligten oder wahrscheinlich beteiligten Richter zu den Richtern gehören, die gemäß den umstrittenen Reformen ernannt worden sind, oder dass die ausstellende Justizbehörde selbst nicht hinreichend unabhängig von der Exekutive ist, und zum anderen zu begründen, weshalb sie glaubt, dass sich diese Situation in Anbetracht der für ihre persönliche Lage maßgeblichen Bedingungen, der Art der fraglichen Straftaten und des Sachverhalts, auf denen der EHB beruht, negativ auf ihren eigenen Fall auswirken könnte(58). Nach meiner Einschätzung dürften solche Angaben in der Regel genügen, um die vollstreckende Justizbehörde dazu zu veranlassen, die Übergabe dieser Person abzulehnen, es sei denn, die ausstellende Justizbehörde gibt selbst Zusicherungen ab oder geht konkrete Verpflichtungen in Bezug auf die Behandlung der gesuchten Person nach deren Übergabe ein, die geeignet sind, jegliche Zweifel hinsichtlich der von dieser Person angeführten Gefahren zu zerstreuen.

c)      Zu den Folgen des Urteils des Verfassungsgerichtshofs

66.      Das Urteil des Verfassungsgerichtshofs ist zwar nach Übersendung der vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen verkündet worden, stellt aber als bekannte Tatsache einen Gesichtspunkt dar, den das vorlegende Gericht zum Zeitpunkt seiner Entscheidung zu berücksichtigen haben wird.

67.      Obwohl seine Begründung noch nicht zur Verfügung steht, geht aus dem Tenor dieses Urteils hervor, dass das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) die Anwendbarkeit bestimmter grundlegender Bestimmungen des EU-Vertrags in der Republik Polen an sich in Frage stellt ebenso wie die zentrale Rolle des Gerichtshofs, gemäß Art. 19 Abs. 1 EUV die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge, auch in Bezug auf die umstrittene Frage der Unabhängigkeit der Justizbehörden, die einer der Grundzüge der in Art. 2 EUV verbürgten Rechtsstaatlichkeit ist, zu sichern(59). Entgegen den vom Vertreter der polnischen Regierung in der mündlichen Verhandlung gegebenen Zusicherungen kann die Anwendung des Unionsrechts durch die nationalen Gerichte in rechtlichen Situationen, in denen das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) eine bestimmte Auslegung auf der Grundlage der polnischen Verfassung für geboten hält, offenbar nicht Gegenstand einer Kontrolle sein.

68.      Auf den ersten Blick ist das Urteil Ausdruck einer Justizpolitik auf höchster Verfassungsebene, mit der in Frage gestellt werden soll, dass die Republik Polen die Grundsätze und grundlegenden Werte der Union teilt(60), obwohl die Mitgliedschaft dieses Mitgliedstaats in der Union deswegen nicht in Frage gestellt zu werden scheint(61).

69.      Zwar wird das vorlegende Gericht, bevor es aus dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs eine Schlussfolgerung für den vorliegenden Fall zieht, unter Berücksichtigung dessen, dass die Auswirkungen dieses Urteils mit Hilfe einer genauen Prüfung seiner Begründung und der konkreten Modalitäten seiner Durchführung untersucht werden müssen(62), und auch in Anbetracht der Tatsache, dass sich die Lage rasch verändern kann(63), äußerste Vorsicht walten lassen müssen. Insbesondere würde eine Feststellung, wonach aufgrund des Urteils des Verfassungsgerichtshofs künftig de facto alle vom fraglichen Mitgliedstaat ausgestellten EHBs nicht mehr vollstreckt werden könnten, zur Straffreiheit zahlreicher Straftaten führen, was eine Verletzung der Rechte der Opfer der fraglichen Straftaten beinhalten würde, und eine Entwertung der professionellen Tätigkeit der Richter der Republik Polen darstellen, die sich bemühen, die im Recht der Union vorgesehenen Mechanismen der justiziellen Zusammenarbeit einzusetzen(64). Dies könnte selbst eine Rechtsverweigerung darstellen und schwerwiegende Folgen nach sich ziehen, sogar über den Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses 2002/584 und der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen hinaus(65).

70.      Abgesehen davon könnte ein solcher Ansatz meines Erachtens den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und die justizielle Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten sowie zwischen diesen und dem Gerichtshof, die die Grundpfeiler des Systems des EHB bilden, in Frage stellen. Denn in einem solchen Fall vermag ich nicht zu erkennen, wie sich das hohe Maß an gegenseitigem Vertrauen und gegenseitiger Anerkennung, auf denen das System des EHB beruht, gewährleisten ließe.

71.      Die Auslegung, die sich aus dem Tenor des Urteils des Verfassungsgerichtshofs zu ergeben scheint, ist geeignet, Zweifel daran zu wecken, dass sich ein Einzelner, der von einer Entscheidung einer polnischen Justizbehörde betroffen ist, bisher auf die grundlegenden Prinzipien des Unionsrechts stützen kann, um etwaige Unvereinbarkeiten der nationalen Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht, einschließlich seiner verfassungsrechtlichen Normen, zu beseitigen. In Bezug auf die Ausgangsrechtssachen könnte dieses Urteil dazu führen, dass die Grundsätze des Vorrangs und der unmittelbaren Anwendung des Unionsrechts nicht der Tatsache abhelfen können, dass es in den nationalen Rechtsvorschriften keinen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf zum Schutz des Einzelnen und damit auch übergebener Personen gegen etwaige Verletzungen ihres Rechts auf ein faires Verfahren gibt(66).

72.      Folglich könnten die Folgen des Urteils des Verfassungsgerichtshofs eine Rolle spielen – nicht absolut, aber bei der Analyse, ob für gesuchte Personen nach ihrer Übergabe die konkrete Gefahr einer Verletzung ihres Rechts auf ein faires Verfahren besteht, und zwar insbesondere insoweit, als es verhindert, dass dem Fehlen eines Rechtsbehelfs (Ablehnung, Rechtsmittel, usw.) zur Anfechtung der vorschriftswidrigen Ernennung der Richter abgeholfen wird, die an den Verfahren beteiligt sind, denen sie unterworfen werden sollen, was das vorlegende Gericht zu überprüfen hat(67), wenn die betreffenden Personen Anhaltspunkte dafür liefern.

73.      Unter derartigen Umständen schließe ich nicht aus, dass das vorlegende Gericht, solange diese Situation fortbesteht und die gesuchte Person auf der Grundlage der einschlägigen Kriterien nachweist, dass in Anbetracht ihrer besonderen Situation die konkrete Gefahr einer nicht unparteiischen Behandlung besteht, und dass die vorschriftswidrige Besetzung der Gerichte, die für die Entscheidung über die Verfahren zuständig sind, denen sie unterworfen werden soll, nicht geltend gemacht werden kann, möglicherweise verpflichtet ist, die Vollstreckung der fraglichen EHBs trotz der bedauerlichen Folgen abzulehnen, die diese Aussetzung für das dem EHB eigene Ziel hat, die Straflosigkeit gesuchter Personen, die sich in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen befinden, in dem sie angeblich Straftaten begangen haben, zu bekämpfen. Dieses Gericht wird die Notwendigkeit einer solchen Ablehnung im Licht der in den Nrn. 61 bis 64 der vorliegenden Schlussanträge im Einzelnen aufgeführten einschlägigen Kriterien und der etwaigen Folgen des Urteils des Verfassungsgerichtshofs sowie unter Berücksichtigung der Tatsache zu beurteilen haben, dass sich die Lage ständig verändert.

74.      Daher schlage ich vor, auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 1 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass die vollstreckende Justizbehörde, wenn sie über die Übergabe einer Person zu entscheiden hat, gegen die ein zum Zwecke der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder der Strafverfolgung ausgestellter EHB ergangen ist, und über Anhaltspunkte für das Vorliegen einer echten Gefahr der Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta verbürgten Grundrechts auf ein faires Verfahren aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats verfügt, konkret und genau prüfen muss, ob es in Anbetracht der persönlichen Situation dieser Person sowie der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und des Sachverhalts, auf denen der EHB beruht, und unter Berücksichtigung der von diesem Mitgliedstaat gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses mitgeteilten Informationen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person im Fall ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird.

75.      Die Umstände, dass eine echte Gefahr besteht, dass der Fall der betroffenen Person nach deren Übergabe von einem Gericht verhandelt wird, das nicht zuvor durch Gesetz errichtet worden ist, oder dass es nicht möglich ist, die Besetzung der Gerichte, vor denen ihr Fall verhandelt werden wird, festzustellen, sowie das Fehlen eines wirksamen Rechtsbehelfs zur Anfechtung der Rechtsgültigkeit der Ernennung der betreffenden Richter befreien das vorlegende Gericht nicht davon, anhand der oben genannten Kriterien zu prüfen, ob die konkrete Gefahr einer Verletzung des Rechts dieser Person auf ein faires Verfahren besteht.

76.      Im Licht dieser Kriterien und unter Berücksichtigung der Entwicklung der Situation im Zusammenhang mit dem Justizsystem des Ausstellungsmitgliedstaats hat das vorlegende Gericht insbesondere zu prüfen, ob die gesuchte Person nach ihrer Übergabe Gefahr läuft, dass ihr Recht auf ein faires Verfahren durch eine Einwirkung der Exekutive auf die zuständigen Gerichte beeinflusst wird, und zwar unter Berücksichtigung dessen, dass es möglicherweise weder einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf zur Anfechtung der vorschriftswidrigen Ernennung des oder der Richter, die den Fall dieser Person verhandelt haben oder dafür zuständig sind, noch eine verfassungsgerichtliche Rechtsprechungspraxis gibt, mit der sich, da sie den Vorrang des Unionsrechts in Frage stellt, dem Fehlen eines solchen Rechtsbehelfs abhelfen lässt.

VI.    Ergebnis

77.      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande) wie folgt zu antworten:

–        Art. 1 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde, wenn sie über die Übergabe einer Person zu entscheiden hat, gegen die ein zum Zwecke der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder der Strafverfolgung ausgestellter Europäischer Haftbefehl (EHB) ergangen ist, und über Anhaltspunkte für das Vorliegen einer echten Gefahr der Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgten Grundrechts auf ein faires Verfahren aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats verfügt, konkret und genau prüfen muss, ob es in Anbetracht der persönlichen Situation dieser Person sowie der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und des Sachverhalts, auf denen der EHB beruht, und unter Berücksichtigung der von diesem Mitgliedstaat gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses mitgeteilten Informationen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person im Fall ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird;

–        die Umstände, dass eine echte Gefahr besteht, dass der Fall der betreffenden Person nach deren Übergabe von einem Gericht verhandelt wird, das nicht zuvor durch Gesetz errichtet worden ist, oder dass es nicht möglich ist, die Besetzung der Gerichte, vor denen ihr Fall verhandelt werden wird, festzustellen, sowie das Fehlen eines wirksamen Rechtsbehelfs zur Anfechtung der Rechtsgültigkeit der Ernennung der betreffenden Richter befreien das vorlegende Gericht nicht davon, anhand der oben genannten Kriterien zu prüfen, ob die konkrete Gefahr einer Verletzung des Rechts dieser Person auf ein faires Verfahren besteht;

–        im Licht dieser Kriterien und unter Berücksichtigung der Entwicklung der Situation im Zusammenhang mit dem Justizsystem des Ausstellungsmitgliedstaats hat das vorlegende Gericht insbesondere zu prüfen, ob die gesuchte Person nach ihrer Übergabe Gefahr läuft, dass ihr Recht auf ein faires Verfahren durch eine Einwirkung der Exekutive auf die zuständigen Gerichte beeinflusst wird, und zwar unter Berücksichtigung dessen, dass es möglicherweise weder einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf zur Anfechtung der vorschriftswidrigen Ernennung des oder der Richter, die den Fall dieser Person verhandelt haben oder dafür zuständig sind, noch eine verfassungsgerichtliche Rechtsprechungspraxis gibt, mit der sich, da sie den Vorrang des Unionsrechts in Frage stellt, dem Fehlen eines solchen Rechtsbehelfs abhelfen lässt.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584).


3      Die in den vorliegenden Rechtssachen aufgeworfenen Vorlagefragen sind im Wesentlichen mit denen identisch, die der Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland) in der anhängigen Rechtssache Minister for Justice and Equality (C‑480/21), die nicht dem Eilvorlageverfahren unterliegt, gestellt hat.


4      C‑216/18 PPU, im Folgenden: Urteil Minister for Justice and Equality, EU:C:2018:586.


5      C‑354/20 PPU und C‑412/20 PPU, im Folgenden: Urteil Openbaar Ministerie, EU:C:2020:1033.


6      Diese Reformen, die die Verfassungs- und die ordentliche Gerichtsbarkeit, die Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen, im Folgenden: KRS) sowie die Staatsanwaltschaft betreffen, haben den Einfluss der Exekutive und der Legislative auf das Justizsystem verstärkt und deshalb die Unabhängigkeit der Justiz verringert. Ich verweise insbesondere auf die 2018 eingetretenen Änderungen an der Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht), die zum Urteils vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts) (C‑619/18, EU:C:2019:531), geführt haben, sowie auf die Änderungen des Jahres 2019 an der Ustawa – Prawo o ustroju sądów powszechnych (Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit), dem Gesetz über das Oberste Gericht und die Änderungen des Jahres 2017 an der Ustawa o Krajowej Radzie Sądownictwa (Gesetz über die KRS), die zum Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596), geführt haben. Außerdem haben die Vorschriften zur Änderung des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, des Gesetzes über das Oberste Gericht und einiger anderer Gesetze im Rahmen des laufenden Vertragsverletzungsverfahrens in der Rechtssache C‑204/21, Kommission/Polen, zum Beschluss der Vizepräsidentin des Gerichtshofs vom 14. Juli 2021, Kommission/Polen (C‑204/21 R, EU:C:2021:593, im Folgenden: Beschluss vom 14. Juli 2021), mit dem die Aussetzung der Anwendung der genannten nationalen Vorschriften angeordnet wurde, zum Beschluss der Vizepräsidentin des Gerichtshofs vom 6. Oktober 2021, Polen/Kommission (C‑204/21 R-RAP, EU:C:2021:834), mit dem der Antrag auf Aufhebung des Beschlusses vom 14. Juli 2021 zurückgewiesen wurde, und zum Beschluss des Vizepräsidenten des Gerichtshofs vom 27. Oktober 2021, Kommission/Polen (C‑204/21 R, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:877), geführt, mit dem gegen die Republik Polen ein Zwangsgeld bis zu dem Tag, an dem dieser Mitgliedstaat seinen Verpflichtungen aus dem Beschluss vom 14. Juli 2021 nachkommt, oder andernfalls bis zum Tag der Verkündung des Urteils, mit dem das Verfahren in der Rechtssache C‑204/21 beendet wird, verhängt wurde. Die Frage der Unabhängigkeit der polnischen Gerichte ist auch Gegenstand der laufenden Vorabentscheidungsverfahren in den Rechtssachen C‑181/21 (G) und C‑269/21 (BC und DC). Das vorlegende Gericht wiederum nennt insbesondere die 2018 in Kraft getretene Ustawa o zmianie ustawy o Krajowej Radzie Sądownictwa oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die KRS und einiger anderer Gesetze) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Position 3), die sich auf die Rolle der KRS bei der Ernennung von Mitgliedern der polnischen Justiz bezieht, da der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) in seiner Entschließung vom 23. Januar 2020 (BSA I-4110-1/20) festgestellt hat, dass die KRS nach den 2018 in Kraft getretenen Rechtsvorschriften kein unabhängiges Gremium sei, sondern direkt politischen Behörden unterstehe.


7      Vgl. Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982), vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234), vom 2. März 2021, A. B. u. a. (Ernennung der Richter am Obersten Gericht – Rechtsbehelf) (C‑824/18, EU:C:2021:153), vom 6. Oktober 2021, W. Ż. (Kammer des Obersten Gerichts für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798), und vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a.(C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931).


8      Urteile vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts) (C‑619/18, EU:C:2019:531), vom 5. November 2019, Kommission/Polen (Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte) (C‑192/18, EU:C:2019:924), und vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596). Ein viertes Vertragsverletzungsverfahren gegen die Republik Polen, das sich auf die neue Disziplinarordnung bezieht, ist derzeit anhängig (Rechtssache C‑204/21, Kommission/Polen, vgl. die in Fn. 6 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Beschlüsse).


9      Dieser Sachverhalt hat die Europäische Kommission im Übrigen dazu bewogen, am 20. Dezember 2017 einen begründeten Vorschlag nach Art. 7 Abs. 1 EUV zur Rechtsstaatlichkeit in Polen (Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Feststellung der eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Rechtsstaatlichkeit durch die Republik Polen, COM[2017] 835 final) anzunehmen, zu dem sich der Rat noch nicht geäußert hat. Zuletzt hat die Kommission in ihrem Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2021 – Kapitel über die Lage der Rechtsstaatlichkeit in Polen (SWD[2021] 700 final) schwerwiegende Bedenken geäußert. Außerdem war diese Lage im Rahmen des Europarats Gegenstand der Entschließung 2316 (2020) der Parlamentarischen Versammlung des Europarates zur Arbeitsweise demokratischer Institutionen in Polen vom 28. Januar 2020 und der Stellungnahme Nr. 977/2020 der Europäischen Kommission für Demokratie durch das Recht (im Folgenden: Venedig-Kommission) vom 22. Juni 2020 zu den Änderungen des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit, des Gesetzes über das Oberste Gericht und einiger anderer Gesetze in Polen (CDL-AD [2020]017). Ich weise auch darauf hin, dass die Generalversammlung des Europäischen Netzes der Räte für das Justizwesen (ENCJ), die am 28. Oktober 2021 in Vilnius (Litauen) stattfand, beschlossen hat, die KRS vom ENCJ auszuschließen.


10      In diesem Urteil, von dem derzeit nur der Tenor zur Verfügung steht, hat das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) im Wesentlichen entschieden, dass bestimmte grundlegende Bestimmungen des Unionsrechts (nämlich Art. 1 Abs. 1 EUV, Art. 2 EUV, Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV) insbesondere dann gegen bestimmte grundlegende Bestimmungen der polnischen Verfassung verstießen, wenn in ihnen der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts zum Ausdruck komme, und daher angekündigt, dass es möglicherweise von seiner Befugnis Gebrauch machen werde, die Urteile des Gerichtshofs unmittelbar auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen und ihre Nichtanwendung in der polnischen Rechtsordnung festzustellen.


11      Stb. 2004, Nr. 195.


12      Stb. 2021, Nr. 155.


13      Es handelt sich um die Änderungen der Justizgesetze, darunter der Ustawa o zmianie ustawy – Prawo o ustroju sądów powszechnych, ustawy o Sądzie Najwyższym oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, des Gesetzes über das Oberste Gericht und einiger anderer Gesetze) vom 20. Dezember 2019 (Dz. U. 2020, Position 190). Nach diesen Rechtsvorschriften dürfen die polnischen Gerichte einen Rechtsbehelf, der auf die Ernennung eines Richters oder die Rechtmäßigkeit der Ausübung von dessen richterlichen Funktionen gestützt wird, nicht prüfen. Vgl. in diesem Sinne Stellungnahme Nr. 977/2020 der Venedig-Kommission.


14      Vgl. Nr. 20 der vorliegenden Schlussanträge.


15      Vgl. Fn. 13 der vorliegenden Schlussanträge.


16      Einzige Frage in der Rechtssache C‑562/21 PPU.


17      Erste Frage in der Rechtssache C‑563/21 PPU.


18      Zweite Frage in der Rechtssache C‑563/21 PPU.


19      Dritte Frage in der Rechtssache C‑563/21 PPU.


20      In der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist erläutert worden, dass der Mechanismus des EHB insbesondere darauf abzielt, die Straflosigkeit der gesuchten Person zu verhindern, die sich in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen befindet, in dem sie vermutlich straffällig geworden ist (Urteil Openbaar Ministerie, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).


21      Der Gerichtshof hat allerdings präzisiert, dass die Vollstreckung des EHB die Regel darstellt, während die Ablehnung der Vollstreckung als Ausnahme ausgestaltet und eng auszulegen ist (vgl. Urteile Minister for Justice and Equality, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Openbaar Ministerie, Rn. 37).


22      Außerdem kann die Vollstreckung des EHB nur an eine der in Art. 5 dieses Rahmenbeschlusses abschließend geregelten Bedingungen geknüpft werden.


23      Vgl. in diesem Sinne Gutachten 2/13 (Beitritt der Union zur EMRK) vom 18. Dezember 2014 (EU:C:2014:2454, Rn. 191) sowie Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, im Folgenden: Urteil Aranyosi und Căldăraru, EU:C:2016:198, Rn. 82). Vgl. auch die Schlussanträge des Generalanwalts Campos Sánchez-Bordona in den verbundenen Rechtssachen L und P (Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde) (C‑354/20 PPU und C‑412/20 PPU, EU:C:2020:925, Nr. 39).


24      Vgl. Urteil Aranyosi und Căldăraru (Rn. 88, 89, 92 und 94).


25      In jenem Fall ging es um eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Häftlingen im Ausstellungsmitgliedstaat im Licht des durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandards der Grundrechte und insbesondere von Art. 4 der Charta.


26      Genauer gesagt würde die mangelnde Unabhängigkeit der Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel in diesem Mitgliedstaat (Urteil Minister for Justice and Equality, Rn. 61 bis 67) eine Verletzung des Grundrechts auf ein unabhängiges Gericht und damit des Wesensgehalts des Grundrechts auf ein faires Verfahren mit sich bringen (Rn. 75).


27      Der Gerichtshof hat insoweit klargestellt, dass die vollstreckende Justizbehörde nur dann, wenn der Europäische Rat unter den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 2 EUV eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Grundsätze wie derjenigen, die der Rechtsstaatlichkeit inhärent sind, im Ausstellungsmitgliedstaat festgestellt hat und die Anwendung des Rahmenbeschlusses 2002/584 gegenüber diesem Mitgliedstaat daraufhin vom Rat ausgesetzt worden ist, die Vollstreckung von EHBs, die von dem besagten Mitgliedstaat ausgestellt worden sind, ohne Weiteres ablehnen müsste, ohne in irgendeiner Weise konkret prüfen zu müssen, ob die betroffene Person der echten Gefahr ausgesetzt ist, dass ihr Grundrecht auf ein faires Verfahren in seinem Wesensgehalt angetastet wird (vgl. Urteil Minister for Justice and Equality, Rn. 72, und den zehnten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584).


28      Vgl. Urteil Minister for Justice and Equality (Rn. 79).


29      Der Gerichtshof hat klargestellt, dass die vollstreckende Justizbehörde unter den Umständen des Falles nicht allen Richtern oder Gerichten des Ausstellungsmitgliedstaats, die ihrem Wesen nach in völliger Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive handeln, die Eigenschaft einer ausstellenden Justizbehörde im Sinne der angeführten Vorschrift absprechen darf und dass sich die Existenz der festgestellten Mängel nicht zwangsläufig auf jede Entscheidung auswirkt, die die Gerichte dieses Mitgliedstaats im jeweiligen Einzelfall erlassen können (Urteil Openbaar Ministerie, Rn. 41 und 42).


30      Vgl. Urteil Openbaar Ministerie (Rn. 60).


31      Urteil Minister for Justice and Equality (Rn. 79). Vgl. Nr. 39 der vorliegenden Schlussanträge.


32      Vgl. Urteil Openbaar Ministerie (Rn. 61).


33      Vgl. Urteile Minister for Justice and Equality (Rn. 59) und Openbaar Ministerie (Rn. 61). Ich weise darauf hin, dass der Gerichtshof im ersten Urteil entschieden hat, dass es der vollstreckenden Justizbehörde in der fraglichen Situation gestattet sein kann, ausnahmsweise davon abzusehen, dem EHB Folge zu leisten, im zweiten Urteil aber präzisiert hat, dass die vollstreckende Justizbehörde in diesem Fall davon absehen muss, dem EHB Folge zu leisten.


34      Das vorlegende Gericht bezieht sich auf die Ernennung von Richtern auf Vorschlag der KRS gemäß dem Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die KRS und einiger anderer Gesetze vom 8. Dezember 2017.


35      C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, im Folgenden: Urteil Überprüfung Simpson, EU:C:2020:232.


36      Vgl. Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17).


37      Urteil Überprüfung Simpson (Rn. 74). Vgl. EGMR, 1. Dezember 2020, Guðmundur Andri Ástráðsson/Island (CE:ECHR:2020:1201JUD002637418, §§ 226 bis 228), und 22. Juli 2021, Reczkowicz/Polen (CE:ECHR:2021:0722JUD004344719, § 218).


38      Urteil Überprüfung Simpson (Rn. 75).


39      Urteil Überprüfung Simpson (Rn. 79).


40      C‑487/19, EU:C:2021:798 (Rn. 130).


41      Auch jene Rechtssache bezieht sich auf EHBs, die von polnischen Justizbehörden zum Zwecke der Strafverfolgung und der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellt worden sind. In seinem Vorabentscheidungsersuchen hat der Supreme Court (Oberster Gerichtshof) zum einen festgestellt, dass es ihm aufgrund eines Systems der zufälligen Rechtssachenzuweisung nicht möglich sei, die Zusammensetzung des Gerichts zu ermitteln, vor dem die Betroffenen erscheinen sollten, und zum anderen, dass diese Betroffenen die Zusammensetzung des Gerichts, vor dem sie erscheinen sollten, selbst dann nicht rechtlich anfechten könnten, wenn sie davon auszugehen hätten, dass es vorschriftswidrig zusammengesetzt sei. Das vorlegende Gericht fragt sich dementsprechend, ob die systemischen oder allgemeinen Mängel im polnischen Justizsystem so schwer wiegen, dass sie bereits als solche zu einer Verletzung des Wesensgehalts des Rechts auf ein faires Verfahren führen, was dieses Gericht im Wesentlichen vom zweiten Schritt der zweistufigen Prüfung befreien würde.


42      Vgl. Nrn. 37 bis 40 der vorliegenden Schlussanträge.


43      Vgl. Fn. 6 der vorliegenden Schlussanträge.


44      Vgl. Fn. 13 der vorliegenden Schlussanträge.


45      Ich stelle insoweit mit Bedauern fest, dass sich die Situation vor dem Hintergrund des Urteils des Verfassungsgerichtshofs seit Einreichung der vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen auf ausgesprochen beunruhigende Weise entwickelt hat.


46      Mit dieser Rechtsprechung hat der Gerichtshof nämlich festgestellt, dass mehrere Aspekte der Reformen des polnischen Justizsystems wegen der mangelnden Unabhängigkeit bestimmter Gerichte dieses Mitgliedstaats gegen das Grundrecht auf ein faires Verfahren verstoßen. Vgl. u. a. das jüngere Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. (Kammer des Obersten Gerichts für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798).


47      Vgl. Nr. 31 der vorliegenden Schlussanträge.


48      Eine etwaige Ablehnung der Vollstreckung eines EHB erfolgt insbesondere unbeschadet der Tatsache, dass, wenn das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats es gestattet, die Person, gegen die dieser EHB ergangen ist, im Vollstreckungsmitgliedstaat wegen derselben Handlungen, aufgrund deren der EHB ausgestellt worden ist, strafrechtlich verfolgt werden kann oder dass sich der Vollstreckungsmitgliedstaat möglicherweise dazu verpflichtet, die Freiheitsstrafe oder die Maßregel der Sicherung, für die der EHB ausgestellt worden ist, zu vollstrecken. Im Übrigen ist eine solche Möglichkeit in Art. 4 Nrn. 2 und 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 unter den Gründen, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann, vorgesehen.


49      Das vorlegende Gericht bezieht sich insbesondere auf die Ernennung von Richtern auf Vorschlag der KRS nach dem Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die KRS und einiger anderer Gesetze vom 8. Dezember 2017.


50      Vgl. Nr. 21 der vorliegenden Schlussanträge.


51      Ich kann insoweit nicht dem Vorbringen von X folgen, wonach es selbst in einem solchen Fall zum einen nicht ausgeschlossen sei, dass ein Gericht zu einem bestimmten Zeitpunkt nach der Übergabe mit Rechtsstreitigkeiten oder Anträgen im Zusammenhang mit der Vollstreckung von Freiheitsstrafen wie Anträgen auf Wiedereröffnung des Verfahrens, bedingte Freilassung, Strafaussetzung oder Begnadigung befasst werde, und zum anderen falsch sei, davon auszugehen, dass ein rechtskräftiges Urteil vorliege, was er gerichtlich geltend machen wolle. Die vollstreckende Justizbehörde ist meines Erachtens nämlich nicht verpflichtet, das Justizsystem des Ausstellungsmitgliedstaats grundsätzlich und hypothetisch zu prüfen, um zu vermeiden, dass die übergebene Person in einem etwaigen Folgestadium der Rechtssache möglicherweise der Gefahr ausgesetzt ist, dass über ihren Fall nicht unabhängig entschieden wird.


52      Ich möchte klarstellen, dass diese Schlussfolgerung mit der Frage nach den Auswirkungen verknüpft ist, die die vom vorlegenden Gericht angesprochenen systemischen und allgemeinen Mängel des Ausstellungsmitgliedstaats, nämlich diejenigen, die sich auf die fehlende Unabhängigkeit der Gerichte wegen Unregelmäßigkeiten bei der Ernennung mehrerer Richter beziehen, in den konkreten Fällen haben. Sie betrifft nicht die Folgen, die andere systemische oder allgemeine Mängel des Justizsystems des Ausstellungsmitgliedstaats wie etwa solche, die sich auf die Disziplinarordnung für Richter beziehen, in denselben Fällen haben könnten (vgl. Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596). In einem solchen Fall hätte – unter der Voraussetzung, dass die gesuchte Person Anhaltspunkte liefert, die konkrete Zweifel an den Auswirkungen der systemischen oder allgemeinen Mängel in Bezug auf die Disziplinarordnung für Richter auf ihre Situation wecken – die vollstreckende Justizbehörde, gegebenenfalls auf der Grundlage der Informationen, die der Ausstellungsmitgliedstaat gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 mitgeteilt hat, zu prüfen, ob es unter Berücksichtigung der einschlägigen Kriterien hinreichend Grund zu der Annahme gibt, dass die Existenz oder das Risiko von Disziplinarverfahren die Entscheidung (über die Verurteilung oder Strafverfolgung), auf die sich der EHB stützt, beeinflusst haben könnte. Aus den Vorabentscheidungsersuchen geht jedoch nicht hervor, dass diese Frage in den Ausgangsrechtssachen aufgeworfen worden wäre.


53      Vgl. zur Zuspitzung der systemischen und allgemeinen Mängel Schlussanträge des Generalanwalts Campos Sánchez-Bordona in den verbundenen Rechtssachen L und P (Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde) (C‑354/20 PPU und C‑412/20 PPU, EU:C:2020:925, Nr. 76) sowie Urteil Openbaar Ministerie (Rn. 60).


54      Dagegen wäre die Beurteilung anders ausgefallen, wenn sich diese Mängel auf einen anderen Aspekt wie beispielsweise die Vorschriften zur Gewährleistung der Zuständigkeit der ernannten Richter oder der Dauer ihrer Amtszeit bezögen (vgl. in diesem Sinne Urteil Überprüfung Simpson, Rn. 77 bis 81).


55      Ich verweise insbesondere auf den Beschluss vom 14. Juli 2021, mit dem der Republik Polen aufgegeben wurde, mehrere Bestimmungen des nationalen Rechts über die Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts bis zur Verkündung des das Verfahren in der Rechtssache C‑204/21 beendenden Urteils auszusetzen, und auf den Beschluss des Vizepräsidenten des Gerichtshofs vom 27. Oktober 2021, Kommission/Polen (C‑204/21 R, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:877), mit dem ein Zwangsgeld gegen die Republik Polen verhängt wurde, um diesen Mitgliedstaat davon abzuhalten, die Anpassung seines Verhaltens an den Beschluss hinauszuzögern. In der mündlichen Verhandlung hat der Vertreter der Republik Polen klargestellt, dass die Anwendung des fraglichen Gesetzes infolge des Beschlusses vom 14. Juli 2021 ausgesetzt worden sei, was das vorlegende Gericht zu überprüfen hat.


56      Da es sich bei den vom vorlegenden Gericht erwähnten Straftaten um nichtpolitische Straftaten – und beispielsweise nicht um solche, derentwegen die betreffenden Personen einen Eingriff der Exekutive befürchten könnten – handelt, halte ich es prima facie für unwahrscheinlich, dass die Art dieser Straftaten – als solche und unbeschadet einer konkreten Beurteilung durch dieses Gericht – vorliegend eine echte Gefahr begründen kann, dass die Fälle der betreffenden Personen nicht unabhängig verhandelt werden.


57      Das vorlegende Gericht verweist insoweit auf die am 14. Februar 2020 in Kraft getretenen Rechtsvorschriften (vgl. Nr. 21 der vorliegenden Schlussanträge). Es hat im Licht der vom Vertreter der Republik Polen in der mündlichen Verhandlung gegebenen Erläuterungen (vgl. Fn. 56 der vorliegenden Schlussanträge) zu überprüfen, ob die umstrittenen Rechtsvorschriften bei einer etwaigen Übergabe der gesuchten Personen in Kraft sein werden.


58      In diesem Zusammenhang kann es für die gesuchte Person meines Erachtens sinnvoll sein, darzutun, dass sie die Angelegenheit vor den zuständigen Stellen des Ausstellungsmitgliedstaats wann immer möglich zur Sprache gebracht und insbesondere die im Recht dieses Mitgliedstaats zulässigen Rechtsbehelfe ausgeschöpft hat und dass sie dabei – insbesondere in Bezug auf ihr Erscheinen vor dem zuständigen Gericht des Ausstellungsmitgliedstaats – mit Sorgfalt vorgegangen ist.


59      Vgl. Fn. 10 der vorliegenden Schlussanträge.


60      Im Gegensatz zu bestimmten verfassungsgerichtlichen Entscheidungen in anderen Mitgliedstaaten verweist dieses Urteil nämlich nicht einfach auf eine Kontrolle der etwaigen „ultra vires“-Natur der Urteile des Gerichtshofs, sondern stellt die das Wesen des Unionsrechts selbst betreffenden besonderen Merkmale, zu denen der Grundsatz des Vorrangs gehört, in Frage (vgl. u. a. Gutachten 2/13 [Beitritt der Union zur EMRK] vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 166).


61      Vor dem Hintergrund des Urteils vom 10. Dezember 2018, Wightman u. a. (C‑621/18, EU:C:2018:999), kann das Urteil des Verfassungsgerichtshofs eine Mitteilung im Sinne von Art. 50 EUV meines Erachtens nämlich nicht ersetzen (vgl. in diesem Sinne u. a. Repasi, R., „Poland’s withdrawal from the ‚Community of Law‘ is no withdrawal from the EU“, 15. Oktober 2021 [https://eulawlive.com], sowie Curti Gialdino, C., „In cammino verso la Polexit? Prime considerazioni sulla sentenza del Tribunale costituzionale polacco del 7 ottobre 2021“ [https://www.federalismi.it]; vgl. im gegenteiligen Sinne u. a. Hofmann, H., „Sealed, Stamped and Delivered. The Publication of the Polish Constitutional Court’s Judgement on EU Law Primacy as Notification of Intent to Withdraw under Art. 50 TEU?“, in Verfassungsblog, 13. Oktober 2021). Im Übrigen scheint die polnische Regierung bisher jede Austrittsabsicht zu verneinen (vgl. u. a. „Letter from Prime Minister Mateusz Morawiecki to the Heads of Governments and the Presidents of the European Council, the European Commission and the European Parliament on relations between national law and European law“ vom 18. Oktober 2021, verfügbar auf der Website der polnischen Regierung, https://www.gov.pl/web/primeminister/letter-from-prime-minister-mateusz-morawiecki-to-the-heads-of-governments-and-the-presidents-of-the-european-council-the-european-commission-and-the-european-parliament-on-relations-between-national-law-and-european-law).


62      Ich weise im Übrigen darauf hin, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Einstufung des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) als „auf Gesetz beruhendes Gericht“ in Frage gestellt hat, weil einige seiner Mitglieder vorschriftswidrig ernannt worden seien (vgl. EGMR, 7. August 2021, Xero Flor w Polsce sp. z o.o./Polen, CE:ECHR:2021:0507JUD000490718), und dass die Rechtmäßigkeit des Urteils des Verfassungsgerichtshofs von ehemaligen Richtern dieses Gerichts bestritten wird (vgl. „Statement of retired judges of the Constitutional Tribunal“ vom 10. Oktober 2021, http://themis-sedziowie.eu/).


63      Beispielsweise hat die Kommission die Möglichkeit, den Gerichtshof mit einer Vertragsverletzungsklage zu befassen, nicht ausgeschlossen (vgl. Erklärung der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, 21/5163, Straßburg, 8. Oktober 2021). Darüber hinaus hat die deklaratorische Natur des Urteils, mit dem das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) auf Fragen der Regierung geantwortet hat, selbst sehr kritische Anmerkungen im Zusammenhang mit der Tatsache hervorgerufen, dass dieses Urteil möglicherweise das Produkt einer instrumentellen Initiative der Regierung ist. Einige Autoren sprechen von einer „stereotypen Antwort“ auf von der polnischen Regierung gestellte Fragen, mit der eine rechtliche Krise verursacht werden soll (Atik, J., und Groussot, X., „Constitutional attack or political feint? – Poland’s resort to lawfare in Case K 3/21“, 18. Oktober 2021 [https://eulawlive.com]).


64      Vgl. in diesem Sinne Schlussanträge des Generalanwalts Campos Sánchez-Bordona in den verbundenen Rechtssachen L und P (Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde) (C‑354/20 PPU und C‑412/20 PPU, EU:C:2020:925, Nrn. 50 bis 52).


65      Ich verweise insbesondere auf den Bereich der Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen, beispielsweise auf die Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen durch Maßnahmen zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen.


66      Mit anderen Worten kann der nationale Richter eine entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts in einem solchen Fall normalerweise unangewendet lassen und gewährleisten, dass die übergebene Person die Möglichkeit hat, sich auf die von der Union garantierten und insbesondere in der Charta verbürgten Rechte zu berufen. Die einheitliche und wirksame Anwendung des Mechanismus des EHB im Unionsgebiet ist in einem solchen Fall offenkundig stark beeinträchtigt, weshalb die vollstreckenden Justizbehörden der anderen Mitgliedstaaten der Unabhängigkeit der polnischen Gerichte misstrauen und sich der Vollstreckung der von diesem Mitgliedstaat ausgestellten EHBs immer häufiger widersetzen.


67      Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts scheint dies infolge der am 14. Februar 2020 in Kraft getretenen Rechtsvorschriften, die den vom Vertreter der Republik Polen in der mündlichen Verhandlung getätigten Aussagen zufolge allerdings ausgesetzt worden sein sollen (vgl. Fn. 56 der vorliegenden Schlussanträge), der Fall zu sein, was das vorlegende Gericht zu überprüfen hat.