Language of document : ECLI:EU:C:2020:503

Rechtssache C24/19

A u. a.

gegen

Gewestelijke stedenbouwkundige ambtenaar van het departement Ruimte Vlaanderen, afdeling Oost-Vlaanderen

(Vorabentscheidungsersuchen des Raad voor Vergunningsbetwistingen)

 Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 25. Juni 2020

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2001/42/EG – Prüfung der Umweltauswirkungen – Städtebauliche Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb von Windkraftanlagen – Art. 2 Buchst. a – Begriff ‚Pläne und Programme‘ – Durch einen Erlass und ein Rundschreiben aufgestellte Voraussetzungen für die Erteilung einer Genehmigung – Art. 3 Abs. 2 Buchst. a – Nationale Rechtsakte, durch die der Rahmen für die künftige Genehmigung von Projekten gesetzt wird – Fehlende Umweltprüfung – Aufrechterhaltung der Wirkungen der nationalen Rechtsakte und der auf ihrer Grundlage erteilten Genehmigungen nach Feststellung der Unionsrechtswidrigkeit dieser Rechtsakte – Voraussetzungen“

1.        Umwelt – Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme – Richtlinie 2001/42 – Plan und Programm – Begriff – Durch einen Erlass und ein Rundschreiben aufgestellte Voraussetzungen für die Erteilung einer städtebaulichen Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb von Windkraftanlagen – Einbeziehung

(Richtlinie 2001/42 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 2 Buchst. a zweiter Gedankenstrich)

(vgl. Rn. 35, 40-43, 48, 50, 52-63, Tenor 1)

2.        Umwelt – Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme – Richtlinie 2001/42 – Geltungsbereich – Pläne und Programme, die voraussichtlich erhebliche Umweltauswirkungen haben – In den Anhängen I und II der Richtlinie 2011/92 genannte Sektoren – Durch einen Erlass und ein Rundschreiben über die Errichtung und den Betrieb von Windkraftanlagen aufgestellte Voraussetzungen betreffend Schattenwurf, Sicherheit und Geräuschpegelnormen – Einbeziehung

(Richtlinie 2001/42 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 3 Abs. 2 Buchst. a)

(vgl. Rn. 65-79, Tenor 2)

3.        Umwelt – Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme – Richtlinie 2001/42 – Plan und Programm – Keine vorherige Umweltprüfung – Städtebauliche Genehmigung, die auf der Grundlage von unter Verstoß gegen das Unionsrecht erlassener nationaler Rechtsakte erteilt wurde – Rechtsfolgen einer Unionsrechtsverletzung – Möglichkeit der Aufrechterhaltung der Wirkungen der betreffenden Rechtsakte und der Genehmigung – Voraussetzungen

(Art. 4 Abs. 3 EUV; Richtlinie 2001/42 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 1, Art. 2 Buchst. a und Art. 3 Abs. 2 Buchst. a)

(vgl. Rn. 81-95, Tenor 3)

Zusammenfassung

Ein Erlass und ein Rundschreiben, die die allgemeinen Voraussetzungen für die Erteilung einer städtebaulichen Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb von Windkraftanlagen festlegen, müssen ihrerseits zuvor einer Umweltprüfung unterzogen werden

Mit dem am 25. Juni 2020 ergangenen Urteil A u. a. (Windkraftanlagen in Aalter und Nevele) (C‑24/19) hat der Gerichtshof (Große Kammer) über die Auslegung der Richtlinie 2001/42 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme(1) befunden und dabei wichtige Erläuterungen hinsichtlich der Maßnahmen, die der durch diese Richtlinie vorgeschriebenen Prüfung unterliegen, sowie zu den Folgen einer unterbliebenen Prüfung gegeben.

Das Ersuchen um Auslegung durch den Gerichtshof erging im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Anrainern eines nahe der Autobahn E 40 auf dem Gebiet der belgischen Gemeinden Aalter und Nevele gelegenen Grundstücks, auf dem eine Windfarm entstehen soll, und dem Gewestelijke stedenbouwkundige ambtenaar van het departement Ruimte Vlaanderen, afdeling Oost-Vlaanderen (Regionaler Städtebaubeamter für den Raum Flandern, Abteilung Ost-Flandern, Belgien) wegen der von dieser Behörde erteilten städtebaulichen Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb von fünf Windkraftanlagen (im Folgenden: streitige Genehmigung). Die Erteilung der streitigen Genehmigung am 30. November 2016 erfolgte unter der Auflage u. a. der Erfüllung bestimmter durch Vorschriften eines Erlasses der flämischen Regierung und eines Rundschreibens über die Errichtung und den Betrieb von Windkraftanlagen festgelegter Voraussetzungen.

Zur Stützung ihrer Klage auf Aufhebung der streitigen Genehmigung vor dem Raad voor Vergunningsbetwistingen (Rat für Genehmigungsstreitigkeiten, Belgien) (im Folgenden: nationales Gericht) machten die Kläger insbesondere einen Verstoß gegen die Richtlinie 2001/42 geltend, da der Erlass und das Rundschreiben, auf deren Grundlage die Genehmigung erteilt worden sei, nicht Gegenstand einer Umweltprüfung gewesen seien. Der Urheber der streitigen Genehmigung vertrat dagegen die Auffassung, dass der in Rede stehende Erlass und das betreffende Rundschreiben einer solchen Prüfung nicht unterzogen werden müssten.

In seinem heutigen Urteil hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die Richtlinie 2001/42 Pläne und Programme sowie deren Änderungen erfasst, die von einer Behörde eines Mitgliedstaats ausgearbeitet oder angenommen werden, sofern sie „aufgrund von Rechts- oder Verwaltungsvorschriften erstellt werden müssen“(2). Außerdem setzt die Pflicht, einen bestimmten Plan oder ein bestimmtes Programm einer Umweltprüfung zu unterziehen, nach dieser Richtlinie voraus, dass der Plan oder das Programm im Sinne dieser Bestimmung voraussichtlich erhebliche Umweltauswirkungen hat(3).

Als Erstes hat der Gerichtshof hinsichtlich des Begriffs „Pläne und Programme, die aufgrund von Rechts- oder Verwaltungsvorschriften erstellt werden müssen“ entschieden, dass ein von der Regierung einer föderalen Einheit eines Mitgliedstaats angenommener Erlass und ein von ihr erlassenes Rundschreiben, die jeweils unterschiedliche Bestimmungen über die Errichtung und den Betrieb von Windkraftanlagen enthalten, unter diesen Begriff fallen.

Aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich nämlich, dass im Sinne und zur Anwendung der Richtlinie 2001/42 als Pläne und Programme, die „erstellt werden müssen“, jene Pläne und Programme anzusehen sind, deren Erlass in nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften geregelt ist, die die insoweit zuständigen Behörden und das Ausarbeitungsverfahren festlegen(4). Daher ist eine Maßnahme als Maßnahme, die „erstellt werden muss“, anzusehen, wenn die Befugnis zu ihrem Erlass ihre Rechtsgrundlage in einer solchen Bestimmung findet, auch wenn die Ausarbeitung der Maßnahme eigentlich nicht verpflichtend ist(5).

Das vorlegende Gericht und die Regierung des Vereinigten Königreichs haben den Gerichtshof ersucht, diese Rechtsprechung zu überdenken. Der Gerichtshof hat insoweit zunächst betont, dass bei einer Beschränkung der in Art. 2 Buchst. a zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2001/42 genannten Voraussetzung allein auf „Pläne und Programme“, deren Annahme verpflichtend ist, die Gefahr bestünde, die Tragweite dieses Begriffs zu marginalisieren und es nicht erlaubte, die praktische Wirksamkeit dieser Bestimmung zu wahren. Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Gegebenheiten und der heterogenen Praxis der nationalen Behörden sind die Annahme von Plänen und Programmen oder ihre Änderungen nämlich häufig weder generell vorgeschrieben noch zur Gänze dem Ermessen der zuständigen Behörden überlassen. Darüber hinaus erfüllt das hohe Umweltschutzniveau, das die Richtlinie 2001/42 sicherstellen soll, indem sie die Pläne und Programme, die voraussichtlich erhebliche Umweltauswirkungen haben, einer Umweltprüfung unterwirft, die Anforderungen der Verträge und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union im Bereich Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität(6). Bei einer engen Auslegung, die es einem Mitgliedstaat ermöglichen könnte, sich der Pflicht zur Umweltprüfung dadurch zu entziehen, dass er die Annahme der Pläne oder Programme nicht als Verpflichtung ausgestaltet, bestünde jedoch die Gefahr, dass diese Ziele konterkariert würden. Schließlich hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die weite Auslegung des Begriffs „Pläne und Programme“ mit den internationalen Verpflichtungen der Union im Einklang steht(7).

Sodann hat der Gerichtshof geprüft, ob der in Rede stehende Erlass und das betreffende Rundschreiben die Voraussetzung des Art. 2 Buchst. a zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2001/42 erfüllen. Insoweit hat er festgestellt, dass der Erlass von der flämischen Regierung als Exekutive einer föderalen Einheit Belgiens gemäß einer gesetzlichen Ermächtigung angenommen worden war. Außerdem stammt auch das Rundschreiben, mit dem das Ermessen der zuständigen Behörden geregelt werden soll, von der flämischen Regierung und ändert – vorbehaltlich der Prüfung seiner genauen Rechtsnatur und seines präzisen Inhalts durch das vorlegende Gericht – die Bestimmungen des Erlasses, indem es sie weiterentwickelt oder aufhebt. Daher hat der Gerichtshof den Schluss gezogen, dass der Erlass und, vorbehaltlich dieser Prüfungen, das Rundschreiben unter den Begriff „Pläne und Programme“ fallen, da davon auszugehen ist, dass sie im Sinne der Richtlinie 2001/42 „erstellt werden müssen“.

Als Zweites hat der Gerichtshof hinsichtlich der Frage, ob der Erlass und das Rundschreiben nach der Richtlinie 2001/42 einer Umweltprüfung unterzogen werden müssen, weil sie voraussichtlich erhebliche Umweltauswirkungen haben, entschieden, dass diese Rechtsakte, die jeweils unterschiedliche Bestimmungen über die Errichtung und den Betrieb von Windkraftanlagen enthalten, darunter Maßnahmen in Bezug auf Schattenwurf, Sicherheit und Geräuschpegelnormen, zu den Rechtsakten zählen, die einer solchen Prüfung unterzogen werden müssen.

Insoweit hat der Gerichtshof ausgeführt, dass die von dem in Rede stehenden Erlass und dem betreffenden Rundschreiben festgelegten Vorgaben über die Errichtung und den Betrieb von Windkraftanlagen von hinreichend signifikantem Gewicht und Ausmaß sind, um die Voraussetzungen für die Erteilung einer Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb von Windfarmen, die unbestreitbar Umweltauswirkungen haben, zu bestimmen. Diese Auslegung kann durch die besondere Rechtsnatur des Rundschreibens nicht in Frage gestellt werden.

Als Drittes schließlich hat der Gerichtshof hinsichtlich der Möglichkeit der Aufrechterhaltung der Wirkungen dieser Rechtsakte und der Genehmigung, die unter Verstoß gegen die Richtlinie 2001/42 erlassen wurden, darauf hingewiesen, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die rechtswidrigen Folgen eines solchen Verstoßes gegen das Unionsrecht zu beheben. Unter Berücksichtigung des Gebots einer einheitlichen Anwendung des Unionsrechts kann nur der Gerichtshof in Ausnahmefällen und aus zwingenden Erwägungen des Gemeinwohls eine vorübergehende Aussetzung der Verdrängungswirkung der verletzten unionsrechtlichen Bestimmung herbeiführen, sofern es dem nationalen Gericht im Rahmen des bei ihm anhängigen Rechtsstreits durch eine nationale Regelung gestattet ist, bestimmte Wirkungen solcher Rechtsakte aufrechtzuerhalten. Daher hat der Gerichtshof entschieden, dass ein nationales Gericht in einer Situation wie der im vorliegenden Fall gegebenen die Wirkungen des Erlasses und des Rundschreibens sowie der auf ihrer Grundlage erteilten Genehmigung nur dann aufrechterhalten kann, wenn ihm dies im Rahmen des bei ihm anhängigen Verfahrens durch das innerstaatliche Recht gestattet ist und wenn sich die Aufhebung der Genehmigung signifikant auf die Stromversorgung in Belgien auswirken könnte, und zwar nur während des Zeitraums, der absolut notwendig ist, um dieser Rechtswidrigkeit abzuhelfen; dies wird gegebenenfalls das vorlegende Gericht zu beurteilen haben.


1      Richtlinie 2001/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Juni 2001 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme (ABl. 2001, L 197, S. 30).


2      Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42.


3      Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/42.


4      Urteile des Gerichtshofs vom 22. März 2012, Inter-Environnement Bruxelles u. a. (C‑567/10, EU:C:2012:159, Rn. 31), vom 7. Juni 2018, Thybaut u. a. (C‑160/17, EU:C:2018:401, Rn. 43), sowie vom 12. Juni 2019, Terre wallonne (C‑321/18, EU:C:2019:484, Rn. 34).


5      Urteil des Gerichtshofs vom 7. Juni 2018, Inter-Environnement Bruxelles u. a. (C‑671/16, EU:C:2018:403, Rn. 38 bis 40).


6      Art. 3 Abs. 3 EUV, Art. 191 Abs. 2 AEUV und Art. 37 der Grundrechtecharta.


7      Wie sie sich u. a. aus Art. 2 Abs. 7 des am 26. Februar 1991 in Espoo (Finnland) unterzeichneten Übereinkommens über die Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen ergeben.