Language of document : ECLI:EU:C:2017:15

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MACIEJ SZPUNAR

vom 12. Januar 2017(1)

Rechtssache C48/16

ERGO Poist’ovňa, a.s.

gegen

Alžbeta Barlíková

(Vorabentscheidungsersuchen des Okresný súd Dunajská Streda [Bezirksgericht Dunajská Streda, Slowakei])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Selbständige Handelsvertreter – Richtlinie 86/653/EWG – Art. 11 – Provisionsanspruch – Erlöschen – Teilweise Nichtausführung eines Vertrags zwischen dem Dritten und dem Unternehmer – Bedeutung von Umständen die vom Unternehmer nicht zu vertreten sind“






1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen des Okresný súd Dunajská Streda (Bezirksgericht Dunajská Streda, Slowakei) gibt dem Gerichtshof die Möglichkeit, einige zentrale Begriffe von Art. 11 der Richtlinie 86/653/EWG(2) klarzustellen in Bezug auf die Frage, welche Vergütung ein Handelsvertreter erhält, wenn ein Vertrag zwischen einem Unternehmer und einem Dritten teilweise nicht ausgeführt wird.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

2.        Art. 11 der Richtlinie 86/653 lautet:

„(1)      Der Anspruch auf Provision erlischt nur, wenn und soweit

–        feststeht, dass der Vertrag zwischen dem Dritten und dem Unternehmer nicht ausgeführt wird, und

–        die Nichtausführung nicht auf Umständen beruht, die vom Unternehmer zu vertreten sind.

(2)      Vom Handelsvertreter bereits empfangene Provisionen sind zurückzuzahlen, falls der Anspruch darauf erloschen ist.

(3)      Vom Absatz 1 darf nicht durch Vereinbarungen zum Nachteil des Handelsvertreters abgewichen werden.“

 Slowakisches Recht

3.        Die Richtlinie 86/653 wurde durch die §§ 652 ff. des Obchodný zákonník (Handelsgesetzbuch, Gesetz Nr. 513/1991) in die Rechtsordnung der Slowakischen Republik umgesetzt.

4.        In § 652 Abs. 1 und 5 heißt es:

„(1)      Durch den Handelsvertretervertrag verpflichtet sich der Handelsvertreter, als Gewerbetreibender für den Unternehmer eine auf den Abschluss von Verträgen bestimmten Typs (im Folgenden: Geschäfte) abzielende Tätigkeit auszuüben oder Geschäfte im Namen des Unternehmers und für dessen Rechnung auszuhandeln und abzuschließen, und der Unternehmer verpflichtet sich, dem Handelsvertreter eine Provision zu zahlen.

(5)      Vorbehaltlich anderer Bestimmungen in diesem Kapitel gelten für den Handelsvertretervertrag die Bestimmungen über den Vermittlungsvertrag.“

5.        Des Weiteren heißt es in § 801 des Občianský zákonník (zákon č. 40/1964 Zb.) (Zivilgesetzbuch, Gesetz Nr. 40/1964, Slg.):

„(1)      Die Versicherung erlischt auch dadurch, dass die Prämie für den ersten Versicherungszeitraum oder die einmalige Prämie nicht innerhalb von drei Monaten seit ihrer Fälligkeit gezahlt worden ist.

(2)      Die Versicherung erlischt auch dadurch, dass die Prämie für einen weiteren Versicherungszeitraum nicht innerhalb von einem Monat seit der Zustellung der Zahlungsaufforderung des Versicherers gezahlt wird, sofern die Prämie nicht vor der Zustellung dieser Aufforderung gezahlt worden ist. …“

 Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

6.        Am 13. März 2012 schlossen ERGO, eine Versicherungsgesellschaft (die Klägerin des Ausgangsverfahrens), und Frau Alžbeta Barlíková (die Beklagte des Ausgangsverfahrens) einen als „Vermittlungsvertrag mit einem gebundenen Finanzvertreter“ bezeichneten Vertrag.

7.        Nach dem Vertrag übte Frau Barlíková die Tätigkeit der Versicherungsvermittlung als eine gebundene Finanzvertreterin für ERGO aus. „Vermittlung“ im Sinne des Vertrags bestand im Unterbreiten eines Antrags auf Abschluss eines Versicherungsvertrags mit einem Dritten (im Folgenden: Kunde), dem Abschluss des Versicherungsvertrags mit dem Kunden und der Ausführung weiterer auf den Abschluss eines Versicherungsvertrags mit dem Kunden gerichteter Tätigkeiten. Frau Barlíková war bevollmächtigt, im Namen von ERGO Verträge abzuschließen und zu unterzeichnen.

8.        Nach dem Vertrag war eine Vermittlung erfolgreich, wenn der Kunde die vereinbarte Versicherungsprämie an ERGO gezahlt hatte. Des Weiteren oblag Frau Barlíková die aktive Kundenakquise, die Analyse und die Benachrichtigung von Kunden.

9.        Frau Barlíková sollte bei erfolgreicher Vermittlung eines Versicherungsvertrags eine Abschlussprovision in Form eines bestimmten Prozentsatzes der Versicherungssumme oder der jährlichen Versicherungsprämien erhalten. Die Provision war bei Abschluss eines Versicherungsvertrags im Voraus an Frau Barlíková zu zahlen und unterlag der Bedingung, dass der Versicherungsvertrag weiterbestand und der Kunde die Versicherungsprämien eine bestimmte Zeit lang (drei bzw. fünf Jahre) zahlte. Wurde die Versicherungsprämie bereits für den ersten Monat nicht gezahlt, so erlosch der Provisionsanspruch für den entsprechenden Versicherungsvertrag. In dem Fall, dass der Kunde, unabhängig aus welchem Grund, nach drei Monaten die Zahlungen der Versicherungsprämien abbrach, wurde die Provision anteilsmäßig gekürzt.

10.      Frau Barlíková suchte für ERGO mehrere Kunden aus, die mit dieser Versicherungsgesellschaft Versicherungsverträge abschlossen. Auf dieser Grundlage wurden ihr vorläufig (als Vorauszahlung) Provisionen gezahlt. Als einige der Kunden innerhalb von drei bis sechs Monaten nach Abschluss der Versicherungsverträge die Zahlung der vereinbarten Prämien einstellten und ERGO die Kunden vergeblich zur Zahlung aufgefordert hatte, erloschen die Versicherungsverträge kraft Gesetzes. Einige der Kunden hatten ihre Zahlungen eingestellt, weil sie zu ERGO „das Vertrauen verloren“ hatten.

11.      Nach dem Erlöschen der Versicherungsverträge berechnete ERGO Frau Barlíková Stornoprovisionen auf der Grundlage der oben angeführten Vorschriften von insgesamt 11 421,42 Euro, die Frau Barlíková nicht zahlte. ERGO ging daraufhin vor Gericht.

12.      Frau Barlíková macht in ihrem Vortrag geltend, dass das Erlöschen der einzelnen Versicherungsverträge von ERGO selbst verschuldet sei. Sie ist der Meinung, dass ERGO Kunden unangemessen behandelt habe. ERGO habe ihnen auch nach Abschluss des Vertrags sehr viele Fragen gestellt und Mahnungen zugesandt, obwohl die Prämien gezahlt worden seien. Infolgedessen hätten die Kunden das Vertrauen zu ERGO als Versicherungsgesellschaft verloren und aufgehört, die Prämien zu zahlen. In diesem Sinne hätten sich Kunden in Briefen an ERGO geäußert.

13.      Das vorlegende Gericht möchte feststellen, ob nach Art. 11 der Richtlinie 86/653 in einem Fall, wie er dem Gericht vorliegt, ein Handelsvertreter eine bereits gezahlte Provision behalten darf.

14.      Im Rahmen dieses Verfahrens hat der Okresný súd Dunajská Streda (Bezirksgericht Dunajská Streda) mit Beschluss vom 23. November 2015, eingegangen beim Gerichtshof am 27. Januar 2016, die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Ist die Wendung „der Vertrag zwischen dem Dritten und dem Unternehmen nicht ausgeführt wird“ in Art. 11 der Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter (im Folgenden: Richtlinie 86/653) dahin auszulegen, dass darunter:

a)      die vollständige Nichtausführung des Vertrags, also, dass weder der Unternehmer noch der Dritte die im Vertrag vorgesehenen Leistungen, auch nicht teilweise, erbringen, oder

b)      auch die teilweise Nichtausführung des Vertrags, also, dass beispielsweise der vorgesehene Geschäftsumfang nicht erreicht wird oder der Vertrag gegebenenfalls eine kürzere als die vorgesehene Laufzeit hat, zu verstehen ist?

2.      Sofern die Auslegung nach Buchst. b der Frage Nr. 1 richtig ist, ist Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 86/653 dahin auszulegen, dass eine Klausel des Handelsvertretervertrags, wonach der Vertreter zur anteiligen Rückzahlung seiner Provision verpflichtet ist, wenn der Vertrag zwischen dem Unternehmer und dem Dritten nicht in dem vorgesehenen Umfang bzw. nicht in dem im Handelsvertretervertrag festgelegten Umfang ausgeführt wird, keine Abweichung zum Nachteil des Vertreters darstellt?

3.      Sind in Fällen wie denen des Ausgangsrechtsstreits bei der Beurteilung des „Vertretenmüssens des Unternehmers“ im Sinne von Art. 11 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 86/653

a)      nur die rechtlichen Umstände zu prüfen, die unmittelbar zur Beendigung des Vertrags führen (beispielsweise, dass der Vertrag wegen Nichterfüllung der vertraglichen Verpflichtungen durch den Dritten beendet worden ist), oder

b)      ist auch zu prüfen, ob diese rechtlichen Umstände nicht eine Folge des Verhaltens des Unternehmers in der Rechtsbeziehung mit dem Dritten sind, die zu einem Vertrauensverlust des Dritten in den Unternehmer geführt und folglich den Dritten veranlasst haben, seine Pflichten aus dem Vertrag mit dem Unternehmer zu verletzen?

15.      Schriftliche Stellungnahmen haben die Regierungen der Slowakei und Deutschlands sowie die Kommission abgegeben.

 Würdigung

 Zuständigkeit des Gerichtshofs

16.      Nach Art. 1 der Richtlinie 86/653 sollen durch die Richtlinie die nationalen Maßnahmen harmonisiert werden, die die Rechtsbeziehungen zwischen Handelsvertretern und ihren Unternehmern regeln, wenn Erstere für andere „den Verkauf oder Ankauf von Waren vermitteln“(3). Im Ausgangsverfahren geht es jedoch nicht um den Verkauf von Waren, sondern von (Versicherungs-) Dienstleistungen. Demnach sind die Bestimmungen der Richtlinie 86/653 hier nicht anwendbar.

17.      Es könnte daher fraglich sein, ob der Gerichtshof in solch einem Fall, der sich offensichtlich außerhalb des vom Unionsgesetzgeber gesteckten Rahmens abspielt, überhaupt für eine Vorabentscheidung zuständig ist. Schließlich unterscheiden sich (materielle) Waren erheblich von (immateriellen) Dienstleistungen.

18.      Allerdings hat sich der Gerichtshof im Hinblick auf die Richtlinie 86/653 bereits mit dieser Frage befasst. Richten sich nationale Rechtsvorschriften wegen der Lösungen, die sie für rein innerstaatliche Situationen vorsehen, nach den im Unionsrecht angewandten Lösungen, um insbesondere das Auftreten von Diskriminierungen oder etwaigen Wettbewerbsverzerrungen zu verhindern, besteht nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ein unbestreitbares Interesse der Europäischen Union daran, dass zur Vermeidung künftiger Auslegungsdivergenzen die vom Unionsrecht übernommenen Bestimmungen oder Begriffe unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie anzuwenden sind, einheitlich ausgelegt werden(4).

19.      In diesem Sinne hat der Gerichtshof in Bezug auf das belgische Recht der Handelsvertreterverträge ausdrücklich festgestellt: „Die Frage des vorlegenden Gerichts betrifft zwar keinen Vertrag über den Ver- oder Ankauf von Waren, sondern einen Handelsvertretervertrag über den Betrieb eines [D]ienstes, …; der belgische Gesetzgeber hat bei der Umsetzung der Bestimmungen dieser Richtlinie in innerstaatliches Recht jedoch entschieden, diese beiden Arten von Fällen gleich zu behandeln“(5).

20.      Wie die slowakische Regierung betont, wurde das betreffende nationale Recht verabschiedet, um die Richtlinie 86/653 umzusetzen. Damit beabsichtigte der slowakische Gesetzgeber Handelsvertreter, die Waren verkaufen, genauso zu behandeln wie Handelsvertreter, die Dienstleistungen verkaufen.

21.      Infolgedessen halte ich den Gerichtshof für zuständig, die vorgelegten Fragen zu beantworten.

 Zu Frage 1

22.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht in Erfahrung bringen, ob nach einer korrekten Auslegung von Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 86/653 das Recht eines Handelsvertreters auf eine Provision auch dann erlischt, wenn ein Vertrag teilweise nicht ausgeführt wurde.

 Wortlaut von Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 86/653

23.      Nach Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 86/653 erlischt der Provisionsanspruch des Handelsvertreters nur, wenn und soweit feststeht, dass der Vertrag zwischen dem Kunden und dem Unternehmer nicht ausgeführt wird, und die Nichtausführung nicht auf Umständen beruht, die vom Unternehmer zu vertreten sind.

24.      In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits festgestellt: „Dieser einzige Grund für das Erlöschen des Provisionsanspruchs, der das Zusammentreffen zweier Merkmale erfordert, die sich ausdrücklich auf den Unternehmer beziehen, unterstreicht die Bedeutung, die dessen Rolle für das Bestehen des Provisionsanspruchs zukommt.“(6)

25.      Der Ausdruck „soweit“ weist darauf hin, dass zwischen vollständiger und teilweiser Nichtausführung des Vertrags ein Unterschied zu machen ist, da ansonsten dieser Ausdruck überflüssig wäre.

26.      Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 86/653 ist in den meisten Sprachfassungen ähnlich abgefasst(7). Einige wenige Sprachfassungen, darunter auch die slowakische, enthalten jedoch die Einschränkung „soweit“ nicht(8).

27.      Verschiedene Sprachfassungen unionsrechtlicher Vorschriften sind gleichermaßen authentisch(9). Die Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift erfordert somit einen Vergleich ihrer sprachlichen Fassungen(10). Die verschiedenen Sprachfassungen eines unionsrechtlichen Textes müssen darüber hinaus einheitlich ausgelegt werden(11).

28.      Nachdem die meisten Sprachfassungen von Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie den Ausdruck „soweit“ enthalten, scheint es mir recht eindeutig, dass der Unionsgesetzgeber die Vorschrift genau so meinte. Hierfür spricht auch, dass alle zum Zeitpunkt der Annahme der Richtlinie 86/653 existierenden Sprachfassungen – mit Ausnahme der griechischen – diesen Zusatz enthalten.

29.      Wegen der bestehenden Abweichung zwischen den einzelnen Sprachfassungen muss jedoch die in Frage stehende Vorschrift anhand der allgemeinen Systematik und des Zwecks der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört(12).

 Zweck und allgemeine Systematik der Richtlinie 86/653

30.      Wie dargelegt, handelt Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 86/653 vom Erlöschen von Provisionsansprüchen. Umgekehrt handeln Art. 7 Abs. 1 und Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 86/653 vom Entstehen bzw. von der Fälligkeit eines Provisionsanspruchs. Diese Vorschriften behandeln demnach sozusagen das Gegenstück zum Erlöschen des Rechts.

31.      Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie stellt in diesem Zusammenhang klar, dass der Anspruch auf Provision besteht, sobald und soweit eines von mehreren Ereignissen eintritt(13). Da diese Vorschrift gleichsam das Spiegelbild von Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 86/653 ist, sollten beide Vorschriften in vergleichbarer Weise ausgelegt werden.

32.      Außerdem hat ein Handelsvertreter nach Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 86/653 einen Anspruch auf Ausgleich, wennund soweit bestimmte Voraussetzungen vorliegen.

33.      Dieser Ausgleichsanspruch ist eng mit dem Provisionsanspruch verbunden, da er zur Vergütung des Geschäfts- und Firmenwerts, den der Handelsvertreter dem Unternehmer eingebracht hat, und der fortdauernden finanziellen Vorteile aus der Tätigkeit des Handelsvertreters dient.

34.      Auf einer allgemeineren Ebene zielt die Richtlinie 86/653 auf die Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Rechtsbeziehungen zwischen den Parteien eines Handelsvertretervertrags(14). Nach dem zweiten Erwägungsgrund dieser Richtlinie dient sie u. a. der Vereinheitlichung der Wettbewerbsbedingungen innerhalb der Union, der Aufhebung der Beschränkungen der Ausübung des Handelsvertreterberufs und der Stärkung der Sicherheit im Handelsverkehr(15).

35.      Darüber hinaus hat der Gerichtshof wiederholt klargestellt, dass die Richtlinie insbesondere die Interessen der Handelsvertreter gegenüber den Unternehmern schützen soll und zu diesem Zweck u. a. Regeln über Abschluss und Beendigung des Handelsvertretervertrags festlegt (Art. 13 bis 20 der Richtlinie)(16). In Bezug auf die Art. 17 bis 19 der Richtlinie 86/653 hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Richtlinie zwingendes Recht(17) im Hinblick auf Mindestschutzanforderungen für Handelsvertreter setzt(18).

36.      Ich verstehe im Übrigen die ursprüngliche Logik der Richtlinie dahin gehend, dass damit vergleichbare Bedingungen für Unternehmer geschaffen werden sollten, die ihre Tätigkeit im Binnenmarkt über Handelsvertreter ausüben: Um in Geschäfte zu investieren und diese durchzuführen, müssen Unternehmer wissen, welchen Regelungen sie in Bezug auf Schadensersatz und Vergütung der Handelsvertreter unterliegen(19).

37.      Hierzu etabliert die Richtlinie 86/653 ein System, das für einen gerechten Interessenausgleich zwischen Unternehmern und Handelsvertretern sorgen soll.

38.      Im Folgenden sollte das in Kapitel III(20) der Richtlinie festgelegte Vergütungssystem näher betrachtet werden.

39.      Nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 86/653 gilt, dass bei Fehlen einer diesbezüglichen Vereinbarung zwischen den Parteien und unbeschadet der Anwendung der verbindlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten über die Höhe der Vergütungen der Handelsvertreter Anspruch auf eine Vergütung hat, die an dem Ort, an dem er seine Tätigkeit ausübt, für die Vertretung von Waren, die den Gegenstand des Handelsvertretervertrags bilden, üblich ist.

40.      Gemäß Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 86/653 gilt jeder Teil der Vergütung, der je nach Zahl oder Wert der Geschäfte schwankt, als Provision im Sinne der Richtlinie.

41.      Nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie hat ein Handelsvertreter für ein während des Vertragsverhältnisses abgeschlossenes Geschäft dann Anspruch auf die Provision, wenn der Geschäftsabschluss auf seine Tätigkeit zurückzuführen ist.

42.      Art. 10 der Richtlinie bestimmt, welche Ereignisse zur Entstehung des Provisionsanspruchs führen(21). Nach seinem Abs. 1 besteht die Provision, sobald und soweit der Unternehmer oder der Dritte das Geschäft ausgeführt haben oder der Unternehmer das Geschäft hätte ausführen sollen.

43.      Schließlich sollte berücksichtigt werden, dass der vorliegende Fall ein Dauerschuldverhältnis zwischen dem Unternehmer und den Dritten betrifft. Dies liegt in der Natur eines Versicherungsvertrags. Hierbei wäre es meiner Ansicht nach kein durchführbarer Ansatz, eine vollständige Nichtausführung zu verlangen, da damit bei einem Dauerschuldverhältnis das Risiko systematisch und ausnahmslos beim Unternehmer läge, wenn der Vertrag nicht wie vorgesehen ausgeführt würde. Dies entspräche nicht dem Interessenausgleich zwischen dem Handelsvertreter und dem Unternehmer, wie er in der Richtlinie 86/653 festgelegt ist.

 Antwortvorschlag für Frage 1

44.      Nach dem bisher Dargelegten ist Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 86/653 dahin auszulegen, dass das Recht eines Handelsvertreters auf eine Provision auch dann erlischt, wenn ein Vertrag teilweise nicht ausgeführt wurde.

 Zu Frage 2

45.      Mit seiner zweiten Frage bittet das vorlegende Gericht um Klärung, ob Art. 11 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 86/653 einer Klausel des Handelsvertretervertrags entgegensteht, wonach der Vertreter zur anteiligen Rückzahlung seiner Provision verpflichtet ist, wenn der Vertrag zwischen dem Unternehmer und dem Dritten nicht in dem vorgesehenen Umfang bzw. nicht in dem im Handelsvertretervertrag festgelegten Umfang ausgeführt wird.

46.      Nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie sind vom Handelsvertreter bereits empfangene Provisionen zurückzuzahlen, falls der Anspruch darauf erloschen ist.

47.      Dies kann natürlich nur in dem Umfang gelten, in dem das Recht erloschen ist.

48.      Art. 11 Abs. 3 der Richtlinie bestimmt seinerseits, dass von Art. 11 Abs. 1 nicht durch Vereinbarungen zum Nachteil des Handelsvertreters abgewichen werden darf.

49.      Nach meinem Verständnis bedeutet dies auch, dass kein Verstoß gegen Art. 11 Abs. 3 der Richtlinie vorliegt, solange die Parteien nicht von den klaren Grundsätzen des Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie abgewichen sind, und zwar, dass der Provisionsanspruch nur erlischt, wenn und soweit 1. feststeht, dass der Vertrag zwischen dem Dritten und dem Unternehmer nicht ausgeführt wird, und 2. die Nichtausführung nicht auf Umständen beruht, die vom Unternehmer zu vertreten sind.

50.      Die Antwort auf die zweite Frage sollte demnach sein, dass Art. 11 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 86/653 nicht einer Klausel in einem Handelsvertretervertrag entgegensteht, wonach der Vertreter zur anteiligen Rückzahlung seiner Provision verpflichtet ist, wenn der Vertrag zwischen dem Unternehmer und dem Dritten nicht in dem vorgesehenen Umfang bzw. nicht in dem im Handelsvertretervertrag festgelegten Umfang ausgeführt wird. Eine solche Klausel darf nicht dazu führen, dass die Bedingungen des Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie zum Nachteil des Handelsvertreters ausgelegt werden.

 Zu Frage 3

51.      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Ausdruck „nicht … vom Unternehmer zu vertreten“ (in der englischen Sprachfassung: „the principal is not to blame“) im Rahmen des Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 86/653 sich einzig auf die rechtlichen Umstände bezieht, die unmittelbar zur Beendigung des Vertrags führen, oder auch auf ein Verhalten des Unternehmers in der Rechtsbeziehung mit dem Dritten.

52.      Nach slowakischem Recht ist die Nichtzahlung der vereinbarten Prämie einfach eine Möglichkeit, einen Vertrag zu beenden. Daher hat das vorlegende Gericht zu prüfen, inwieweit das Verhalten eines Unternehmers in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist.

53.      Der Wortlaut von Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie gibt hierzu keine ausreichende Antwort, da der Ausdruck „nicht … zu vertreten“ (in der englischen Sprachfassung: „the principal is not to blame“) nicht hinreichend klarstellt, was genau der Unternehmer nicht zu vertreten hat(22). Der Ausdruck ist auch nicht an anderer Stelle in der Richtlinie näher bestimmt.

54.      Nach ständiger Rechtsprechung müssen die Begriffe einer unionsrechtlichen Bestimmung, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten(23).

55.      Vergleicht man den Wortlaut von Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 86/653 mit dem von Art. 18 der Richtlinie, zeigt sich ein leicht unterschiedliches Bild.

56.      In Art. 18 ist geregelt, unter welchen Umständen ein Anspruch des Handelsvertreters auf Ausgleich oder Schadensersatz nach Beendigung des Vertragsverhältnisses nicht besteht. Nach Art. 18 Buchst. a der Richtlinie besteht der Anspruch auf Ausgleich oder Schadensersatz nicht, „wenn der Unternehmer den Vertrag wegen eines schuldhaften Verhaltens des Handelsvertreters beendet hat, das aufgrund der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften eine fristlose Beendigung des Vertrages rechtfertigt“(24).

57.      Wenn auch fraglich sein könnte, ob schuldhaftes Verhalten („default“ in der englischen Sprachfassung) weiter reicht als Vertretenmüssen („blame“ in der englischen Sprachfassung)(25), so scheint mir hier doch die Verbindung zu den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften entscheidend. Eine solche Verbindung findet sich nicht in Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie, weswegen der Ausdruck „Vertretenmüssen“ in Bezug auf den Unternehmer dort weiter ausgelegt werden sollte als der Ausdruck „schuldhaftes Verhalten“ in Art. 18 Buchst. a in Bezug auf den Handelsvertreter.

58.      Wir müssen darüber hinaus Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie mit Blick auf das Ziel dieser Richtlinie und das damit eingeführte System auslegen(26). In diesem Zusammenhang sollte der Begriff „Vertretenmüssen“ autonom ausgelegt werden.

59.      Das dem Handelsvertretervertrag im Allgemeinen zugrunde liegende innerstaatliche Vertragsrecht weist große Unterschiede auf. In einigen Fällen kann es ausreichen, dass eine Partei einfach eine vereinbarte Prämie nicht zahlt, um den Vertrag zu beenden. Um die Bedeutung des Ausdrucks „Vertretenmüssen“ festzustellen, sind daher Elemente zu berücksichtigen, die außerhalb der rechtlichen Beendigungsgründe für den Vertrag liegen, da diese Gründe oftmals keine Hinweise in Hinsicht auf das mögliche Vertretenmüssen enthalten.

60.      Ein Unternehmer hat die Risiken zu vertreten, die in seinem Einflussbereich erwachsen. Hierzu können und müssen alle Sachverhaltselemente des jeweiligen Falles berücksichtigt werden. Bei einer solchen Prüfung hat das nationale Gericht die einschlägigen Handelsbräuche zu berücksichtigen.

61.      Die Antwort auf die dritte Frage sollte daher sein, dass der Ausdruck „nicht … vom Unternehmer zu vertreten“ im Rahmen des Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 86/653 sich nicht einzig auf rechtliche Umstände bezieht, die unmittelbar zur Beendigung des Vertrags führen, sondern auch auf ein Verhalten des Unternehmers in der Rechtsbeziehung mit dem Dritten.

 Ergebnis

62.      Nach alledem schlage ich vor, auf die Fragen des Okresný súd Dunajská Streda (Bezirksgericht Dunajská Streda, Slowakei) wie folgt zu antworten:

Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter ist dahin auszulegen, dass das Recht eines Handelsvertreters auf eine Provision auch dann erlischt, wenn ein Vertrag teilweise nicht ausgeführt wurde.

Art. 11 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 86/653 steht einer Klausel in einem Handelsvertretervertrag nicht entgegen, wonach der Vertreter zur anteiligen Rückzahlung seiner Provision verpflichtet ist, wenn der Vertrag zwischen dem Unternehmer und dem Dritten nicht in dem vorgesehenen Umfang bzw. nicht in dem im Handelsvertretervertrag festgelegten Umfang ausgeführt wird. Eine solche Klausel darf nicht dazu führen, dass die Bedingungen des Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie zum Nachteil des Handelsvertreters ausgelegt werden.

Der Ausdruck „nicht …vom Unternehmer zu vertreten“ im Rahmen des Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 86/653 bezieht sich nicht einzig auf rechtliche Umstände, die unmittelbar zur Beendigung des Vertrags führen, sondern auch auf ein Verhalten des Unternehmers in der Rechtsbeziehung mit dem Dritten.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Richtlinie des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter (ABl. 1986, L 382, S. 17).


3      Hervorhebung nur hier.


4      Insbesondere in Bezug auf die Richtlinie 86/653 ist dies ständige Rechtsprechung seit dem Urteil vom 16. März 2006, Poseidon Chartering (C‑3/04, EU:C:2006:176, Rn. 14 bis 19). Vgl. auch Urteil vom 17. Oktober 2013, Unamar (C‑184/12, EU:C:2013:663, Rn. 30).


5      Urteil vom 17. Oktober 2013, Unamar (C‑184/12, EU:C:2013:663, Rn. 30).


6      Urteil vom 17. Januar 2008, Chevassus-Marche (C‑19/07, EU:C:2008:23, Rn. 20).


7      Vgl. z. B. die spanische („en la medida“), die dänische („i det omfang“), die estnische („ulatuses“), die englische („to the extent that“), die französische („dans la mesure où“), die italienische („nella misura in cui“), die litauische („tik tiek, kiek“), die maltesische („sal-limiti li“), die niederländische („voor zover“), die polnische („o ile“), die portugiesische („na medida em que“) und die rumänische „(în măsura în care“) Sprachfassung.


8      Vgl. die tschechische, die lettische und die slowakische Fassung.


9      Vgl. Urteil vom 6. Oktober 1982, Cilfit u. a. (283/81, EU:C:1982:335, Rn. 18).


10      Ebd.


11      Vgl. beispielsweise Urteile vom 30. Mai 2013, Genil 48 und Commercial Hostelera de Grandes Vinos (C‑604/11, EU:C:2013:344, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 6. September 2012, Parlament/Rat (C‑490/10, EU:C:2012:525, Rn. 68).


12      Vgl. Urteil vom 14. Juni 2007, Euro Tex (C‑56/06, EU:C:2007:347, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).


13      Der Unternehmer hat das Geschäft ausgeführt oder hätte es nach dem Vertrag mit dem Dritten ausführen sollen oder der Dritte hat das Geschäft ausgeführt.


14      Vgl. Urteile vom 30. April 1998, Bellone (C‑215/97, EU:C:1998:189, Rn. 10), vom 13. Juli 2000, Centrosteel(C‑456/98, EU:C:2000:402, Rn. 13), vom 23. März 2006, Honyvem Informazioni Commerciali (C‑465/04, EU:C:2006:199, Rn. 18), vom 26. März 2009, Semen (C‑348/07, EU:C:2009:195, Rn. 14), und vom 17. Oktober 2013, Unamar (C‑184/12, EU:C:2013:663, Rn. 36). Vgl. auch z. B. Fock, T., Die europäische Handelsvertreter-Richtlinie, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, 2001, S. 25.


15      Vgl. Urteile vom 30. April 1998, Bellone (C‑215/97, EU:C:1998:189, Rn. 17), vom 9. November 2000, Ingmar (C‑381/98, EU:C:2000:605, Rn. 23), vom 23. März 2006, Honyvem Informazioni Commerciali (C‑465/04, EU:C:2006:199, Rn. 19), und vom 17. Oktober 2013, Unamar (C‑184/12, EU:C:2013:663, Rn. 37).


16      Vgl. Urteile vom 30. April 1998, Bellone (C‑215/97, EU:C:1998:189, Rn. 13), vom 9. November 2000, Ingmar (C‑381/98, EU:C:2000:605, Rn. 20 und 21), vom 23. März 2006, Honyvem Informazioni Commerciali (C‑465/04, EU:C:2006:199, Rn. 19 und 22), vom 17. Januar 2008, Chevassus-Marche (C‑19/07, EU:C:2008:23, Rn. 22), und vom 26. März 2009, Semen (C‑348/07, EU:C:2009:195, Rn.14).


17      Vgl. Urteile vom 9. November 2000, Ingmar (C‑381/98, EU:C:2000:605, Rn. 21 und 22), vom 23. März 2006, Honyvem Informazioni Commerciali (C‑465/04, EU:C:2006:199, Rn. 22 und 34), und vom 17. Oktober 2013, Unamar (C‑184/12, EU:C:2013:663, Rn. 40).


18      Vgl. Urteil vom 17. Oktober 2013, Unamar (C‑184/12, EU:C:2013:663, Rn. 52). Vgl. auch Rott-Pietrzyk, E., Agent Handlowy – Regulacje Polskie i Europejskie, C. H. Beck, Warschau, 2006, S. 68.


19      Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Agro (C‑507/15, EU:C:2016:809, Nr. 56).


20      Art. 6 bis 12 der Richtlinie 86/653.


21      Vgl. Urteil vom 17. Januar 2008, Chevassus-Marche (C‑19/07, EU:C:2008:23, Rn. 18).


22      Abgesehen hiervon lassen es einige Sprachfassungen von Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 86/653 offen, ob ein schuldhaftes Verhalten des Unternehmers erforderlich ist. Während mir dies in Bezug auf die englische Fassung recht klar erscheint („blame“), kann dies etwa von der französischen nicht gesagt werden, wo vielmehr auf die Frage abgestellt wird, ob die Verantwortung dem Unternehmer zugeschrieben werden kann („l’inexécution n’est pas due à des circonstances imputables au commettant“). Die slowakische Sprachfassung scheint der englischen insofern zu ähneln, als auch in ihr ein Schuldelement enthalten ist.


23      Vgl. Urteil vom 16. Juli 2015, Abcur (C‑544/13 und C‑545/13, EU:C:2015:481, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).


24      Hervorhebung nur hier.


25      Und auch hier weichen die Sprachfassungen voneinander ab. So spricht die deutsche Sprachfassung von „schuldhaftem Verhalten“, während die französische auch hier auf die „Zuschreibung der Verantwortung“ („un manquement imputable“) abstellt.


26      Vgl. in Bezug auf Art. 17 der Richtlinie 86/653 Urteil vom 3. Dezember 2015, Quenon K (C‑338/14, EU:C:2015:795, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).