Language of document : ECLI:EU:C:2014:2224

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

17. September 2014(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Wettbewerb – Staatliche Beihilfen – Art. 107 Abs. 1 AEUV – Begriff ‚Beihilfe‘ – Bürgschaften, die von einem öffentlichen Unternehmen gegenüber einer Bank für die Kreditvergabe an Dritte übernommen worden sind – Bürgschaften, die vom Leiter dieses öffentlichen Unternehmens bewusst unter Missachtung der satzungsmäßigen Vorschriften des Unternehmens übernommen worden sind – Mutmaßliche Ablehnung durch die Trägerkörperschaft des genannten Unternehmens – Zurechenbarkeit der Bürgschaften an den Staat“

In der Rechtssache C‑242/13

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Niederlande) mit Entscheidung vom 26. April 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 29. April 2013, in dem Verfahren

Commerz Nederland NV

gegen

Havenbedrijf Rotterdam NV

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter J. L. da Cruz Vilaça, G. Arestis, J.-C. Bonichot und A. Arabadjiev (Berichterstatter),

Generalanwalt: M. Wathelet,

Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. März 2014,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Commerz Nederland NV, vertreten durch R. Wesseling, advocaat,

–        der Havenbedrijf Rotterdam NV, vertreten durch E. Pijnacker Hordijk und A. Kleinhout, advocaten,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Noort und M. Bulterman als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch P.-J. Loewenthal und S. Noë als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. Mai 2014

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 107 Abs. 1 AEUV.

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Commerz Nederland NV (im Folgenden: Commerz Nederland) und der zu 100 % im Eigentum der Gemeinde Rotterdam (Niederlande) stehenden Hafenbetreiberin Havenbedrijf Rotterdam NV (im Folgenden: Havenbedrijf Rotterdam) insbesondere über die Gültigkeit von Bürgschaften, die der alleinige Geschäftsführer dieses Unternehmens in dessen Namen und unter Missachtung der Satzung des Unternehmens gegenüber Commerz Nederland übernommen hat, damit diese für Dritte Kreditfazilitäten bereitstellt.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

3        Commerz Nederland räumte der RDM Vehicles BV (im Folgenden: RDM Vehicles) durch Vertrag vom 5. November 2003 eine Kreditfazilität in Höhe von 25 Mio. Euro ein, mit der die Herstellung eines Panzerfahrzeugs finanziert werden sollte. Am selben Tag übernahm der Leiter des Hafenbetreibers Gemeentelijk Havenbedrijf Rotterdam (im Folgenden: GHR), einer Behörde der Gemeinde Rotterdam, eine Bürgschaft, mit der sich der GHR gegenüber Commerz Nederland für die Erfüllung der Verbindlichkeiten von RDM Vehicles aus dem gewährten Kredit verbürgte.

4        Am 1. Januar 2004 wurde der Hafenbetrieb von Havenbedrijf Rotterdam übernommen, deren einziger Gesellschafter zur im Ausgangsverfahren maßgebenden Zeit die Gemeinde Rotterdam war.

5        Der ehemalige Leiter des GHR und alleiniger Geschäftsführer von Havenbedrijf Rotterdam übernahm am 4. Juni 2004 in deren Namen gegenüber Commerz Nederland eine Bürgschaft für die Kreditvergabe an RDM Vehicles. Als Gegenleistung verzichtete Commerz Nederland auf ihre Ansprüche aus der vom GHR übernommenen Bürgschaft.

6        Nach „Rechtsgutachten“ vom 10. November 2003 und 4. Juni 2004, die eine Anwaltskanzlei für Commerz Nederland erstellt hatte, handelt es sich bei den im Namen vom GHR und von Havenbedrijf Rotterdam für die Kreditvergabe an RDM Vehicles übernommenen Bürgschaften um „rechtswirksame, verbindliche und durchsetzbare Verpflichtungen“ des Bürgen.

7        Durch Verträge vom 27. Februar 2004 räumte Commerz Nederland der RDM Finance I BV (im Folgenden: RDM Finance I) und der RDM Finance II BV (im Folgenden: RDM Finance II) Kreditfazilitäten in Höhe von 7,2 Mio. Euro bzw. 6,4 Mio. Euro ein, mit denen Kriegsmaterialbestellungen bei der RDM Technology BV finanziert werden sollten.

8        Am 2. März 2004 übernahm der Geschäftsführer von Havenbedrijf Rotterdam Bürgschaften, mit denen sich diese Gesellschaft gegenüber Commerz Nederland für die Erfüllung der Verpflichtungen von RDM Finance I und RDM Finance II aus den Krediten verbürgte, die diesen beiden Gesellschaften gewährt worden sind.

9        Am 3. März 2004 erstellte die in Rn. 6 des vorliegenden Urteils genannte Anwaltskanzlei für Commerz Nederland ein dem in Rn. 6 des vorliegenden Urteils erwähnten Gutachten vergleichbares „Rechtsgutachten“.

10      Mit Schreiben vom 29. April 2004 kündigte Commerz Nederland die Kredite, die sie RDM Finance I und RDM Finance II gewährt hatte, und verlangte die Rückzahlung der ausstehenden Beträge. Da keine Zahlung erfolgte, forderte Commerz Nederland Havenbedrijf Rotterdam zur Zahlung von 4 869,00 Euro bzw. 14 538,24 Euro aus den Bürgschaften zuzüglich Nebenforderungen auf. Havenbedrijf Rotterdam kam dieser Aufforderung nicht nach.

11      Mit Schreiben vom 20. August 2004 kündigte Commerz Nederland den RDM Vehicles gewährten Kredit und verlangte die Rückzahlung des ausstehenden Betrags. Da keine Zahlung erfolgte, verlangte Commerz Nederland von Havenbedrijf Rotterdam die Zahlung von 19 843 541,80 Euro aus der Bürgschaft zuzüglich Nebenforderungen. Auch auf diese Aufforderung ist Havenbedrijf Rotterdam nicht eingegangen.

12      Am 20. Dezember 2004 erhob Commerz Nederland bei der Rechtbank Rotterdam Klage gegen Havenbedrijf Rotterdam auf Zahlung des Betrags, den Havenbedrijf Rotterdam aus der Bürgschaft für die Kreditvergabe an RDM Vehicles schulde. Das Gericht wies diese Klage mit Urteil vom 24. Januar 2007 ab, da die Bürgschaft eine Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstelle, die nach Art. 108 Abs. 3 AEUV bei der Europäischen Kommission hätte angemeldet werden müssen, und daher nach Art. 3:40 Abs. 2 des niederländischen Bürgerlichen Gesetzbuchs nichtig sei.

13      Commerz Nederland legte gegen dieses Urteil beim Gerechtshof ’s-Gravenhage Rechtsmittel ein und ergänzte ihren Antrag dahin, Havenbedrijf Rotterdam auch zur Zahlung der Beträge zu verurteilen, die aus den Bürgschaften für die Kreditvergabe an RDM Finance I und RDM Finance II geschuldet seien. Mit Urteil vom 1. Februar 2011 bestätigte das Gericht das Urteil der Rechtbank Rotterdam und wies die Anträge von Commerz Nederland in der im Rechtsmittelverfahren geänderten Fassung zurück.

14      Der Gerechtshof ’s-Gravenhage war insbesondere der Auffassung, dass die Prüfung des Sachverhalts anhand der im Urteil Frankreich/Kommission (C‑482/99, EU:C:2002:294) entwickelten Kriterien zu dem Schluss führe, dass die Übernahme der im Ausgangsverfahren fraglichen Bürgschaften den niederländischen Behörden zuzurechnen sei.

15      Er stützte sich hierbei darauf, dass die Gemeinde Rotterdam sämtliche Anteile von Havenbedrijf Rotterdam halte, die Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder dieses Unternehmens von der Hauptversammlung und somit von dieser Gemeinde ernannt würden, der für den Hafen zuständige Gemeinderat Aufsichtsratsvorsitzender sei, nach der Satzung von Havenbedrijf Rotterdam für die Übernahme von Bürgschaften wie den im Ausgangsverfahren streitigen die Zustimmung des Aufsichtsrats erforderlich sei und der satzungsmäßige Zweck von Havenbedrijf Rotterdam nicht mit dem eines reinen Wirtschaftsunternehmens vergleichbar sei, da dem Allgemeininteresse ein hoher Stellenwert eingeräumt werde.

16      Unter diesen Umständen übe die Gemeinde Rotterdam in der Praxis einen starken Einfluss auf Havenbedrijf Rotterdam aus, und der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens unterscheide sich daher vom Sachverhalt der Rechtssache, in der das Urteil Frankreich/Kommission (EU:C:2002:294) ergangen sei. An diesem Schluss ändere sich nichts dadurch, dass der Geschäftsführer von Havenbedrijf Rotterdam willkürlich gehandelt habe, indem er die übernommenen Bürgschaften bewusst geheim gehalten und keine Zustimmung des Aufsichtsrats des Unternehmens eingeholt habe.

17      Ferner wies der Gerechtshof ’s-Gravenhage das Vorbringen von Commerz Nederland zurück, die fraglichen Bürgschaften hätten weder RDM Vehicles noch RDM Finance I oder RDM Finance II einen Vorteil verschafft, da sie aufgrund eines Vertrags zwischen der RDM Holding NV und dem GHR vom 28. Dezember 2002 übernommen worden seien, mit dem sich die RDM Holding NV – im Gegenzug zu den Bürgschaften des GHR gegenüber den Gläubigern der RDM- Konzerngesellschaften in Höhe von mindestens 100 Mio. Euro – verpflichtet habe, keine U-Boot-Technik an Taiwan zu liefern (im Folgenden: U-Boot-Vertrag). Diese Bürgschaften verlören nämlich aufgrund dieser früheren Verpflichtung nicht den Charakter einer Begünstigung im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV.

18      Commerz Nederland beantragt beim vorlegenden Gericht die Aufhebung des Urteils des Gerechtshof ’s-Gravenhage. Sie macht insbesondere geltend, dass aus den vom Rechtsmittelgericht berücksichtigten Umständen nicht geschlossen werden könne, dass die Gemeinde Rotterdam an der Stellung der im Ausgangsverfahren fraglichen Bürgschaften beteiligt gewesen sei. Außerdem hätte die Gemeinde Rotterdam diese Bürgschaften nicht angenommen, wenn sie darüber unterrichtet worden wäre, dass der betroffene Geschäftsführer seine Ämter bei Havenbedrijf Rotterdam habe niederlegen müssen und aufgrund seines Verhaltens in dieser Sache strafrechtlich verurteilt worden sei. Schließlich tritt Commerz Nederland der Würdigung des Rechtsmittelgerichts bezüglich der Auswirkungen des U-Boot-Vertrags auf die rechtliche Einordnung der im Ausgangsverfahren fraglichen Bürgschaften als ‚Begünstigungʻ entgegen.

19      Insoweit ist der Hoge Raad der Nederlanden der Auffassung, dass das Rechtsmittelgericht zu Recht befunden habe, dass die Stellung der Bürgschaften ein selbständiges Rechtsgeschäft sei, auch wenn es zur Erfüllung einer vertraglichen Verpflichtung erfolgt sei. Dies gelte insbesondere im Hinblick darauf, dass im U-Boot-Vertrag nicht ausdrücklich festgelegt worden sei, für welche Gesellschaften und in welcher Höhe die Bürgschaften übernommen worden seien.

20      Was die Frage betrifft, ob diese Bürgschaften dem Staat zuzurechnen sind, kann nach Auffassung des vorlegenden Gerichts das Urteil Frankreich/Kommission (EU:C:2002:294) dahin ausgelegt werden, dass es für diese Zurechenbarkeit darauf ankomme, ob aus einer Gesamtheit von Indizien abgeleitet werden könne, dass von einer Beteiligung der Behörden am Erlass der betreffenden Maßnahmen ausgegangen werden müsse, wobei es sich um eine tatsächliche, sachliche Beteiligung handeln müsse. Im vorliegenden Fall hätte diese Auslegung zur Folge, dass die Bürgschaftsübernahme der Gemeinde Rotterdam nicht zugerechnet werden könnte.

21      Jedoch könnte das Urteil Frankreich/Kommission (EU:C:2002:294) auch dahin ausgelegt werden, dass es zur Feststellung der Beteiligung der Behörden am Erlass der betreffenden Maßnahme genüge, dass aus einer Gesamtheit von Indizien abgeleitet werden könne, dass diese Behörden im Allgemeinen die Entscheidungsfindung in öffentlichen Unternehmen in Bezug auf Maßnahmen wie die vorliegenden bestimmten oder auf diese tatsächlich einen starken und beherrschenden Einfluss ausübten. Der Umstand, dass im vorliegenden Fall die betreffende Maßnahme vom Geschäftsführer des öffentlichen Unternehmens diesen Behörden nicht zur Kenntnis gebracht und die Satzung bewusst missachtet worden sei, so dass die Bürgschaften gegen den Willen der Aufsichtsorgane sowie der Gemeinde Rotterdam und des Staates gestellt worden seien, stehe daher nicht notwendigerweise einer Zurechnung dieser Maßnahmen an die Behörden entgegen.

22      Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad der Nederlanden das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Steht es der – zur Einstufung als staatliche Beihilfe im Sinne der Art. 107 und 108 AEUV erforderlichen – Zurechnung einer Bürgschaftsübernahme durch ein öffentliches Unternehmen an die Behörden zwangsläufig entgegen, dass die Bürgschaft, wie im vorliegenden Fall, von dem (alleinigen) Geschäftsführer des öffentlichen Unternehmens übernommen worden ist, der dazu zwar zivilrechtlich befugt gewesen ist, jedoch eigenmächtig gehandelt, die Übernahme der Bürgschaft bewusst geheim gehalten und die Vorschriften der Satzung des öffentlichen Unternehmens missachtet hat, indem er nicht die Zustimmung des Aufsichtsrats eingeholt hat, und ferner davon auszugehen ist, dass die betreffende staatliche Körperschaft (in diesem Fall die Gemeinde) die Übernahme der Bürgschaft nicht gewollt hat?

2.      Sind diese Umstände, wenn sie einer Zurechnung an die Behörden nicht zwangsläufig entgegenstehen, für die Beantwortung der Frage, ob die Übernahme der Bürgschaft den Behörden zugerechnet werden kann, ohne Bedeutung, oder muss das Gericht eine Abwägung im Licht der sonstigen Indizien vornehmen, die für bzw. gegen eine Zurechnung an die Behörden sprechen?

 Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens

23      Das mündliche Verfahren ist am 8. Mai 2014 nach Stellung der Schlussanträge des Generalanwalts geschlossen worden.

24      Mit Schreiben vom 5. Juli 2014, das am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat Commerz Nederland die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt.

25      Sie stützt diesen Antrag darauf, dass die Schlussanträge des Generalanwalts erstens eine unzureichende Darstellung des Sachverhalts enthielten, zweitens die Folgen einer der Auslegungsmöglichkeiten, die das vorlegende Gericht vorgeschlagen habe, unzureichend beleuchteten und drittens auf rechtliche Erwägungen gestützt seien, zu denen die Parteien des Verfahrens nicht hinreichend hätten Stellung nehmen können.

26      Hierzu ist festzustellen, dass der Gerichtshof gemäß Art. 83 seiner Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen kann, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält oder wenn ein zwischen den Parteien oder den in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichneten Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist (Urteil Vereinigtes Königreich/Rat, C‑431/11, EU:C:2013:589, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27      Im vorliegenden Fall geht der Gerichtshof nach Anhörung des Generalanwalts davon aus, dass er über alle erforderlichen Angaben verfügt, um die Vorlagefragen zu beantworten, und dass diese Angaben im Verfahren vor ihm erörtert worden sind.

28      Daher ist der Antrag von Commerz Nederland auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung zurückzuweisen.

 Zu den Vorlagefragen

29      Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 107 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass es für die Feststellung, ob die Übernahme von Bürgschaften durch ein öffentliches Unternehmen dem Träger dieses Unternehmens zuzurechnen ist, von Bedeutung ist, dass zum einen der alleinige Geschäftsführer dieses Unternehmens, der die Bürgschaften übernommen hat, nicht ordnungsgemäß gehandelt, ihre Übernahme bewusst geheim gehalten und die Satzung seines Unternehmens missachtet hat und zum anderen der genannte Träger der Übernahme der Bürgschaften widersprochen hätte, wenn er darüber unterrichtet worden wäre. Darüber hinaus möchte das vorlegende Gericht wissen, ob diese Umstände in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens eine solche Zurechenbarkeit ausschließen können.

30      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass im Ausgangsverfahren unstreitig ist, dass die Bürgschaftsübernahme durch Havenbedrijf Rotterdam für die Kredite an RDM Vehicles, RDM Finance I und RDM Finance II einen Einsatz staatlicher Mittel im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV bedeutet, da diese Bürgschaften mit einem hinreichend konkreten wirtschaftlichen Risiko einhergehen, das zu Belastungen für Havenbedrijf Rotterdam führen kann, und dass dieses Unternehmen zur im Ausgangsverfahren maßgebenden Zeit vollständig im Eigentum der Gemeinde Rotterdam stand.

31      Allein daraus, dass die Bürgschaften von einem vom Staat kontrollierten öffentlichen Unternehmen übernommen worden sind, kann nicht geschlossen werden, dass ihre Übernahme dem Staat gemäß Art. 107 Abs. 1 AEUV zurechenbar ist. Auch wenn der Staat in der Lage ist, ein öffentliches Unternehmen zu kontrollieren und einen bestimmenden Einfluss auf dessen Tätigkeiten auszuüben, kann nämlich nicht ohne Weiteres vermutet werden, dass diese Kontrolle in einem konkreten Fall tatsächlich ausgeübt wird. Es muss außerdem geprüft werden, ob davon auszugehen ist, dass die Behörden in irgendeiner Weise am Erlass dieser Maßnahmen beteiligt waren (vgl. in diesem Sinne Urteil Frankreich/Kommission, EU:C:2002:294, Rn. 50 bis 52).

32      Insoweit kann nicht verlangt werden, dass anhand einer genauen Anweisung nachgewiesen wird, dass die Behörden das öffentliche Unternehmen konkret veranlasst haben, die in Rede stehenden Beihilfemaßnahmen zu treffen. Die Zurechenbarkeit einer Beihilfemaßnahme eines öffentlichen Unternehmens an den Staat kann nämlich aus einer Gesamtheit von Indizien abgeleitet werden, die sich aus den Umständen des konkreten Falles und aus dem Kontext ergeben, in dem diese Maßnahme ergangen ist (Urteil Frankreich/Kommission, EU:C:2002:294, Rn. 53 und 55).

33      Insbesondere ist jedes Indiz von Bedeutung, das im konkreten Fall entweder auf eine Beteiligung der Behörden oder auf die Unwahrscheinlichkeit einer fehlenden Beteiligung am Erlass einer Maßnahme, wobei auch deren Umfang, ihr Inhalt oder ihre Bedingungen zu berücksichtigen sind, oder auf das Fehlen einer Beteiligung der Behörden am Erlass dieser Maßnahme hinweist (Urteil Frankreich/Kommission, EU:C:2002:294, Rn. 56 und 57).

34      Im Licht dieser Rechtsprechung hat das vorlegende Gericht zu prüfen, ob die Zurechenbarkeit der von Havenbedrijf Rotterdam übernommenen Bürgschaften an den Staat aus der Gesamtheit der Indizien abgeleitet werden kann, die sich aus den Umständen des Ausgangsverfahrens und deren Kontext ergeben. Dafür ist festzustellen, ob im vorliegenden Fall anhand dieser Indizien eine Beteiligung der Behörden oder die Unwahrscheinlichkeit einer fehlenden Beteiligung der Behörden an der Übernahme der Bürgschaften festgestellt werden kann.

35      Wie insbesondere Havenbedrijf Rotterdam und die Kommission geltend gemacht haben und wie der Generalanwalt in den Rn. 78 und 79 seiner Schlussanträge festgestellt hat, spricht insoweit das Bestehen organisatorischer Verbindungen zwischen Havenbedrijf Rotterdam und der Gemeinde Rotterdam, wie sie in Rn. 15 des vorliegenden Urteils geschildert worden sind, grundsätzlich für eine Beteiligung der Behörden oder für die Unwahrscheinlichkeit einer fehlenden Beteiligung ihrerseits an der Übernahme solcher Bürgschaften.

36      Ferner ist davon auszugehen, dass der Umstand, dass der alleinige Geschäftsführer des öffentlichen Unternehmens nicht ordnungsgemäß gehandelt hat, für sich allein nicht geeignet ist, eine solche Beteiligung auszuschließen. Wie nämlich das vorlegende Gericht selbst und der Generalanwalt in den Rn. 90 und 91 seiner Schlussanträge festgestellt haben, wäre die Wirksamkeit des Rechts der staatlichen Beihilfen deutlich abgeschwächt, wenn seine Anwendung allein mit der Begründung ausgeschlossen werden könnte, dass der Geschäftsführer eines öffentlichen Unternehmens dessen Satzung missachtet hat.

37      Allerdings macht das vorlegende Gericht geltend, dass der alleinige Geschäftsführer von Havenbedrijf Rotterdam nicht nur nicht ordnungsgemäß gehandelt und die Satzung dieses Unternehmens missachtet habe, sondern dass er auch die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Übernahme der Bürgschaften insbesondere deshalb bewusst geheim gehalten habe, weil die betroffene Behörde, die Gemeinde Rotterdam, der Übernahme der Bürgschaften vermutlich widersprochen hätte, wenn sie davon unterrichtet worden wäre. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts weisen diese Kriterien darauf hin, dass die Bürgschaften ohne Beteiligung der Gemeinde Rotterdam übernommen worden seien.

38      Es obliegt dem vorlegenden Gericht, zu beurteilen, ob diese Kriterien in Anbetracht sämtlicher relevanter Indizien die Beteiligung der Gemeinde Rotterdam an der Übernahme der Bürgschaften beweisen oder ausschließen können.

39      Nach alledem ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass Art. 107 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass es für die Feststellung, ob die Übernahme von Bürgschaften durch ein öffentliches Unternehmen dem Träger dieses Unternehmens zuzurechnen ist, neben sämtlichen Indizien, die sich aus den Umständen des Ausgangsverfahrens und deren Kontext ergeben, von Bedeutung ist, dass zum einen der alleinige Geschäftsführer dieses Unternehmens, der die Bürgschaften übernommen hat, nicht ordnungsgemäß gehandelt, ihre Übernahme bewusst geheim gehalten und die Satzung seines Unternehmens missachtet hat und zum anderen dieser Träger der Übernahme der genannten Bürgschaften widersprochen hätte, wenn er darüber unterrichtet worden wäre. Diese Umstände können jedoch für sich allein eine solche Zurechenbarkeit in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens nicht ausschließen.

 Kosten

40      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Art. 107 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass es für die Feststellung, ob die Übernahme von Bürgschaften durch ein öffentliches Unternehmen dem Träger dieses Unternehmens zuzurechnen ist, neben sämtlichen Indizien, die sich aus den Umständen des Ausgangsverfahrens und deren Kontext ergeben, von Bedeutung ist, dass zum einen der alleinige Geschäftsführer dieses Unternehmens, der die Bürgschaften übernommen hat, nicht ordnungsgemäß gehandelt, ihre Übernahme bewusst geheim gehalten und die Satzung seines Unternehmens missachtet hat und zum anderen dieser Träger der genannten Übernahme der Bürgschaften widersprochen hätte, wenn er darüber unterrichtet worden wäre. Diese Umstände können jedoch für sich allein eine solche Zurechenbarkeit in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens nicht ausschließen.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Niederländisch.